Das unverschämte Evangelium - Geri Keller - E-Book

Das unverschämte Evangelium E-Book

Гэри Келлер

0,0

Beschreibung

DAS UNVERSCHÄMTE EVANGELIUM – Reden zum Römerbrief Das Buch ist ein Paukenschlag der Gnade Gottes. Geri Keller hielt diese Predigten über den Römerbrief in den Reithalle-Gottesdiensten in den Jahren 2004–2006. Mit markigen Worten und einprägsamen Bildern malt uns Geri die Unverschämtheit des Evangeliums, die unverdiente Liebe Gottes für uns, unsere Städte und Länder, vor Augen. Die Aussagen des Apostels Paulus in dem vielleicht gewaltigsten Brief, der in der Antike verfasst wurde, fordern uns heute noch heraus. Geri Keller lernte in einer Lebenskrise den Römerbrief auf Griechisch auswendig und er wurde ihm zur Quelle des Lebens. Diese lebensverändernde Kraft des Evangeliums dringt durch alle Poren dieses Predigtbandes hindurch – unbedingt lesenswert! Nach dem Vaterbuch und dem Predigtband über die Offenbarung ist auch die letzte grosse Predigtserie von Geri Keller in schriftliche Form gefasst und ab diesem Herbst erhältlich. Der Band ist zugleich ein Erbe von Geri, der noch vor seinem Tod miterlebte, wie das Buch Gestalt gewann und den Titel selbst mitbestimmte: «Das unverschämte Evangelium»!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 447

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Geri Keller

Das unverschämte Evangelium

Reden zum Römerbrief

© 2023 Geri KellerDas unverschämte EvangeliumReden zum Römerbrief

1. Auflage 2023

© Schleife Verlag, Pflanzschulstrasse 17, CH-8400 Winterthur, SwitzerlandTel. +41 (0)52 2322424E-Mail: [email protected]. schleifeverlag.ch

ISBN 978-3-905991-84-0Bestellnummer 120.188

E-Book ISBN 978-3-905991-90-1E-Book Bestellnummer 120.188E

Die Bibelzitate sind der Zürcher Bibel von 1931 entnommen, werden vom Autor aber z. T. frei wiedergegeben.

Textredaktion: Judith PetriLektorat: Thomas BänzigerUmschlaggestaltung: Jörg SteinmetzSatz und eBook-Erstellung: Nils GroßbachDruck: Gustav Winter, Herrnhut

Alle Rechte vorbehalten, auch für auszugsweise Wiedergabe und Fotokopie.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Römer 1

Das Evangelium – Gottes Kraft

Römer 2

Nicht der Mensch sitzt auf dem Richterstuhl

Römer 3

Es gibt keine Gnade ohne Gerechtigkeit

Römer 4

Glaube, der die Welt bewegt

Römer 5

Die Gemeinde im Endspiel

Römer 6,1–11

Hineingetauft in den Tod Jesu Christi

Römer 6,12–23

Werkzeuge der Gerechtigkeit

Römer 7

Die Macht der Gnade

Römer 8,1–17

Das Leben im Geist

Römer 8,18–39

Die Hoffnung der kommenden Herrlichkeit

Römer 9,1–5

Israel und Gottes Verheissungen

Römer 9,14–21

Die Souveränität Gottes

Römer 9,25–26.30–33 bis 10,4

Der Fels des Ärgernisses

Römer 10,4–13.21

Wenn das Herz an die Stelle des Gesetzes tritt

Römer 11,1–12

Hat Gott sein Volk verstossen?

Römer 11,13–24

Leben aus den Toten

Römer 11,25–36

Das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes

Römer 12,1–2

Unser vernünftiger Gottesdienst

Römer 12,3–21

Unsere Berufung ausleben

Römer 13

Verhalten gegenüber der Obrigkeit

Römer 14 und 15,1–5

Einander keinen Anstoss geben

Römer 15,8–33

Zeugen des Evangeliums

Römer 16

Im Reich Gottes geht es um Beziehungen

Nachwort von Andreas Keller

Geri Keller, 1931–2023

Vorwort

Es war für mich eine Freude und ein Privileg, mit Geri Keller in seinen letzten Lebensmonaten viel Zeit verbringen zu dürfen. Eine Begegnung bleibt mir in besonderer Erinnerung: Geri sass auf dem Sofa und betete innerlich. Ich schloss mich ihm an, schweigend sassen wir uns gegenüber. Ein tiefer Friede legte sich auf uns, eine starke Gegenwart Gottes war im Raum spürbar. «Danke, dass du mit mir geschwiegen hast», meinte Geri und fügte hinzu: «Das Schweigen hat eine Tiefe, die man mit Worten nicht ausdrücken kann.» Letzte Begegnungen können zu inneren Schätzen werden.

Genauso ist das vorliegende Buch ein Vermächtnis von Geri Keller. Auch hier geht es um viel mehr als nur um Worte, denn der Römerbrief wurde für ihn zu einem Schlüssel und zu einer Quelle des Lebens. In einer existenziellen Krise lernte Geri Keller den Römerbrief auf Griechisch auswendig. Als er zu Kapitel 8 kam, dem grossen Kapitel über die Freiheit des Geistes, erlebte er Gottes Gnade auf eine so tiefe Weise, dass er in seinem Arbeitszimmer vor Freude hüpfte: Mitten in seiner Erschütterung konnte er plötzlich eine Zukunft sehen. Geri entdeckte das «unverschämte Evangelium» Gottes! Diese lebensverändernde Kraft des Evangeliums dringt durch alle Poren dieses Predigtbandes hindurch.

Die Wirkungsgeschichte des Römerbriefes sucht in der Kirchengeschichte ihresgleichen. Als der Kirchenvater Augustin die Worte «Tolle, lege» («Nimm und lies») hörte, fiel sein erster Blick auf eine Passage in Römer 13, was zu seiner Bekehrung führte. Martin Luther erlebte seinen reformatorischen Durchbruch durch das intensive Studium des Römerbriefes. «Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren», schreibt Luther in der berühmten Vorrede zum Römerbrief über sein «Turmerlebnis». John Wesley wiederum hatte sein Schlüsselerlebnis am 24. Mai 1738, als er diese Worte Luthers vernahm.

Im Jahr 2022 feierten wir das hundertjährige Jubiläum der berühmten zweiten Auflage des Römerbriefes von Karl Barth (1922), welche die Theologie des 20. Jahrhunderts wesentlich prägte. In diesem Zusammenhang reifte in uns die Idee des vorliegenden Projektes. Nach dem Vaterbuch und dem Predigtband über die Offenbarung ist nun auch die letzte grosse Predigtserie von Geri Keller in schriftliche Form gefasst. Ganz im Sinn der reformierten Lectio continua ging er Kapitel für Kapitel durch den ganzen Römerbrief.

Geri Keller hielt diese Predigten über den Römerbrief in den Reithalle-Gottesdiensten der Jahre 2004–2006. Mit markigen Worten und einprägsamen Bildern malt uns Geri die Unverschämtheit des Evangeliums, die unverdiente Liebe Gottes für uns, unsere Städte und Länder, vor Augen. Das Buch ist ein Paukenschlag der Gnade Gottes. Die Aussagen des Apostels Paulus in dem wohl gewaltigsten Brief, der in der Antike verfasst wurde, fordern uns bis heute heraus.

Geri Keller erlebte noch, wie die Texte dieses Buches Gestalt gewannen und bestimmte auch den Titel mit: «Das unverschämte Evangelium». Durch seinen Tod am 23. April 2023 wurde dieser Predigtband zu seinem Vermächtnis. Er äusserte den Wunsch, hier im Buch ein paar Fotos der Reithalle in Winterthur einzufügen, damit man sich die damalige Atmosphäre der Reithalle-Gottesdienste besser vorstellen kann. In der Reithalle in Winterthur, dem Ort, den er so sehr liebte, nahmen wir am 23. Mai 2023 auch Abschied von Geri Keller.

Zwei Fotos der Reithalle von innen bei einem Anlass der Stiftung Schleife in den späten 90er-Jahren (Blick von hinten und von vorne):

Die Aussenansicht der gesamten Anlage, wie sie heute aussieht, und ein Foto der Eingangstüre zur «Grossen Reithalle», wo die Reithalle-Gottesdienste stattfanden:

Wir danken Judith Petri ganz herzlich für die ausserordentliche Arbeit, Geris Predigten anhand der Tonaufzeichnungen zu redigieren und zu kürzen. Während eines Jahres hat sie mit diesen Predigten von Geri Keller gelebt. Inhaltlich haben wir bewusst nichts geändert und die Substanz der Predigten genau so stehen lassen, wie sie damals in der Reithalle gehalten wurden. Wie es gute Predigten an sich haben, nehmen sie Bezug auf das aktuelle Zeitgeschehen. Wo es uns wichtig erschien, erklären Fussnoten genauere Umstände, die zum Verständnis nötig sind. Grundsätzlich folgt Geri dem Bibeltext der Zürcher Übersetzung. Bisweilen hat er den Text aber frei aus dem Griechischen wiedergegeben.

Geri Kellers Predigten über den Römerbrief, der sein Leben veränderte, gelangen in dieser Form nun posthum als ein geistliches Erbe zu uns. Wir hoffen und beten, dass die Botschaften von Geri in uns nachhallen und der Paukenschlag des unverschämten Evangeliums Gottes auch unsere Herzen erreicht, berührt und verändert.

Im September 2023, Thomas Bänziger

Römer 1

Das Evangelium – Gottes Kraft

Ich möchte einsteigen in die Auslegung des Römerbriefes, und ich sage bewusst «einsteigen», denn der Römerbrief umfasst 16 Kapitel. Und wenn man so viele weisse Haare hat wie ich, dann kann man nur sagen: So Gott will und wir leben, werden wir vielleicht zu Kapitel 16 kommen! Das gilt übrigens auch in anderer Hinsicht, denn wir wissen ja nicht, wann Jesus wieder zurückkommt. Dann können wir uns alle Auslegung ersparen, weil wir ihn von Angesicht zu Angesicht und damit die lebendige Bibel vor uns haben, denn er ist das Wort Gottes.

Der Römerbrief gehört zu den gewaltigsten Lehrbriefen des Paulus. Wahrscheinlich ist es der gewaltigste Brief des Altertums überhaupt, denn damals hat man aufgrund der technischen Herausforderungen solche grossen Briefe eigentlich gar nicht schreiben können. Der Römerbrief ist also ein absolutes Unikum und ein Wunder. Der Apostel hat diesen Brief, der vermutlich um das Jahr 56 n. Chr. in Korinth entstanden ist, einem Schreiber diktiert, den er später noch erwähnt. Paulus hielt sich längere Zeit in dieser Stadt auf und übte dort den Beruf eines Zeltmachers aus. Daneben predigte er, heilte Menschen und wirkte in der Seelsorge. Und irgendwann dazwischen diktierte er wohl diesen bedeutenden Brief.

Die Sehnsucht des Paulus

Einer wie Paulus hätte jetzt vor einer Gemeinde, die er nicht persönlich kannte, so richtig loslegen können. Er war ja zum Platzen voll mit Visionen, denn er war im dritten Himmel gewesen und konnte sagen: «Ich habe das Evangelium nicht von einem Menschen empfangen, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi» (Galater 1,12).

Er war gottgelehrt, ein Theologe, doch nicht durchs Studium, auch wenn er die Schriften alle kannte. Er hatte bei Gamaliel, dem berühmtesten Schriftgelehrten seiner Zeit, studiert und war nicht nur des Griechischen mächtig, sondern auch des Lateinischen. Dazu sprach er selbstverständlich perfekt hebräisch, da seine Mutter eine Jüdin war. Sein Vater war Römer, darum besass er auch das römische Bürgerrecht. Paulus war also ein Weltbürger.

Dieser berühmte Lehrer der Christenheit fängt nun an und sagt: «Mich verlangt, euch zu sehen …» (Vers 11). Oder anders ausgedrückt: «Ich habe Sehnsucht, euch zu sehen …» So menschlich beginnt seine Lehre, denn es geht ihm nicht zuerst um die Lehre, sondern um das Herz Gottes. Einer, der Gott kennt, weiss um diese Sehnsucht, um dieses Verlangen Gottes, uns von Angesicht zu Angesicht zu sehen, Gemeinschaft mit uns zu haben und Wohnung in uns zu nehmen – wie auch wir in ihm. «Mich verlangt, euch zu sehen, damit ich euch eine geistliche Gabe mitteilen kann, um euch zu festigen …» Dann korrigiert sich dieser grosse Lehrer quasi, weil er ja nicht gekommen ist, um vom Katheder herunter zu dozieren, und sagt weiter: «…, um bei euch mit getröstet zu werden durch den gemeinschaftlichen Glauben, euren und meinen.»

Anschliessend erklärt er, wobei er Gott als Zeugen anruft, dass er schon oft die Absicht gehabt habe, zu ihnen nach Rom zu kommen, doch immer wieder verhindert worden sei. Auch in Apostelgeschichte 19 lesen wir, dass Paulus die feste Absicht hatte, sobald er die Kollekte der griechischen Gemeinden überbracht hatte, sofort nach Rom zu reisen. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, als ein Gefangener des Römischen Reiches in einem Gefangenentransport nach Rom gebracht zu werden. Doch das ist Paulus, der dieses gewaltige Lehrdokument in Kapitel 16 auch mit einer Grussliste schliesst, auf der viele, viele Namen stehen. Und immer wieder taucht dieser eine Begriff auf: «meine Geliebten». Das ist Paulus, dieser Knecht Jesu Christi, der so an Gott gebunden ist, dass er weiss: Er hat nur das weiterzugeben, was im Herzen Gottes lebt.

Auch Jesus sagte zu seinen Jüngern: «Mich hat herzlich verlangt, dies Passamahl mit euch zu essen, …» (Lukas 22,15). Und: «Ich werde von nun an nicht trinken von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes kommt» (Vers 18). Diese Worte beschreiben das Fasten Jesu Christi aus dieser Sehnsucht, aus diesem Verlangen, aus diesem «Getriebensein» heraus, uns wiederzusehen. Sie bringen die Leidenschaft Gottes nach der Gemeinschaft mit dem Menschen zum Ausdruck.

Der grosse Sänger des Evangeliums

Darum beginnt der Römerbrief so durch und durch menschlich. Paulus sagt hier mit anderen Worten: «Ich habe Sehnsucht nach euch, denn ich möchte euch gerne etwas mitteilen. Ich möchte, dass ihr gestärkt werdet! Ich bin doch euer Schuldner und will euch, so gut ich kann, mit den Gaben, die Gott mir gegeben hat, dienen. Und ich schäme mich nicht, bei euch in Rom, diesem berühmten Rom, das Evangelium zu predigen!» Paulus ist der grosse Sänger des Evangeliums! Er hat es entdeckt: euangélion, die gute Nachricht, die frohe Kunde, und er ist selber Teil dieser guten Nachricht geworden. Er war ja vorher ein fanatischer Verfolger dieser «Christensekte» gewesen und hatte die Nachfolger Jesu zuhauf ins Gefängnis gebracht. Paulus war schuldig geworden am Blut von Christen, die hingerichtet worden sind, und hatte sie bis nach Damaskus verfolgt. Vom Hohen Rat in Jerusalem liess er sich Freibriefe geben, um diese Sekte überall aufspüren und ausrotten zu können. Geplant war im Grunde der Genozid, der Holocaust dieser Christen. Was als «Unkraut» unter diesem heiligen Volk aufgewachsen war, sollte mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden.

Wir müssen uns bewusst machen: Paulus war einer der Gebildetsten, dem in Diskussionen keiner das Wasser reichen konnte. Er war absolut unschlagbar. Und auf diesen fanatischen Verfolger, der die Christen ausrotten wollte, hatte Gott sein Auge geworfen. Kurz vor Damaskus erreichte er ihn dann; ein Licht brach aus dem Himmel hervor, das heller war als tausend Sonnen. Gott blendete dieses Genie des Altertums, diesen Alleswisser, und der Mann, der von keinem Menschen abhängig war, weil er alles wusste und alles kannte, musste sich nun von seinen Knechten wie ein Blinder an den Händen in die Stadt Damaskus hineinführen lassen. Aus dem Himmel hörte er dann die Stimme: «Saul, Saul, was verfolgst du mich?» Und er fragte: «Herr, wer bist du?» (Apostelgeschichte 9,4–5). Saul wusste genau, dass eine Stimme vom Himmel Gottes Stimme sein musste. Doch diesen Gott kannte er nicht. Er meinte ja, seinem Gott ein wohlgefälliges Opfer darzubringen, indem er die Christensekte ausrotten wollte.

Nach drei Tagen in seinem Zimmer erlebte er diese tiefe Stunde der Demütigung. Er, der Seher, der Alleswisser, das Genie, befand sich in einer absoluten Dunkelheit. Was sind das für Welten, die er in seinem Geist und seiner Seele durchlitten haben muss! Schliesslich kam jemand in den Raum, ein bescheidener Mann mit Namen Ananias. Vielleicht war er ein Handwerker, vielleicht ein freigelassener Sklave. Wer weiss! Auf jeden Fall sagte Ananias zu ihm: «Bruder Saul, der Herr will dich heilen!» Dieser einfache Mann, der weder bei Gamaliel studiert noch irgendeinen Schimmer von rabbinischer Theologie hatte, legte diesem religiösen Fanatiker, vor dem sie alle zitterten, die Hände auf und erklärte: «Du sollst wieder sehen!» (Vers 17).

Die Stunde des Evangeliums

Das ist das wahre Evangelium! Es hat bewirkt, dass Paulus, dieses Genie, auf die Knie ging und dass er später einmal im Römerbrief schrieb: «Haltet euch herunter zu den Niedrigen!» (12,16). Es hat bewirkt, dass dieses Genie einen Sklaven mit Namen Onesimus über Monate in Rom bei sich hatte und ihn zu Gott «hinliebte». Und als er den entlaufenen Sklaven schliesslich zu seinem Herrn zurückschickte, schrieb er diesem: «Ich schicke ihn dir zurück und damit mein eigenes Herz» (Philemon 1,12).

Paulus hat in diesen drei Tagen der Finsternis – in diesen tiefsten Tiefen, wo er mit all seiner Intelligenz, seiner Frömmigkeit, seinem Wahn, seinem Hochmut Schiffbruch erlitt – erlebt, was das Evangelium ist. Er ist einem Gott begegnet, der sich herunterbeugt; einem Gott, der Mensch wird; einem Gott, der nicht zuerst in den Büchern zu finden ist, sondern einem Gott, der Fleisch wird. Einem Gott mit einem Herzen, einem Gott mit Leidenschaft – nicht einer Intelligenz. Gott ist keine Intelligenzbestie, die solch ein gewaltiges Schöpfungswerk in Gang gesetzt hat, sondern einer, der sich Vater nennt. Einer, der einen Sohn zeugt, damit er mit ihm Gemeinschaft haben kann. Einer, der mit diesem Sohn spielt und mit ihm zusammen das Wunderwerk des Universums ins Leben ruft.

Das war die Stunde des Evangeliums! Paulus hat eine tiefe Offenbarung erlebt, was das Evangelium ist. Paulus selber ist das Bild des Evangeliums. Denn das Evangelium hat einen Namen und dieser Name ist «Jesus Christus». Beim Lesen der Paulusbriefe spürt man: Wenn der Apostel diesen Namen «Jesus» ausspricht, öffnen sich Welten. Das ist nicht nur einfach ein Name, der dahergesagt wird und in einem Lehrbrief erwähnt wird, sondern das ist Kraft; das ist Unendlichkeit; das ist Schönheit; das ist Gewalt; das ist Weisheit – unauslotbar, unerforschlich.

Ich glaube, niemand hat so wie Paulus verstanden, was das Evangelium ist. Darum konnte er es auf einen einfachen Nenner bringen. Er sagte: «So viel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom, das Evangelium zu predigen» (Vers 15). Das Evangelium predigen heisst, die Türe zum Herzen Gottes aufzustossen. Es ist gewaltig, wie er in seinen Briefen das Evangelium in seiner Höhe und Tiefe, in seiner Breite und Länge malt. Manchmal hat man den Eindruck, wenn Paulus anfängt, davon zu erzählen, dann fängt er an zu rasen. So wie der Statthalter Festus zu ihm sagte: «Paulus, deine Gelehrsamkeit bringt dich zum Wahnsinn» (Apostelgeschichte 26,24). Dann kam quasi ein Rausch über ihn. Dann malte er ein Liebesgemälde von Jesus, diesem Christus, diesem Gesalbten, der ihn vor Damaskus überwunden und in diese Dunkelheit hineingekommen und ihn sehend gemacht hat. Paulus glaubte, sehend zu sein, doch Ananias brachte ihm das innere Licht, die geöffneten Augen des Herzens, mit denen er in diesen Reichtum der Liebe und Gnade Gottes hineinblicken konnte.

Das Evangelium ist nicht nur einfach «die Butter auf dem Brot». Das Evangelium ist viel mehr. Gnade ist ein wichtiges Stichwort, doch Paulus fügt bewusst hinzu: «In dem Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zu Glauben» (Vers 17). Es ist nicht nur die Gnade. Natürlich leben wir aus Gnade. Wie denn sonst? Insbesondere Paulus war das bewusst, der von sich selber sagte, er sei der grösste Sünder von allen und nicht wert, ein Apostel zu heissen, weil er die Christen verfolgt hatte. An seinen Händen war Blut, aber dieses Blut war abgewaschen durch das Blut seines Herrn Jesus Christus.

Ein Zorn der Liebe

Evangelium – das sind Räume und Räume. Wir gehen hinein in den Raum der Gnade. Wir gehen hinein in den Raum der Gerechtigkeit. Wir gehen hinein in den Raum der Wahrheit. Wir gehen hinein in den Raum der Heiligkeit. Wir gehen hinein in den Raum der Freude. Wir gehen hinein in den Raum des Friedens. Das ist alles Evangelium! Paulus «strecht» unseren Glauben sozusagen und macht klar, es geht nicht nur um Gnade, auch wenn er später noch darauf zu sprechen kommt. Beim Evangelium geht es auch um eine Offenbarung des Zornes Gottes. Das scheint für uns ein Widerspruch zu sein. Doch jemand, der ein Herz hat, der Leidenschaft hat und dann nicht zornig werden kann, der ist nicht wirklich von Liebe erfüllt. Liebe ist nicht dieses Lächeln. Liebe ist nicht diese Harmoniebedürftigkeit. Das ist wie eine kleine Pfütze im Vergleich zu der Liebe Gottes, die wie ein Ozean ist, wie ein Meer. Und was muss das für eine Liebe gewesen sein, die ein solches Universum geschaffen hat!

Darum gehört zur Liebe Gottes auch der Zorn. Nur einer, der wirklich liebt, kann auch zornig werden. Ein Vater, der seinen Sohn liebt, oder eine Mutter, die ihre Tochter liebt, wird auch mal zornig werden. Das ist entgegen allem, was in den meisten Erziehungsratgebern und Psychologiebücher steht. Doch hier geht es nicht um einen fleischlichen Zorn, der Kinder schädigt, sondern es geht um einen Zorn der Liebe. Einen Zorn darüber, dass ein Kind sich selber zerstört oder sich hängen lässt und seine Gaben und Fähigkeiten nicht ausschöpft. Das ist Teil der Liebe.

Paulus erklärt: «Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten» (Vers 18). Und im nächsten Vers fährt er fort zu sagen: «Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken …» (Verse 18–20).

Der Mensch gebraucht diese Schöpfung und bedient sich daraus, als wäre er in einem Selbstbedienungsladen und könnte einfach so seinen Einkaufswagen vollpacken. Er tut so, als wäre diese Schöpfung einfach so entstanden. Doch Gott ist es, der dieses Wunderwerk geschaffen hat – auch als Teil seiner Offenbarung an uns Menschen. Die Naturvölker haben die Macht Gottes in der Schöpfung noch gespürt. Wie abgebrüht sind wir dagegen, dass wir an einem Wintertag durch den Schnee gehen und den Raureif an den Bäumen mit diesen wunderschönen Sternen nicht mehr wahrnehmen! Dass wir nicht einfach stillstehen und staunen über Gott, der alles so herrlich geschaffen hat, während wir nicht einmal eine Schneeflocke machen können!

Gott bringt seinen Zorn zum Ausdruck, indem er mit anderen Worten sagt: «Was sollte ich noch tun, Mensch? Ich habe doch alles für dich gemacht. Ich habe dieses gewaltige Aufgebot eines Universums geschaffen, um dir meine Liebe zu zeigen, um dir mein Herz zu öffnen und dir zu sagen: Mensch, das bist du mir wert! Ich habe Milliarden von Sternen in dieses Universum hineingesetzt, einfach um dich zu erfreuen. Ich habe die Sonne scheinen lassen, ich habe die Jahreszeiten gemacht, um dir immer wieder diesen Reichtum meines Herzens, meiner Leidenschaft zu zeigen. Mensch, was hätte ich noch tun sollen? Wo habe ich gespart? Sogar die Wüste blüht auf wundersame Art und Weise. Was hätte ich noch schaffen sollen?»

Wenn Gott dahingibt

«Sie haben keine Entschuldigung», sagt Paulus in Vers 20. Eigentlich kann jeder in diesem Buch der Schöpfung lesen. Und das Interessante ist, dass es oft gerade die genialen Forscher und die genialen Denker sind, die das alles madig machen. Der französische Philosoph René Descartes sagte: «Cogito ergo sum» – «Ich denke, darum bin ich». Woher hat er das Denken? Wer sind wir, dass wir uns so «aufplustern» vor dem Schöpfer, vor diesem gewaltigen Gott? Wer sind wir, dass wir das alles einfach mit Füssen treten?

Paulus erklärt, der Zorn Gottes richtet sich gegen das Gottlose (Vers 18). Dass wir Gott kennen und ihn doch nicht als Gott ehren. Dass wir das Geschöpf anbeten und nicht den Schöpfer. Die Tragik ist, wenn wir uns von Gott entfernen, von seiner Weisheit, seiner Kraft, seiner Intelligenz, seiner Heiligkeit, seiner Wahrheit, seiner Schönheit, dann pervertiert alles. Paulus beschreibt, dass sie, die glaubten, weise zu sein, töricht wurden in ihrem Sinn. Sie verwandelten die Herrlichkeit eines unsterblichen, ewigen Gottes in einen Abklatsch von sterblichen Menschen, von Vögeln und kriechenden Tieren (Verse 22–23).

Wenn wir daran denken, dass das Geschöpf Gottes, welches geschaffen ist zum Ebenbild dieses Schöpfers, heute Steine anbetet und versucht, daraus Kraft zu beziehen. Dass wir Bäume umarmen und diese zu unseren Göttern machen. Wir sind auf den Hund gekommen! Wir, die Krone der Schöpfung, Mann und Frau, geschaffen zum Ebenbild Gottes. Wenn wir uns von Gott entfernen, dann geschieht das, was Paulus hier beschreibt: Da verwandeln wir die Wahrheit Gottes in Lüge. Weiter erklärt der Apostel: «Darum hat sie Gott hingegeben in die Unreinheit, dass sie ihre eigenen Leiber miteinander schänden» (Vers 24). «Darum hat er sie hingegeben», sagt er zum zweiten Mal, «ihre Frauen haben den natürlichen Liebesprozess verlassen und sich einer Geschlechtlichkeit zugewandt, die gegen die Natur ist. Desgleichen die Männer, sie haben die Liebe mit der Frau verlassen und sind entbrannt in Begierde zu einander» (Verse 26–27).

Ich sage hier nichts gegen Schwule und Lesben. Ich möchte, dass das ganz klar ist. Das Evangelium gilt für alle. Gott ist der Vater aller. Aber was wir heute erleben, ist wie eine Lawine. Die Homosexuellenverbände haben einen Sturmlauf durch alle Institutionen gemacht und innerhalb weniger Jahrzehnte ist es ihnen gelungen, bis zur Legislative vorzudringen und Gesetze zu verabschieden – leider auch in unserem Land. Heute klopfen sie an die Schulzimmer, um dort Aufklärung zu betreiben und für die Gleichberechtigung verschiedener Geschlechter zu werben. Heute wird bereits in einigen Ländern für strafbar erklärt, was ich hier predige. Doch ich werde nicht aufhören, davon zu reden. Nicht, weil ich gut sein will, sondern weil es um die Wahrheit Gottes geht. Wir dürfen die Wahrheit Gottes nicht in Lüge verkehren.

Als Christen betrachten wir Schwule und Lesben oftmals auch aus einem moralischen Blickwinkel. Doch es geht hier nicht um Moral, sondern es sitzt viel tiefer. Paulus schreibt: «Gott hat sie dahingegeben.» Glauben wir, diese Lawine hätte losbrechen und ganze Völker mitreissen, Parlamente mitreissen, Parteien mitreissen, die Kirche mitreissen können, weil man kein anderes Evangelium hat? Das alles ist nur zu erklären, wenn Gott dahingibt. Und er hat damals im Römischen Reich dahingegeben, und er gibt heute wieder dahin. Das ist ein Gericht Gottes! Wenn Gott «die Nase voll hat», dann gibt er dahin. Dann sagt er: «Jetzt macht selber und seht, wohin ihr kommt!» Und da hilft es nicht, mit dem Finger zu zeigen. Da hilft es nicht, dagegen zu wettern und Politiker anzuklagen. Gott hat dahingegeben! Und wenn Gott dahingibt, dann werden wir alle zu Toren. Dann leben wir in einer Lügenwelt, dann ist eins und eins drei, dann ist schwarz weiss und weiss ist schwarz.

Wenn der Mensch Herr ist und nicht mehr Jesus Christus, dann sehen wir, was geschieht. Wenn die Frau Herr ist über ihren Bauch, wenn der Mann Herr ist über seinen Leib, wenn unser Leib nicht mehr Gott gehört, wenn wir diese Leiber schänden, wenn wir Milliardengewinne machen mit dieser Lust von Leibern, dann gibt Gott dahin, dann gehen die Lawinen vom Himmel nieder. Dabei sind diese Leiber ein Kunstwerk Gottes, geschaffen für diese Zeit, um ein Lobpreis für ihn zu sein. Geschaffen zum Tanzen, geschaffen zur Kreativität, geschaffen zur Anbetung, geschaffen zur Liebe – als ein Ausdruck des Herzens Gottes. Was ist es für ein Wunder, dass wir Menschen Hände und Arme haben, um empfangen zu können! Was ist es für ein Wunder, dass wir Füsse und Beine haben, um uns bewegen zu können! Was ist es für ein Wunder, dass wir eine Seele und ein Herz haben! Was ist es für ein Wunder, dass wir einen Geist haben, um mit unserem Gott kommunizieren zu können! Was ist es für ein Wunder, dass keine zwei Menschen einander gleich sind – nicht einmal die eineiigen Zwillinge! Diese unterschiedlichen Augenfarben, diese unterschiedlichen Haarfarben, diese betörenden Grübchen und Falten… Und dann tun wir Schmiere in diese Grübchen und lassen uns liften für Hunderttausende von Franken. Doch in diesen Grübchen und Falten offenbart sich etwas von der Gewalt und Schönheit unseres Gottes. Halleluja!

Bedingungslose Liebe

Ich möchte ganz klar sagen: Wenn Menschen gleichgeschlechtlich veranlagt sind und so fühlen, dann sollen sie wissen, dass es nichts gibt, was zwischen ihnen und ihrem Gott steht. Gott liebt sie bedingungslos. Das ist Evangelium! Gott liebt die Mörder. Gott liebt diejenigen, die abgetrieben haben. Gott liebt die Perversen. Gott liebt die Massenschlächter. Gott liebt sie alle. Sie sind sein Geschöpf. Er hat sie geschaffen. Aber Evangelium heisst auch Kraft Gottes. Und dieselbe Kraft, die diesen Himmel und diese Erde geschaffen hat, ist in dieses Evangelium in Jesus Christus eingepackt. Wenn Jesus in uns lebt, ist eine gewaltige Kraft, eine geballte Energie in uns. Dann kommen das Reich Gottes und seine Ordnungen in uns hinein. Dann öffnen sich Wege, die wir nie für möglich gehalten haben.

Ich war in meiner Jugend nicht aufgeklärt, das war damals alles «Bahnhof» für mich. Als ich dann mit Menschen zusammengekommen bin, die gleichgeschlechtlich empfunden haben, habe ich es gar nicht gemerkt; erst viel später wurde mir das bewusst. Aber ich erinnere mich mit grosser Achtung an einen Primarlehrer, den ich hatte. Heute weiss ich, dass er schwul gewesen ist. Er mochte mich und hat mich auch mit einer Gruppe von Schülern zu sich nach Hause eingeladen. Doch dieser Lehrer hat genau die Grenzen beachtet. Er hat gewusst, dass er eine Verantwortung hat und Menschen nicht in eine andere Geschlechtlichkeit, in eine andere Empfindung hinein verführen darf.

Auch heute habe ich Freunde, die gleichgeschlechtlich empfinden, aber die in der Verantwortung vor ihrem Gott leben und aufgrund der Kraft des Blutes und der Liebe Gottes fähig sind, Schritte zu tun. Vielleicht ist untergründig noch eine gewisse Empfindung bei ihnen vorhanden. Vielleicht stehen sie noch auf «dünnem Eis», aber das Eis wird dicker und dicker. Das Evangelium ist eine Kraft. Und wenn Gott in uns lebt, wenn das nicht nur ein paar Glaubenssätze in unserem Kopf sind, dann ist seine Kraft in uns.

Eine neue Schöpfung

Die Frage ist: Haben wir Glauben und sagen wir zu Gott: «Du darfst Schöpfer in mir sein! Da ist mein Leben, ich gebe es dir. Und jetzt, Gott, schaffe noch mal neu! Ich will mich jeden Tag füllen lassen mit der Kraft des Geistes!» Es ist eine Lüge, von einer Schöpfungsvariante zu sprechen. Da hat der Mensch die Wahrheit Gottes verdreht. Gott ist die Wahrheit, und diese Wahrheit wird nie verändert. Himmel und Erde können vergehen, aber seine Worte werden nie vergehen. Die Wahrheit Gottes wird nie vergehen. Es nützt jedoch nichts, mit dem Finger auf Menschen zu zeigen. Es nützt nichts, diese Wahrheit zu einer Moral zu machen. Sondern es ist nur die Liebe und es ist nur der Schöpfergott, der überwindet.

Am Kreuz wurde durch den Schrei Jesu eine neue Schöpfung ausgerufen. Und als Heterosexuelle sind wir nicht besser als diejenigen, die schwul oder lesbisch sind. Auch wir leben nur dadurch, dass wir eine neue Schöpfung sind. Wie sonst wollten wir Ehe leben? Es gibt so viel Heuchelei in christlichen Kreisen, was sogenannte christliche Ehen betrifft. Es gibt so viele versteckte Dreiecksbeziehungen, so viele versteckte seelische Bindungen – sogar in Ältestenkreisen, sogar in Leiterschaftskreisen. Wir alle leben nur durch die Kraft des Evangeliums und durch Jesus, diesen Schöpfergott, in uns.

Wenn wir Ehe «selber machen» wollen, auch wir heterosexuell Empfindenden, dann ist das wie ein Joch. Ehe kann man nur leben, wenn der Schöpfer in einem ist. Denn der Einzige, der weiss, wie Ehe funktioniert, ist Gott. Er hat sie geschaffen. In unseren ersten Ehejahren haben wir das so erlebt. Lilo und ich sind wie zwei Gäule unter einem schweren Joch gegangen. Wir waren ja auch Pfarrer und Pfarrfrau und mussten der Gemeinde zeigen, was eine vorbildliche Ehe ist. Doch ich habe mich entschieden, dass dieses Joch nicht mehr auf den Kasten kommt, weil Jesus gesagt hat: «Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht» (Matthäus 11,30).

Wir alle brauchen diesen Schöpfer in uns – Schwule, Lesben, Verheiratete, Unverheiratete. Nur wenn dieser Schöpfer in uns lebt – dieser gewaltige Schöpfer, diese Wahrheit, diese Heiligkeit, diese Gerechtigkeit –, gelingt unser Leben. Es geschieht nicht aus eigener Anstrengung. Und darum möchte ich dafür werben: Hören wir als Christen auf, über die Umstände zu schimpfen und zu klagen. Es bringt nichts! Gott sucht Menschen, die neue Geschöpfe sind und an denen er seine Schöpfermacht beweisen kann. Wenn wir zu diesen Gerechten werden, in denen Gott seine Schöpfung noch einmal beginnen kann, dann gibt er nicht mehr dahin. Jede neue Schöpfung wird den Zorn Gottes aufhalten und ihn wenden, sodass daraus Gerechtigkeit und Gnade und Kraft entstehen. Dann wird die Wahrheit wiederhergestellt werden und wir kommen aus dieser Lügenwelt heraus in die Wahrheit Gottes.

Gebet

Gott, du bist viel grösser, weiter, tiefer als alles, was wir uns über dich ausmalen können. Wir brauchen eine neue Offenbarung von dir. Du hast dich uns in Jesus Christus offenbart; du hast den Heiligen Geist ausgeschüttet in unsere Herzen. Aber Gott, wir brauchen mehr von dieser Offenbarung, damit wir zu Menschen werden, die dir als Schöpfergott keine Grenzen mehr setzen durch unseren Kleinglauben, durch unsere Logik, durch die Lügen der Gesellschaft, die uns sagen will, was möglich ist und was nicht möglich ist.

In alle Herzen, die dunkel geworden sind von den Lügen dieser Welt, spreche ich das Licht der Liebe Gottes hinein. Ihr sollt noch einmal sehen, was Wahrheit ist. Ihr sollt noch einmal sehen, was wirkliche Liebe ist. Ihr sollt noch einmal sehen, dass Gott nicht gleichgültig ist, sondern dass er zornig sein kann, weil er uns liebt. Darum lässt er uns auch manchmal in Tiefen hineingehen, damit wir kapitulieren, damit wir aus diesen Tiefen zu ihm zu schreien beginnen und erkennen, dass er unsere einzige Hilfe ist.

Wenn wir diesem Schöpfergott unsere Herzen geben und unsere Leben, dann wird er voller Stolz auf uns blicken und sagen: «Es ist sehr gut!» Egal, was wir noch für Defizite haben, dieser Schöpfergott arbeitet in uns. Und wenn Jesus einmal wiederkommt, dann werden wir in einem Moment verwandelt werden in sein Bild.

Ich segne alle Ehepaare wie auch junge Menschen, die im Begriff stehen, eine Ehe einzugehen. Lasst diesen Schöpfergott in eure Beziehungen hinein. Seht nicht auf das, was nicht ist, auf das Unvollkommene, auf Enttäuschungen, wo Lebensträume wie Seifenblasen zersprangen, sondern bittet Gott als diesen Schöpfer immer wieder in eure Beziehungen hinein.

Ich segne alle gleichgeschlechtlich Empfindenden, dass eine neue Hoffnung über euch kommt und eine Liebe zur Wahrheit Gottes. Ihr sollt wissen, Gott ist der Vater aller. Und es braucht nur ein Wort und dieser Schöpfer krempelt seine Ärmel wieder nach hinten, kniet sich in den Dreck des Lebens hinein und formt in euch eine neue Kreatur, eine neue Schöpfung, eine neue Sexualität.

Ich segne auch alle Singles, die sogenannt alleinstehend sind. Aber das ist eine Lüge, denn niemand ist allein. Der Vater ist immer da. Ich segne euch, dass ihr wisst, ihr habt einen Gott und ihr könnt diesen Gott bitten, dass er in euch Wohnung nimmt und dieses Schöpfungswerk in euch tut. Damit erkläre ich das Singlesein nicht zu einem Tabu. Aber ihr fangt nicht erst an zu leben, wenn ihr einen Mann oder eine Frau habt. Ihr lebt heute und ich segne euch.

Wir danken dir noch einmal, Gott, für dein Evangelium. Führe uns und leite uns durch deinen Geist auf Pfaden des Lebens. Führe uns in alle Wahrheit, weil wir wissen, nur die Wahrheit macht uns frei. Im Namen Jesu. Amen.

Römer 2

Nicht der Mensch sitzt auf dem Richterstuhl

Im Anschluss an das Sittengemälde seiner Zeit – den Zerfall von Werten, die Aushöhlung von Ehe und Familie –, ein Sittengemälde, das in vielem auch den Zuständen in der heutigen Zeit entspricht, schreibt Paulus in Kapitel 2,1–13:

«Deshalb kannst du dich nicht entschuldigen, o Mensch, der du richtest, wer du auch sein magst. Denn indem du den anderen richtest, verdammst du dich selber. Denn du, der du richtest, verübst ja ebendasselbe. Wir wissen aber, dass das Gericht Gottes der Wahrheit gemäss über jene ergeht, die solches verüben. Meinst du denn aber, o Mensch, der du dir die Freiheit nimmst, zu richten die, die solches ausüben, und dasselbe tust, dass du dem Gericht Gottes entrinnen wirst? Oder verachtest du den Reichtum seiner Gütigkeit, Geduld und Langmut und weisst nicht, dass die Güte Gottes dich zur Umkehr leitet?

Aber nach deinem harten Herzen, dem unbussfertigen, häufst du dir selber Zorn an auf den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden vergelten wird nach seinen Werken: denen, die durch Ausdauer dem Guten nachgefolgt sind und nach Ehre, Preis und Unvergänglichem getrachtet haben, ewiges Leben; denen dagegen, die streitsüchtig sind, der Wahrheit ungehorsam, aber der Ungerechtigkeit anhangen, Zorn und Grimm, Trübsal und Angst über jede Menschenseele, die das Böse vollbringt, den Juden zuerst und dann den Griechen. Aber Preis, Ehre und Frieden einem jeden, der das Gute vollbringt, auch den Juden zuerst und den Griechen. Denn bei Gott gibt es kein Ansehen der Person.

Alle nämlich, die ohne das Gesetz sündigen, werden auch ohne Zutun des Gesetzes verloren gehen und die, die unter dem Gesetz sündigen, werden durch eben dieses Gesetz gerichtet werden. Denn nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht vor Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden gerecht gesprochen werden.»

Darauf erklärt der Apostel, dass Gott einmal das Verborgene des Menschen richten wird, «nach meinem Evangelium durch Jesus Christus», und kommt dann auf die Beziehung zwischen Juden und Heiden zu sprechen. In den Versen 17–29 sagt er:

«Du magst dich einen Juden nennen und dich auf das Gesetz verlassen und dich deiner Gotteserkenntnis rühmen und, weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist, seinen Willen erkennen und beurteilen, was Recht und Unrecht ist. Und du kannst überzeugt sein, du seist ein Führer der Blinden, ein Licht derer, die in Finsternis sind, ein Erzieher für Unverständige, ein Lehrer der Unmündigen, der im Gesetz die Anschauung des Wissens und der Wahrheit hat.

Du nun, der du einen anderen lehren willst, lehrst du dich selber nicht. Du, der predigst, man solle nicht stehlen, weshalb stiehlst du? Du, der du sagst, man solle nicht die Ehe brechen, weshalb brichst du die Ehe? Du, dem die Götzen ein Gräuel sind, weshalb beraubst du den Tempel? Du, der du dich des Gesetzes rühmst, entehrst gleichzeitig deinen Gott durch die Übertretung des Gesetzes? Wie geschrieben steht: ‹Der Name Gottes wird um euretwillen unter den Heiden gelästert.›

Eure Beschneidung ist wohl nützlich. Dann nämlich, wenn du das Gesetz befolgst. Bist du aber ein Übertreter der Gebote Gottes, dann ist deine Beschneidung zur Unbeschnittenheit geworden. Wenn nun der Unbeschnittene die Forderungen des Gesetzes hält, heisst das nicht, dass ihm seine Unbeschnittenheit als Beschneidung angerechnet wird. Und wird nicht der von Natur Unbeschnittene, wenn er das Gesetz erfüllt, dich richten durch seinen Lebenswandel, der du trotz Buchstabe und Beschneidung ein Übertreter des Gesetzes bist? Nicht der ist ein Jude, der es äusserlich ist durch Beschneidung, die am Fleische geschieht. Sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist. Und das ist Beschneidung, die am Herzen geschieht, im Geist, nicht nach dem Buchstaben. Ein solcher hat sein Lob nicht von Menschen, sondern von Gott.»

Liebe Freunde, nach diesem Kapitel muss man zuerst einmal wieder zur Ruhe kommen. Da wächst in einem das Feuer des Fleisches und der Leidenschaft. Hau den Lukas! Wer von uns ist nicht selber einer, über den man den Stab gebrochen hat und der verurteilt wurde? Wer von uns ist nicht selber einer der Täter, die immer und immer wieder über andere richten und urteilen? Spätestens wenn wir morgen früh die Zeitung aufschlagen, beginnt schon bei der ersten Seite etwas in uns aufzustehen und wir rufen: «Wie kann das nur sein!» Dabei sind wir noch gar nicht bei der letzten Seite angekommen. Wir regen uns auf und der Adrenalinspiegel steigt, bis der Arzt uns empfiehlt, keine Tagesschau mehr zu sehen und auch nicht mehr die Zeitung zu lesen. Die Welt ist einfach schlecht und wird immer schlechter.

Richten als Gesellschaftsspiel

Es ist fast wie auf der Kirmes, wo man an den Schiessbuden auf Figuren knallt und diese dann nach hinten umkippen. Was wir machen, gleicht einem Gesellschaftsspiel, und Leuten mit spitzer Zunge und spitzer Feder macht das Richten viel Spass. Mein Fleisch kommt bei alldem in Wallung und ich könnte mich jetzt gut ein oder zwei Stunden lang in Feuer reden! Aber wir wollen den Herzschlag Gottes in diesem Kapitel hören und nicht «die Moral von der Geschicht».

Vorneweg möchte ich noch zur Klärung sagen: Ich glaube erstens nicht, dass wir jemals so heilig sein werden, dass wir nicht mehr richten und urteilen werden. Denken wir nur daran, was der Schreiber des Jakobusbriefes in Kapitel 3 über die Lehrer sagt. Wir alle werden immer wieder erleben, wie das Fleisch mit uns durchbrennt. Es sind Prozesse und Wege von innerer Heilung und Zurechtbiegung nötig, um den Herzschlag Gottes besser und besser zu verstehen.

Zweitens: Wenn hier von Richten die Rede ist, dann ist damit gemeint, ein abschliessendes Urteil zu fällen. Richten heisst, den Stab über jemanden brechen. In der gängigen Rechtssprache hat jemand ja bis zur Verurteilung als unschuldig zu gelten. Aber richten heisst, ich fälle jetzt ein Urteil über einen Menschen oder über eine Gruppe, über eine Gemeinde, über eine Konfession, über Politiker oder über Parteien.

Drittens bedeutet das nicht, dass es nun gilt, «den Mund in den Staub zu drücken» und Gut und Böse nicht mehr zu benennen oder zu unterscheiden. Es bedeutet auch nicht, dass wir Wahrheit nicht mehr beim Namen nennen sollen. Wir sind berufen, Zeugen der Wahrheit zu sein und gegen das Unrecht die Stimme zu erheben. Das Reich Gottes ist ein Reich von Frieden, Freude und Gerechtigkeit. Wir haben einen Gott des Rechtes und er wird noch einmal seine Gerechtigkeit aufrichten. Christen sind keine stummen Hunde, sondern sie erheben ihre Stimme. Man erkennt sie an ihrer Zivilcourage bzw. an dem Freimut ihres Geistes, mit dem sie auch Dinge benennen, die falsch laufen. Das hat nichts mit Richten zu tun.

Und viertens: Paulus unterscheidet hier zwischen Juden und Heiden aufgrund der jüdischen Sitte der Beschneidung. Alles Männliche im Judentum musste ja beschnitten werden als Bundeszeichen der Zugehörigkeit zu dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Auch Jesus wurde beschnitten. Demgegenüber sind wir als die Heiden die Unbeschnittenen. Die Juden haben die Tora, das Gesetz; wir dagegen sind die Gesetzlosen.

Gottes Herzschlag

Kommen wir zurück zum Herzschlag Gottes. Diesen Herzschlag hören wir im Johannesevangelium. In Johannes 3,17 heisst es, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat, nicht um die Welt zu richten, sondern dass durch ihn die Welt gerettet wird. Dieser Vers schliesst unmittelbar an jenen bekannten Vers 16 an: «Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab.» Gott hat seinen Sohn also nicht gesandt, die Welt zu richten, sondern er hat ihn gesandt, dass durch ihn die Welt gerettet wird. Das ist der Herzschlag Gottes!

Den Herzschlag Gottes finden wir auch in Johannes 5,22, wo steht: «Der Vater richtet niemanden, sondern er hat das Gericht ganz dem Sohn übergeben.» Weshalb? Im nächsten Vers lesen wir: «Damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren.» Darum werden sich einmal alle Knie vor Jesus beugen und jede Zunge wird bekennen, dass er Herr und Richter ist, dem Gott das Gericht übergeben hat.

Das ist der Herzschlag Gottes! Und aus dem Grund warnt er uns, nicht vor der Zeit zu richten. Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist die Zeit der Umkehr. Es ist die Zeit des Werbens Gottes. Es ist die Zeit, wo Gott kämpft und ringt. Gott ist immer noch in Wehen für eine verlorene Welt und er ringt mit seiner Braut und fragt: «Wer wird gehen? Wen kann ich senden? Wer geht, um Zeuge zu sein von meiner Vaterschaft, von der Erlösung durch Jesus Christus?» Das Gericht wird erst dann stattfinden, wenn wir vor diesem Richter stehen, wenn das Ende der Zeit gekommen ist.

Das heisst, wenn wir richten – wenn wir ein Urteil fällen über Menschen, über Einzelne oder Gruppierungen, über Parteien, über Staaten, über Nationen –, überschreiten wir unsere Kompetenz. Es ist Hochmut und wir stellen uns damit gegen Gott. Es ist Hochmut, Menschen zu richten, und zwar abschliessend zu richten und den Stab über sie zu brechen, solange Gott sein Urteil noch nicht gesprochen hat. Was wir mit unserem Richten anstellen, ist vergleichbar mit einer Ölpest vor einer Küste. Wer hat nicht schon die traurigen Bilder von Wasservögeln mit ihren von Öl verklebten Flügeln gesehen! Es ist ein Bild für das, was geschieht, wenn wir richten und verachten. Den Stab über Menschen brechen ist wie eine Ölpest! Da werden Menschen durch unser Richten gehindert, auf Jesus «zuzufliegen», ja auch nur «zuzuflattern». Diese Verletzungen, diese Verwundungen sind wie Pech, das etwas in ihnen zusammenklebt, sodass sie sich nicht auf den Weg machen können.

Richten ist gegen das Herz Gottes! Jenes Gottes, der Adam und Eva, die ihm ins Gesicht geschlagen haben, Felle machte, um ihre Blösse zu bedecken. Es ist gegen das Herz eines Gottes, der Kain das Zeichen an die Stirne machte, damit ihn niemand erschlägt. Es ist gegen das Herz eines Gottes, der Rahab, eine Hure, gebrauchte, um die israelischen Kundschafter in ein Versteck zu bringen und ihr Leben zu retten, und der diese Hure nachher in den Stammbaum Jesus «befördert» hat. Richten ist gegen das Herz Gottes!

Wir sind alle befangen

Und überall da, wo dieser Sauerteig des Pharisäismus, diese Ölpest des Kritisierens und Urteilens Menschen befleckt und ihr Leben vernichtet und einengt, da wird Gott sich gegen uns stellen. Wir sind nicht die berufenen Richter. Wir können gar nicht richten! Richter, die befangen sind, müssen in den Ausstand treten. Und Freunde, wir sind alle befangen. Darum sagt Paulus zweimal: «O Mensch!» Das betrifft jeden Menschen, auch mich, der ich hier vor euch stehe. Ich bin befangen. Ich kann nicht Richter sein; ich bin Mensch.

Denken wir an die Geschichte in Johannes 8, wo die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Ehebrecherin auf frischer Tat ertappten und dann vor Jesus schleppten und fragten: «Jesus, was gilt jetzt? Mose hat gesagt, so jemand muss gesteinigt werden. Und du redest ständig von dem Herzen Gottes und von Gnade. Was gilt jetzt?» Jesus antwortete ihnen: «Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie» (Vers 7). Dann haben sie, angefangen mit dem Ältesten, einer nach dem anderen ihre Steine fallen lassen und sind gegangen. Und am Ende war Jesus mit dieser Ehebrecherin alleine.

Wir sind alle befangen. Es gibt nur einen, der nicht befangen ist, und das ist Jesus Christus, der Sündlose. Er war Mensch wie du und ich – aber ohne Sünde, weil er an seinem Gott gehangen hat, weil Gott in ihm wohnte und er ihm allen Raum gegeben hat und alle Zeit danach trachtete, das zu tun, was seinem Vater Freude machte. Wir sind alle Sünder. Wisst ihr, die Gebote Gottes sind kein Selbstbedienungsladen. Wir können nicht einfach sagen: «In diesem einen Fach, in dieser Tugendsparte, bin ich besonders stark. In den anderen Fächern habe ich noch meine Schwächen, aber der Durchschnitt lässt sich sehen. Das reicht alleweil zur Promotion!» Freunde, die Bibel sagt ganz klar, dass wir verpflichtet sind, das ganze Gebot zu halten. Wir können nicht meinen, dass wir, weil wir uns beispielsweise hingeben, um Vater und Mutter zu pflegen, dann die Freiheit haben, die Ehe zu brechen. Wir sind verpflichtet, das ganze Gebot zu halten!

Wir Menschen kennen das Verborgene des Herzens nicht. Wir sehen bei Menschen nur das Äussere, und es ist ganz wenigen vergönnt, die Gabe der Herzensschau zu haben. Und diejenigen, die diese Gabe haben, werden nie und nimmer jemanden richten oder verurteilen. Weil sie wissen, dass sie Menschen von Fleisch und Blut sind und von sich aus die Motive des anderen nicht kennen.

«Ersäuft» mit Gnade

Wir kennen auch die Gnade Gottes nicht oder wir kennen sie noch zu wenig. Die Gnade Gottes ist viel, viel grösser, als wir meinen. Sie reicht bis zu jenem Schächer am Kreuz, diesem Verbrecher, der neben Jesus hing und keine Zeit mehr hatte, eine Beichte abzulegen noch irgendetwas in Ordnung zu bringen, sondern der nur sagen konnte: «Gott sei mir Sünder gnädig, denke an mich, wenn du in dein Paradies kommst!» Es ist diese Gnade Gottes, von der Paulus in Römer 5 förmlich singt, wenn er sagt: «Wo die Sünde gross ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger» (Vers 20). Gott «ersäuft» die Sünde immer wieder mit seiner Gnade. Gott hat die Sünde von Ninive «ersäuft» mit dem Strom seiner Gnade. Gott hat die Sünde einer Welt «ersäuft» mit seiner Gnade. Er hat die Welt mit sich versöhnt, auch wenn das nicht bedeutet, dass wir nun alle gerettet sind.

Der Film von Mel Gibson «Die Passion Jesu Christi» zeigt eindrücklich, was geschieht, wenn wir andere abschliessend richten. Es waren nicht irgendwelche Menschen, die dort gerichtet haben. Es waren Hohepriester, prophetische Menschen. Es waren Schriftgelehrte, die die Schrift in- und auswendig kannten, die zweimal die Woche fasteten und öffentlich beteten und sich des Zeugnisses für ihren Gott nicht schämten. Es waren Menschen, die geheilt worden waren; Lahme, die wieder springen konnten.

Und sie alle haben gerufen: «Barabbas! Barabbas!» Sie haben den Mörder eingefordert und nicht Jesus. Und als dann dieser Blutrausch kam, haben sie gerufen: «Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!» Wir sehen, wohin wir kommen, wenn wir letztinstanzlich richten.

Denken wir an die Jungfrau von Orleans, dieses Hirtenmädchen, das berufen wurde, Orleans zu entsetzen, und das einen schwachen König und eine verzagte Armee angeführt hat. Am Schluss hat man den Stab über sie gebrochen und sie als Hexe verbrannt. Oder denken wir an Michael Sattler, eine der führenden Persönlichkeiten der ersten Täufergeneration, der die sieben Täufer-Artikel von Schleitheim verfasst hat. Ich muss immer wieder von ihm sprechen. Es ist ein Mann, der von einer solchen Klarheit des Geistes, von einer solchen Grösse des Verstehens im Hinblick auf das Reich Gottes, von einer solchen Reinheit und Heiligkeit Jesu, von einer solchen Bruderliebe erfüllt war. Und man hat ihn in grausamster Art gefoltert und am Schluss verbrannt.

So können wir die ganze Kirchengeschichte durchgehen. Überall dort, wo Menschen sich auf den Richterstuhl gesetzt haben, sind entsetzliche Dinge passiert. Ich sage nichts gegen die bürgerlichen Gerichte – die müssen sein. Ich spreche von den Gerichten der Kirche, von den Gerichten der sogenannt Frommen, der Gläubigen, auch von den Gerichten, die in unserer reformierten Kirche geschehen sind. Überall da, wo der Mensch richtet, passieren Scheusslichkeiten. Darum hat Jesus gesagt: «Setzt euch niemals auf den Richterstuhl! Lasst Unkraut und Weizen miteinander aufwachsen. Eure Augen sind verblendet! Ihr seht nicht hinein in das Verborgene. Ihr seht nicht hinein in die Motive eines Menschen. Deshalb reisst ihr womöglich den Weizen mit dem Unkraut aus.»

«Du bist nicht zu entschuldigen, o Mensch, der du richtest, …», sagt Paulus. Es gibt keine Entschuldigung fürs Richten! Es gibt nur das Blut Jesu Christi, das uns abwaschen kann, wenn wir uns freventlich auf den Richterstuhl Christi gesetzt haben.

Der Bumerang kommt zurück

Die ganze Schrift warnt uns: Wenn wir richten, widersteht uns Gott – nicht der Teufel, sondern Gott. Und es kommt wie ein Bumerang auf uns zurück. Denn mit dem Mass, mit dem wir richten, werden wir wieder gerichtet werden. Dieser Bumerang bewirkt, dass etwas in uns hart wird. Die Massstäbe, die wir an andere anlegen, legen wir unbewusst, ohne uns darüber im Klaren zu sein, nämlich auch an uns an. Und wir spüren: Diesen Massstäben können wir nicht gerecht werden. Auch wir haben unsere «Hunde, die vergraben sind»; auch wir haben unsere «Leichen im Keller». All das führt zu einer Unzufriedenheit mit uns selber. Und diese Unzufriedenheit wächst und wächst. Unser Herz wird hart und härter. Und je unzufrieden wir mit uns selber sind, desto mehr werden wir versucht sein, zu richten und den Stab über andere zu brechen.

Dieser Bumerang kommt auch in Form von Heuchelei auf uns zurück. Das heisst, wir müssen dann etwas vorgeben, was wir gar nicht sind. Plötzlich stehen wir auf den Stelzen. Plötzlich bilden wir uns etwas ein auf unsere Frömmigkeit. Plötzlich wollen wir uns darstellen als diese gläubigen, wiedergeborenen, geistgetauften, zungensprechenden Menschen. Wir wollen zeigen, wer wir sind. Darum sagt Jesus: «Du siehst den Splitter im Auge deines Nächsten, und weil du diese ‹Splitterei› betreibst, wird der Splitter in deinem eigenen Auge zum Balken!» (siehe Matthäus 7,4–4). Der Splitter kommt sozusagen als Bumerang in Form eines Balkens auf uns zurück. Bei unserem Nächsten war es nur ein Splitter, aber bei uns wächst der Splitter und wird schliesslich zum Balken.

Herzensenge – eine Folge des Richtens

Interessanterweise verwendet Paulus in Römer 2,9 den Begriff stenochoría. Das ist das griechische Wort für «Angst» oder «Enge». Dieses Gefühl der Enge kann über uns kommen, wenn wir richten. Ja, vieles, was wir an Herzensenge oder Beklemmung spüren, hängt damit zusammen, dass wir richten und sich unser Denken um den Splitter des Nächsten kreist. Das sind nicht immer Anfechtungen vom Teufel. Manches ist ganz einfach eine Frucht von dem, was wir durch unser Richten oder Verachten des Bruders gesät haben. Und es kommt dann als Bumerang in Form einer Herzensenge auf uns zurück.

Richten steht in direktem Zusammenhang mit unserer Gesundheit. So lesen wir in Jesaja 58, diesem bekannten Kapitel über das Fasten: «Ist nicht das ein Fasten, wie ich es liebe. Dass du ungerechte Fesseln öffnest, die Stricke des Joches lösest, dass du Misshandelte ledig lässest und jedes Joch zerbricht» (Vers 6). Weiter heisst es, dass wir uns den Brüdern nicht entziehen sollen, auch den unbequemen Brüdern nicht. Und in den Versen 8–10 sagt der Prophet: «Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte und deine Heilung eilends sprossen. Deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschliessen. (…) Wenn du das Joch entfernst aus deiner Mitte, nicht mehr mit Fingern zeigst, aufhörst, ruchlos zu reden, wenn du dem Hungrigen das Brot darreichst und die gebeugte Seele sättigst, dann wird dein Licht aufstrahlen in der Finsternis und dein Dunkel werden wie der helle Mittag.»

Richten wir nicht vor der Zeit, Freunde. Das ist Evangelium! Wir können diese ganze Sorge um unsere Mitmenschen auf Gott werfen. Wo uns die Sorge um unsere Mitmenschen zu einem Joch wird, haben wir das Gebet und können diese Menschen Gott hinhalten. Wir können beten: «Gott, du weisst, da ist ein Schmerz in mir. Ich sehe diese Ungerechtigkeit. Aber ich bringe sie zu dir und ich schreie zu dir, der du den Elenden hörst!» Wir setzen uns nicht auf den Richterstuhl, sondern wir gehen auf unsere Knie. Und auf den Knien schreien wir um Gnade. Auf den Knien schreien wir um Erbarmen. Auf den Knien schreien wir, dass Jesus sich diesen Brüdern und Schwestern, diesen Menschen, die ihm noch widerstehen, offenbart. Auf diese Weise wird vieles leichter. Darum sagt Jesus auch, wir sollen werden wie die Kinder. Kinder sehen nicht den Splitter. Sie verfügen über eine tiefe Intuition und wissen, wem sie vertrauen können und bei wem sie sich in Acht nehmen müssen. Werden wir wieder wie Kinder, die dieses tiefe innere Wissen und diese Unterscheidung in sich haben.

«Erhitze dich nicht …»

Eine wunderbare Lektüre ist auch Psalm 37, den ich immer wieder lese, wenn mein Fleisch aufgewühlt ist. Es ist wie bei einem Dampfkochtopf. Diese heissen Gefässe hält man ja unter das kalte Wasser, um sie nach all dem Gezische und Gepfeife ein bisschen abzukühlen. Anschliessend kann man sie getrost zur Seite stellen. Wenn mein innerer Dampfkochtopf mal wieder pfeift und zischt, dann gehe ich zu Psalm 37. Ich lege die Zeitung zur Seite und lese die Worte Davids: «Erhitze dich nicht über die Bösewichte und ereifere dich nicht über die Missetäter? Denn sie verwelken schnell wie das Gras, und wie das grüne Kraut verdorren sie. Hoffe auf den Herrn und tue du, was gut ist. Bleibe im Land und übe Treue. So hast du deine Wonne an dem Herrn, und er gibt dir, was dein Herz begehrt. Befiehl dem Herrn deine Wege (auch mit den lieben Mitmenschen) und hoffe auf ihn. Er wird es wohlmachen. Er wird dein Recht aufgehen lassen wie das Licht und deine Gerechtigkeit wie den Mittag. Sei stille dem Herrn und harre auf ihn» (Verse 1–6).

In Vers 7 kommt dann wieder so ein Schwall von Kaltwasser über mein Fleisch: «Erhitze dich nicht über den, dem alles wohl gerät, über den Mund, der Ränke übt. Sieh ab vom Zorn und lass den Grimm, …» Und nochmals eine Dusche mit Kaltwasser in den Versen 8–10: «… erhitze dich nicht. Du tätest nur übel. Denn die Bösewichte werden einmal ausgerottet, die aber des Herrn harren, sie gewinnen das Land.»

Gebet

Jesus, ich bitte dich für all diejenigen, die noch verklebte Flügel haben von diesem klebrigen, lebenstötenden Öl des Pharisäismus. Wo Menschen über sie den Stab gebrochen haben, wo man über sie getuschelt, gewitzelt, gelacht hat. Wo man sie ausgebremst oder gemobbt hat. Wo Sätze gefallen sind, die sich eingebrannt haben. Wo sie richtiggehend «gepierct» worden sind durch Worte oder durch Blicke der Verachtung. Jesus, du hast das alles getragen. Du bist der «Gepiercte», dich hat man durchstochen, dich hat man angespuckt, dir hat man ins Gesicht geschlagen, dir hat man eine Dornenkrone aufs Haupt gedrückt … Wir kommen zu dir, denn in deinen Wunden sind wir geheilt!