Das verborgene Kapital - Ana-Cristina Grohnert - E-Book

Das verborgene Kapital E-Book

Ana-Cristina Grohnert

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Beschreibung

Wie können Unternehmen, wie kann die Wirtschaft zukunftsfähig bleiben und angesichts einer komplexen Realität dauerhaft gutes Geld machen? Indem wir alte Muster hinter uns lassen: weg vom kurzfristigen Gewinndenken, vom reflexhaften Personalabbau zur Kostensenkung, von Monokulturen in der Führungsetage. Top-Managerin Ana-Cristina Grohnert zeigt auf, was sich ändern muss und wie der Übergang zu einer zukunftsorientierten Wertschöpfung aussehen kann. Aus ökonomischer und zugleich humanistischer Perspektive liefert »Das verborgene Kapital« konkrete Ansätze für ein grundsätzlich anderes unternehmerisches Denken und Handeln. »Es ist Zeit, dass wir uns mehr Zeit nehmen, Unternehmen und Führung neu zu hinterfragen. Hier kann man dafür Impulse bekommen.« Prof. Dr. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Technische Universität München (TUM) »Dieses Buch zeigt, dass das verborgene Kapital unserer Wirtschaft in den Menschen und ihrer Fähigkeit zu Innovation und Kooperation für die Lösung komplexer Probleme liegt. Pflichtlektüre für alle, die mehr Nachhaltigkeit und Inklusion in der Wirtschaft erreichen wollen.« Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, Präsident ifo-Institut »Die Ausrichtung der Unternehmenspolitik auf soziale und ökologische Ziele ist nicht mehr nur eine Frage der unternehmerischen Verantwortung, sondern entscheidet darüber, ob das Unternehmen die Zeichen eines grundsätzlich neuen gesellschaftlichen Denkens erkannt hat.« Prof. Klaus Schwab, Founder und Executive Chairman World Economic Forum »Mutig, kreativ und mit Weitblick rufen die Autorin und die Charta der Vielfalt immer wieder dazu auf, Diversity, Inklusion und Integration als echten Standortvorteil zu sehen. Für Zusammenhalt, Innovation und wirtschaftlichen Erfolg.« Annette Widmann-Mauz, Staatsministerin für Integration

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ANA-CRISTINA GROHNERT

Das verborgene Kapital

Wie wir Wertschöpfung neu erfinden müssen

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Kaum eine Wirtschaft steckt die Pandemie so gut weg wie die deutsche, noch immer ist sie im internationalen Vergleich erfolgreich. Doch vor der romantischen Kulisse von chromblitzenden Maschinen und Weltmarktführern aller Art hat sich schon lange vor Corona ein drängender Haufen Zukunftsfragen aufgetürmt. Die Digitalisierung, die Perspektiven der Schlüsselindustrie Automobil oder die Dekarbonisierung der Wirtschaft generell: Vielen Unternehmen fehlt es an eigenen Ideen, wie eine nachhaltige Wertschöpfung aussehen könnte.Ana-Cristina Grohnert fordert uns auf, Wirtschaft neu zu denken. Sie entwirft aus einer ökonomischen und zugleich humanistischen Perspektive das Bild einer Wirtschaft, die den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt, ohne die Wertschöpfung aus den Augen zu verlieren, und so verborgenes Kapital zu Tage fördert.

Vita

Ana-Cristina Grohnert ist als ehemalige Personalvorständin der Allianz Deutschland eine der wenigen deutschen Top-Managerinnen. Als Vorstandsvorsitzende der »Charta der Vielfalt« engagiert sie sich für Gleichberechtigung und ein neues Verständnis von wertschöpfendem und wertschätzendem Wirtschaften.

Inhalt

Intro

Kapitel 1Die globalen Herausforderungen

Vernetzung – die Abhängigkeit, von der wir profitieren

Digitalisierung – die Technologie, der wir nicht entkommen

Demografie – wie sich die Welt um uns herum verändert

Nachhaltigkeit – mit der Natur kann man nicht verhandeln

Die nächste unbekannte Krise

Haben wir den Anschluss verpasst?

Kapitel 2Unternehmen in Veränderung

Warum sich Unternehmen verändern

Strukturwandel

Widerstände und Kritik

Vom Shareholder zum Stakeholder

Zahlen und Werte

Das verborgene Kapital

Kapitel 3Die falschen Muster

Führung und Entscheidung

Boni – die falschen Anreize für das Management

Kosten, Kosten, Kosten

Wissen entwertet

Der Faktor Mensch als Belastung

Restrukturierung als Patentrezept

Komplexität sehen

Verkannte Vielfalt

Kapitel 4Ein neues Denken

Was uns an der Veränderung hindert

Neues Vertrauen

Lernendes System

Der Sinn des Unternehmens

Was wäre, wenn?

Kapitel 5So könnte es gehen

Europas Chance – der Green New Deal

Innovation, Forschung und Bildung

Soziale Verantwortung

Der Blick der Investoren

Verborgenes Kapital heben

Kapitel 6Die neue Welt

Die neuen Ziele

Leistung und Erfolg

Humanisierung

Inclusive Leadership

Wir wachsen über uns hinaus

Im Nachgang: Wie weiter?

Anmerkungen

Kapitel 1 – Die globalen Herausforderungen

Kapitel 2 – Unternehmen in Veränderung

Kapitel 3 – Die falschen Muster

Kapitel 4 – Ein neues Denken

Kapitel 5 – So könnte es gehen

Kapitel 6 – Die neue Welt

Über die Autorin

Intro

Es gibt einen Satz, der einen sprachlos macht, ja vielleicht sprachlos machen soll: »Ich verstehe Sie einfach nicht.« Wie geht es Ihnen, wenn Sie diesen Satz von Menschen im Management eines Unternehmens hören? Was soll man darauf sagen? Das Gleiche nochmal erzählen, in anderen Worten? Pause machen und das Gespräch vertagen? Reden wir morgen weiter? Woran knüpfen wir dann an? Worüber reden wir dann? Wie stellen wir auf dieser Basis denn überhaupt ein gemeinsames Verständnis her?

Es gibt noch mehr Sätze dieser Art im Managementumfeld. »Was heißt das denn jetzt konkret?« ist so ein Satz. Er kam oft, wenn ich versucht habe, Komplexität zu erklären. Eine direkte Antwort meinerseits hätte lauten müssen: »Konkret heißt das, dass es nicht so funktionieren wird, wie wir es uns gerade ausdenken, weil wir ein paar Dinge nicht mit einberechnet haben.« Doch das wollten die Fragenden meist gar nicht hören, denn der Alltag im Management läuft anders. Er ist geprägt von Wachstums- und Ergebnisdruck, von Meeting-Marathons und Kennzahlen-Orgien. Er lässt kaum Raum für tiefer gehendes Denken. Es muss einfach immer irgendwie schnell weitergehen. Beliebt ist deshalb auch alles, was schnellen Erfolg und große Aufmerksamkeit nach außen verspricht.

Dabei glaube ich nicht, dass ich Unmögliches verlange. Doch der Satz eines ehemaligen Kollegen klingt mir noch im Ohr: »Frau Grohnert, Sie sind anstrengend und kompliziert für Leute, die schnelle Ergebnisse und einfache Lösungen wollen.« Ich habe diesen Satz nicht als Berufsanfängerin gehört, sondern zu einer Zeit, als ich schon 25 Jahre im Geschäft war, Milliardenprojekte und Großtransaktionen gemanagt hatte, eine ordentliche Leistungsbilanz vorweisen konnte und darüber hinaus für Hunderte Mitarbeiter direkt und für mehrere Tausend im Unternehmen als Personalchefin Verantwortung trug.

Letztendlich hat mir dieser Satz eine wertvolle Erkenntnis gebracht, warum wir an vielen Stellen der Wirtschaft nicht weiterkommen. Es ist eine bestimmte Form der Gesprächsunfähigkeit im Management, die in mir das Bedürfnis ausgelöst hat, dieses Buch zu schreiben. Es ist die Weigerung, Komplexität ernst zu nehmen oder zumindest sich die Zeit zu nehmen, die Vielschichtigkeit von Problemen zu akzeptieren und die Wechselwirkungen innerhalb von System und Organisationen zum Gegenstand des eigenen Nachdenkens zu machen.

Ich selbst halte mich nicht für kompliziert, im Gegenteil. Mit mir kann man über alles reden. Ich setze mich gerne mit Kollegen und Kolleginnen auf einen Cappuccino hin, höre zu und lerne eine neue Perspektive kennen, die mein bisheriges Denken ergänzt und bereichert. Im Lauf von 30 Jahren Management habe ich gelernt, dass nichts so einfach ist, wie wir es im Top-Management gerne hätten. Schnelle Ergebnisse sind oft zu kurz gesprungen, und einfache Lösungen gibt es meist nur dort, wo die Probleme auch einfach sind.

Das sind sie aber nicht. Nicht im persönlichen Umgang, nicht in der Frage, wie wir erfolgreich im Unternehmen zusammenarbeiten, und auch nicht in der Frage, wie wir für die Gesellschaft als Ganzes unseren gewohnten Wohlstand mit den ökologischen und sozialen Herausforderungen der Welt in Einklang bringen. Klimawandel und Migrationsdruck, Hunger und Armut in der Welt, soziale Ungleichheit sowie nationalistische Krisen und Konflikte bestimmen die Tagesmeldungen der Medien. Im vorigen Jahr ergänzt um eine globale Pandemie, die sich die wenigsten so vorstellen konnten.

Wir erleben in den vergangenen Jahren zunehmend eine Kritik am System der Marktwirtschaft (oder auch des Kapitalismus, wie manche sagen), die ich so nicht für möglich gehalten hätte. Vieles davon ist berechtigt. Unsere Art zu wirtschaften hat zu Verwerfungen zwischen Mensch und Natur und auch zwischen Mensch und Mensch geführt. Die Globalisierung wird infrage gestellt, ebenso die Legitimität von großen Konzernen und ganzen Wirtschaftszweigen. Bis hinunter auf die Ebene des einzelnen Unternehmens steht der Verdacht im Raum, die verantwortlichen Akteure würden nur auf kurzfristigen Eigennutz setzen und dabei langfristig das Wohl aller schädigen.

Kommende Generationen wachsen mit dieser Perspektive auf und stellen die Sinnfrage: Möchte ich Teil eines Unternehmens sein, das nicht meinen Wertevorstellungen entspricht? Kann ich das, was von mir verlangt wird, auch guten Gewissens jeden Tag tun, und habe ich auch Lust darauf? Wird meine Leistung, die ich einbringe, einen Beitrag zum großen Ganzen leisten, die Welt ein Stück besser, gerechter, fortschrittlicher machen? Unser westlicher Wohlstand hat einen Wertewandel mit sich gebracht, der plötzlich als Systemfrage zu uns zurückkommt. Freundlich formuliert lautet sie: Ist unsere Art zu wirtschaften produktiv, ertragreich und nachhaltig wertschöpfend?

Dieses Buch ist der Versuch, eine neue Denkrichtung zu beschreiben. Ich bin dabei erfreulicherweise nicht allein. In den vergangenen Jahren haben sich an den unterschiedlichsten Stellen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik Netzwerke und Initiativen entwickelt, die werteorientierte Unternehmensführung und zukunftsorientierte Wertschöpfung thematisieren. Sie alle haben erkannt, dass sich auch komplexe Probleme lösen lassen, wenn man im Team zusammenarbeitet und die vielfältig vorhandene Expertise einbezieht.

Da ich keine Politikerin bin, kann ich kein abschließendes Programm anbieten, über das gesellschaftspolitisch abgestimmt werden kann. Ich bin Managerin. Ich bin gut darin, Dinge zu analysieren und konkrete Lösungen zu entwickeln. Je multidimensionaler, desto besser. Ich liebe Komplexität, ich bin von meiner Herkunft eigentlich eine klassische »Faktenanalystin«. Die ersten 15 Jahre meines Berufslebens war ich hauptsächlich damit beschäftigt, die Komplexität von Projekten in ihre Einzelteile zu zerlegen und sie transparent zu machen. Dadurch wiederum lassen sich die wirtschaftlichen Risiken bewerten, und man kann dann einen Weg finden, diese Risiken auf die richtigen Risikoträger zu verteilen, zu verringern und so den wirtschaftlichen Erfolg abzusichern. Parallel dazu ging es darum, »Assets« zu bewerten. Üblicherweise übersetzt man den Begriff als »Vermögenswert«, das ist mir allerdings zu statisch. Ich finde »Wirtschafsgut« besser, weil der Begriff eher das Zukunftspotenzial beinhaltet, auf dessen Basis man beispielsweise ein geschäftliches Risiko eingehen oder absichern kann. Das Zusammenspiel von Wirtschaftsgut und Risiko dürfte sich als Denkschema wie ein roter Faden durch dieses Buch hindurchziehen und wirkt sich natürlich auch auf meine Gedanken zur Gesellschaft aus.

Die zweite Hälfte meines bisherigen Berufslebens war geprägt davon, die Komplexität von Unternehmen transparent zu machen. Für mich ist ein Unternehmen ein komplexes System, das Wertschöpfung generieren soll und dabei vielen verschiedenen Ansprüchen gerecht werden muss. Das klassische Shareholder-Value-Denken ist längst für alle sichtbar an seine Grenzen gestoßen. Das reine, kurzfristige Interesse am Gewinn hat eine Fülle von Zielkonflikten produziert, mit Kunden und Lieferanten, Beschäftigten und Geschäftspartnern und oft genug auch mit der Gesellschaft als Ganzer.

In einer komplexen Welt, die sich kontinuierlich verändert, muss ein Unternehmen jeden Tag aufs Neue seine Daseinsberechtigung beweisen. Viele Unternehmen sind weder so aufgebaut noch darauf eingestellt, dies zu leisten. Die deutsche Wirtschaft befindet sich gerade in der Mitte einer anhaltenden Transformationswelle, die ständigen Wandel als »New Normal« setzt und auch einige Versäumnisse der Vergangenheit aufarbeiten muss. Die klassische hierarchische Organisation mit bürokratischen Prinzipien und eindimensionalen Zielbildern ist nicht zukunftsfähig. Statt reibungsloserer Reproduktion der immer gleichen Prozesse rücken Innovationsfähigkeit und Flexibilität in den Kern der Organisationsprinzipien. Das Unternehmen muss vom Transaktionsraum von Handlungen zum Interaktionsraum der Ideen werden. Der einzelne Mensch – jeder und jede – gewinnt dabei die zentrale Bedeutung. Gerade weil das so ist, wirkt auch die Veränderung der Gesellschaft, von individuellen Wertevorstellungen und Interessen immer stärker auf ein Unternehmen ein.

Damit wir uns richtig verstehen: Es geht mir nicht um Feel-good-Programme und oberflächliche gute Laune in den Unternehmen. Wir dürfen uns nicht selbst an der Nase herumführen. Ein Unternehmen muss Geld verdienen, damit alle Beteiligten gut leben können. Das schnelle Geld zu machen ist manchmal gar nicht so schwierig. Aber dauerhaft gutes Geld zu machen, das muss die Aufgabe sein. Das kann nur gelingen, wenn unser Profitinteresse Hand in Hand geht mit unserer Bereitschaft zur gesellschaftlichen Verantwortung. Dazu muss man sich der Komplexität unserer Welt stellen und nicht ständig nach Umwegen und Abkürzungen suchen, die doch nie zum Ziel führen.

Ein Schlüsselthema für mich ist die Restrukturierung von Unternehmen, besser gesagt die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wertschöpfung. Auch hier bin ich nicht von den vermeintlich einfachen Lösungen überzeugt. Der klassische groß angelegte Personalabbau ist in den allermeisten Fällen eine äußerst kurzfristige Ergebniskosmetik der Bilanz, und man vermutet irrtümlicherweise, dass er sich rechnen würde. An der Börse sorgen die Ankündigungen von Stellenabbau oft sogar für Zugewinne. Aber gewinnen wir für das Unternehmen tatsächlich etwas? Sind diese Programme auch sinnvoll, tragfähig und vor allem wirtschaftlich im Sinne einer langfristigen Wertschöpfung? Oder vernichten wir nicht geradezu Kapital oder »Assets«, indem wir Menschen einfach nur loswerden wollen? Wissen wir überhaupt, wen und was wir verlieren? Was uns an Kompetenz, Erfahrung, persönlichen Kundenbeziehungen, kollegialer Verbundenheit oder schlicht an Vertrauen im Markt und bei den Beschäftigten verloren geht?

Nicht, dass es nicht notwendig wäre, im Rahmen von Restrukturierungen und Reorganisationen auch die Frage zu stellen, wie viele Menschen es braucht, die Aufgaben zu erledigen. Doch oft genug wissen wir es nicht und entscheiden trotzdem aus der Gewohnheit heraus: Tausende von Leuten sollen gehen. Das widerspricht fundamental sowohl den Prinzipien, wie ich sinnvolle wirtschaftliche Entscheidungsprozesse in fast 30 Jahren Berufstätigkeit erlebt habe, als auch einer humanitären und werteorientierten Perspektive, die ich insbesondere meinem familiären Umfeld und einer Reihe von Mentorinnen und Mentoren zu verdanken habe. Ein Unternehmen, eine Wirtschaft, die nicht den Menschen dient, wird dauerhaft keine Daseinsberechtigung haben.

Aus diesen Gedanken rührt auch der Titel meines Buches. Ich will auf das verborgene Kapital aufmerksam machen, das wir unwissentlich übersehen, selbstgefällig ignorieren oder aus egoistischen Motiven sogar absichtlich vernichten. Das verborgene Kapital existiert für mich auf drei Ebenen. Auf der individuellen Ebene sind es die Potenziale, die in jedem und jeder von uns stecken. Im Unternehmen ist es die Summe aller, die Vielfalt der Individuen und ihrer Potenziale. Und auf der gesellschaftlichen Ebene ist es der Mehrwert, der durch das Prinzip Kooperation statt Konflikt entsteht. Für alle drei Ebenen will ich Handlungsansätze, Möglichkeiten und Ideen aufzeigen.

Zu manchen, ganz speziellen Dingen habe ich eine sehr klare Meinung und denke, dass ich die Antworten kenne. In anderen Dingen habe ich mich vorläufig festgelegt, scheue aber die abschließende Einordnung. Bei vielen Themen bin ich selbst eine Suchende und Fragende. Hier will ich diskutieren und Diskussionen anstoßen.

Damit Sie wissen, was auf Sie zukommt, folgen hier ein paar Worte zum Aufbau dieses Buches.

Im ersten Kapitel will ich das Umfeld beschreiben, in dem wir uns als Unternehmen, aber auch als Individuen zurechtfinden müssen und das uns auch für die Zukunft Veränderungen abverlangen wird. Dabei geht es mir ausdrücklich um die globale Perspektive. Wenn es noch eines Hinweises bedurft hätte, wie sehr unser Planet und damit unser aller Schicksal darauf verwoben und verflochten ist, so haben wir ihn durch Corona bekommen.

Im zweiten Kapitel will ich Sie mit ein paar Kerngedanken zum Thema Veränderung vertraut machen, die sich in rund 30 Jahren Management bei mir verfestigt haben. Dabei denke ich hautsächlich auf der Ebene des Unternehmens, weil das der Ort ist, an dem die meisten von uns jeden Tag die meiste Zeit verbringen und deshalb eigentlich auch die größte Wirkung auslösen sollten.

Das dritte Kapitel dürfte der Teil des Buches sein, der manchen am wenigsten gute Laune macht. Ich möchte in einer auch für mich ungewöhnlichen kritischen Tonlage sagen, was aus meiner Sicht in Zukunft nicht mehr geht. Wir reden zu oft auch um Probleme herum, die wir eigentlich alle kennen. Das bringt uns aber nicht weiter. Lieber ehrlich auf den Tisch damit und dann schauen, wie wir herauskommen.

Im vierten Kapitel will ich Lösungsansätze anbieten. Mir geht es dabei zuerst um einen Perspektivwechsel und ein grundsätzlich neues Denken: weg von den Regeln und Prozessen, die wir immer noch befolgen, obwohl sie nicht mehr zum Erfolg führen, hin zu Prinzipien und Ideen, die uns genauso gut leiten und besser machen.

Im fünften Kapitel möchte ich dazu ein paar Beispiele bringen, die ich interessant finde, die vielversprechend klingen, die mir imponiert haben. Menschen, die einen Schritt vorangegangen sind. Konzepte, die besser funktionieren als andere. Ideen, die in die Zukunft gehen.

Im sechsten Kapitel schließlich will ich einen Ausblick wagen und Mut machen, unsere Wirtschaft neu zu denken. Wir haben so viele Gestaltungsmöglichkeiten in Händen, wir haben so viele gute Ansätze in den Köpfen, die Zeit ruft förmlich danach, dass wir endlich anpacken.

Darüber hinaus habe ich eine Reihe von Stimmen eingebunden, die mich begleitet haben und die mir wichtig sind. Ich empfinde es als große persönliche Bereicherung, dass ich von so vielen unterschiedlichen Menschen Dinge lernen durfte. Man ist allein eben doch nie so schlau wie in der Diskussion mit anderen. Umso wichtiger sind die Stimmen, die den entscheidenden Hinweis geben.

Ganz ohne Zahlen geht es bei mir auch nicht, aber Sie werden es verkraften. Ich habe mich bemüht, sie überschaubar zu halten. Denn dies ist kein Fachbuch für Finanztransaktionen oder Personalmanagement.

Ein Wort noch zu Corona: Mit der Idee zu diesem Buch hatte ich schon lange vor Beginn der Pandemie begonnen. Zwangsläufig hat sich im Laufe des Schreibens die Frage gestellt: Was hat sich durch Corona verändert? Ich befürchte, dass sich im Sinne dessen, was ich hier zusammengetragen habe, noch nicht genug bewegt hat. In manchen Bereichen sind wir vielleicht sogar zurückgefallen.

Zuallererst hat die Corona-Krise eine viel zu große Zahl an Menschen das Leben gekostet. In Deutschland sind wir vergleichsweise glimpflich davongekommen. Das katastrophale Versagen einzelner autoritärer Staatschefs und ihrer Unterstützer aufgrund einer kaltblütigen Ignoranz kann einem auf viele Tausend Kilometer Entfernung die Zornesröte ins Gesicht treiben.

Wirtschaftlich hat die Pandemie einen enormen Wertschöpfungsverlust auf der ganzen Welt ausgelöst. Unternehmen sind in Existenznot geraten, Menschen haben ihre Arbeit verloren, ganze Branchen sind wie ein Strohhalm eingeknickt. Auch wenn die mittelfristigen Wachstumsaussichten für die deutsche Wirtschaft Hoffnung machen und die Verluste bald in Vergessenheit geraten, wird Corona als Jahrhundertereignis in unserem Gedächtnis bleiben. Als die Erinnerung an eine Katastrophe für manche Länder, die vielleicht vermeidbar gewesen wäre? Wer will das sagen?

Mir würde reichen, wenn wir uns an dem orientieren, was uns – bei allen Mängeln – einigermaßen durch die Krise gebracht hat: die vorausschauende Verantwortung in Politik und Wirtschaft sowie funktionierende staatliche Institutionen und private Unternehmen, die kollektive Risiken abdecken können. Insbesondere aber denke ich an die individuelle Kreativität, Verantwortung und Hilfsbereitschaft von Menschen, die wir in jeder Krise beobachten können und die uns auch bei allen anderen notwendigen Veränderungen unglaublich weiterhelfen. Aber da sind wir schon mitten im Thema.

Kapitel 1Die globalen Herausforderungen

Vernetzung – die Abhängigkeit, von der wir profitieren

Die Corona-Pandemie hat plötzlich die Perspektive auf ein Thema verändert, bei dem es scheinbar nichts mehr zu diskutieren gab: die Globalisierung. Die einen fanden sie gut, sahen darin die Grundlage von Wachstum und Erfolg der deutschen Wirtschaft. Die anderen sahen sie als Ursache vieler Übel. Ich mag diese Schwarz-weiß-Betrachtungen generell nicht. Wir müssen die Voreinstellungen und gedanklichen Konfliktlinien beiseiteschieben und uns erst einmal ganz nüchtern klarmachen, worüber wir reden. Erst dann werden wir sehen, welche Handlungsmöglichkeiten wir haben.

Also, wann hat dieser Prozess, den wir Globalisierung nennen, eigentlich angefangen? Mit der Erfindung des Flugzeuges? Mit der Entwicklung des Kapitalismus und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert? Mit Kolumbus, der Kolonialisierung und dem Sklavenhandel? Mit Marco Polo, den Kreuzzügen oder der Völkerwanderung der Germanen im 4. Jahrhundert? Mit den Römern oder dem Makedonier Alexander? Wir finden schwerlich einen Anfang bei einem Einzelereignis oder in einer bestimmten historischen Epoche.

Noch dazu sind diese Perspektiven alle eurozentristisch, aus unserer westlichen Sicht, durch unsere Erfahrung und Ausbildung geprägt. Wir sagen wahlweise, Christoph Kolumbus, Amerigo Vespucci oder Leif Erikson hätten »Amerika entdeckt«. Das Merkwürdige dabei ist, dass es dort weit vorher schon Menschen gab. Und während wir so auf unserer Seite des Globus Dinge entdeckten, die wir noch nicht kannten, entdeckte man zum Beispiel in China andere Regionen, Länder, System und Menschen.

Wenn wir die Suche nach dem Anfang der Globalisierung ins Extreme weiterführen, dann landen wir bei der sogenannten »Mitochondrialen Eva«. Sie ist eine archäologisch-genetisch definierte Person, nämlich diejenige »Urmutter«, welche die gemeinsame Vorfahrin aller heute lebenden Menschen ist. Weshalb im Übrigen das Gerede von unterschiedlichen Menschenrassen ziemlicher Unsinn ist. Wir sind eine Rasse. Und wir sind (fast) alle Migranten. Denn wir müssen davon ausgehen, dass »Eva« vor 150 000 Jahren irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent gelebt hat. Der Rest ist Geschichte.

»Jetzt übertreibt sie aber«, höre ich vor meinem geistigen Ohr den einen oder die andere sagen. Ich glaube nicht. Denn wenn wir uns fragen, was Globalisierung ist, dann ist es eben ein Prozess, der über Jahrtausende stattgefunden hat, und zwar über lange Zeit ohne Regeln, sondern nur entlang der technologischen Möglichkeiten und der Ambitionen von Menschen. »Humanizing the globe«1, hat es der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Baldwin genannt. Es gab schon immer diesen Antrieb, die Motivation, etwas »Neues« zu entdecken. Dazu gehören insbesondere die Suche nach einem besseren Leben in Sicherheit und mit einer Wachstums- und Wohlstandsperspektive. Und natürlich auch die Suche nach neuen Geschäftsgelegenheiten. Der portugiesische König Manuel I., Auftraggeber von Vasco da Gama, suchte den Seeweg nach Indien, weil er die zahlreichen Zwischenhändler und Zollstationen ausschalten wollte, die den Preis von Handelsgütern deutlich verteuerten. Es war also ein wirtschaftliches Unterfangen, noch dazu mit einem hohen Finanzaufwand und einem noch höheren Risiko. Der wirtschaftliche Erfolg war abhängig davon, wie gut die Menschen die neuen Technologien in der Seefahrt meistern konnten, wie gut ihnen die Interaktion mit den jeweiligen Zielen ihrer Reisen gelang und zu welchen Risiken die Mitreisenden selbst bereit waren.

Wir in den westlichen Industrieländern machen heutzutage Fernreisen, um unsere Neugier zu stillen und unser Wissen um die Welt zu erweitern. Wir trinken ganz selbstverständlich Kaffee und Grünen Tee, tragen amerikanische Turnschuhe, die in China produziert werden, oder beschenken uns zu Hochzeiten mit Diamanten aus Botswana oder Russland. Das Bundeswirtschaftsministerium hat die Zahlen dazu. Mehr als 20 Prozent der Nachfrage in Deutschland werden durch Importe gedeckt. Im internationalen Handel erwirtschaftet Deutschland seit vielen Jahren einen deutlichen Exportüberschuss, zuletzt mehr als 223 Milliarden Euro im Jahr. Ein großer Teil, fast 40 Prozent, dieser Waren und Dienstleistungen kommen ihrerseits wieder unter Verarbeitung von Importen zustande. Rund 28 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland hängen direkt oder indirekt vom Export ab. Innerhalb der G7-Staaten ist Deutschland die »offenste« Volkswirtschaft.2 Gerade für uns in Deutschland gilt also: Die Globalisierung ist nicht nur, aber eben zum großen Teil eine Grundlage unserer Wirtschaft.

Meine erste berufliche Globalisierungserfahrung

Für mich selbst in meinem Berufsleben gab es die Globalisierung schon immer. Direkt mein erster Job war umfassend davon geprägt. Mein Arbeitgeber wurde das Unternehmen, das heute die TUI ist und Menschen in die Ferien bringt. Es hieß damals, 1992, noch Preussag und war ein industrieller Mischkonzern, der kurz zuvor in einer der größten Fusionen der deutschen Wirtschaftsgeschichte die Salzgitter AG übernommen hatte. Die Preussag war Teil der sogenannten »Deutschland AG«, des Netzwerks derjenigen Konzerne und auch Banken, die unsere Wirtschaft und insbesondere auch deren internationale Stellung über Jahrzehnte wesentlich bestimmten. Ich begann nach meinem BWL-Studium dort im Rahmen eines Trainee-Programms und landete gleich zu Beginn in der Abteilung für Export- und Projektfinanzierung. Die globale Marktausrichtung lag an der Art der Produkte und Leistungen bei Preussag. Langlebige Investitionsgüter und Infrastrukturprojekte. Schiffe. Kraftwerke. Kläranlagen.

Nicht nur, dass mir eine Kultur, die von Ingenieuren dominiert ist, bis dahin völlig unbekannt war. Ich wurde gleich in ein Umfeld geworfen, das mit den verschiedensten Kulturräumen auf dem Globus Geschäfte machte. Das just zu der Zeit, als der Eiserne Vorhang gerade gefallen war, ganz Osteuropa sich öffnete und die Welt dadurch – gefühlt zumindest – gewachsen war.

Wir verkauften damals zum Beispiel komplette Industrieanlagen in die sich öffnenden osteuropäischen Länder. Ich durfte Vorstandsvorlagen schreiben, bei denen es um die Abwicklung von Aufträgen der Tochterunternehmen ging. Dazu gehörten insbesondere die Fragen der Finanzierung, zum Beispiel über KfW-Kredite, sowie des Risikomanagements und der Absicherung zum Beispiel über Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung. Weil alles technisch komplex war, saßen die unterschiedlichsten Experten mit am Tisch. Und weil viel Geld aufgebracht werden musste, auch alle großen Banken.

Ich bekam sehr schnell eigene Projektverantwortung. Eines meiner ersten Projekte war die Finanzierung eines Chemiewerkes im Ural. Diese Art Arbeit kann man nicht vom Schreibtisch aus machen, da muss man auch mal hin. Nicht nur, um einen Eindruck zu bekommen und die Aufgabe besser zu verstehen, sondern allein schon aus Respekt vor den Geschäftspartnern. Vom wohlgeordneten Hannover aus gesehen war der Ural das Ende der Welt. Erreichbar nur mit einer Kaskade von Verkehrsmitteln, wovon das letzte dann ein Lkw war, der gefühlte 45 Grad Celsius Innentemperatur hatte, während draußen die gleiche Zahl an Minusgraden herrschte. Die Dolmetscherin der Vertragsverhandlungen und ich waren die einzigen Frauen. Es gab Sicherheitskräfte, hauptsächlich wegen uns, denn allabendlich floss der Wodka in Strömen. In der Unterkunft hatten unsere Türen außen keine Klinken und waren immer abgeschlossen. Und ich musste mich auf eine Art zu verhandeln einstellen, die so noch nicht kannte. Es war anstrengend, aber ich habe viel gelernt.

Zum Beispiel, dass es überall auf der Welt nach anderen Regeln zugeht. Immer wieder erlebte ich unterschiedlichste Systeme, Gesetzmäßigkeiten, Kulturen und nicht zuletzt eine Vielzahl kleinteiliger Interessen, die es zu durchschauen gilt. Und wir erleben, wie sich nach und nach neue Perspektiven zur eigenen addieren und wie sich die Welt in ihrer ganzen Komplexität mit immer neuen Überraschungen präsentiert. Dabei ist es wichtig aufzupassen, die eigenen Perspektiven nicht absolut zu setzen und immer wieder zu reflektieren. Und man muss Kompromisse eingehen.

Mir fällt das Beispiel einer Meerwasserentsalzungsanlage ein, die wir in Saudi-Arabien mitbauten. Da ich die Projektverantwortung hatte, als Frau in Saudi-Arabien damals aber nicht verhandeln durfte, mussten wir die Gespräche im angrenzenden Bahrein führen. Das war ein Zugeständnis, das nichts kostet. Den eigentlichen Kompromiss aber mussten wir in der Sache finden. Denn es hatte sich herausgestellt, dass die Meerwasserentsalzungsanlage nicht optimal auf die örtlichen Bedingungen eingestellt war. Infolge der vielen, für die Region üblichen Sandstürme setzten sich die Filter regelmäßig zu und machten Probleme. Das war in dieser Dimension im Vorfeld nicht vorhergesehen und hätte in den technischen Daten der Ausschreibung spezifiziert werden müssen. Nun war der Konflikt da. Und was beim Streit um die Parklücke, die einem vor der Nase weggeschnappt wird, noch funktioniert, nämlich den anderen als Fiesling beschimpfen und laut schnaubend abdampfen, das geht eben bei einem hohen zweistelligen Millionenprojekt nicht mehr.

Es kommt sehr schnell der Punkt, an dem die Argumente »Das hättet ihr uns sagen müssen!« versus »Das hättet ihr wissen müssen!« an ihre Grenzen stoßen. Man muss sich einigen und eine Lösung finden. Man schießt sich selbst ins Aus, wenn man Macht, Überlegenheit oder Informationsvorsprünge ausspielt. Das produziert Verlierer auf der anderen Seite, was keine gute Basis für das nächste Geschäft ist. Alle tun also gut daran, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen – gerade, wenn sie wirtschaftlich erfolgreich sein wollen.

Viele Erfahrungen haben mich zu neuem Denken angeregt. Bei Preussag gehörten zu unserem Portfolio zum Beispiel auch die U-Boote der Howaldtswerke Deutsche Werft (HDW), die von so unterschiedlichen Ländern wie Brasilien oder dem NATO-Partner Türkei gekauft wurden. Schauen wir uns die politische Situation in beiden Ländern heutzutage an, schütteln wir fassungslos den Kopf.

Es war zu erwarten, dass dann der NATO-Partner Griechenland umgehend auch ein neues U-Boot haben wollte, weil es dem anderen NATO-Partner Türkei kein besonderes Vertrauen entgegenbrachte. HDW konnte sehr gute U-Boote bauen, mit jedem neuen U-Boot waren Tausende Arbeitsplätze in Kiel, Emden und anderswo wieder für ein paar Jahre gesichert. Inmitten der Finanzkrise 15 Jahre später stand der griechische Staat dann vor dem Bankrott – neben einer Reihe politischer und struktureller Unzulänglichkeiten auch deshalb, weil er über viele Jahre weit überdurchschnittliche Militärausgaben hatte. Im Jahr 2009 waren es 6,72 Milliarden Euro. Bei 11 Millionen Einwohnern macht das 610 Euro pro Kopf oder 3,2 Prozent des Staatshaushaltes. Deutschland lag damals bei 44 Milliarden Euro oder 1,4 Prozent des Staatshaushaltes. Bei 82 Millionen Einwohnern macht das pro Kopf also 536 Euro. Hatte Griechenland »mehr Sicherheit«? Hatten wir »effizientere Sicherheit«, weil wir weniger Geld dafür ausgaben? Haben wir »besser gewirtschaftet«?

Die egoistische Perspektive mit der nationalen Brille hilft uns nicht weiter, die Komplexität von internationalem Handel und Globalisierung zu durchschauen.

Die Material- und Warenströme des Handels und des Konsums vernetzen die Welt schon seit Jahrtausenden. Was wir als Menschheit dabei gerade erst anfangen zu begreifen: Diese globale Vernetzung vernetzt auch unsere Schicksale. Sie schafft Abhängigkeiten. Im Laufe der Geschichte haben Staaten immer wieder versucht, »unabhängig« zu sein. Die Wahrheit ist, dass es eine Unabhängigkeit dieser Art nicht gibt, niemals geben kann. Weil wir uns alle eine Welt teilen und weil wir nur eine Welt haben.

Worum es mir geht: Handel, Produktion, Wirtschaft insgesamt – all das sind keine Phänomene, die wir national aus einer Insel-Perspektive betrachten können. Die Rohstoffe, die im Ural abgebaut und im Chemiewerk aufbereitet werden, sie finden den Weg nach Ludwigshafen oder Essen. Sie werden weiterverarbeitet zu Werkstoffen und schließlich zu Produkten. Am Ende stecken sie genauso in der Gitarrensaite wie in der Euro-Münze oder dem Gleis der Berliner Straßenbahn. Für uns sind es die Vorteile der Globalisierung, die Kehrseite gibt es aber auch.

Als ob es noch eines Beispiels bedurft hätte, hat uns voriges Jahr die Corona-Pandemie aufgezeigt: Globale Probleme lassen sich nur begrenzt national bekämpfen und schon gar nicht national lösen. Oder, wie es Henrik Enderlein, Präsident der Hertie School of Governance in Berlin formuliert: »Eine gemeinsame Krise braucht eine gemeinsame Antwort.«3

Digitalisierung – die Technologie, der wir nicht entkommen

»Das Internet ist für uns alle Neuland …«4. Für diesen Halbsatz musste Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2013 viel Spott und Häme über sich ergehen lassen. Noch dazu ging die Fortsetzung des Satzes unter. Dabei ist es so wichtig, Menschen einfach erst einmal zuzuhören und verstehen zu wollen, anstatt reflexhaft an der ersten möglichen Stelle gedanklich wieder auszusteigen, um die eigene uralte Schallplatte aufzulegen. Die Fortsetzung des Satzes lautet: »… und es ermöglicht auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung natürlich, mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen.« Sieben Jahre später ist nicht nur das Internet immer noch Neuland, sondern wir haben auch immer noch keine wirkliche Handhabe gegen seinen Missbrauch, gegen Hass und Hetze in den Sozialen Medien, gegen Falschinformationen und Manipulationen.

In der Hochphase der Corona-Pandemie konnten wir erleben, wie sich zahlreiche Menschen weltweit an obskure Experten klammerten, um einfach ihre gewohnten Abläufe behalten zu können oder gar der Realität nicht ins Auge sehen zu müssen. Microsoft-Gründer Bill Gates wird plötzlich zum ultimativen Vertreter des Bösen, weil er zusammen mit seiner Frau Melinda seit vielen Jahren Geld seiner Stiftung für internationale Gesundheitsprogramme spendet, die wesentlich zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten beigetragen haben. Verschwörungsmythen sehen darin den Griff nach der Weltherrschaft. Ein beliebtes Motiv, das man auch von antisemitischen Äußerungen gegen den Philanthropen Georg Soros kennt.

Aber nicht nur Reiche und vermeintlich Mächtige werden zum Ziel von Hass, sondern mehr noch diejenigen, die damit auch bislang schon zu kämpfen hatten. Zuvorderst Minderheiten und Randgruppen sowie Menschen, die auf der Flucht sind. Fremdenfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit oder Homophobie sind sogar zum Geschäftsmodell geworden. Im Internet kann man damit Geld verdienen. Der US-amerikanische Journalist Chris Anderson beschrieb 2004 ein Phänomen, das er »The long tail«5 nannte, den »langen Schwanz« der Nachfrage, der in der analogen Welt nie ganz ausgenutzt werden konnte. Etwas verkürzt gesagt: Wenn ich ein Produkt digital herstellen und anbieten kann, ist es so günstig zu vermarkten, dass ich damit auch sehr kleine Nachfragegruppen bedienen kann. Anderson hat sein Prinzip am Beispiel des Buchhandels erläutert und den Erfolg von Amazon damit erklärt. Um ein Buch wie dieses hier in einem stationären Laden anbieten zu können, muss es erst einmal in einer bestimmten Auflage produziert und dann an viele Buchhandlungen verteilt werden. Ein Buch, das übers Internet verkauft wird, könnte »on-demand«, also erst bei Nachfrage digital gedruckt werden. Bei E-Books, Podcasts oder Videos gibt es überhaupt keinen Produktionsaufwand mehr, der von der Käuferzahl abhängt. Und weil es fast immer irgendjemanden gibt, der noch die absonderlichsten Dinge kauft, kann sich das schon bei kleinen Mengen lohnen. Leider auch bei den falschen Dingen. Meinungen und politische Einstellungen sind auch Waren, die gehandelt werden. Und so gibt es mittlerweile auch einen »Long tail of hate«. Es gibt einen Markt für Hass, Hetze und Menschenfeindlichkeit, der teilweise sogar global aufgestellt ist. Eine neue Dimension der Vernetzung.

Die Liste der Bedrohungen lässt sich verlängern. Wer Kinder hat, der mag gar nicht daran denken. Hinrichtungsvideos oder Pornografie, die in Chat-Gruppen oder auf dem Schulhof ohne Altersbeschränkung die Runde machen. Videos, die die Kids selbst voneinander machen, um sich gegenseitig bloßzustellen. Anbieter, die solche Videos nutzen, um Nutzer auf ihre Internetseiten zu ziehen. Irreführende Werbung oder der Versuch, an Nutzerdaten zu kommen, und vieles mehr. Was der Mensch an Unfug anstellen kann, stellt er eben auch digital an.

Kein Zweifel: Das Internet hat die Kommunikation demokratisiert und beschleunigt. Aber es ist, als ob man der Menschheit über Nacht Autos und Straßen, jedoch keine Verkehrsregeln gegeben hätte. Und niemand da ist, der die Geisterfahrer und Besoffenen aus dem Verkehr zieht. Die Kanzlerin hat auch in dieser Hinsicht klarer gesehen als viele andere, die meinten, es verstanden zu haben.

Was ist Digitalisierung?

Falls es so klingt, als sei ich eine Pessimistin: Das Gegenteil ist der Fall. Ich halte nicht nur die beschriebenen Probleme, sondern auch die noch kommenden für lösbar. Voraussetzung ist, dass wir verstehen, mit welchem Phänomen wir es zu tun haben. Ähnlich wie bei der Globalisierung können wir uns dazu fragen, wann die Digitalisierung denn angefangen hat. Geschah dies mit dem 1989 von Tim Berners-Lee entwickelten World Wide Web oder schon mit militärischen Vorläuferprojekten wie dem Arpanet? Gehören die Lochkarten der 1960er- und 1970er-Jahre schon zur Digitalisierung, oder liegt der Anfang sogar in der Erfindung des Computers durch Konrad Zuse oder gar in den Rechenmaschinen des 19. Jahrhunderts, zu denen eine Frau, Ada Lovelace, die erste »Software« schrieb? Wollen wir noch weiter zurückgehen, bis zur Erfindung von Null und Eins? Da sehen wir Europäer übrigens gar nicht gut aus, denn Inder, Babylonier und Maya kannten die Null als Zahl schon Jahrhunderte, bevor diese bei uns bekannt wurde.

Es zeigt sich: Nicht ein Mensch hat zu einem Zeitpunkt etwas erfunden, sondern wir haben eine Entwicklung, die in größeren und kleineren Schritten vonstattengeht, die stark vom Austausch lebt und zu der viele beitragen. Und die durchaus paradoxe Aspekte hat. Einerseits kommen uns viele Entwicklungen nicht als Schritte, sondern eher als Sprünge vor. Andererseits kommen wir in der Umsetzung merkwürdigerweise wenig voran. Flächendeckendes schnelles Internet in Deutschland oder Homeoffice als fester Bestandteil des Arbeitens sind eben noch nicht die Regel. Ich kann mich erinnern, dass wir bei der DLDwomen-Konferenz 2011 unter dem Titel »Age of Possibilities« über die Flexibilisierung der Arbeitswelt diskutiert haben. Die faszinierende Vorstellung war damals, arbeiten zu können, wann und wo man will. Es hat fast zehn Jahre und ein gefährliches Atemwegsvirus gebraucht, bis die Unternehmen und Deutschland endlich auch flächendeckend Homeoffice eingeführt haben. Es hätte für viele einfacher sein können.

Der grundsätzliche Antrieb bei der Digitalisierung ist, wie so oft, in der Wissenschaft die Suche nach Lösungen, die uns die Arbeit erleichtern oder sogar abnehmen können. Die Utopie, dass niemand mehr arbeiten müsste, weil alles von Maschinen erledigt wird, ist genauso alt wie die Angst vor den Maschinen, die uns beherrschen. Oder die uns die Arbeit nicht als Belastung ab-, sondern als Broterwerb wegnehmen.

Natürlich ist Digitalisierung auch Rationalisierung. Was Maschinen besonders gut können, ist Routine. Sie arbeiten nach einem bestimmten Programm und führen immer die gleichen Vorgänge mit den gleichen Ergebnissen aus. Das ist bestens kalkulierbar. Unternehmerisch suchen wir deshalb danach, wie wir einen Leistungsprozess so gestalten können, dass er immer gleich abläuft. In der Produktion können wir uns das leicht vorstellen: Glas fährt unter den Trichter, Maschine füllt Joghurt ein, Band fährt weiter, Maschine schraubt Deckel drauf.

Aber auch Dienstleistungen organisieren wir oft so, dass die Vorgänge mit Kunden sich wiederholen. Wir analysieren unseren Arbeitsprozess, zerlegen ihn in Teilaufgaben, bündeln diese dann neu und ermöglichen so bei uns intern eine Spezialisierung. Wir bekommen ganze Abteilungen von Spezialisten und mit partieller Zuständigkeit. Und am Ende wollen wir natürlich skalieren, das heißt, unseren Output nach denselben Regeln immer weiter erhöhen. Dadurch reduzieren sich im Verhältnis unsere Grundkosten, die wir immer haben. Wir können Rohstoffe und Materialien günstiger einkaufen, weil wir größere Mengen abnehmen. Und wir können aufgrund des Mengenvolumens auch in einen Preiswettbewerb mit anderen Anbietern gehen. Den Vorteil »an den Kunden weitergeben«, wie man im Marketing gerne sagt. Digitalisierung bringt ein enormes wirtschaftliches Potenzial für viele Geschäftsmodelle. Sie sorgt ganz klassisch für Effizienz und schafft Wettbewerbsvorteile.

Digitalisierung als Bedrohung?

Aber die Digitalisierung birgt zugleich drei wesentliche Herausforderungen. Die erste hat mit der Kundenbeziehung zu tun und mit dem Widerspruch zwischen massenhafter Leistungsherstellung auf der einen Seite und der Individualisierung von Kundenwünschen auf der anderen Seite. Dass in der Rationalisierung ein Widerspruch dieser Art liegt, nehmen wir schon gar nicht mehr wahr. In unseren Marketingaussagen ist der Kunde König und bekommt eine Leistung ganz nach seinen Vorstellungen und Wünschen. Praktisch bekommen aber alle das Gleiche, es ist also jeder König und jede Königin. Und somit am Ende wieder niemand. In der Regel sind unsere Leistungen, die so zustande kommen auch alles andere als königlich, sondern ganz und gar durchschnittlich. Das muss nicht schlimm sein, es kann einem Unternehmen aber kräftig auf die Füße fallen. Wer einmal den halben Nachmittag in den Callcenter-Schleifen eines Telefonanbieters oder eines Softwarelieferanten zugebracht hat, der möchte seine Krone als Kunde am liebsten gegen die Wand donnern. Schon der eigentliche Prozess, mit noch relativem Digitalisierungsanteil, ist dominiert von Effizienz. Das theoretische Ideal aus Kundensicht wäre ja: eine feste, vertraute Ansprechperson, die ich jederzeit erreichen kann, wenn ich ein Problem habe. Die Praxis will dem auf betriebswirtschaftlich effiziente Weise entgegenkommen und produziert doch häufig das genaue Gegenteil. Man spricht nach einiger Wartezeit wegen Überlastung mit einer unbekannten Person, die mit einem Vorgang nicht vertraut ist und im besten Fall auf eine digitale Information im Kundenmanagementsystem zurückgreifen kann. In aller Regel ist das kein Spaß für Kunden und auch nicht für die Beschäftigten, wie die Fluktuation in vielen Callcentern zeigt.

Mit Hochdruck arbeiten wir derzeit daran, weiter zu rationalisieren und zu digitalisieren. Die Utopie von der Maschine, die alles macht, hat erstaunlicherweise auch ins Management Einzug gehalten. Dort heißt sie »Chatbot«. Die Kundenanfragen sollen nun Computerprogramme automatisch beantworten, alle denkbaren Fälle sollen in einer Datenbank hinterlegt sein. Kein Mensch muss mehr die »lästige« Arbeit machen und ahnungslosen Nutzern erklären, welche Menüeinstellungen am Gerät verändert werden müssen.

Wollen wir es uns wirklich so einfach machen? Können wir den Faktor Mensch als Leistungserbringer hinter der digitalen Wand irgendwann ganz verschwinden lassen? Werden Menschen lieber mit Maschinen als mit Menschen kommunizieren? Wollen wir unsere Kundenbeziehungen entmenschlichen?

Mit Alexandra Borchardt habe ich häufiger genau darüber gesprochen. Sie sagt, dass die digitale Transformation eben nicht in erster Linie ein Problem der Technik ist: »Die eigentliche Herausforderung ist ein Kulturwandel. Er stellt die Kunden ins Zentrum und verlangt damit automatisch nach mehr Vielfalt.« Ich unterschreibe das.

Natürlich gibt es Beispiele dafür, wo Menschen gerne ein standardisiertes und digitalisiertes Produkt nutzen. Auch ich habe längst aufgehört, Überweisungsträger auszufüllen und am Bankschalter abzugeben. Aber die Leistung »Geld von A nach B bewegen« ist eben eine geworden, die mittlerweile sehr viele Anbieter durchführen können – ein »Commodity«, sagt man. Man kann sich als Anbieter im Wettbewerb nicht durch das abgrenzen und unterscheiden, was ohnehin bei allen gleich ist. Kein Anbieter kann sagen: »Wir sind die Einzigen, die Geld zuverlässig für Sie überweisen.« Auch Aspekte wie Benutzerfreundlichkeit werden im Wettbewerb extrem schnell aufgeholt. Den Unterschied zwischen Anbietern merkt man eigentlich erst, wenn es ein Problem gibt. Wenn das dann aber nicht schnell und gut gelöst wird, dann ist das Kundenvertrauen massiv gestört. Gerade an der Schnittstelle zum Kunden und insbesondere in Problemsituationen scheint mir der Mensch unersetzlich.

Darüber hinaus ist mein Eindruck zur grundsätzlichen Natur von uns Menschen: Wenn wir schon zu Zeiten einer Pandemie die Füße kaum stillhalten können, ständig raus und unter andere Menschen wollen, keine Masken tragen wollen – dann wollen wir uns auch nicht mehr als nötig mit Maschinen, Robotern und Chatbots abgeben. Für den Leistungsprozess gilt: Es ist der Mensch, der aus einem Standardangebot ein individualisiertes macht. Selbst wenn der Computer zuvor die optimale Variante ausgerechnet hat. Die Technik bleibt Unterstützung, nicht Konkurrenz.

Prof. Isabell Welpe6 von der TU München fasst es zusammen. Die erfolgreicheren Unternehmen sind nicht deshalb erfolgreich, weil sie die bessere Technologie haben, sondern weil sie ihre Zusammenarbeit und ihre Wertschöpfungsprozesse besser organisiert haben. Sie sagt: »Es geht um verändertes Denken, veränderte Kultur, veränderte Art und Weise, Wertschöpfung zu organisieren.«

Werden Jobs verschwinden?

Die zweite Herausforderung für Unternehmen liegt in der Beziehung zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, denn bei vielen geht die Angst vor dem Jobverlust um. Kollege Computer war gestern, Konkurrent Computer ist vielleicht morgen schon, so die Wahrnehmung. Einer der Auslöser ist eine Studie von Carl Benedikt Frey and Michael A. Osborne7 aus dem Jahr 2013, die sich mit der Frage beschäftigt, welche Arbeitsplätze im Rahmen der Digitalisierung automatisierbar und damit durch Maschinen ersetzbar sind. Die Autoren schätzten damals, dass sich 47 Prozent aller Beschäftigten in den USA in einer »Hochrisikokategorie« befänden und ihre Jobs innerhalb von ein bis zwei Jahrzehnten wegfallen würden. Die Studie sorgte weltweit für Aufsehen, obwohl sie erst einmal nur Aussagen zum US-amerikanischen Wirtschaftssystem machte. Das Bundesarbeitsministerium beauftragte das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) mit einer Studie, inwieweit sich die Ergebnisse auf Deutschland übertagen ließen, und legte den Forschungsbericht8 im Juli 2015 vor. Dabei werden einige Annahmen von Frey und Osborne relativiert; zum Beispiel werde die Entwicklung der technischen Möglichkeiten überschätzt, die Anpassung von Berufsbildern und Organisationsanläufen werde hingegen unterschätzt. Auf Basis dieser kritischen Betrachtung des Ansatzes von Frey und Osborne rechnen die Wissenschaftler für Deutschland mit einer »Automatisierungswahrscheinlichkeit« bei 12 Prozent der Arbeitsplätze. Zugleich stellen sie allerdings auch fest, dass der Anteil derjenigen Tätigkeiten, die diese Automatisierungswahrscheinlichkeit bis zu einem gewissen Grad haben, in Deutschland sogar höher ist als in den USA. Erschwerend zeigt sich hier noch ein soziales Gefälle: Die Gefährdung des Jobs hängt nämlich stark von der Bildung ab. Selbst wenn man also den für Deutschland weniger dramatischen Zahlen des BMAS folgt, bleibt doch eine Erkenntnis bestehen: Es gibt einen Veränderungsdruck für Unternehmen, der ebenso zum Anpassungsdruck für die Beschäftigten wird. Und das wird auch so kommuniziert. Es entstehen neue Aufgaben und Anforderungsprofile; gerne spricht man hier von »Digital Skills«, die benötigt würden.

Bei Lichte betrachtet ist das gar nichts Neues. Ich kann mich erinnern, dass ich während meines Studiums im Herbst 1988 bei einem Elektronikunternehmen ein Praktikum absolviert habe. Ich begleitete damals die Einführung einer neuen IT im Unternehmen selbst. Und obwohl das nicht mein Lieblingsthema oder Interessenschwerpunkt war, hatte ich als junge Studentin deutlich mehr Begeisterung für das Thema als ein größerer Teil der Beschäftigten. Für mich war klar, dass die neue IT eine Arbeitserleichterung für alle bedeuten würde. Aber erst mal war es eher andersrum. Eine neue IT, eine Organisationsveränderung bedeutet zuerst einmal mehr Arbeit. Man muss etwas Neues, Zusätzliches lernen. Und ob die versprochene Arbeitserleichterung eintritt und was am Ende mit der eingesparten Arbeitszeit passiert, das bleibt eben auch offen. Mit der Erfahrung der Jahre kann ich sagen, dass die Befürchtungen der Beschäftigten nicht immer berechtigt, aber immer verständlich sind. Es gibt genügend Beispiele, wie man solche Veränderungsprozesse nicht machen sollte.

Digitalisierung ist zudem nichts, was per Knopfdruck von einem Moment auf den anderen stattfindet, wie man es im Management gerne hätte. Es ist komplexer. Man muss Prozesse anschauen, analysieren und standardisieren. Man muss diese dann informationstechnisch abbilden und programmieren. Möglicherweise benötigt man neue Technik dazu, größere Server, andere Endgeräte. Das sind nicht nur Investitionen, sondern auch Aufwände, die irgendjemand leisten muss. Und künftig erwarten wir vielleicht auch noch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass sie ihr über Jahre erworbenes Wissen einfach einer Maschine weitergeben, für die ein Algorithmus daraus gebaut wird, damit diese die Arbeit übernimmt. »Wo bleibe ich dann?« Diese Frage muss ein Unternehmen gemeinsam mit der Politik für die Bevölkerung beantworten können.

Wissenswanderung

Neben der Kundenbeziehung und der Beziehung zu den Beschäftigten gibt es eine weitere Dimension, in der uns die Digitalisierung vor eine Herausforderung stellt: die gesamtgesellschaftliche Ebene als nationale Volkswirtschaft. In der Digitalisierung erleben wir ständig, wie wir zwischen nationalen und internationalen Perspektiven schwanken. Wir werden nicht umhinkommen, dauerhaft eine globale Dimension betrachten zu müssen.

Der eingangs bereits erwähnte Richard Baldwin hat in seinem Buch The Great Convergence9 die These aufgestellt, dass die Globalisierung in den 1990er-Jahren in eine neue Phase eingetreten sei, deren Hauptmerkmal der Wissenstransfer »von Nord nach Süd« sei. Gemeint ist die Verlagerung von »Geistesarbeit« in diejenigen Länder, die günstigere Lohnkosten haben und dank des digital verfügbaren Wissens plötzlich einen Wettbewerbsvorsprung hätten. Während Schwellenländer so plötzlich zur Aufholjagd ansetzen könnten, kämen die westlichen Industrienationen in die Defensive. Dies geht einher mit der Entwicklung von internationalen Großkonzernen als Wirtschaftseinheiten, die nicht mehr an nationale Grenzen gebunden seien und deshalb die Arbeit an beliebiger Stelle in der Welt erledigen lassen können. Baldwin geht in Sachen Jobverlagerung so weit, zu sagen: »Egal, welche Qualifikation du hast: Du kannst nicht sicher sein, dass dein Job nicht der nächste ist«.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass es dazu differenziertere Antworten gibt. Zumal ich dort, wo ich solche Entwicklungen erlebe, auch sehr häufig nur die Kostensenker am Werk sehe. Meist geht es um administrative Tätigkeiten wie die Buchhaltung, die irgendwo nach Osteuropa wandert, oder das Callcenter für den IT-Support, das plötzlich in Indien ist. Gerne verbunden mit der Annahme, alle Inder und Deutschen sprächen dasselbe Englisch. Ich hatte selbst die Aufgabe bekommen, ein Service-Center in Polen neu aufzubauen. Aber ob das am Ende funktioniert, ob es sich wirklich rechnet, kann niemand sagen. Es sind Annahmen. Meine Erfahrung ist, dass zum Beispiel die Investitionskosten in Ausbildung und den Parallelbetrieb im Übergang immer unterschätzt werden. Viele kennen nur eine Kennzahl, die Lohnkosten, und die soll runter. Selbst Baldwin argumentiert so, indem er zum Beispiel Gehälter eines Hochschulprofessors in den USA (6 100 US-Dollar) mit dem Gehalt eines philippinischen Kollegen (400 US-Dollar) vergleicht und meint, in Zukunft könnten Videokonferenzen hier zu einer Job-Verlagerung führen.

Ich zweifle daran. Aber das wiederum ändert nichts daran, dass die Themen im Raum stehen und sich die Beschäftigten ihrerseits natürlich sehr gut vorstellen können, dass sich Vorstände im Unternehmen solche einseitigen Effizienzgedanken machen.

Über die von Baldwin beschriebene Form der Wissenswanderung hinaus machen den Unternehmen selbst noch ein paar Aspekte der eher »ungewollten Wissenswanderung« zu schaffen, wie zum Beispiel Industriespionage, Produktpiraterie oder Marktausspähung. Die Digitalisierung überwindet alle physischen Grenzen und öffnet Schranken, Tore, Türen und sogar Schließfächer auf eine unsichtbare Art. Dabei sind die bedrohlichsten Akteure nicht irgendwelche Kleinkriminellen, sondern mit China und Russland diejenigen Staaten, die aggressiv und dominant ihren machtpolitischen und wirtschaftlichen Einfluss auf der ganzen Welt mehren wollen. Internetkriminalität wird dort quasi als Industriepolitik verstanden. Und im Internet selbst entstehen Marktplätze für Schadprogramme und Spähsoftware, die als Abfallprodukte der staatlichen »Forschung« in die Hände von Kleinkriminellen gelangen. Vergangenen Sommer erpressten solche kriminellen Hacker beispielsweise mehr als 1 Million US-Dollar Lösegeld von der University of California in San Francisco.10 Sie hatten sich Zugang zum IT-System verschafft und dort Daten gestohlen sowie verschlüsselt. Absolut sicher vor dieser Form von Cyber-Kriminalität ist nur, wer sich selbst vom Netz nimmt. Eine Unmöglichkeit.

Daten und digitale Ökonomie

Zumindest für die Kriminellen im beschriebenen Fall hatte der viel zitierte Ausspruch seine Berechtigung: »Daten sind das neue Öl.« Man hört ihn oft, wenn Menschen sagen wollen oder auch nur vermuten oder hoffen, dass mit digitalen Geschäftsmodellen in Zukunft viel Geld zu verdienen sei. Doch wer Daten als Rohstoff betrachtet, muss auch jemanden haben, der diese verarbeitet, veredelt, in ein Produkt verwandelt, das noch dazu von jemandem gebraucht wird. Wenn Sie beispielsweise einen Datensatz hätten, der Ihnen die Schuhgröße aller Deutschen zum Stichtag 1. Januar 2021 liefern würde – was würden Sie damit anfangen? Wir sind bislang noch nicht besonders erfahren darin, digitale Geschäftsmodelle zu entdecken oder zu entwickeln. Wir könnten schnell eine App bauen, in der wir unsere eigene Schuhgröße eingeben und dann herausfinden, dass diese Schuhgröße 6 Prozent der Deutschen haben. Aber wir tun uns schwer, aus der reinen Existenz dieser Daten jenseits des Spaßfaktors einen Wert für andere zu entwickeln, für den diese auch bezahlen würden. Wir haben Digitalisierung noch nicht so weit verinnerlicht.

In der Frage digitaler Geschäftsmodelle reden wir uns in Deutschland allerdings gerne auch selbst klein. Das viel gelobte »Silicon Valley« ist ein beeindruckendes Cluster von Innovation und Kreativität. Aber das gibt es in Deutschland auch, und zwar mit unterschiedlichen Schwerpunkten und in unterschiedlichen Regionen. Nicht alles, was aus Kalifornien kommt, brauchen wir wirklich, nicht alles ist nachhaltig, vieles ist ein kurzfristiger Hype. Selbst Alphabet, wie der Mutterkonzern von Google mittlerweile heißt, hat manchmal Probleme, Digitalisierung zu buchstabieren. Die Internetseite gcemetery.co/ zeigt den »Google-Friedhof« – eine Zusammenstellung vieler Projekte, die teilweise mit Milliardensummen im Markt platziert werden sollten, die sich letztendlich aber nicht durchsetzen konnten und wieder verschwanden. Vielleicht erinnern Sie sich noch an Picasa oder Google+.

Trotzdem taucht regelmäßig die Frage auf, wo denn »das deutsche Google«, »das deutsche Facebook« oder »das deutsche Amazon« sei. Ich bin mir auch hier nicht sicher, ob wir das brauchen. Ich bin mir weiterhin nicht sicher, ob die beschriebenen Unternehmen und Geschäftsmodelle tatsächlich nachhaltig sind, und auch nicht, ob sie auf Dauer vor dem Kartellrecht Bestand haben. Unbesehen dessen: Wozu muss es von jeder Art Unternehmen ein »deutsches« geben? Mir würde es reichen, wenn Unternehmen in Deutschland ihre Leistung anbieten, Kunden zufriedenstellen, Beschäftigte ordentlich behandeln, sich an den Datenschutz halten und ihre Steuern bezahlen.

Viel wichtiger ist mir die Frage, wie wir Menschen jeden Alters in diesem Land in die Lage versetzen, in der digitalen Ökonomie Fuß zu fassen und einen Beitrag zu leisten. Denn das wiederum ist eine Frage von Schulbildung, Ausbildung und Weiterbildung. Insbesondere die staatlichen Ausbildungssysteme können hier kaum Schritt halten mit der rasanten technologischen Entwicklung. Dabei geht es zum einen um die technische Ausstattung, die einen gehörigen Investitionsbedarf mit sich bringt. Mehr noch aber geht es um die Lehrkräfte, die das nötige Wissen und die Fähigkeiten vermitteln sollen. Achim Berg, Vorsitzender des Branchenverbandes Bitkom, sieht Deutschland sogar als Nachzügler bei der Digitalisierung der Bildung. Anlässlich der Vorlage des nationalen Bildungsberichtes 2020 forderte er, »Bildung grundsätzlich neu zu denken – und zwar digital.«11

Im persönlichen Gespräch wird er noch deutlicher: »Wir beschäftigen uns in einer unbeschreiblichen Ambitionslosigkeit mit dem Thema digitale Bildung und Weiterbildung, versuchen, die alten analogen Modelle einfach mit digitalen Medien nachzubilden. Dass das zum Scheitern verurteilt ist, wird langsam auch dem Letzten klar – Deutschland entwickelt sich zu einer digitalen Kolonie und verspielt die Möglichkeit, sich digital souverän weiterzuentwickeln. Dies führt unwiederbringlich zu Abhängigkeiten, und letztendlich setzen wir unseren Wohlstand aufs Spiel.«

Achim Berg spricht mir aus dem Herzen, und ich komme hier wie in vielen anderen Themen immer wieder an diesen Punkt: Wir müssen neu denken!

Künstliche Intelligenz und menschliche Autonomie

KI-Projekte in Unternehmen benötigen grundsätzlich eine Perspektive oder Vision, die über die reine Prozessoptimierung hinausgeht, wie wir sie von der Digitalisierung schon immer kennen. Man muss sie so konstruieren, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Hebelwirkung erkennen, wie sie durch eine bessere Technik befähigt und unterstützt werden. Die Angst vor dem Jobverlust muss der Erkenntnis weichen, einen qualitativen Zugewinn der eigenen Leistungsfähigkeit zu bekommen.