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Frank Swinton hatte eine schwere Jugend und verlässt sein Elternhaus nach dem plötzlichen Tod der Mutter in sehr jungen Jahren. Mit seinem guten Aussehen und Charme, vermag er sich durch das Leben zu schwindeln und findet häufig Unterstützung von Frauen in allen sozialen Schichten. Er versucht Sir Alfred Steene's Bekanntschaft zu machen, indem er vorgibt, ein sehr guter Freund seines verstorbenen Sohns gewesen zu sein. Bei Sir Alfred, einem der wohlhabendsten Männer Englands, trifft er dessen Sekretärin Helga Linden-Schwarzbach, eine junge hübsche deutsche Dame, die aus finanziellen und familiären Gründen eine Stellung gesucht hatte und bei Sir Alfred die Aufgabe der Sekretärin und Haushälterin übernommen hatte. Außerdem macht er die Bekanntschaft Ediths, der unscheinbaren und scheuen Tochter des Adeligen. Seine Beziehung zu den Damen vertieft sich und er ist ein oft gesehener Gast im Haus Steene; seine finanziellen Probleme verbessern sich jedoch nicht und seine Situation verschlimmert sich zusehends. Wird Frank sein Glück finden – sei es die ersehnte finanzielle Freiheit oder sei es die große Liebe? Werden die Wirren des Krieges ein glückliches Ende erlauben?
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Seitenzahl: 353
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Irgendwo am Ende der Straße spielte ein Leierkasten. Die vertrauten Klänge einer alten Volksweise vermischten sich mit dem Verkehrslärm, der in dumpfen Wellen aus der Ferne heranbrandete, und drangen durch das halbgeöffnete Fenster des Zimmers, in dem Frank Swinton am Tisch saß und schrieb.
In der Nähe des leeren Kamins hatte sich eine junge Frau niedergelassen und strickte.
Sie schwieg. Nur das gelegentliche leise Klicken der aneinanderstoßenden Stricknadeln und die ein wenig mühsamen Atemzüge der jungen Frau unterbrachen die Stille des Raumes.
Im Haus wurde der Name ‚Emily‘ gerufen.
Die junge Frau erhob sich, legte das Strickzeug auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, und verließ das Zimmer. Geräuschvoll schloss sie die Tür hinter sich.
Frank Swinton gähnte laut, streckte und dehnte sich, die Arme hoch über dem Kopf, und blickte Gedanken verloren aus dem Fenster.
Er war zweiundzwanzig, und man hätte ihn als einen jungen Mann bezeichnen können, der seiner Mutter zu lange an den Schürzenbändern hing. Doch der Grund dafür lag nicht bei ihm. Er liebte seine Mutter zwar über alle Maßen, aber schuld daran, dass er noch zu Hause lebte, war einzig und allein die Armut, die in der Familie herrschte.
Mit einer jähen Bewegung des Unwillens stieß er seinen Stuhl zurück und sprang auf. Sein Blick wanderte durch das Zimmer und verharrte schließlich auf seinem Abbild in dem ovalen Mahagonispiegel über dem Kaminsims.
Sein Gesicht war allerdings nur als diffuser heller Fleck vor dem grauen Hintergrund des Raumes zu erkennen.
Draußen sank der Abend nieder, und drinnen war es schon zu dunkel, um die Züge des jungen Mannes noch deutlich erkennen zu können.
Doch Frank kannte sein Äußeres.
Über der breiten, wohlgeformten Stirn das dunkle, meist etwas in Unordnung geratene Haar. Der ziemlich breite Mund, der nicht ohne gewissen Reiz war, wenn er lachte, und das feste, energische Kinn.
Kein wirklich schönes Gesicht, doch markant und eigenwillig und in Verbindung mit der hochgewachsenen, durchtrainierten Gestalt, die er sein Eigen nannte, durchaus beachtenswert und beeindruckend.
»Eines Tages werde ich etwas tun!« murmelte Frank, und die Worte klangen wie ein Schwur, die er dem eigenen Spiegelbild gab.
Die Tür des Zimmers wurde geöffnet, und eine breite Lichtbahn auf dem Fußboden kündigte das Kommen der Mutter an, die, eine Lampe in der Hand, den Salon betrat.
»Tut mir leid, dass ich dich so lange im Dunkeln sitzenließ, mein Junge«, sagte sie mit sanfter, warmer Stimme. »Doch die Lampen mussten noch gefüllt werden, was ich heute Morgen leider vergessen hatte.«
Sie trug das Licht mit der runden Milchglaskugel zum Tisch in der Mitte des Raumes und stellte sie auf ein kleines Spitzendeckchen. Dann ging sie zum Fenster, ließ das Rouleau herunter und zog die schweren, mit Quasten verzierten Samtvorhänge zu.
»Wie kommst du mit deiner Arbeit voran?« fragte sie mit einem Blick auf den mit auf geschlagenen Büchern und verstreut herumliegenden Blättern bedeckten Tisch.
»Ich werde wohl durchs Examen fallen«, erwiderte Frank freimütig.
Seine Mutter wandte sich beim Klang seiner bedrückt wirkenden Stimme besorgt um.
Sie war eine kleine, zarte Frau mit von der Hausarbeit rissigen Händen und grauen Haaren, die von einem schlichten Band über der Stirn zusammengehalten wurden.
»Was ist denn, Liebling?« fragte sie.
»Ach, weißt du, ich habe es einfach satt, mich mit einer Sache zu beschäftigen, von der ich weiß, dass sie mir nie einen praktischen Nutzen bringen wird«, antwortete Frank. »Ich bin einfach nicht geschaffen fürs Geschäftsleben. Zumindest nicht für diese Art von Geschäften!«
Mrs. Swinton seufzte. Sie ging zu einem Stuhl und ließ sich darauf nieder.
»Aber wenn dir eine solche Tätigkeit nicht liegt, was willst du dann machen? Ich weiß ja selbst, dass diese Arbeit nicht zu dir passt, mein Liebling. Aber welche Wahl hast du noch? Gütiger Himmel, wenn du nur die Universität hättest besuchen können! Ich bin sicher, alles wäre anders gekommen.«
In Franks Lächeln lag Verbitterung.
Wie oft hatte er diese Bemerkung schon gehört!
»Dazu gab es wohl kaum die Möglichkeit, nicht wahr?«
»Nein, mein Junge, wahrhaftig nicht. Dein Vater hätte eben...«
Sie verstummte.
Und da sie weiterhin schwieg, fragte Frank:
»Übrigens - wo steckt er wieder?«
»Er ist noch nicht zurück!« erwiderte Mrs. Swinton. Sie wagte nicht, ihren Sohn anzuschauen, sondern ihr Blick blieb auf ihre Hände gerichtet, so, als hätten diese plötzlich ihre Aufmerksamkeit erregt.
»Nun, das ist ja nichts Neues«, erwiderte Fränk voller Ingrimm.
»Lass uns jetzt besser nicht darüber reden!« bat seine Mutter hastig. »Vielleicht geht heute Nacht alles gut. Reden wir von dir, Darling. Was würdest du gerne tun? Falls wir das nötige Geld besäßen, meine ich.«
»Welchen Sinn hat es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen?« antwortete Frank beinahe heftig. »Wir haben das Geld eben nicht, und wir werden es sehr wahrscheinlich niemals haben.«
»Oh Darling, es ist entsetzlich für mich, zu wissen, dass ich dir nichts Besseres bieten kann als ein Leben der Mittellosigkeit und der Einschränkungen.«
Die Liebe zu ihrem Sohn ließ Mrs. Swintons Augen im Schein der Lampe aufleuchten. In einem plötzlichen Impuls durchquerte Frank das Zimmer, legte der Mutter den Arm um die Schultern und drückte sie liebevoll.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er tröstend. »Eines Tages wird alles anders, warte nur ab!«
Die Tür wurde aufgestoßen, und beide schreckten zusammen. Fast schuldbewusst sahen sie Emily an, denn aus Erfahrung wussten sie, dass sie die gegenseitige Zuneigung vor ihr am besten geheim hielten.
Fünf Jahre älter als Frank hatte sie mit siebenundzwanzig bereits resigniert, während er nur unzufrieden war und sein Leben selbst in die Hand nehmen wollte. In seiner Schwester allerdings hatte sich eine solche Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit festgesetzt, dass es oft schwer war, sie zu ertragen und mit ihr auszukommen.
Bei ihrem Eintritt nahm Frank augenblicklich den Arm von der Schulter der Mutter und begann, seine Bücher und Notizen zusammenzupacken.
»Wirklich, Mutter, du hättest warten sollen, bis ich dir die Lampe nach oben getragen hätte«, sagte Emily vorwurfsvoll. »Du weißt, was der Arzt gesagt hat! Dein Herzverträgt keine Anstrengungen, und die Treppe ist viel zu steil für dich, um so oft am Tag rauf und runterzugehen.«
»Schon gut, Emily, du hast ja recht«, erwiderte Mrs. Swinton. »Aber ich wusste, dass du zu tun hattest, und es ging ja auch ganz gut mit der Treppe.«
»Ja, aber ich frage mich, weshalb wir den Doktor kommen lassen, wenn du nicht auf das hörst, was er sagt.«
Wieder war Emilys Stimme ein einziger Vorwurf, und ihr Gesicht drückte äußerste Missbilligung aus.
»Pure Geldverschwendung, meine ich«, fuhr sie nörgelnd fort, während sie ihr Strickzeug aufhob und sich setzte.
»Nun, niemand verlangt von dir, dass du den Arzt bezahlst«, mischte sich Frank ein.
»Ausgerechnet du musst mir das sagen?« entgegnete Emily sarkastisch. »Solltest dich lieber mal auf die Hinterbeine stellen und endlich selbst für eine Verbesserung der Familienfinanzen sorgen!«
»Aber, Kinder, Kinder!« mahnte Mrs. Swinton müde. »Nun streitet nicht schon wieder. Ihr wisst doch, wie sehr mir das zusetzt.« '
»Die Schwierigkeit mit Emily ist, dass sie gerne ein eigenes Heim hätte, aber kein Mann dumm genug ist, ihr eins zu bieten«, sagte Frank.
»Mutter, ich wünsche nicht, dass Frank in dieser Weise mit mir spricht!« rief Emily empört.
Als Frank wider Erwarten nur ein gezwungenes Lachen hören ließ, wandte sie sich um und stürmte aus dem Zimmer. Mit lautem Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.
Schweigen herrschte, nachdem sie gegangen war, bis Mrs. Swinton das Wort ergriff.
»Frank, mein Guter, du solltest so etwas nicht sagen. Du weißt doch, wie empfindlich sie ist. Sie hat das Gefühl, eine alte Jungfer zu werden, und leidet schrecklich darunter.«
»Der Himmel weiß, dass sie nicht die Einzige ist, die darunter leidet. Aber sie ist unerträglich, Mutter. Ewig nörgelt sie an allem herum. Vom Morgen bis zum Abend hört man ihr ständiges Jammern und Klagen. Wie du das aushältst, ist mir rätselhaft.«
»Arme Emily«, erwiderte seine Mutter. »Vielleicht habe ich noch zu ihrer Verbitterung beigetragen mit meinen Ansprüchen!«
»Unsinn!« widersprach Frank. »Du fühltest dich so gut nach ihrer Geburt und warst so - glücklich. Du warst doch glücklich in deinen ersten Ehejahren, nicht wahr?«
»Ja, Lieber, natürlich war ich glücklich«, sagte Mrs. Swinton schnell, und Frank wusste, dass sie log.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug zehn.
»Es ist spät«, sagte Mrs. Swinton und schaute mit einem ängstlichen Blick auf das Ziffernblatt.
»Nun, ich halte es für sinnlos, das Abendessen noch länger für Vater warm zu halten. Meinst du nicht auch, Mutter?«
»Du hast recht«, gab Mrs. Swinton zu. Sie stand langsam auf und ging zur Tür.
Um halb elf zwang ein einzelner Glockenschlag sie, die Köpfe zu heben und zur Kaminuhr zu blicken. Es war eine Reflexbewegung, derer sie sich erst bewusstwurden, nachdem sie so erschreckt herumgefahren waren. Fast verlegen wandte sich jeder wieder seiner Beschäftigung zu.
Um elf geschah das gleiche, und keiner machte Anstalten, zu Bett zu gehen.
Erst kurz vor Mitternacht ertönte draußen Hufschlag, der langsam näherkam. Sie hörten das Klirren von Pferdegeschirr und das polternde Geräusch von Rädern, die über raues Pflaster holperten. Die Hausbewohner erstarrten in ängstlicher Anspannung.
Eine Droschke näherte sich dem Haus, und Mrs. Swinton stieß einen Laut aus, der halb ein Seufzen, halb ein Stöhnen war, bevor sie aus dem kleinen Wohnraum eilte und in den schmalen Flur hinauslief, der nur von einer schwachen, blakenden Öllampe erhellt war.
Emily folgte ihr bis zur Tür. Dort blieb sie abwartend stehen, furchtsam und doch mit einer Art distanzierter Neugier, als hätte sie kaum einen Zweifel daran, dass ihre Befürchtungen sich erfüllen würden.
Nur Frank hatte sich nicht von seinem Platz gerührt. Sein Kopf war leicht geneigt, als horchte er auf die Geräusche von draußen, aber er zeigte weder Besorgnis noch Bekümmertheit.
Nachdem Mrs. Swinton die Haustür geöffnet hätte, hörte man den Klang einer groben, ungebildeten Stimme. Unter Rufen wie: »Langsam Sir, ’s klappt schon!« und »Wenn Sie mal mit anfassen, Ma’am!« wurde jemand mit Mühe die Treppe hinauf und durch die Eingangstür bugsiert.
Erst als eine betrunkene Stimme lallte: »Zum Teufel, was macht ihr mit mir?«, erhob sich Frank langsam und sagte leise zu seiner Schwester:
»Ob ich ihnen helfen soll?«
»Natürlich nicht«, entgegnete Emily scharf. Dann dämpfte sie die Stimme zu einem Flüstern. »Du weißt doch, dass du ihn nur reizt.«
Frank Swinton schwieg und lauschte in den Flur hinaus, wo seine Mutter nun mit klarer, unnatürlich ruhiger Stimme sagte:
»Komm weiter, Edward, wir müssen dich nach oben ins Bett bringen!«
Die Antwort ihres Mannes war ein unverständliches Grunzen.
»Ganz richtig, Ma’am«, griff der Droschkenkutscher ein »ins Bett gehört er, und ich werd’ Ihnen dabei helfen.«
Es war offenkundig kein leichtes Unterfangen, den Volltrunkenen nach oben zu schaffen, denn von der Treppe herdrangen dumpfe Stampfgeräusche, die von lautem Stöhnen, Ächzen oder Fluchen begleitet wurden. Endlich verriet ein schwerer Bums über ihnen, dass der mühsame Transport ins elterliche Schlafzimmer abgeschlossen war.
Einige Sekunden später hörten sie die Schritte des Kutschers auf der Treppe, als er wieder nach unten ging. Schweratmend blieb er im Flur stehen und wartete, bis Mrs. Swinton kam und ihm das Geld für die Taxe und ein zusätzliches kleines Trinkgeld gab.
Erst als die Haustür die untersetzte Gestalt des Mannesausgesperrt hatte und das Klappern der Hufe in der Ferne erstarb, gab Emily ihre angespannte Wachsamkeit auf und brach in Tränen aus, bevor sie aus dem Zimmer stürzte. Laut schluchzend lief sie die Treppe hinauf zu ihrer Schlafkammer im zweiten Stock.
Frank trat zu seiner Mutter in die schmale Diele hinaus. Sie hielt immer noch die abgenutzte Geldbörse in der Hand, doch sie sah nicht auf deren kümmerlichen Inhalt, sondern hielt die freie Hand in die Seite gepresst, als verspürte sie dort heftige Schmerzen.
»Alles in Ordnung, Mutter?« fragte er besorgt.
Winzige Schweißperlen bedeckten Mrs. Swintons Stirn, und sie vermochte nicht sofort zu antworten. Frank legte liebevoll den Arm um sie und schob sie in den Wohnraum.
»Ich muss hinauf zu Vater!« sagte sie, doch Frank zwang sie, im Sessel Platz zu nehmen.
»Ruh dich zuerst ein wenig aus!« befahl er. *»Ich bin ein Dummkopf! Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass du ihm die Treppe hinaufhilfst. Du weißt doch, was der Doktor gesagt hat.«
»Vater mag es nun einmal nicht, von einem seiner Kinder in diesem Zustand gesehen zu werden«, erwiderte Mrs. Swinton. »Wozu also sollen wir ihn unnötig ärgern und aufregen? Es ändert ja doch nichts.« Sie schwieg sekundenlang und fügte dann nervös hinzu: »Ich nehme an, er wird jetzt schlafen.«
»Oh, das wird er ganz gewiss«, antwortete Frank voller Bitterkeit.
Er wusste, dass seine Mutter nun die ganze Nacht nebenihrem Mann wachliegen würde, während dieser schnarchend und reglos wie ein Brett seinen Rausch ausschlief.
»Möchtest du einen Schluck Wasser?« fragte er, als er bemerkte, dass ein wenig Farbe in das blutleere Gesicht zurückkehrte und ihr keuchender, stoßweiser Atem sich langsam beruhigte.
»Danke, mein Junge, es geht schon wieder«, sagte sie und tätschelte liebevoll seine Hand. »Mach dir meinetwegen nur keine Sorgen!«
»Was hat die Droschke gekostet?«
Die Hand der Mutter griff nach der Geldbörse, die in ihrem Schoß lag.
»Fünfeinhalb Shilling«, antwortete sie, wobei Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in ihrer Stimme mitschwangen.
»So kann, das nicht weitergehen!« stieß Frank heftig hervor. Doch Mrs. Swinton erhob sich und sagte:
»Was willst du dagegen tun, Darling? Das Einzige, was wir tun können, ist, wie bisher zu versuchen, dass wir bis zum nächsten Ersten einigermaßen zurechtkommen.«
Seit Stunden lag Frank wach. Er lauschte unruhig auf die Schläge der Kaminuhr im Wohnzimmer und fand keinen Schlaf.
Obwohl er mit bloßem Oberkörper schlief, hatte er die Bettdecke von sich geworfen, da er sich von der Nachtluft, die durch das geöffnete Fenster in den engen, stickigen Raum drang, auf diese Weise ein wenig Kühlung erhoffte.
Aber auch das half wenig. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken und hinderten ihn daran, zur Ruhe zu kommen.
Es waren nicht nur die, Ereignisse des vergangenen Abends, die ihn nicht losließen. An Dinge dieser Art war er seit langem gewöhnt. Sie gehörten zum Alltag der Familie, und es verging eigentlich kein Monat, in dem sein Vater nicht seine besonders schlimmen Perioden hatte. Dann trank er so lange, bis er den letzten Penny, den er aus der Haushaltskasse an sich bringen konnte, in Alkohol umgesetzt hatte.
Frank war aufgewachsen mit dem Anblick eines Vaters, der entweder betrunken herum krakelte oder leblos, wie ein Toter seinen Rausch ausschlief.
Diesen Phasen der Trunkenheit folgte dann am nächsten Tag der unvermeidliche Anfall von Reue und Zerknirschung, wenn Edward Swinton versuchte, sich die Vergebung seiner Familie zu erschmeicheln.
Was Frank am meisten beunruhigte, war der Gedanke an seine Mutter.
Erst in den letzten drei Monaten war ihm und Emily klargeworden, dass sie ihren besorgniserregenden Gesundheitszustand bewusst vor ihnen geheim gehalten hatte.
Sie litt an starken Herzbeschwerden, hervorgerufen durch mangelnde Ernährung, Blutarmut und zu schwerekörperliche Arbeit. Unter Druck gesetzt, hatte der Hausarzt zugegeben, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis der endgültige Zusammenbruch erfolgte.
In den ganzen Jahren ihres Ehelebens hatte Mrs. Swinton geschuftet wie eine Sklavin, ohne Entlohnung und sogar ohne die Privilegien einer Bediensteten.
Sie hatte ihre Eltern früh verloren und wuchs bei einem Onkel und einer Tante auf. Auch diese starben, als sie noch ein Mädchen war, doch zum Glück erregte sie die Aufmerksamkeit eines jungen Offiziers, der in einem berühmten Regiment diente.
Sie heirateten, aber schon ein Jahr nach ihrer Hochzeitschlug das Schicksal zu. Edward Swinton verprügelte im Zustand der Volltrunkenheit einen Vorgesetzten und wurde am nächsten Tag unehrenhaft aus der Armee ausgestoßen.
Der einzige Lichtblick in dieser hoffnungslosen Situation, war die Tatsache, dass er über ein kleines Privateinkommen verfügte, womit sich die Familie - wenn auch nur mühsam - über Wasser halten konnte.
Doch Edward Swinton, erniedrigt und verzweifelt, verlor im Bemühen, seine Schmach zu vergessen, jeden Halt. Er vergeudete das Geld in wilden Ausbrüchen der Trunksucht und Spielleidenschaft.
Nach und nach wuchs der Berg seiner Schulden ins Unermessliche, und Swinton sah sich genötigt, das Stammkapital anzugreifen, bis ihm schließlich nur noch eine kleine Summe blieb, die seinem Zugriff entzogen war, da seine Mutter sie einem Treuhänder zur Verwaltung übergeben hatte.
Aus diesem spärlichen Vermögen wurde ihm monatlich ein Betrag überwiesen, der verhinderte, dass Swinton mitseiner Familie im Armenhaus landete.
Als sein Sohn geboren wurde, gab sich Edward Swinton nach dem ersten Schreck darüber, dass nun noch ein weiterer Esser dazugekommen war, einen innerlichen Ruck und machte sich auf die Suche nach einer Beschäftigung.
Aber schon bald gab er seine Bemühungen auf. Er versank in Lethargie und Hoffnungslosigkeit, die mit Periodenwechselten, in denen er seih Dasein nicht länger ertragen zu können glaubte und Erleichterung im Alkohol suchte.
Die Proteste, Bitten und Tränen seiner Frau bewirkten immer weniger bei ihm.
Im Zustand der Nüchternheit bereute er natürlich seine Haltlosigkeit, doch mit der Zeit verbanden sich Zerknirschung und Bußfertigkeit untrennbar mit einem brummenden Schädel und einem verdorbenen Magen.
Das einzige Anzeichen dafür, dass er sich wenigstens einen Rest von Anstand bewahrt hatte, war wohl in der Tatsache zu sehen, dass er einen Tobsuchtsanfall erlitt, wenn eines seiner Kinder ihn in seinem würdelosen Zustand zu Gesicht bekam. 1
Von Zeit zu Zeit, wenn er einigermaßen nüchtern war, machte er schwache Anstrengungen, das Vertrauen seines Sohnes zu gewinnen, doch es konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass die Gefühle, die Frank für ihn hegte, allesandere als liebevoll waren.
Vom Augenblick seiner Geburt an hatte Frank seiner Mutter alles bedeutet.
Mrs. Swinton hatte eine schreckliche Zeit hinter sich, als sie ihrem Sohn das Leben schenkte. Sie hatte kein Baby mehr haben wollen und war drauf und dran gewesen, sich das Leben zu nehmen, nachdem es außer Zweifel stand, dass sie schwanger war.
Sie litten bitterste Armut, und Edward war noch aggressiver und unfreundlicher zu ihr gewesen als gewöhnlich.
Ja, er hatte in dieser Zeit noch mehr getrunken als sonst, und es fehlte nicht mehr viel bis zum Delirium tremens.
Mrs. Swinton und der Arzt verbrachten zwei Tage und Nächte an seinem Bett und hatten alle Hände voll zu tun, um ihn davor zu bewahren, Hand an sich zu legen.
Doch dann war Frank zur Welt gekommen, und Mrs. Swintons ganze stets unterdrückte und zurückgestoßene Liebe fand in Frank ein Ventil.
Trotz der armseligen Umgebung, in die er geboren wurde, war Frank ein kräftiges und unkompliziertes Baby, zufrieden mit seinem Schicksal, freundlich zu jedermann und immer zum Lächeln aufgelegt.
Kein Wunder, dass Mrs. Swinton ihn abgöttisch liebte.
So konnte es jedoch auch nicht überraschen, dass Emily von Anfang an in ihrem Bruder einen Nebenbuhler sah, den sie aus tiefster Seele ablehnte.
Schon als kleines Kind spürte Frank Emilys Feindseligkeit ihm gegenüber, und er wandte sich innerlich von ihr ab, so dass die wenigen zaghaften Ansätze der Schwester, einen halbwegs freundschaftlichen Kontakt zu ihm herzustellen, schon im Keim erstickt wurden.
Die beiden Kinder erhielten beide eine gute Ausbildung. Mit Hilfe der heimlich zur Seite gelegten Spargroschen aus der Haushaltskasse und dank der unvorstellbaren Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit der Mutter.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen das Haus fast ohne Möbel gewesen war. Sie wanderten ins Pfandhaus und tauchten erst wieder auf, nachdem am Monatsersten der sehnsüchtig erwartete Scheck eingetroffen war.
Lebensmittel waren knapp. Am leichtesten ließen sich Einsparungen eben immer noch in der Speisekammer erzielen. Und die rigorose Sparpolitik von Mrs. Swinton hätte gewiss Früchte getragen, wenn ihr Mann nicht heillos dem Trunk verfallen gewesen wäre und dieser Sucht nicht immer wieder nachgegeben hätte.
Für Mrs. Swinton waren diese Tage ein einziger Alptraum, der sie auch in den Zwischenphasen nie ganz losließ.
Noch längere Zeit nach Edwards Ausflügen in die Kneipen und Spielsalons schreckte sie bei jedem Läuten der Hausglocke und jedem Rascheln eines Briefes im Briefkasten zusammen.
Rechnungen wurden nicht nur mit Schrecken erwartet, sie waren Ungeheuer, die Lebensmittel, Licht und Wärmeverschlangen, auf die sie und die Kinder einen Anspruch hatten.
»Was soll nur aus uns werden?« fragte sich Frank, wie er sich das zuvor schon so oft gefragt hatte.
Als er zum ersten Mal begriffen hatte, was für ein Mann sein Vater war und welch unerträgliches Leid er der Mutter antat, bat er Gott unablässig und allen Ernstes, er möge den Vater sterben lassen.
Aus dem kleinen Jungen wurde ein junger Mann, der die Sinnlosigkeit solcher Gebete einsah. Trotz der Worte und Belehrungen der Mutter und trotz des kindlichen Glaubens, in dem er aufgewachsen war, kam er zu der Erkenntnis, dass es keinen Gott geben konnte, der so etwas zuließ.
Die Häuser in der Edward Street- heruntergekommen und reparaturbedürftig - waren trotz allem sehr solide gebaut, und Frank, der neben dem Schlafzimmer der Eltern schlief, hörte nur selten die lauten Schnarchtöne durch die Wand zu sich herüberdringen. Stimmen vermochte er nicht zu vernehmen, höchstens dann, wenn der Vater wütend war und die Mutter anschrie.
In dieser Nacht herrschte eine unnatürliche Stille im Haus. Über ihm schlief Emily in ihrem engen Dachzimmerneben der Kofferkammer, wo aller Krimskrams der Familie aufbewahrt wurde, in der Hoffnung, dass man das eine oderandere Stück eines Tages doch noch gebrauchen, oder zu Geld machen könnte.
Frank dachte an seine Mutter.
So oft hatte er sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn er ein gutes Gehalt verdiente oder ein Vermögen erbte. Und immer war es die Mutter gewesen, mit der er in der hellen Zukunft solcher Träume zusammenlebte.
Mrs. Swinton war eine Frau, die für ein Leben in Reichtum und Luxus bestimmt schien. Eine Aura von Zartheit und Weiblichkeit umgab sie, die ihrer Tochter völlig fehlte.
Was ihn selbst betraf, so gab sich Frank den wildesten Träumen von Wohlbehagen und Vergnügungen hin. Er sah sich in teuren, maßgeschneiderten Anzügen als einflussreiche Persönlichkeit auf diversen Gesellschaften und Veranstaltungen, überall gern gesehen und bewundert, ein Mann, der die Frauen faszinierte und von den Männern mit Hochachtung behandelt wurde.
Ein dumpfes Geräusch schreckte ihn aus seinen Gedanken.
Frank lauschte angestrengt.
Doch es war nichts mehr zu hören.
Es hat geklungen, als wäre jemand hingefallen, dachte er.
War sein Vater aufgewacht und hatte um sich geschlagen? Es wäre nicht das erste Mal, dass er dabei irgendetwas umwarf und die Mutter erschreckte.
Doch es war Frank, als wäre der Laut nicht aus dem Schlafzimmer der Eltern gekommen, sondern aus einemanderem Teil des Hauses. Das Bad befand sich auf halber Treppe zum ersten Stock. Vielleicht war die Tür zugeschlagen.
Er schickte sich schon an, seine jäh unterbrochenen Träume wieder aufzunehmen, als ihn ein Gefühl der Unruhe, eine seltsame, nie gekannte Furcht sich im Bett aufrichten ließ.
Im nächsten Moment schwang er die Beine über die Bettkante und zündete die Kerze auf dem Nachttisch an.
Das gelbliche Licht blendete ihn sekundenlang und malte verzerrte Schatten an die Wände.
Frank ließ die Kerze auf dem Nachttisch stehen. Er erhob sich und ging zur Tür.
Im Haus war alles still. Er zögerte, bevor er die Türklinke niederdrückte, denn er hatte keine Lust, seinem Vater über den Weg zu laufen, falls dieser das Schlafzimmer verlassen hatte.
Vorsichtig öffnete er die Tür und blickte zur Treppe. Nichts war zu hören, alles schien in Ordnung zu sein.
Doch dann hatte er im Schein der Kerze, der hinter ihm durch den Türausschnitt fiel, den Eindruck, als läge etwas vor ihm auf den Treppenstufen.
Er zog die Tür weiter auf und machte einen Schritt auf die Treppe zu. Vor ihm auf dem Boden lag zusammengekauert, den rechten Arm wie haltsuchend ausgestreckt, seine Mutter.
Sie war ganz offensichtlich im Badezimmer gewesen und dann auf dem Treppenabsatz gestürzt. Der Kerzenleuchter, den sie in der Hand gehalten hatte, lag ohne Kerze nebenihrem Kopf.
Die Mutter schien bewusstlos zu sein.
Frank versuchte, sie aufzuheben; schließlich gelang es ihm, sie auf die Arme zu nehmen und die wenigen Schritte bis zu seinem Zimmer zu tragen. Ihr Kopf sank kraftlosgegen seinen Arm, während er sie zu seinem Bett brachte und dort niederlegte.
Frank ging zum Waschständer und goss ein Glas Wasser ein. Doch als er sich umwandte, um zum Bett zurückzukehren, stockte er. Erschreckt sah er die Leichenblässe im Gesicht der Mutter und die Kraftlosigkeit ihrer Arme. Ein Arm hing an der Seite des Bettes hinunter, so dass die Fingerspitzen fast den Fußboden berührten.
Einem plötzlichen Impuls folgend, schloss er die Zimmertür, bevor er wieder ans Bett trat. Er würde sich selbst um die Mutter kümmern und Emily schlafen lassen.
Behutsam hob er den Kopf der Liegenden an und versuchte, ihr ein paar Tropfen Wasser einzuflößen. Aber ihre Lippen bewegten sich nicht, und das kleine Rinnsal lief an ihrem Mundwinkel vorbei auf das Kopfkissen. Beunruhigt ließ er sie wieder zurücksinken und fragte sich, ob es nichtbesser sei, den Arzt zu holen.
Etwas gab ihm den Gedanken ein, nach dem Puls der Mutter zu fühlen, und sobald seine Finger ihr Handgelenkberührten, wusste er mit untrüglicher Gewissheit, dass sie tot war.
Etwa drei Stunden später drang die Morgendämmerung durch die fadenscheinigen, ungefütterten Vorhänge und ließ das Licht der Kerze verblassen.
Frank erhob sich vom Fußboden, wo er halb kniend, halbkauernd, den Kopf auf die Bettkante gelegt, wie versteinert verharrt hatte.
Wie lange er in dieser Haltung bei der toten Mutterzugebracht hatte, wusste er nicht. Die Hand der Toten, die er die ganze Zeit über umfasst gehalten hatte, war erkaltet, und er hatte nun Mühe, ihre Arme über der Brust zu kreuzen und die Finger ineinander zu verschränken.
Müde und mit steifen Gliedern, ging er dann zum Fenster und zog die Vorhänge ein wenig zurück. Es war ein heller, klarer Morgen. Bald würde sich die Sonne über den Dächern erheben und in einen wolkenlosen Himmel aufsteigen.
Frank wandte sich wieder dem Bett zu.
In seinen Augen standen keine Tränen, doch seine Liderbrannten, als hätte er nächtelang keinen Schlaf gefunden. Eine Weile verharrte er unentschlossen, dann begann er sich hastig anzukleiden.
Anschließend holte er vom Kleiderschrank eine alte Gladstonetasche herunter, die von einer dicken Staubschicht bedeckt und deren Schloss verrostet war, da sie lange nicht mehr benutzt worden war.
In der Tasche lagen Kleidungsstücke, denen er seit Jahren schon entwachsen war. Er warf sie auf den Boden und ersetzte sie durch Dinge, die er aus den Schubladen einer kleinen Kommode hervorholte. Schließlich nahm er seinen Wintermantel aus dem Schrank, faltete ihn und legte ihn obenauf in die Reisetasche.
Seine Vorbereitungen dauerten nicht einmal eine Viertelstunde. Als er fertig war, wandte er sich zum Bett um, ließ sich neben der toten Mutter auf die Knie nieder und küsste ihre kalte Stirn.
»Auf Wiedersehen, Liebste!« sagte er laut mit einer heiseren, fremd klingenden Stimme. Dann erhob er sich, nahm die Tasche und verließ, ohne einen Blick zurückzuwerfen, das Zimmer.
Leise stieg er die Treppe hinab, öffnete die Haustür und trat hinaus auf die menschenleere Straße.
Große Vasen mit Blumen standen auf den schweren Mahagonimöbeln, doch auf dem gewaltigen Schreibtisch in der Mitte des Raumes stand nur eine kleine Vase mit weißen, noch nicht voll erblühten Rosen.
Ab und zu schaute Helga von ihrer Arbeit auf und warf einen kurzen Blick auf den entzückenden Strauß. Und jedes Mal, bevor sie den Kopf wieder senkte und mit dem Adressieren der Briefumschläge fortfuhr, die sich nebenihrem Ellbogen auf der Schreibtischplatte stapelten, erschien ein Lächeln auf ihrem schönen Gesicht.
Die Sonne lag schimmernd auf dem schweren Haarzopf, den sie um den schmalen Kopf gewunden hatte. Sie trug ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen und weißen Manschetten.
In dem edelgeschnittenen Gesicht zeigte sich die gleiche Intelligenz, die auch in ihrer festen, klaren Handschrift zum Ausdruck kam.
Als der Diener den Raum betrat, blickte Helga auf,
»Was gibt es, William?« fragte sie.
»Der Bote von Sir Alfred ist da, Miss«, erwiderte er.
»Er kommt spät«, sagte Helga ernst. »Bitten Sie ihn, sich zu beeilen. Sir Alfred wartet auf die Papiere.«
Sie übergab dem Mann einen großen, versiegelten Umschlag, und sobald er gegangen war, verschloss sie die Schublade wieder, aus der sie die Schriftstücke hervorgeholt hatte. Sorgfältig befestigte sie den Schlüssel wieder an der altmodischen Gürtelkette, die von dem schwarzen Lackledergürtel herunterhing, der ihre grazile Taille umschloss.
Sie hatte ihre Tätigkeit gerade wieder aufgenommen, als sieerneut unterbrochen wurde.
Es klopfte an der Tür, und nach ihrem »Herein!« watschelte eine große, fette Frau mit einem bedruckten Kleid und einer weißen gestärkten Schürze herein.
Helga wandte sich um und blickte der Köchin entgegen, die im Souterrain von Sir Alfreds Haus ein eisernes Regiment führte.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Mrs. Dawkins?« fragte Helga.
»Ja, Miss«, antwortete die Köchin und presste ihre Lippen auf eine Weise zusammen, die auf dicke Luft im Kellergeschoß schließen ließ.
»Doch nicht schon wieder das Küchenmädchen?« fragte Helga beunruhigt.
»Natürlich, wer denn sonst?« erwiderte Mrs. Dawkins erzürnt. »Ich dulde in meiner Küche keine Unbotmäßigkeit, und ich bin ebenso wenig gewillt, mir von meinen Untergebenen irgendwelche Unverschämtheiten bieten zulassen. Es war halb elf gestern Nacht, als Ellen nach Hause kam. Und als ich sie heute Morgen fragte, wo sie so langegewesen sei, erklärte sie mir mit frechem Gesicht, dass mich das nichts angehe.«
Sie schnaufte heftig, bevor sie fortfuhr: 1
»Sie muss gehen, Miss. Ich bestehe darauf! Es tut mir leid für Sie, nach der Mühe, die Sie hatten, mir eine Hilfe zu besorgen. Sie ist ja auch eine gute Arbeiterin. Es wäre eine Lüge, wenn ich was anderes behauptete. Doch junge Mädchen sollten sich einer Stellung würdig erweisen, sonst verdienen sie eine solche nicht - das ist jedenfalls meine Meinung.«
»Ich verstehe es nicht, Mrs. Dawkins«, sagte Helga besänftigend. »Nach all der Mühe, die Sie sich mit ihr gemacht haben. Und Ihre Arbeit schien doch bereits die ersten Früchte zu tragen. Es sah ja wirklich so aus, als würde aus dem Mädchen eine gute Köchin werden. Was halten Sie davon, wenn ich noch einmal mit ihr rede? Ich meine, wenn sie sich bei Ihnen entschuldigt, glauben Sie, dass Sie ihr dann noch eine Chance geben könnten?«
»Ich verspreche mir nicht viel davon, Miss«, erwiderte Mrs. Dawkins. »Geredet habe ich ja schon mit ihr - vergebens, wie Sie wissen.«
»Nun, lassen Sie es mich einmal versuchen«, bat Helga. »Das Mädchen hatte eine sehr unglückliche Kindheit. Wenn wir sie entlassen, weiß niemand, was aus ihr wird. Ich werde ihr noch einmal gut zureden, und sie wird sich bei Ihnen für alles entschuldigen. Das verspreche ich Ihnen!«
Mrs. Dawkins wirkte unschlüssig. Irgendwie war ihr der Wind aus den Segeln genommen worden.
»Na gut, Miss«, sagte sie. »Aber das ist der letzte Versuch. Machen Sie ihr klar: Sie hat nur noch diese letzte Chance.«
»Oh, Mrs. Dawkins, das ist lieb von Ihnen!« rief Helga. “Ich glaube, die Wahrheit ist, dass Sie die Mädchen da unten viel zu sehr verwöhnen, und das versuchen sie natürlich auszunutzen.«
»Sollte mich nicht wundern, wenn es so ist«, antwortete Mrs. Dawkins widerwillig.
»Well, schicken Sie Ellen heute Nachmittag zu mir, sobald sie mit ihrer Arbeit in der Küche fertig ist!« sagte Helga. “Ich werde sie gründlich ins Gebet nehmen.«
»Danke, Miss«, antwortete die Köchin und verließ würde-voll den Raum.
Helga seufzte erleichtert auf.
Es war gar nicht so einfach, mit fünfundzwanzig einen Haushalt mit sechzehn Angestellten zu leiten, doch sie versah diese Aufgabe bereits seit fast drei Jahren mit großem Geschick und außergewöhnlichem Fingerspitzengefühl.
Sie wusste, Sir Alfred Steene war nicht nur zufrieden mit ihr, er baute gleichsam Häuser auf sie, was das Funktionieren und vor allem die Harmonie des täglichen Ablaufs im Haus betraf. Denn am Anfang hatte es so ausgesehen, als stünde sie vor einer unlösbaren Aufgabe.
Es war vor knapp drei Jahren gewesen, als Helga aus Deutschland nach London gekommen war, um Sir Alfred um seine Hilfe zu bitten.
Er hatte ihren Vater gekannt. Die beiden Männer waren Geschäftspartner und Freunde gewesen in jenen Tagen, da Baron von Linden-Schwarzbach eine mächtige und einflussreiche Persönlichkeit in der deutschen Schwerindustriegewesen war.
Die Tatsache, dass der Name des Barons nach dessen plötzlichem Ableben ins Gerede gekommen und öffentlich durch den Schmutz gezogen worden war, hatte die einzige Tochter veranlasst, sich von sämtlichen Freunden und Bekannten der Familie zurückzuziehen. Weder das Mitleid noch die unverhohlene Verachtung derer, mit denen sie eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht hatte, waren für Helga zu ertragen gewesen.
Zum Glück sprach sie Englisch fast so gut wie ihre Muttersprache, sie hatte mehrere Sommer in London verbracht. Dennoch war es nicht einfach für sie, eine Stellung zu finden, und nach vielen vergeblichen Versuchen hatte sie sich eingestehen müssen, mit ihrem Latein am Ende zu sein.
Sir Alfred war ihr damals als letzte Hoffnung erschienen, und so stand sie an einem grauen, feuchtkalten Januar morgen vor dessen Haus in der Park Lane und platzte - wie sie schon bald erfuhr - mitten in eine hauswirtschaftliche Krise hinein.
Sir Alfred kam mit dem Personal nicht zurecht. Wie viele andere Männer, denen im Geschäftsleben oder im Beruf niemand das Wasser reichen kann, war er seinen Angestellten gegenüber völlig hilflos und unselbständig.
Er empfing Helga erst, nachdem sie eine Ewigkeit im Besuchszimmer gewartet hatte. Während sie dann mit ihm sprach und ihm ihr Anliegen vortrug, schwand ihr Mut mit jedem Wort, das sie sagte. Sie musste nämlich feststellen, dass er ihr kaum zuhörte. Er wirkte geistesabwesend und schien offenkundig mit seinen eigenen Problemen beschäftigt zu sein.
Plötzlich blickte er sie an und fragte:
»Wer hat sich eigentlich um Ihr Haus in Deutschlandgekümmert? Ich erinnere mich sehr gut daran. Ich war einmal dort zu Gast, als Ihr Vater noch lebte, und verbrachte eine äußerst angenehme Zeit bei Ihnen.«
»Ich selbst habe den Haushalt geführt- seit meinem achtzehnten Lebensjahr«, antwortete Helga, ein wenig verwirrt von der Frage, die ihr gänzlich deplatziert vorkam. »Nach dem Tod meiner Mutter lebte eine Schwester von Vater bei uns. Als ich großjährig wurde, kehrte sie nach Bayern zurück. Sie vermisste ihre Berge und hasste die Großstadt.«
»Haben Sie auch die Bediensteten eingestellt?« wollte Sir Alfred wissen.
»Natürlich«, erwiderte Helga lächelnd, »außer allen anderen Aufgaben, die in einem Haus anfallen, habe ich auch das erledigt. Ich bin sehr häuslich. Alle Frauen in Deutschland sind das. Außerdem habe ich sehr viele schriftliche Arbeiten für meinen Vater erledigt. Er pflegte immerzu sagen, dass ich es mit seiner fähigsten Sekretärin aufnehmen könne.«
Sie machte eine Pause, ehe sie zögernd fortfuhr:
»Glauben Sie etwa, dass ich in England eine Beschäftigung auf diesem Gebiet finden könnte?« Ihre Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet, Hoffnung leuchtete in ihnen. »An eine solche Möglichkeit habe ich eigentlich noch gar nicht gedacht, aber vielleicht...«
»Natürlich« fiel Sir Alfred ihr ins Wort. »Und zwar gibt es diese Möglichkeit hier in meinem Haus. Von heute an, mein liebes Kind, sind Sie Sir Alfreds Wirtschafterin und Privatsekretärin in einer Person. Sie stehen in meinen Diensten!«
»Ist das Ihr Ernst?« rief Helga.
Sie sprang auf und sah so jung und hinreißend aus in ihrem riesigen, mit Federn geschmückten Samthut, dass ein anderer Mann sich bei einer solchen Entscheidung nicht ganz wohl in seiner Haut gefühlt hätte.
Doch Sir Alfred war ein Mann rascher Entschlüsse, und er empfand in diesem Moment keinerlei Unsicherheit oder Bedenken.
Er hatte mit Hilfe dieser Methode ein riesiges Vermögenangehäuft. Mit der Erleichterung eines Menschen, der soeben von einem drückenden Problem befreit worden ist und der eine schwere Last auf die Schultern eines anderen abgeladen hat, tätschelte er Helgas Hand. Er versprach ihr, sie bestens zu entlohnen, und stieg dann in der Pose eines Siegers vor ihr die Treppe hinauf, um sie seiner Tochtervorzustellen.
Edith Steene war fünfzehn, ein hässliches, bleichgesichtiges Kind, das sehr unenglisch aussah und eine unmittelbare Abneigung jeder Gouvernante gegenüber empfand, die ihr Vater engagierte.
Lady Steene war erst vor sechs Monaten verstorben, doch sie hatte in der Wahl passender Lehrpersonen für ihre Tochter kaum größeres Geschick entwickelt als ihr Ehemann.
Dennoch hatte Sir Alfred, als seine Frau noch lebte, keine Klagen in Bezug auf dieses Thema hören wollen. Er hatte verlangt, dass man ihn mit derartigen Sorgen verschonte und ihn nicht mit den Ausbildungsproblemen seiner Kinderbehelligte.
So führte er nach dem Tode seiner, Frau Ediths Unleidlichkeit und Unzufriedenheit auf seine mangelnde Menschenkenntnis zurück und machte sich deswegen die schlimmsten Vorwürfe.
Infolge einer der seltsamen Launen des Schicksals, für die es keine verstandesmäßigen Begründungen gibt, schloss Edith die neue Wirtschafterin und Privatsekretärin ihres Vaters beim ersten Anblick ins Herz. Es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick, und diese Liebe steigerte sich im Laufe der Jahre zu einer regelrechten Anbetung.
Vielleicht hatte Helgas Aussehen etwas damit zu tun.
Edith war nicht schön, sie war zu hager und knochig, und obwohl sie, noch recht klein war, hatte man den Eindruck, dass sie bereits ausgewachsen wäre.
Ihr ganzes Leben lang war sie von älteren, gewissenhaften Frauen umgeben gewesen, die zweifellos ein Herz aus Gold, besaßen, äußerlich jedoch höchst unansehnlich waren.
Und nun erschien Helga mit ihrem goldblonden Haar, einer Haut wie Milch und Blut und strahlenden blauen Augen. Kein Wunder, dass sie Edith wie die Verkörperung all ihrer Märchenträume erschien.
Für das vereinsamte Mädchen war Helga in der Tat die erste Offenbarung des Schönen, die es inmitten der von Luxus und Reichtum geprägten Umgebung, in der es lebte, zu Gesicht bekam.
Lady Steene war bereits Jahre vor ihrem Tod kränklich gewesen und hatte das Bett hüten müssen. Und ihre Tochter war aufgewachsen im Abscheu vor dem ewig verdunkelten Zimmer, in dem die Mutter lag, missmutig und ewig klagend und ständig nach Arzneien und Desinfektionsmitteln riechend.
Krankheit stieß Edith ab, ekelte sie an. Helgas offensichtlich blühende Gesundheit zog sie daher noch stärker an als die glänzende äußere Erscheinung. Diese junge Frau aus Deutschland strahlte eine Lebenskraft und Energie aus, die Edith nie zuvor bei einem Menschen kennengelernt hatte. Sogar Cedric, ihr Bruder, der Einzige im Haus, der ihr etwas bedeutete, vermittelte ihr nicht diesen Eindruck von Vitalität und Gesundheit.
Er sah nicht eben schlecht aus, aber auch er war dürr jung hager wie seine Schwester, und seine blasse Gesichtsfarbe wurde noch betont durch die Art, wie er sein Haar trug, das ihm lang und strähnig in die Stirn hing.
Cedric war für seinen Vater eine totale Enttäuschung, denn er zeigte keinerlei Interesse an Finanzdingen. Stattdessen schien er gewisse künstlerische Neigungen zu besitzen, die sich allerdings in einer sehr oberflächlichen, dilettantischen Begeisterung für die Kunst erschöpften und jeden Wunsch nach einer ernsthaften und gründlichen Beschäftigung mit ihr vermissen ließen.
Er führte das Leben eines Müßiggängers und suchte sich nach Meinung seines Vaters stets die falschen Freunde aus. Unter seinen engsten Verwandten war nur ein Mensch, der ihn mochte und bewunderte, seine jüngere Schwester.
Es war ein eigenartiger Haushalt, an den Helga da Anschluss fand.
Sir Alfred verließ das Haus, allmorgendlich unmittelbar nach dem Frühstück und war nur selten vor dem Dinner wieder zurück. Gesellschaften veranstaltete er eigentlich nur in Form von Herrenpartys, die sich hauptsächlich aus Geschäftsfreunden zusammensetzten. Und das gleiche galt auch für das Landhaus in Newmarket, das er erst kürzlich zusammen mit einigen erstklassigen Rennpferden erworben hatte.
Sir Alfred war ständig auf der Jagd nach Neuerwerbungen, doch sobald er die Dinge besaß, hatte er kaum noch Freude daran. Er liebte Geld, solange er es erwarb. Das, was er damit erstehen konnte, interessierte ihn im Grunde nur auf der Oberfläche.
Sir Alfred war eine Spielernatur. Ihn faszinierte nur eins - der Gewinn. Er glich dem Mann, der an einem der Spieltische in Monte Carlo sitzt und gebannt dem Geräusch der rotierenden Roulette Kugel lauscht, bevor sie auf einem der Zahlenfelder zur Ruhe kommt.
Das Spiel war alles. Der Wert der Chips, die der Croupier über den grünen Filz des Spieltisches schob, Nebensache.
Es ist der Wunsch, zu gewinnen, der zählt, nicht der Gewinn selbst. Die Freude, Verstand und Instinkt richtig einzusetzen, um damit das Schicksal herauszufordern, nicht das Ergebnis einer solchen Anstrengung, machten den Rausch des Spiels aus.
Und dieser Spielerinstinkt war es, dem Sir Alfred sein sagenhaftes Glück verdankte und der ihm bei den Bankiers und Börsianern in der City den Namen ‚Goldfinger-Steene‘ eintrug.
Niemals ließ er sich eine Chance entgehen, und das Schicksal blieb ihm treu. Was anderen unmöglich war, gelang ihm spielend.
Wenn er einmal früher als normal aus der Stadt zurückgekommen war, fand Helga ihn allein in der Bibliothek. Dort saß er mit geschlossenen Augen und einem leeren, abgespannten Ausdruck im Gesicht. Er wirkte erschöpft und müde. Neben ihm stand ein Glas Whiskysoda, das er nicht einmal angerührt hatte, und in den schlanken Fingern hielt er eine niedergebrannte Zigarre.
»Entschuldigung«, sagte sie dann und schickte sich an, den Raum wieder zu verlassen. »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie schon zurück sind.«
»Kommen Sie herein, meine Liebe, kommen Sie nur!« klang stets die lustlose Antwort.
»Hatten Sie einen schweren Tag?« fragte Helga dann mit ihrer sanften, wohlklingenden Stimme.
»Einen schwerer Tag, aber auch einen guten«, antwortete Sir Alfred in den meisten Fällen.
Sie konnte dann genau beobachten, wie die Erinnerung an irgendeine erfolgreiche Finanzmanipulation die alte Spannkraft in ihn zurückströmen ließ. Schlagartig waren seine Lebensgeister wieder geweckt, der Mann erwachte zu neuer Vitalität. Müdigkeit und Lustlosigkeit waren wie durch Zauberei verschwunden.
Sir Alfred, lebendig und voller Energie, erklärte Helga, wie seine Intuition und Kombinationsgabe ihn wieder einmal das Richtige hatten tun lassen.
Sie verstand nur wenig von dem, was er ihr zu erklären versuchte. An Gelddingen hatte sie kein allzu großes Interesse, und die vielfältig verzweigten und komplizierten Geschäfte von Sir Alfred schienen einem gewöhnlichen Sterblichen, mochte er auch noch so intelligent und scharfsinnig sein, ewig ein Buch mit sieben Siegeln zu bleiben.
Gleichzeitig jedoch hatte Helga das Gefühl, dass Sir Alfred in diesen Augenblicken einen Zuhörer brauchte. Das Bewusstsein, dass sich jemand für seine Tätigkeit interessierte, dass er ihm durch klug gestellte Fragen zeigte, wie sehr er sich um ein Eindringen in die schwierige Materie bemühte, half ihm sichtlich und vermochte ihn vielleicht ein wenig aus seiner Einsamkeit herauszureißen.
Denn dass er einsam war, daran gab es für Helga keinen Zweifel.
Edith war zu jung, um ihrem Vater eine Vertraute und Gesprächspartnerin zu sein. Und was Cedric betraf, so trennten ihn und Sir Alfred Welten.
Schon oft hatte sich Helga die Frage gestellt, wie Lady Steene zu ihrem Mann gestanden hatte. War sie die Lebensgefährtin gewesen, die Sir Alfred brauchte? Helga hielt es zumindest für unwahrscheinlich, wenn sie den sporadischen Bemerkungen glauben konnte, die sie hier und da aus dem Mund eines der Bediensteten zu hören bekam.
Eine Frau, die ewig kränkelte und schließlich nach jahrelangem Siechtum verstarb, konnte einer derart dynamischen Persönlichkeit, wie Sir Alfred es war, wohl kaum die richtige Partnerin gewesen sein.
Er hatte sie mit Geschenken überschüttet. Helga erinnerte sich, dass Sir Alfred ihr einmal einen Stoß von samt gefütterten Etuis und Schatullen gezeigt hatte, die alles an wertvollem Schmuck enthielten, was man sich vorstellen kann, und die nun darauf warteten, dass Edith eines Tages erwachsen sein würde. Doch Geschenke verlieren ihren Sinn, wenn sie nicht der Ausdruck von Liebe und Zuneigung sind.