Das verborgene Zimmer von Thornhill Hall - Christian Handel - E-Book

Das verborgene Zimmer von Thornhill Hall E-Book

Christian Handel

0,0

Beschreibung

Downton Abbey trifft auf eine magische Geisterwelt - queer & zauberhaft für Leser*innen ab 14 Jahren "Ich habe damit gerechnet, mich in diesem Sommer zu Tode zu langweilen, aber nicht, tatsächlich zu sterben. So kann man sich irren." Obwohl sie ihn als Kind bei seinem Vater zurückgelassen hat, muss der 16-jährige Colin diesen Sommer mit seiner Mutter und ihrer neuen Familie in ihrem abgelegenen, alten Herrenhaus verbringen. Kaum in Thornhill Hall angekommen, scheint ihm jemand Böses zu wollen und stößt ihn kurzerhand die Treppe hinab. Als Geist wiedererwacht, muss Colin nun mit Hilfe anderer Geister und dem ebenso arrogant wie interessant wirkenden Theodore das verborgene Zimmer finden - Colins einziger Weg zurück in sein altes Leben … Krimi-Spannung mit einem gespenstischen Hauch Fantastik

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 404

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Nachdem sie ihn als Kind bei seinem Vater zurückgelassen hat, muss der 16-jährige Colin notgedrungen den Sommer mit seiner Mutter und ihrer neuen Familie in ihrem abgelegenen, alten Herrenhaus verbringen. Kaum in Thornhill Hall angekommen, scheint ihm jemand Böses zu wollen und stößt ihn kurzerhand die Treppe hinab. Als Geist wiedererwacht, muss Colin nun mit Hilfe anderer Geister und dem ebenso arrogant wie interessant wirkenden Theodore das verborgene Zimmer finden - Colins einziger Weg zurück in sein altes Leben …

Downton Abbey trifft auf eine magische Geisterwelt!

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Danksagung

Kapitel 1

ENGLAND, 1897

Während sich die Droschke rumpelnd die Anhöhe hinaufkämpft, starre ich gedankenverloren aus dem offenen Fenster. Noch verdecken Brombeerhecken das Herrenhaus von Thornhill Hall. Ich drücke meine Reisetasche an mich, als wäre sie ein Rettungsring und ich ein Ertrinkender. Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, steigt meine Nervosität. Zum ersten Mal seit neun Jahren werde ich meiner Mutter gegenüberstehen. Ginge es nach mir, würde ich auf dieses Wiedersehen liebend gern verzichten. Schließlich war sie es, die mich verlassen hat.

Die Kutsche macht einen Sprung, und ich werde von der Sitzbank gehoben, sodass mir die Tasche vom Schoß rutscht. Ich stoße einen überraschten Schrei aus.

»Alles in Ordnung dahinten?«, ruft mir der Kutscher zu, ohne sich umzudrehen.

Blut schießt mir in den Kopf. Eigentlich bin ich nicht sonderlich schreckhaft. »Danke, ja. Das kam nur unerwartet.«

»Schlagloch. Gibts einige hier draußen. Werden Sie merken, wenn Sie ’ne Weile hier sind.«

Wie wunderbar, noch etwas, worauf ich mich freuen kann.

»Is’ anders hier als in London.«

»Ich bin nicht aus London.«

»Was?«

»Ich bin nicht … ach, schon gut!«

Mein Kutscher scheint ein anständiger Kerl zu sein. Mit einem gewinnenden Lächeln und einem Pappschild mit meinem Namen in der Hand hat er mich am Bahnhof erwartet. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn er nicht ständig versuchen würde, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Dafür bin ich viel zu unruhig.

Außer mir sind keine weiteren Fahrgäste in seine Droschke gestiegen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass niemand sonst nach Thornhill reisen will, oder ob meine Mutter diese Pferdedroschke nur für mich bestellt hat – oder ihr neuer Mann. Bei dem Gedanken an den Fremden, unter dessen Dach ich in den kommenden Wochen leben muss, breitet sich ein bitterer Geschmack in meinem Mund aus. Niemand will nach Thornhill Hall. Und ich ganz bestimmt nicht. Meine Mutter wird sich mit mir unterhalten wollen, und ich werde mein Möglichstes tun, um ihr aus dem Weg zu gehen. Uns erwartet ein langer Sommer mitten im Nirgendwo. Ich werde mich zu Tode langweilen.

Wieder drücke ich meine Reisetasche fester an mich. Warum hat Vater nur darauf bestanden, dass ich hierherkomme?

Die Landschaft, durch die wir fahren, ist hügelig und grün. Rechts vom Weg erstreckt sich eine Blumenwiese, so weit das Auge reicht. Ein intensiver Geruch nach Kamille weht zu uns herüber, in der Ferne weiden Kühe.

Hätte es Großmutter hier gefallen? Den Dreck und Smog von London konnte sie nicht ausstehen, sie liebte die Natur und das beschauliche Leben auf dem Land. Allerdings bevorzugte sie die Schönheit eines gut gepflegten Gartens. Jedes Blättchen musste akkurat geschnitten, alle Blumeninseln farblich voneinander getrennt sein. Dem wilden Charme heckengesäumter Wiesen konnte sie nichts abgewinnen.

Mit einem Mal schnürt sich mir die Kehle zu. Ich vermisse Großmutter. Ich kann immer noch nicht begreifen, dass sie tot ist. Ebenso wenig die Tatsache, dass ich gerade eine Frau besuche, die sich weder aus dem Landleben noch aus mir jemals viel gemacht hat. Hätte Vater nicht darauf bestanden, ich wäre nie in den Zug gestiegen. Aber hier bin ich nun. Und Thornhill Hall kommt viel zu schnell näher.

»Deine Mutter versucht, auf dich zuzugehen, Colin, begreifst du das nicht?«

Vater legte mir seine Hand auf meine Schulter. In seinen Augenwinkeln glitzerte es verdächtig.

»Großmutter ist noch keine zwei Wochen tot. Ich kann Mutters Einladung nicht annehmen. Ich kann dich jetzt nicht allein lassen«, erwiderte ich.

»Ich muss ohnehin geschäftlich nach Italien. Dann wärst du allein hier.«

»Ich will nicht zu ihr.«

»Ich weiß. Aber vielleicht brauchst du ja ihren Trost.«

Ich trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme. »Ich brauche nichts von dieser Frau. Es war ihre Entscheidung, uns zu verlassen. Sie hat keine Rücksicht auf uns genommen und nie zurückgeblickt. Warum sollte ich sie jetzt besuchen?«

»Weil sie deine Mutter ist.«

Ich hasste es, dass nun auch mir Tränen in die Augen stiegen. Überdeutlich nahm ich die Familienporträts der verstorbenen Lords und Ladys Cavendish wahr, die von den Wänden des Grünen Salons auf uns herabstarrten. Ich ballte die Finger zu Fäusten, so fest, dass sich meine Nägel in die weiche Haut meiner Handballen gruben. Ich würde ihr niemals nachweinen, o nein, ihr nicht!

»Sie hatte ihre Gründe«, sagte Vater vorsichtig, und ich konnte nicht glauben, dass er versuchte, meine Mutter zu verteidigen. »Das steife Leben einer Lady Cavendish war nichts für sie. Deine Großmutter war eine strenge Frau, der Anstand und Ansehen überaus wichtig waren.«

»Und was ist daran falsch?«

Vater lächelte. »Nichts. Aber deine Mutter war wie ein Wildvogel. Sie hasste die Regeln der Etikette, die mit ihrem Familiennamen einhergehen. Sie fühlte sich eingesperrt. Als sich eine Tür öffnete, konnte sie nichts und niemand halten.«

»Unsere Abstammung verpflichtet«, wiederholte ich das Mantra meiner Großmutter, die mich großgezogen hatte. Sie hatte mir ihre Liebe stets mit der kühlen Reserviertheit einer englischen Lady gezeigt. Doch sie hatte an meinem Bett gesessen, wenn ich fieberte, während meine Mutter sich in irgendeiner Spelunke in London herumtrieb und davon träumte, eine berühmte Schauspielerin zu werden.

Vater seufzte.

»Es gibt …«, begann er, doch ich ließ ihn nicht ausreden.

»Wie kannst du ihr verzeihen? Wie kannst du …?«

»Ich habe deine Mutter einmal geliebt, Colin.«

Das hatte ich auch, doch es lag viele Jahre zurück.

»In manchen von uns«, fuhr Vater fort, »lodert eine Flamme, die so stark ist, dass sie sich ihrem Feuer hingeben müssen, um nicht zu verbrennen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, log ich.

»Du wirst es eines Tages verstehen, mein Sohn. Wir alle tragen Wünsche und Leidenschaften in uns. Und wenn uns das Leben die Gelegenheit bietet, ihnen zu folgen, wenn wir den Mut aufbringen können …«

Ich wich einen Schritt zurück und stolperte beinahe über eine der beiden onyxfarbenen Dobermannskulpturen, die wie Wachhunde die Tür zum Garten flankierten. »Ich will das nicht. Ich werde nicht zu ihr fahren.«

»Colin.« Vater klang mahnend.

Ich ballte die Fäuste noch fester, um das Brodeln in mir unter der Oberfläche zu halten. Er kam auf mich zu und umarmte mich. Erst versteifte ich mich, doch dann gab ich nach.

»So unglücklich waren wir in den letzten Jahren doch nicht, du, deine Großmutter und ich, oder?«, flüsterte er.

Und obwohl ich ihm innerlich recht gab, spürte ich, wie neuer Zorn in mir aufstieg. War meine Mutter glücklich gewesen, nachdem sie uns verlassen hatte? Den Zeitungsberichten zufolge, die ich über sie gelesen hatte, schien sie ein ausgelassenes Leben zu führen. Und dafür hasste ich sie noch ein bisschen mehr.

Als der Weg wenig später eine Biegung macht, rückt Thornhill Hall in mein Blickfeld. Es ist ein trutziger Bau aus roten Ziegelsteinen. Das Hauptgebäude mit den zahlreichen Giebeln und Gauben und der klotzförmige Seitenflügel mit seinen dunklen Schindeln sehen wuchtig aus und nicht sonderlich schön. Raben sitzen auf dem Dachfirst und krähen mir wie zur Begrüßung entgegen.

Als die Droschke auf die mit Kieseln bestreute Auffahrt einbiegt, erkenne ich, dass sich eine Menschentraube vor der Freitreppe am Eingang versammelt hat, die mich schon erwartet. Wir sind noch ein ganzes Stück entfernt, als sich eine schlanke Gestalt aus der Gruppe löst und uns mit wehendem Rock entgegeneilt. Mit der Linken hält sie ihren breitkrempigen Sommerhut am Kopf fest, die Rechte streckt sie halb in die Luft, der Droschke entgegen. Mein Herz sinkt mir in die Hose. Zu früh, zu schnell. Ich brauche die blonden Haarsträhnen unter dem Hut nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie es ist.

Mutter.

Mein Mund wird trocken, und meine Handflächen werden nass. Die Frau, die auf mich zueilt, kenne ich von Theaterprospekten und Fotografien aus der Zeitung, aus den Erzählungen von Leuten, die sie auf der Bühne gesehen haben – Erzählungen, die nur zum Besten gegeben wurden, wenn meine Großmutter sie gewiss nicht hören konnte. Darin war die Rede von einer charismatischen Frau, einer begnadeten Schauspielerin.

Mit meiner Mutter hat diese Fremde nichts mehr gemein außer ihrem Vornamen. Manchmal wundere ich mich, dass sie den nicht auch hinter sich gelassen hat, vor fast zehn Jahren, als sie mit einem Koffer voller Kleider und Schmuck unserem Zuhause den Rücken gekehrt hat. Sie ist gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden. Alles, was sie mir hinterlassen hat, war ein dürftiger Abschiedsbrief.

Ich schließe die Augen und wünsche mir, der Kutscher würde auf der großen Kiesfläche vor dem Haus einfach wenden und zum Bahnhof zurückfahren. Stattdessen zügelt er den Apfelschimmel, die Droschke wird langsamer und bleibt stehen.

»Colin!«

Mutters Stimme klingt dunkel wie Honig und ein wenig außer Atem. Sie erinnert mich an einen warmen Frühlingstag im Mai vor vielen Jahren. Ich bin vielleicht fünf Jahre alt. Mutter und ich liegen unter den ausladenden Ästen eines alten Kirschbaums. Rosafarbene Blüten regnen auf uns herab, und sie kitzelt mich am Bauch und unter den Armen, bis wir beide lachend nach Luft ringen.

Eine Hand schiebt sich in mein Sichtfeld und verdrängt die Erinnerung. Mutters Finger stecken in einem Seidenhandschuh, der sich cremeweiß von dem grauschwarzen Holz der Droschke abhebt.

Plötzlich ist mir übel.

Ich zwinge mich, den Kopf ein wenig zu drehen und ihr ins Gesicht zu sehen.

Ihr Atem geht schnell. Ist es der kurze Lauf über den Kies, der ihr das Blut in die Wangen getrieben hat, oder liegt es an mir? Sie lächelt mich an, doch ihre Lippen zittern, während sich unsere Blicke streifen.

Sie sieht atemberaubend aus. Daran haben auch die kleinen Fältchen in ihrem Gesicht nichts geändert. Selbstvergessen streicht sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und die Geste erinnert mich so sehr an früher, dass ich mich zwingen muss, in ihr Sarah Tisdale zu sehen, die prominente Bühnenschauspielerin aus der Zeitung, und nicht meine Mutter.

Die Höflichkeit gebietet mir, jetzt etwas zu sagen, doch ich kann mich lediglich fragen, wie ich so dumm sein konnte, tatsächlich hierherzukommen.

Schließlich erlöst uns der Kutscher. »Soll ich zum Haus hochfahren, Ma’am, oder möchte der junge Herr hier aussteigen?«

Mutter schüttelt den Kopf.

»Schon gut, Reginald«, sagt sie. »Fahren Sie, fahren Sie.«

»Möchten Sie einsteigen?«

Ich verspüre den unerträglichen Wunsch, dass sie in die Droschke steigen, sich neben mich setzen und ihre Hand in meine schieben möge. Mir wird noch übler, obwohl ich das eigentlich nicht für möglich gehalten hätte.

Ich zwinge mich, sie anzublicken, und warte auf ihre Reaktion. Ein, zwei Herzschläge vergehen. Vielleicht fragt sie sich, was ich empfinde. In mir mag ein Sturm toben, doch Großmutter hat mich Contenance gelehrt, nach außen hin bleibe ich der ruhige, kühle Gentleman mit der unbewegten Miene. Ich zeige eine Haltung, die meine Mutter niemals anzunehmen imstande war.

»Nein, nicht nötig.« Sie tritt von der Droschke weg und wirkt ein wenig verlegen. »Es sind ja nur ein paar Schritte.«

Reginald schnalzt mit der Zunge, um den Schimmel anzutreiben, und Mutter lächelt mich noch einmal an. Aber ihre Stirn ist zu bewölkt, als dass ihre Miene unbeschwert wirken könnte.

An der Eingangstür von Thornhill Hall erwartet mich Wallace White jr. Ich kenne ihn von Fotografien aus der Zeitung. Er ist Ende vierzig, doch sein stattlicher Schnurrbart und sein Haar sind bereits ergraut. Er ist der neue Ehemann meiner Mutter, angeblich Kunstliebhaber, und verdient sein Geld damit, Expeditionen in die exotischsten Gegenden der Welt zu organisieren. Das freundliche Lächeln, mit dem er mich betrachtet, bringt mich fast aus der Fassung. Neben ihm steht eine hochgewachsene Frau in einem eng geschnittenen lilafarbenen Kleid, das so stark leuchtet, dass es fast in den Augen schmerzt. Sie ist schlank, fast hager. Ich nehme an, sie ist die Nanny und das Baby, das in ihren Armen zappelt, meine Halbschwester Annaleigh.

Die Kleidung der übrigen Frauen und des jungen Mannes, die mit gefalteten Händen meine Ankunft erwarten, weist sie als Dienstboten aus. Das gilt auch für den Mann mit den pomadisierten Haaren in der Butlerunifom. Als die Droschke zum Stehen kommt, tritt er nach vorn, öffnet mit gesenktem Kopf die Tür und wartet darauf, dass ich aussteige.

»Willkommen auf Thornhill Hall!«, ruft Mutter, die just in diesem Moment zu uns aufschließt.

Kapitel 2

Steif stehe ich neben meiner Mutter, während mir Wallace White jr. kameradschaftlich auf die Schulter klopft und mich begrüßt. Die »Nanny« stellt sich als Lady Imelda McKenzie vor, eine enge Freundin meiner Mutter und ein weithin bekanntes spirituelles Medium.

»In London ist sie eine Berühmtheit«, schwärmt Mutter. »Sie ist fantastisch, du wirst schon sehen.«

Ich nicke und schweige diplomatisch. Ich halte weder etwas von spiritistischen Sitzungen, noch glaube ich an Geister. Séancen sind nichts als moderner Hokuspokus, um den Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wenn Lady Imelda zum Reich der Toten Kontakt aufnehmen kann, fresse ich einen Besen.

Nachdem ich auch meine Schwester Annaleigh mit einem Kopfnicken bedacht habe, stellt mir Mr White – den ich Wallace nennen soll – die gesamte Dienerschaft vor. Der Butler heißt Mr Pierce, die Köchin Miss Cleve, die Dienstmädchen Annie und Mary und der Bursche Bob.

Reginald gehört nicht zu Wallace Whites Angestellten. Er lebt unten im Dorf, und dorthin verschwindet er jetzt auch wieder.

»Morgen werden noch weitere Gäste eintreffen«, unternimmt Mutter einen erneuten Vorstoß, ein Gespräch mit mir anzufangen, nachdem die anderen ins Haus gegangen sind. »Aber für dich haben wir das schönste Zimmer hergerichtet.«

Sie legt den Kopf in den Nacken und deutet nach oben. Ich folge ihrem Blick hinauf zum ersten Stock und zu dem schmalen Flügelfenster direkt über uns, dessen weiß gestrichener Rahmen sich deutlich von den rötlichen Hartbrandziegeln des Mauerwerks abhebt. Hinter den Gardinen glaube ich, eine Bewegung wahrzunehmen. Tatsächlich, blasse Finger schieben den Spitzenvorhang zur Seite und ein Gesicht taucht kurz auf. Ich kneife die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können, doch in diesem Moment weicht die Gestalt vom Fenster zurück und der Vorhangstoff gleitet wieder an seinen Platz.

Überrascht schaue ich zu Mutter, doch die hat sich inzwischen umgedreht und sieht die Auffahrt hinunter.

»Von deinem Fenster aus hast du einen wundervollen Blick über die Hügel und hinunter ins Dorf.«

»Ich glaube, da war jemand in meinem Zimmer«, sage ich.

Mutter runzelt die Stirn. »Das muss Teddy gewesen sein, Imeldas Neffe. Eigentlich dachte ich, er wäre noch auf seinem Spaziergang, aber vielleicht ist er schon zurückgekommen. Er ist so alt wie du und schläft im Zimmer neben deinem. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.«

Daran zweifle ich, wenn der junge Mann nicht einmal den Anstand hat, mich bei meiner Ankunft zu begrüßen.

Gerade als ich den Mund aufmache, um etwas zu erwidern, beginnt mein Magen in einem dröhnenden Bass zu knurren. Peinlich berührt, zucke ich zusammen.

Mutter grinst. »Hast du Hunger?«

Verlegen zucke ich die Achseln.

»In einer halben Stunde gibt es Tee.«

Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen. »Wenn es keine Umstände macht, würde ich den Tee gern auf meinem Zimmer zu mir nehmen.«

Ein Schatten huscht über ihr Gesicht.

»Ich bin recht müde von der Reise«, schiebe ich schnell hinterher, obwohl es mir eigentlich egal sein sollte, ob sie enttäuscht ist oder nicht.

»Natürlich«, antwortet sie. »Ich bitte Miss Cleve, dir eine kleine Mahlzeit zuzubereiten und sie zu dir nach oben bringen zu lassen.«

»Danke.«

»Dann sollten wir jetzt wohl ins Haus gehen, nicht wahr?«

Ich nicke, doch wir bleiben beide wie angewurzelt stehen. Wie Schauspieler, die auf der Bühne ihren Text vergessen haben.

Schauspieler! Ausgerechnet!

Mutter ist es, die die Kontrolle über sich als Erstes zurückerlangt. »Na komm. Bringen wir dich zu deinem Zimmer.«

Die Eingangshalle von Thornhill Hall ist noch größer, als ich es vermutet hätte. Schwarze und weiße Marmorfliesen fügen sich auf dem Boden zu einem Schachbrettmuster zusammen. In den Ecken stehen Kübel mit exotischen Pflanzen. Vielleicht hat Wallace White jr. sie von einer seiner Expeditionen mitgebracht.

»Ich finde den Weg sicher allein«, sage ich tonlos, als wir vor der Eichenholztreppe stehen, deren mit rotem Teppich bedeckte Stufen in den ersten Stock hinaufführen.

Mutter sieht traurig aus, nickt jedoch. »Es ist die zweite Tür auf der linken Seite.«

Sie sieht mir nach, bis ich oben angekommen bin. Als ich um die Ecke gebogen bin, lehne ich mich mit dem Rücken an die dunklen Holzpaneele, mit denen der Flur getäfelt ist und die die Schatten um mich herum noch verstärken. Erleichtert atme ich auf. Mutters Nähe tut mir weh. Sie riecht noch immer wie früher nach Zimt und Bergamotte. Und wenn mir dieser Duft in die Nase steigt, möchte ich nichts lieber, als mich in ihre Arme flüchten und vergessen, was sie mir angetan hat. Ich war sieben Jahre alt, als sie mich verlassen hat. Glaubt sie, dass sie das jemals wiedergutmachen kann?

Das Gästezimmer ist klein, aber hübsch eingerichtet. Ein mintgrünes Rankenmuster ziert die cremefarbene Seidentapete. Das Bett mit dem glänzenden Messinggestell steht direkt unter dem Fenster. Auf dem Kissen liegt ein Sträußchen Lavendel, und auf dem Nachttisch stehen eine Kerze und eine schlanke Vase mit einem Löwenmäulchen. Der Bursche kniet vor einer auf Hochglanz polierten Kommode, vermutlich aus Kirschholz, und verstaut die Kleidung aus meiner Reisetasche in ihren Schubladen.

»Bob, richtig?«

»Ja, Sir.«

»Sie können gehen. Den Rest erledige ich selbst.«

Zögernd steht er auf, eines meiner gestärkten Oberhemden in den Händen. Bob scheint nicht viel älter zu sein als ich, vielleicht siebzehn Jahre. Ich trete zu ihm und nehme ihm das Hemd ab.

»Wirklich. Das schaffe ich schon. Sie haben sicher noch eine ganze Menge zu tun.«

Er deutet eine Verbeugung an und verlässt den Raum. Großmutter wäre wenig erfreut gewesen, wenn sie mitbekommen hätte, dass ich einem Diener seine Arbeit abnehme. Mir ist es im Moment jedoch wichtiger, allein zu sein.

Als sich die Tür hinter ihm schließt, lege ich das Kleidungsstück auf das Bett und gehe zum Fenster. Mutter hat nicht untertrieben. Der Blick hinunter ins Tal ist tatsächlich großartig. Die Häuser des Dorfes sehen aus wie kleine Bauklötze. Der Bach, der mitten durch Thornhill fließt, glitzert in der Nachmittagssonne wie ein Band aus Silber.

Hier könnte es mir gefallen – wenn meine Gesellschaft eine andere wäre.

Nachdem ich mir den Staub von der Reise aus dem Gesicht gewischt und einen ganzen Teller Gurkensandwiches und Sandkuchen verputzt habe, wage ich mich aus dem Zimmer. Nicht zuletzt, weil ich den Abort aufsuchen muss.

Eines der Mädchen – ist es Annie oder Mary, ich weiß es nicht mehr – zeigt mir den Weg. Anschließend gehe ich in den Garten.

Dabei komme ich an Zimmern vorbei, die zwar prunkvoll eingerichtet sind, aber aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Die Möbel sehen aus, als wären sie hundert Jahre alt. Ihr prunkvoller Stil passt nicht zu meiner Mutter, jedenfalls nicht zu der Frau, an die ich mich erinnere. Die hat über die antiken Polstermöbel, Vitrinen und Tische, auf die Großmutter so stolz war, immer die Nase gerümpft. Sie liebte eher eine neumodische Einrichtung, die weniger verspielt, dafür aber praktisch war. Dass sie nun, vermutlich ihrem neuen Ehemann zuliebe, in solcher Umgebung lebt, versetzt mir einen weiteren Stich.

Auch im Erdgeschoss ist der Flur mit dunklem Holz getäfelt. Erst jetzt fällt mir auf, dass geschnitzte Dornenranken auf Hüfthöhe das Holz verzieren. Auf einem Tisch steht eine Kristallvase, die von violetten Rosen beinahe überquillt.

Eine Tür führt hinaus in einen Wintergarten. Eines der Dienstmädchen und der Butler decken dort gerade eine große Tafel für das Dinner.

Der Garten von Thornhill Hall ist ein Paradies für Insekten. Das Zirpen der Grillen begleitet mich auf meinem Weg zwischen Büschen hindurch, die ihre Blätter bis über meinen Kopf der Sonne entgegenstrecken. Sie sind so hoch, dass der Eindruck entsteht, ich liefe durch einen Tunnel. Der Duft von frisch geschnittenem Gras verrät, dass sich jemand erst kürzlich um den Rasen gekümmert hat, doch die Büsche und Blumen hat der Gärtner offensichtlich vernachlässigt. Großmutter wäre entsetzt, aber ich muss zugeben, mir gefällt es.

Gedankenverloren streife ich halb zugewucherte Wege entlang. Eine Hummel, die summend in einer Tulpe verschwindet, gibt sich beim Bestäuben so viel Mühe, dass der feuerfarbene Blütenkelch hin und her wippt. Ich trete zwischen einer ganzen Ansammlung von Fliedersträuchern hindurch und stehe plötzlich auf einer halbrunden Lichtung, in deren Mitte der Gartenteich liegt, von dem Mutter mir in ihrem Brief berichtet hat.

Er ist fast vollständig von Seerosen bedeckt. Die Nachmittagssonne zaubert einen seidigen Schimmer auf die blassrosa Blüten. Cavendish Manor, das Anwesen meiner Familie, besitzt ebenfalls einen großen Park. Doch der ist eher prächtig als schön, gezähmt von strenger Hand, wie auch die Parks und Gärten unserer Nachbarn. Thornhill Hall ist viel ursprünglicher.

Nachdenklich bleibe ich stehen und betrachte die Szenerie. Erst nach einer Weile sehe ich, dass einige Schritte entfernt jemand im Schatten violetter Rosenbüsche sitzt und mich beobachtet. Es handelt sich um einen jungen Mann, etwa in meinem Alter. Das muss der Neffe dieser Spiritistin sein. In seinen Händen hält er einen Bleistift und ein kleines in schwarzes Leder gebundenes Buch.

Als er meinen Blick bemerkt, dreht er schnell den Kopf und schaut hinaus auf den See. Einem Impuls folgend, gehe ich auf ihn zu.

»Hallo«, sage ich, als ich neben ihm stehe.

Er legt Buch und Stift zur Seite und erhebt sich. »Guten Tag.«

»Du bist Teddy, oder?«

Er klopft sich Schmutz und Grashalme von seiner Kniebundhose und streckt mir die Hand entgegen. »Theodore McKenzie. Und du bist sicher Colin.«

Er ist hübsch. Seine Gesichtszüge sind scharf geschnitten, seine Augen fast so dunkel wie sein Haar. Vielleicht ist er kein Romeo, aber der perfekte Tybalt Capulet. Sein Händedruck ist warm und fest.

»Seid ihr schon lange hier, deine Tante und du?«, frage ich schließlich.

»Seit zwei Tagen. Es ist sehr schön.«

Ich zucke mit den Schultern. »Wenn man Fliegen und Frösche mag.«

»Zu viel Natur für einen jungen Herrn aus der Stadt?«

»Entschuldige, das war eine dumme Bemerkung. Cavendish Manor, unser Familiensitz, befindet sich auf dem Land, in einem Vorort von London. Dort ist es allerdings …« Ich werfe einen kurzen Blick zurück zum Haus auf der Suche nach einer guten Beschreibung. »Weniger wild.«

Theodores Mundwinkel zucken amüsiert. »Meinst du damit die Umgebung oder die Bewohner und Gäste des Anwesens?«

»Das muss ich noch herausfinden.« Ich schaue ihm direkt in die Augen und bin überrascht über die Intensität, mit der er meinen Blick erwidert. Mein Herz beginnt zu klopfen. Verlegen wende ich den Kopf.

»Ich liebe Seerosen«, sage ich lahm.

Theodore räuspert sich. »Ich weiß«, behauptet er dann. »Deine Mutter hat uns viel von dir erzählt.«

»Ich wüsste nicht, was es da zu erzählen gibt.«

»Eine Menge sogar. Sie hat sich daran erinnert, wie gern du dich in den Wildblumenwiesen hinter eurem Anwesen versteckt hast. Und an euren Ausflug ins Theater und dass du es geliebt hast, dich zu verklei…«

Das wird mir zu viel! »Ich will es nicht wissen«, schneide ich ihm das Wort ab. Blut schießt mir ins Gesicht und mein Herz krampft sich fest zusammen.

Theodore sieht mich brüskiert an. Die Heftigkeit meiner Worte hat ihn offenbar überrascht.

»Entschuldige«, bringe ich endlich heraus. »Es ist nur … Ich spreche nicht gern über … diese Zeit.«

Ich versuche meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Außerdem wüsste ich nicht, was dich meine Familienangelegenheiten angehen«, füge ich leise hinzu.

»Nichts«, räumt er ein. »Aber ich kenne Sarah jetzt schon eine ganze Weile. Ich denke, du solltest dir ihre Version der ganzen Geschichte anhören.«

Die dreiste Art, mit der er sich in mein Leben einmischt, macht mich wütend.

»So? Denkst du das? Und woher willst du das wissen? Hat dich deine Mutter etwa auch verlassen?«

Ein Moment lang starrt Theodore mich ungläubig an.

»Nein«, zischt er dann. »Meine Mutter ist tot.«

Sofort tun mir meine Worte leid. In seinen Augen steht der Schmerz.

»Entschuldige mich«, presst er hervor.

Ehe ich antworten kann, dreht er sich um und stürmt den Gehweg davon in Richtung Haus.

Na toll, denke ich. Das habe ich ja gut hinbekommen. Ausgerechnet mit dem einzigen Jungen in meinem Alter hier breche ich einen Streit vom Zaun. Noch dazu mit einem durchaus attraktiven Jungen.

Ich bin so ein Idiot.

Ein Gentleman verliert niemals seine Fassung, höre ich Großmutters Stimme in meinem Kopf. Aber in diesem Punkt war ich meiner ungestümen Mutter schon immer sehr ähnlich. Erinnerungen an unsere Nachmittage im Park von Cavendish Manor steigen in mir auf. Nachmittage, an denen wir Gänseblümchenkränze flochten und sie uns auf den Kopf setzten. Oder uns an den Händen hielten und so schnell im Kreis drehten, dass sich die Welt um uns herum in Farbkleckse verwandelte. Ich habe unser Lachen noch im Ohr, und das schmerzt stärker, als ich es wahrhaben will.

Rechts von mir raschelt es und ich fahre herum. Doch da steht niemand. Lediglich die Fliederbüsche wackeln mit ihren schweren Knospen. Vielleicht hat der Wind mit ihnen gespielt.

Aber es geht kein Wind. Und das laue Lüftchen kann unmöglich die Äste des Flieders bewegt haben. Ich überlege, ob ich zu den Büschen hinübergehen soll, als mein Blick auf etwas Schwarzes fällt. Im Gras vor mir liegen Theodores Notizbuch und sein Stift.

Kurz entschlossen hebe ich das Buch auf. Es ist nicht viel größer als meine Handfläche, das Leder fühlt sich weich an. Die Seiten rascheln, als ich das Buch an der Stelle aufschlage, die ein purpurfarbenes Lesebändchen markiert. Auf dem hellen Papier prangt eine schwarze Seerose. Die Umrisse ihres Blütenkelchs sind scharf gezeichnet, die Blätter grau schraffiert. Eine seltsame Zartheit geht von dieser Zeichnung aus, die mich dazu verlockt, meine Finger darüber gleiten zu lassen. Diese Seerose beeindruckt mich, obwohl Teddy sie nicht ganz fertigstellen konnte.

Neugierig blättere ich ein paar Seiten zurück. Weitere Pflanzen laden zum Betrachten ein: ein Ast mit Apfelblüten, ein Krokus, die borkige Rinde einer alten Eiche. Drei Blätter weiter vorn entdecke ich einen Grashüpfer, halb verborgen hinter Farnen und Gräsern. Je länger ich auf die Zeichnungen starre, desto mehr verliere ich mich darin. Der Detailreichtum, mit dem Teddy diese Motive auf Papier gebannt hat, ist erstaunlich. Die Pflanzen und Tiere wirken lebendig, und die Art der Abbildung erinnert fast schon an Fotografien.

Als ich noch weiter in dem Skizzenbuch blättere, stoße ich plötzlich auf ein ganz anderes Motiv. Es sind die markanten Umrisse eines nackten männlichen Oberkörpers. Er ist nicht so makellos dargestellt wie die griechischen Statuen in den Londoner Museen, die ich bei unseren Ausflügen mit Großmutter besucht habe, sondern eher schmal gebaut, mehr drahtig als muskulös. Die Brustbehaarung ist spärlich. Eine Schraffur unter seinem linken Jochbein deutet einen dunklen Fleck an, der ein Feuermal sein könnte. Unterhalb des Bauchnabels erkenne ich eine wulstige Narbe. Ich frage mich, wen Teddy da gezeichnet hat.

»Gib das her!«

Jemand reißt mir das Buch aus der Hand. Erschrocken zucke ich zusammen und drehe mich um. Teddy steht wieder neben mir und seine Augen funkeln zornig. Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. Als ich den Mund öffne, um mich zu entschuldigen, fährt er mich wütend an, ehe ich auch nur ein Wort sagen kann.

»Was bildest du dir ein?«

Er macht erneut auf dem Absatz kehrt und stürmt davon.

Ich kratze mich verlegen am Kinn. Eigentlich bin ich froh, dass ich nicht mit ihm über das Buch sprechen muss. Was hätte ich auch sagen sollen? Wundervolle Zeichnungen. Vor allem die Männerbrust.

Ich blicke noch in Richtung Wintergarten, als Teddy längst durch die Balkontür nach drinnen verschwunden ist.

Hinter mir erklingt leises Lachen. Ich wirble herum. Doch da ist niemand, nur grün belaubte Büsche.

Langsam nähere ich mich ihnen.

»Ist hier jemand?«

Keine Antwort. Doch was war das? Das Knacken eines Astes?

Ärger steigt in mir auf. Wenn jemand Teddy und mich beobachtet hat, soll er sich jetzt gefälligst zeigen.

»Hallo?«

Entschlossen setze ich meinen Weg fort, bis ich direkt vor den Büschen stehe. Ich spitze die Ohren, doch da ist nichts zu hören.

Vielleicht hat einer der Dienstboten uns nachspioniert?

Ich schiebe das dichte Geäst auseinander. Doch alles, was ich sehe, sind noch mehr Büsche, Gras und ein Ball, der mit seiner roten Farbe aus dem Grün hervorsticht wie eine reife Kirsche.

Als ich ihn aufhebe, glaube ich für einen Augenblick, ein wütendes Zischen zu hören, und ich lasse ihn beinahe wieder fallen. Doch als ich mich umblicke, ist da immer noch niemand. Nervös drehe ich den Ball zwischen meinen Händen. Ein Kinderspielzeug. Doch wem gehört er? Meine Halbschwester ist noch ein Baby, viel zu klein dafür. Stammt er vielleicht von einem der Dienstmädchen? Oder von dem Burschen? Wahrscheinlich haben die Vorbesitzer des Anwesens den Ball hier vergessen. Wallace White jr. hat Thornhill Hall schließlich erst im vergangenen Herbst gekauft.

Ich gehe zum Teichufer zurück, zu der Stelle, an der ich mich mit Teddy unterhalten habe. Der Himmel über mir ist strahlend blau, kein Wölkchen ist zu sehen.

Ich lege den Ball unter den Strauch mit den Rosen. So ist er vom Weg aus gut zu sehen. Dann streiche ich mir eine Haarsträhne aus der Stirn, drehe mich um und gehe zurück ins Haus.

Kapitel 3

Bis zum Abendessen verkrieche ich mich in meinem Zimmer. Gelegentlich höre ich Schritte durch die Wand, Teddy hat sich vermutlich ebenfalls zurückgezogen. Ich überlege, bei ihm anzuklopfen und mich zu entschuldigen, verwerfe den Gedanken aber gleich wieder. In Wahrheit will ich mich nicht auf die Diskussion einlassen, die vermutlich darauf folgen würde.

Stattdessen versuche ich, mich mit der Lektüre eines Buches abzulenken. Aus Großmutters Bibliothek habe ich mir Der Monddiamant von Wilkie Collins mitgenommen, einen Kriminalroman, den sie geliebt hat. Und obwohl ich ihn sehr unterhaltsam finde, kann ich kaum genügend Konzentration aufbringen, um in die Geschichte einzutauchen. Immer wieder wandert mein Blick zu dem zusammengefalteten Papier, das ich als Lesezeichen verwende: Es ist der Brief, den mir meine Mutter geschrieben hat. Ich habe viel zu viele Jahre darauf gewartet. Und als er endlich kam, hätte ich ihn vor Wut und Verzweiflung am liebsten ungelesen verbrannt. Seine Zeilen zu lesen, war furchtbar schwer für mich gewesen. Und dennoch sog ich jedes Wort in mich auf wie ein Löschpapier Tinte.

Man sieht es dem abgegriffenen Brief an: Ich habe ihn wieder und wieder verschlungen, und jedes Mal fühlte es sich an, als kratzte ich den Schorf von einer Wunde, wie um zu verhindern, dass sie verheilt.

Meine Mutter hat all das geschrieben, was ich Jahre zuvor gern von ihr persönlich gehört hätte. Der Brief kam jedoch zu einem Zeitpunkt, als es für Worte zu spät war. Die Frau, die ihn geschrieben hat, war längst zu einer Fremden geworden.

Ich habe mir geschworen, unter keinen Umständen jemals wieder ein Wort mit ihr zu wechseln. Doch jetzt sitze ich hier auf ihrem Gästebett, eine halb ausgepackte Reisetasche vor mir, um mit ihr den Sommer zu verbringen. Nur weil mein Vater eine lange Dienstreise antreten muss und keine Zeit für mich hat.

Der kleine Zeiger meiner Taschenuhr strebt unaufhaltsam der Acht entgegen. Bald kann ich es nicht mehr aufschieben, nach unten zu gehen, ohne unhöflich zu wirken. Mit einem letzten Blick in den Spiegel überprüfe ich, ob meine Frisur und mein Anzug auch gut sitzen. Mein Magen krampft sich zusammen, und ich frage mich, wie ich auch nur einen Löffel Essen hinunterbekommen soll.

Kurz bevor die Standuhr zur vollen Stunde schlägt, betrete ich den Wintergarten. Wallace White jr. steht neben dem Tisch, einen Cognacschwenker in der Hand, und unterhält sich mit Teddy. Zu meiner Überraschung nippt auch der gerade an einem Cognac. Die beiden sehen tadellos aus. Mein Stiefvater hat sich für einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und dunklen Hosenträgern entschieden, und Teddy trägt eine burgunderfarbene Herrenweste. Die Damen sind noch nicht anwesend. Von Pünktlichkeit hält meine Mutter also offenbar immer noch nicht viel.

»Ah, Colin«, begrüßt mich Wallace, während Teddy mir stumm zunickt. »Möchtest du einen Aperitif?«

Wallace deutet auf die Bar, wo der Butler steht und mit unbewegtem Gesicht auf seine Anweisungen wartet.

»Nein danke.«

Wallace lächelt mich an. »Probiere zumindest einen Schluck. Es ist ein edler Tropfen.«

Genervt beobachte ich, wie er mir etwas von dem Alkohol in einen Schwenker gießt. Schicksalsergeben greife ich nach dem Glas und nippe. Der Cognac weckt Erinnerungen an schlimme Erkältungen und bittere Medizin. Meine Zunge wird sofort taub, und ich spüre, wie sich Wärme in meinem ganzen Körper ausbreitet.

»Vorzüglich«, behaupte ich, obwohl es mich innerlich schüttelt. »Danke sehr.«

Ich stelle das Glas ab, fest entschlossen, nicht noch einmal davon zu trinken.

»Gut, gut. Darf ich dir Theodore McKenzie vorstellen?«

»Wir haben uns bereits kennengelernt«, antwortet Teddy. »Heute Nachmittag. Im Garten.«

Unwillkürlich drehe ich den Kopf und blicke durch die Glasscheibe des Wintergartens in Richtung Seerosenteich. Die Sonne ist hinter dem Horizont verschwunden und hat den Himmel in ein kräftiges Violett getaucht, vor dem sich die Fliederbüsche und Sträucher dunkel abheben.

»Gut, gut«, antwortet Wallace. Das scheint seine Lieblingsfloskel zu sein. »Setzen wir uns doch, während wir auf die Damen warten.«

Der Esstisch ist wunderschön gedeckt, das muss ich zugeben. In der Mitte steht ein gewaltiges Blumenarrangement aus pastellfarbenen Blüten. Die Kristallgläser funkeln im Schein der zahlreichen Kerzen, die überall im Wintergarten aufgestellt sind. Die Teller vor uns sind aus reich verziertem Porzellan.

Mr Pierce tritt hinter mich und schenkt mir aus einer Silberkaraffe Wein ein.

Ich hebe die Hand. »Das genügt. Füllen Sie mir das Glas bitte mit etwas Wasser auf.«

Das Letzte, was ich brauchen kann, ist, das erste Dinner mit meiner Mutter seit über zehn Jahren mit einem weinseligen Kopf zu absolvieren.

»Hast du dich in deinem Zimmer bereits eingerichtet?«, fragt Wallace, nachdem er Mr Pierce zu meiner Überraschung angewiesen hat, seinen Wein ebenfalls mit Wasser zu strecken.

Ich zucke mit den Schultern. »Noch hatte ich kaum die Gelegenheit dazu.«

Wallace kratzt sich hinter dem Ohr. »Auch wir haben uns noch nicht richtig eingelebt. Wir sind erst seit ein paar Wochen hier. Doch es ist schön, London hinter sich zu lassen.«

»Mr White! Sind Sie der Großstadt etwa überdrüssig?«, fragt Teddy amüsiert.

»Keineswegs. Ich liebe London. Aber jetzt, wo Sarah nicht mehr auf der Bühne steht, haben wir uns entschlossen, dem Trubel der Stadt den Rücken zu kehren.«

»Sie hat kein Theaterengagement mehr?«, entfährt es mir überrascht.

Wallace nickt. »Annaleighs Geburt war für sie sehr anstrengend, Colin. Die Landluft wird ihr helfen, wieder zu Kräften zu kommen.«

Ich hebe fragend die Augenbrauen.

»Sie ist nur etwas erschöpft«, fügt Wallace sofort hinzu. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Tatsächlich will sie ab Herbst wieder proben. Eine neue Inszenierung von Macbeth. Es wird ihr guttun, dich den Sommer über bei sich zu haben.«

Und schon trübt sich meine Laune wieder.

»Sie hat dich sehr vermisst«, schiebt Wallace sanft hinterher.

Meine Nasenflügel blähen sich, weil ich ein Schnauben unterdrücke. Vermisst habe ich sie auch. Eine ganze Weile lang. Und es ist ja nicht so, dass sie nicht genau gewusst hätte, wo sie mich finden konnte. Das möchte ich am liebsten sagen, doch ich halte mich zurück, da ich keinen Streit mit meinem Stiefvater anfangen will.

Als ich nicht antworte, wechselt Wallace das Thema. »Du hast deine kleine Schwester ja noch gar nicht richtig kennengelernt.«

Halbschwester, schießt es mir durch den Kopf.

Er grinst. »Annaleigh ist so ein süßer kleiner Fratz, Colin, wirklich. Jetzt schläft sie bereits. Ich bin mir sicher, du wirst sie in dein Herz schließen.«

»Ich weiß nicht viel mit Babys anzufangen«, behaupte ich, obwohl das gelogen ist. Eigentlich liebe ich kleine Kinder. Doch allein die Vorstellung, ein winziges Wesen in den Arm zu nehmen, das meine Mutter mit Liebe überschüttet, bricht mir das Herz. Früher war ich es, den sie in den Schlaf gesungen hat.

»Aber ein Geschwisterchen ist doch sicher etwas anderes?« Wallace zwinkert mir zu, und mir schnürt sich die Kehle zusammen.

Während ich fieberhaft nach einer diplomatischen Antwort suche, wendet sich Teddy an Wallace.

»Meine Tante hat mir erzählt, dass Sie eine weitere Expedition planen?«

Mein Stiefvater streicht sich die Krawatte über der stolzgeschwellten Brust glatt.

»In der Tat. Allerdings erst für das kommende Jahr.«

Er beginnt, davon zu berichten, wie kompliziert die Vorbereitungen für eine solche Unternehmung sind. Erleichterung durchströmt mich. Teddys Frage hat ihn von mir abgelenkt. Als ich ihm einen dankbaren Blick zuwerfe, mustert er mich allerdings nur kühl.

»Wenn ihr wollt«, schlägt Wallace vor, »können wir uns morgen Fotografien zurückliegender Expeditionen anschauen.«

In diesem Augenblick ertönen Geräusche vom Flur, und Mutter und Lady Imelda tauchen endlich auf. Wir erheben uns, um sie zu begrüßen, und ich schiele hinüber zur Standuhr. Zehn nach acht. Typisch. Mutter kommt wieder einmal zu spät. Doch dann zieht mich ihr wunderschönes lavendelfarbenes Kleid in seinen Bann. Es ist kunstvoll mit Rüschen und Spitze besetzt, und sie sieht bezaubernd darin aus, auch wenn ihr Korsett etwas nachlässig geschnürt ist.

Lady Imeldas Taille hingegen ist festgezurrt – sie wirkt besonders schmal im Verhältnis zu den beeindruckend großen Puffärmeln ihres zimtfarbenen Kleides. Im Haar trägt sie einen albernen Kranz aus Efeu. Hat man so etwas schon einmal bei einem Dinner gesehen?

»Entschuldigt die Verspätung«, sagt Mutter.

Wallace White jr. winkt ab. »Wir haben doch Zeit!«

Er geht um den Tisch und rückt den Damen die Stühle zurecht. Anschließend setzen wir uns wieder. Mutter greift nach ihrer Serviette und lächelt mich über den Tisch hinweg an.

»Ich habe die Köchin gebeten, Brathähnchen zuzubereiten.«

Mein Magen entkrampft sich etwas. Ich liebe Brathähnchen. Früher haben Mutter und ich, den strengen Blicken meiner Großmutter zum Trotz, das weiße Hühnerfleisch mit den Fingerspitzen von den Keulen gezupft.

Zuvor gibt es allerdings eine Mulligatawny-Suppe, die scharfe indische Currysuppe, die inzwischen fester Teil der britischen Küche geworden ist.

Mr Pierce und eines der Dienstmädchen stellen vor jeden von uns einen dampfenden Teller ab. Der köstliche Duft von Ingwer, Kurkuma und Curry steigt mir in die Nase. Auch der Anblick der sämigen Suppe und ihrer satten ockergelben Farbe lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Es schmeckt hervorragend, und ich spüre, wie ich mich mit jedem Löffel zunehmend entspanne.

Immer wenn ich den Kopf hebe, sehe ich, dass Mutters Blick auf mir ruht. Sie selbst scheint kaum etwas zu essen. Stattdessen konzentriert sie sich ganz auf mich, als hätte sie Angst, dass ich mich in Luft auflöse, wenn sie nur einmal blinzelt.

Ich hingegen konzentriere mich auf den scharfen Geschmack der Suppe und auf Lady Imelda, die von irgendeiner grandiosen Abendveranstaltung berichtet, bei der sie ihr spirituelles Talent unter Beweis gestellt hat.

»Es war famos. Ich wünschte, ihr wärt dabei gewesen!«

»Das wären wir wirklich gern, meine Liebe«, versichert ihr Wallace. »Es ist immer wieder ein Erlebnis, einer deiner Séancen beizuwohnen. Die Saint-Clarks können es kaum erwarten, dich kennenzulernen, nicht wahr, mein Schatz?«

Das lenkt meine Mutter endlich ab. Sie wendet sich ihrem zweiten Ehemann zu und nickt. Eine Last fällt von mir ab, auch wenn ich keine Ahnung habe, wer die Saint-Clarks sind.

Die Erleichterung ist jedoch nur von kurzer Dauer.

»Colin, stell dir vor«, wendet sich Mutter nämlich gleich wieder an mich, »bei der Soiree waren sogar Gäste aus dem Buckingham Palace zugegen.«

Ich lächle Lady Imelda unverbindlich an. »Beeindruckend.«

»Nicht wahr? Ach, es war so aufregend!« Sie rückt den Efeukranz in ihrem Haar zurecht. »Meine Schleierblicke sind zwar nichts Ungewöhnliches mehr, doch ich gebe zu, dass es auch in mir eine gewisse Ehrfurcht auslöst, mein Können in solch illustrer Runde unter Beweis zu stellen.«

»Schleierblicke?«, frage ich, auch wenn ich mir denken kann, dass sie irgendeinen spiritistischen Humbug damit meint.

»So nenne ich es, wenn ich Kontakt mit der Geisterwelt aufnehme.« Sie fährt mit den Händen durch die Luft, als wollte sie einen Bühnenvorhang beiseiteschieben. »Ich blicke dann hinter den Schleier, der unsere Welt von den Geistern trennt.«

Meine Mundwinkel zucken. »Und daran waren die Mitglieder der königlichen Familie interessiert? Zu wem haben Sie denn Kontakt aufgenommen? Zu Heinrich VIII.?«

Teddy McKenzie feuert einen wütenden Blick auf mich ab, doch seine Tante lacht.

»Du liebe Zeit, nein. Wir haben versucht, ein uraltes Mysterium zu ergründen.« Lady Imeldas Augen blitzen. »Die Geschichte der Prinzen im Tower ist Ihnen sicher bekannt?«

»Sie meinen die Söhne von Edward IV.? Die Richard III. hat ermorden lassen?«

»Falls sie tatsächlich umgebracht wurden …«

Ich lehne mich im Stuhl zurück und verschränke die Arme.

»Wurden sie das denn nicht?«, frage ich Lady Imelda.

»Das haben sie mir noch nicht verraten.«

»Also ist es Ihnen nicht gelungen, ihre Geister zu beschwören?«

Imelda sieht mich wütend an.

»Ich beschwöre die Geister nicht«, korrigiert sie mich. »Ich lade sie ein, zu mir zu kommen und sich mit mir zu unterhalten. Ob sie es tun, bleibt ihnen überlassen.«

»Und«, will ich wissen, »sind die beiden Prinzen Ihrer Einladung gefolgt?«

Imelda schüttelt den Kopf. »Noch nicht.«

Ich muss ein Grinsen unterdrücken.

»Man kann einen Geist zu nichts zwingen«, sagt Imelda und zupft schon wieder an ihrem Efeukranz herum. »Sie mögen einmal Menschen gewesen sein, doch je älter sie sind, das heißt, je länger ihr Tod zurückliegt, desto schwieriger ist es, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Wir haben uns während dieser Soiree stattdessen mit einem charmanten jungen Mann unterhalten, der leider bei der Londoner Bier-Überschwemmung sein Leben verlor …«

»Bei der was?«

»Der Londoner Bier-Überschwemmung. 1814. In einer Brauerei an der Tottenham Court Road platzte eine ganze Reihe Fässer, und das Bier floss im wahrsten Sinne des Wortes in Strömen. Und zwar über die Straßen. Ganze Häuser wurden zerstört und es starben zehn Menschen.«

»Ahhhh. So war das also.«

Mr Pierce tritt hinter mich und räumt den Suppenteller ab.

»Sie glauben mir nicht?«, sagt Imelda angriffslustig, während mir der köstliche Brathähnchenduft in die Nase steigt, als das Dienstmädchen den Teller mit dem Hauptgang vor mir abstellt.

Ich blicke die Freundin meiner Mutter direkt an. »Ich glaube nicht an Geister.«

Eine Sekunde lang herrscht Schweigen im Raum. Die Hausangestellten klappern nicht einmal mit dem Geschirr. Alle warten auf Imelda McKenzies Reaktion.

Sie greift nach der Serviette und tupft sich die Mundwinkel ab. »Nun, Mr Cavendish. Dann machen Sie sich morgen Abend auf etwas gefasst.«

Jetzt schaltet sich meine Mutter in das Gespräch ein. »Imelda hat sich bereit erklärt, morgen nach dem Dinner eine Séance für uns abzuhalten.«

»Wie aufregend«, erwidere ich, und es gelingt mir nicht, den ironischen Ton in meiner Stimme zu unterdrücken. Schnell greife ich nach Messer und Gabel. »Das Hähnchen sieht köstlich aus.«

Die angespannte Atmosphäre beruhigt sich allmählich. Mutter lächelt mir zu, und ehe ich es verhindern kann, erwidere ich ihr Lächeln. Das Tischgespräch wendet sich anderen Themen zu, während ich versuche, mich ganz auf das Fleisch und das Gemüse vor mir zu konzentrieren. Irgendwann driften meine Gedanken ab, und ich muss an die stillen Abendessen zu Hause auf Cavendish Manor mit Großmutter und Vater denken.

Ich zucke erschrocken zusammen, als schließlich mein Name fällt.

»Colin?« Es ist Wallace’ Stimme.

»Ja?«

»Deine Mutter hat dich gefragt, wie dir der Garten gefällt.«

»Er ist wundervoll«, erwidere ich. »Vor allem die Fliederbüsche und der Seerosenteich.«

Mutter lächelt erfreut.

»Das ist auch Teddys Lieblingsplatz«, teilt uns Lady Imelda mit.

Ich blicke über das Blumengesteck hinweg zu ihrem Neffen auf der anderen Seite des Tisches hinüber, seine Miene wirkt wie versteinert.

»Ich habe ihn heute Mittag dort getroffen«, sage ich und hätte am liebsten versöhnlich hinterhergeschoben, dass ich ihn für einen hervorragenden Künstler halte. Doch dann hätten Mutter und Wallace sein Notizbuch gewiss sehen wollen, und dass er nicht möchte, dass jemand seine Zeichnung dieser Männerbrust entdeckt, kann ich gut verstehen. Auch wenn ich davon ausgehe, dass zumindest meine freigeistige Mutter kein Problem damit hätte.

»Ich bin sicher, ihr werdet euch mögen.« Teddys Tante blickt zwischen ihm und mir hin und her.

Er antwortet immer noch nicht.

»Ich habe deinen Ball gefunden«, sage ich deshalb.

Teddys Stirn bewölkt sich.

»Zwischen den Büschen. Ich habe ihn ans Seeufer gelegt, unter den Rosenstrauch.«

»Ich besitze keinen Ball«, erwidert er.

Ich zucke mit den Schultern und spieße mit der Gabel eine blanchierte Bohne auf.

»Gehört er vielleicht einem Nachbarn?«, frage ich. »Jemand scheint sich in den Büschen versteckt zu haben. Ich habe ein Lachen gehört, aber …«

Der Rest meines Satzes geht in mächtigem Gepolter, Geklirre und erschrockenen Aufschreien unter. Dem Butler ist das Silbertablett aus den Händen gefallen. Eine Glaskaraffe zerschellt auf dem Boden.

»Verdammt!«, entfährt es Wallace.

»Es tut mir leid«, murmelt Mr Pierce. Er ist so bleich im Gesicht, als wäre er selbst ein Geist.

Das Dienstmädchen eilt zu ihm. Während es die Scherben in seiner Schürze aufsammelt, versucht Mr Pierce mit einer Serviette, den Schaden so gut wie möglich zu beheben.

»Selbstverständlich komme ich für sämtliche Kosten auf«, versichert der Butler und starrt auf den dunklen Weinfleck, der sich trotz aller Bemühungen auf dem Teppich ausbreitet.

»Schon gut«, erwidert Mutter und legt Wallace eine Hand auf den Arm, um ihn zu beruhigen. »Achten Sie bitte darauf, sich nicht zu schneiden, Annie.«

Wallace räuspert sich. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns kurz die Beine vertreten? Das Personal soll inzwischen alles wieder herrichten.«

Das Violett des Abendhimmels hat sich mittlerweile in ein tiefes Nachtblau verwandelt. Die ersten Sterne leuchten über uns, während wir durch den Garten zum Teich schlendern. Es ist noch angenehm mild und in der Luft tanzen Falter. Vom Wasser her schallt uns ein Froschkonzert entgegen.

Während Wallace meiner Mutter seinen rechten Arm anbietet und Lady Imelda den linken, lasse ich mich auf die Höhe von Teddy zurückfallen.

»Das war seltsam«, sage ich, um das Schweigen zwischen uns zu brechen.

Teddy zuckt mit den Schultern. »Du meinst das Missgeschick des Butlers?«

Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie er den Arm ausstreckt und beim Gehen die Finger über das Blattwerk der Büsche streifen lässt.

»Ich glaube nicht, dass es ein Missgeschick war. Hast du sein Gesicht nicht gesehen? Es war weiß wie ein Bettlaken«, sage ich schließlich.

»Die Karaffe war sicher nicht billig«, räumt Teddy ein.

»Und der Teppich auch nicht«, ergänze ich.

»Der arme Kerl wird seine Schulden ewig abzahlen müssen.«

Ich blicke nach vorn zu den drei Erwachsenen. Sie scheinen sich keine Gedanken über den Teppich oder Mr Pierce zu machen, die Luft trägt ihr Lachen zu uns herüber. Sie bleiben im Schatten eines jungen Ahorns stehen und blicken zum Teich. Mutter hat ihren Kopf auf Wallace’ Schulter gelegt.

»Was die Schulden angeht, wird meine Mutter sicher eine Lösung finden«, sage ich. Egal, was ich sonst von ihr halte, davon bin ich überzeugt. Wenn es um Dienstboten ging, hatte sie schon immer ein weiches Herz. Ich blicke Teddy direkt an. »Findest du es nicht seltsam, dass ihm das Tablett ausgerechnet in dem Moment aus den Händen gerutscht ist, als ich den heimlichen Beobachter im Garten erwähnt habe?«

Er hebt spöttisch die Augenbrauen. »Dabei hast du doch behauptet, dass du nicht an Geister glaubst.«

»Geister?« Überrascht bleibe ich stehen. »Ich rede doch nicht von Geistern!«

»Na ja, vielleicht waren es ja irgendwelche Nachbarn oder jemand aus der Dienerschaft…«

Teddy schnaubt, und erst jetzt kommt mir ein Gedanke, auf den ich wirklich schon früher hätte kommen können: die drahtige Männerbrust in seinem Notizbuch … Vielleicht hat er die ja hier auf Thornhill Hall gemalt. Was, wenn sie Mr Pierce gehört oder Bob oder …?

Ich erinnere mich daran, wie wütend er war, als er mich mit seinen Zeichnungen erwischt hat. Ist er einem der beiden nahegekommen? Und hat er jetzt Angst, dass es jemand erfährt?

Schweigend setzen wir unseren Weg fort. Als wir den Teich erreichen, entdecke ich auf einem großen Seerosenblatt einen der Frösche, die für das laute Quaken verantwortlich sind. Wir stehen an derselben Stelle, an der wir uns heute Mittag kennengelernt haben – genau da, wo er gezeichnet hat.

Teddy schaut sich suchend um.

»Wo, sagtest du, hast du den Ball hingelegt?«, fragt er.

Ich deute in Richtung des violetten Rosenstrauchs. Doch als mein Blick dorthin wandert, muss ich feststellen, dass der Ball verschwunden ist.