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Der Legende nach lebten in alten Zeiten Geister in Brunnen und erfüllten die Wünsche und Verwünschungen der Menschen. Als Prinzessin Lina erfährt, dass der König eine Hochzeit für sie arrangiert hat, erinnert sie sich an die alten Sagen. In einer finsteren Nacht sucht sie einen verfallenen Brunnen im Königswald auf, opfert eine goldene Kugel aus der Burg ihres Vaters und wünscht sich, der Ehe zu entgehen. Doch Lina kennt die wahre Bedeutung der goldenen Kugel nicht, und ihr Handeln erweckt ein uraltes Grauen aus den Tiefen des Brunnens …
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Originalausgabe
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Redaktion: Julia Adrian
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Cover & Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Einige Jahre zuvor
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Drei Tage später
Epilog
Noch zwei Tage später
Nachwort
Glossar
Namen:
Länder:
Königsfamilie von Sommerlund
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Sebastian.
Und für die Seit-Schwestern.
In Brunnengeister spielen Geschwisterbeziehungen eine so große Rolle, deshalb ist dieses Buch für euch.
Sie fanden den Brunnen zufällig. An jenem Nachmittag hatten sie sich viel tiefer in den Wald vorgewagt als jemals zuvor. Das Rascheln der Wildtiere im Unterholz, das Klopfen des Spechts und der Duft von Moos, Tannennadeln und Harz hatten eine unwiderstehliche Wirkung auf sie ausgeübt. Von der angenehmen Kühle unter dem dichten Blätterdach, durch das sich nur wenige Sonnenstrahlen verirrten, ganz zu schweigen.
Der Boden unter ihren Füßen war weich von den zahllosen Schichten verrottenden Laubs, und je tiefer Lina in den Wald vordrang, desto mehr strahlte ihr Gesicht und desto freier fühlte sie sich. Daran änderten weder die Brennnesselstauden etwas, die zu beiden Seiten des Wildpfads so hoch wuchsen, dass sie wie durch einen Tunnel zwischen ihnen hindurchtauchen konnten, noch die Ranken, die sich über den Waldboden schlängelten und es darauf anzulegen schienen, sie zum Stolpern zu bringen.
Trüge ich mein Kleid, wäre der Saum längst schmutzig und zerrissen, dachte sie und warf Klaas ein zahnlückiges Grinsen zu. Es mochte ihre Idee gewesen sein, den wilden Teil des Waldes zu erkunden. Er jedoch war so schlau gewesen, ihr ein Hemd, eine Hose und ein paar Lederschuhe aus seinem Kleiderschrank zu leihen. Lina hatte das aufregend gefunden, und so wartete ihr himmelblaues Prinzessinnenkleid, makellos sauber, in der kleinen Stube der Hütte, in der Klaas mit seinen Eltern lebte. Sein Vater war der königliche Wildhüter, ganz so, wie es dessen Vater vor ihm gewesen war und wie es Klaas eines Tages nach ihm sein würde.
Jetzt war er allerdings noch genauso groß wie sie. Zumindest fast. Lina blickte hinunter zu ihren Knöcheln, die blass unter den etwas zu kurzen Hosenbeinen hervorlugten. Was ihre Familie wohl sagen würde, wenn sie sie so sehen könnte?
Wiga würde in Ohnmacht fallen, überlegte sie. Mama würde versuchen, ein strenges Gesicht zu machen, doch es würde ihr nicht ganz gelingen, und Papa würde amüsiert lachen, mich im Kreis herumwirbeln, bis uns beiden schlecht wäre, und mir dann mit bemüht ernster Miene erklären, dass sich ein solcher Aufzug für eine Prinzessin nicht schicke, auch nicht während der zwangloseren Sommermonate auf dem Land.
»Träumst du schon wieder?«, rief Klaas ihr zu.
»Nein. Tu ich nicht!«
Schalk blitzte in seinen Augen auf. »Gut. Dann fang!« Er hob den gelb eingefärbten Lederball über den Kopf.
»Klaas«, protestierte sie. Aber da war es schon zu spät. Der Ball schoss durch die Luft, viel zu hoch. Klaas hatte seine ganze Kraft in den Wurf gelegt. Lina stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte die Arme so weit wie möglich nach oben, doch der Ball blieb unerreichbar. Er sauste dicht über ihren Fingerspitzen hinweg und riss einer Kanonenkugel gleich ein Loch in die Brombeerhecke, die sich wie eine verwunschene Wand hinter ihr erstreckte.
»Mist«, entschlüpfte es ihr.
»O nein!« Klaas eilte auf sie zu. »Das war wohl etwas zu kräftig.«
Lina stemmte die Hände in die Hüften. »Ach ja?«
»Und was machen wir jetzt?«
»Was wohl? Ihn zurückholen.«
»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte er. »Du weißt, was man sich über solche Hecken erzählt.«
Lina blinzelte ungläubig. »Klaas. Du bist der Sohn des Wildhüters. Du wirst doch nicht an Hexen glauben.«
»Hm«, machte er nur.
Sie ließen ihre Blicke an der Hecke entlangstreifen. Sie schien kein Ende zu nehmen.
»Das dauert ja ewig, bis wir die umrundet haben«, murmelte er jetzt.
Lina deutete auf eine kleine Lücke zwischen den Ranken, direkt am Boden, die vermutlich von Wildtieren stammte.
»Da durch?« Klaas sah sie an, als zweifle er an ihrem Verstand.
Doch ihre Haut begann zu kribbeln. Sie witterte ein Abenteuer. »Na komm schon.«
Ehe er protestieren konnte, hatte sie sich auf alle viere niedergelassen und zwängte sich durch die Lücke in der Hecke.
»Lina«, hörte sie ihn rufen, doch sie achtete nicht darauf.
Auch von den Zweigen, die sich in ihren Haaren verfingen, und von dem Umstand, dass sie mehr schlängelte als kroch, ließ sie sich nicht aufhalten. So gut es ging, versuchte sie mit ihrem Arm, die Ranken zur Seite zu schieben, trotzdem rissen die Dornen ihre Stirn auf, und etwas Warmes lief ihr die Wange hinab.
Das wird ein Donnerwetter geben.
Aber auch der Gedanke an später verlangsamte sie nicht. Lina wollte ihren Ball zurück. Und vor allem war sie neugierig, was hinter dieser Brombeerhecke lag.
Sie hörte Zweige knacken, Klaas fluchen und lächelte zufrieden. Er kam ihr also hinterher.
Als sie sich durch das Loch auf der anderen Seite ins Freie schob, atmete sie auf. Erleichtert kam sie auf die Füße. Vorsichtig betastete sie die Stirn, und als sie die Wunde berührte, zuckte sie kurz zusammen. Ihre Fingerspitze war rot gefleckt. Auch ihre Unterarme waren zerkratzt.
»Mutter wird mir die Ohren lang ziehen«, schimpfte Klaas, der sich hinter ihr aufrichtete. »Weißt du, wie schwer sich Blut aus Kleidung waschen lässt?«
Nun pikste Lina doch das schlechte Gewissen. Dann fiel ihr Blick auf das, was vor ihr lag, und die Verletzung war vergessen.
»Klaas«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Schau doch!«
Es kam ihr vor, als sei auf der Lichtung die Zeit stehen geblieben. Bis auf das Flüstern der Blätter war es hier ungewöhnlich ruhig. Das Klopfen des Spechts, das Rascheln der Tiere im Unterholz – all das schien hinter der Hecke zurückgeblieben zu sein.
Als wären wir in eine völlig neue Welt eingetaucht, ging es ihr durch den Kopf. Eine verzauberte Welt.
Hohe Farne schossen vor ihnen in die Höhe, um die Bäume wand sich Efeu, das wiederum selbst von hauchfeinen Spinnennetzen überzogen war.
Alle paar Schritte erhoben sich Steine aus dem grünen Meer, teils überzogen von ockerfarbenen Flechten. Am beeindruckendsten war allerdings der Brunnen in der Mitte der Lichtung. Sein Mauerwerk war halb verfallen, das dunkle, von Moos überwucherte Holzkonstrukt mit der Winde, an der einst ein Eimer zum Wasserschöpfen gehangen haben musste, sah morsch aus. Trotzdem besaß das Bauwerk eine majestätische Aura. Vielleicht lag das auch an der riesigen Linde, die hinter dem Brunnen aufragte und ihre mächtigen Äste wie ein schützendes Dach über ihm ausbreitete.
Wie von einem unsichtbaren Band gezogen, bewegte Lina sich auf die Mitte der Lichtung zu. Mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, die Wirklichkeit weiter hinter sich zu lassen.
»Das sind keine Steine«, entfuhr es Klaas.
Linas Herz machte einen Satz und sie wirbelte herum, darauf gefasst, Auge in Auge mit einem der blutgierigen Felsenzwerge der alten Legenden zu stehen, die sich des Tags als Steinklötze tarnten und im Schein des Vollmonds auf unvorsichtige Wanderer warteten, um ihr Blut zu trinken.
Stattdessen entdeckte sie Klaas, der vor einem der flechtenüberwucherten Brocken hockte.
»Du«, schleuderte sie ihm entgegen; Erleichterung, dass sie sicher waren, machte sich so Luft.
Klaas achtete gar nicht darauf. Fasziniert betrachtete er den Stein vor sich, der sich jetzt, da Lina ihn genauer in Augenschein nahm, als Statue entpuppte.
Neugierig trat sie darauf zu. Klaas hatte mit beiden Händen das Farnkraut vor dem Ding zur Seite geschoben und jetzt offenbarte sich … ein seltsames Monster? Es war hüfthoch, besaß Glupschaugen, ein breites Maul und einen gewaltigen Blähbauch. Lauernd hockte es auf dem Waldboden.
»Ist das …?«
»Eine Kröte«, bestätigte Klaas.
Lina runzelte die Stirn. Im Palastgarten gab es eine Vielzahl von Statuen. Sie alle bestanden aus schneeweißem Marmor. Manche von ihnen stellten Schwäne auf einem See dar oder Meerjungfrauen, aus deren Schneckenmuscheln sich Wasserstrahlen in den großen Goldfischteich ergossen. Hinter der Rosenlaube thronte auf einem Podest der geflügelte Löwe, der auch ihr Familienwappen zierte. Und im Gartentempel auf der kleinen Insel inmitten des Sees residierten die imposanten Statuen des Sonnenkriegers mit dem Strahlenkranz und der Mondfrau mit der Sternenkette. So etwas Hässliches wie diese Kröte gab es dort nirgends.
Vorsichtig streckte sie die Hand aus, um ihren steinernen Kopf zu berühren. »Was glaubst du, ist das?«
»Ein Wunschgeist«, antwortete Klaas überzeugt.
Lina zog ihre Finger zurück, als hätte sie sich verbrannt »Glaubst du, er ist nur eine Statue? Oder ist er versteinert?«
»Von einem versteinerten Wunschgeist habe ich noch nie gehört«, murmelte Klaas.
Lina auch nicht. Natürlich kannte sie die alten Geschichten um die Geister, die so viel Leid und Elend über das Land gebracht hatten, bis Sonne und Mond gemeinsam vom Himmel gestiegen waren, um sie aufzuhalten. In all diesen Erzählungen hieß es, die Götter hätten die boshaftesten Geister vernichtet und alle anderen in ein magisches Zwischenreich verbannt. Niemand hatte ihr je erzählt, man habe sie in Stein verwandelt.
Sie blickte über den Farn hinweg zu der Linde und dem Brunnen.
»Wenn das hier ein Wunschgeist ist …«, murmelte sie, »dann ist das …«
»… ein Wunschbrunnen.« Klaas klang jetzt ganz ehrfürchtig. Sie ließen von der Krötenstatue ab und marschierten hinüber.
Gänsehaut bildete sich auf Linas Unterarmen. Ob aus Angst oder vor Aufregung, hätte sie nicht zu sagen gewusst. Ihr Herz schlug schnell in ihrer Brust, ihre Handflächen begannen zu schwitzen, doch sie konnte nicht anders. Sie musste zum Brunnen.
Sprich niemals einen Wunsch aus, hörte sie die Stimme ihrer Mutter, eindringlich und mit einem Hauch von Furcht. Niemals, Lina, hörst du? Wenn dich ein Wunschgeist hört, könnte er in Erfüllung gehen. Und es gibt kaum einen größeren Schrecken.
»Wie kann ein Wunsch, der sich erfüllt, ein großer Schrecken sein?«, hatte sie damals gefragt. Wie naiv sie doch gewesen war.
»Weil das, was die Menschen wollen, selten das ist, was sie wirklich brauchen«, hatte die Königin geantwortet, und auch das war einer dieser Sätze gewesen, den Lina nicht verstanden hatte. »Und weil nichts auf der Welt ohne Preis daherkommt.«
»Vaters Schatzkammern sind randvoll. Gewiss kann er einen Wunschgeist bezahlen«, hatte sie selbstsicher geantwortet.
Ihre Mutter hatte nur mit der Zunge geschnalzt. »Von einem solchen Preis rede ich nicht.«
»Die Götter haben die Wunschgeister verbannt und die Menschen gerettet«, hatte sich Theodora eingemischt. Ihre älteste Halbschwester war damals erst elf gewesen, hatte sich aber verhalten, als sei sie bereits Königin. »Es ist der Wille der Mondfrau und des Sonnenkriegers, dass wir Menschen keine Wünsche mehr äußern. Das ist alles, was du wissen musst, Marlina.«
»Aber …«
»Hör auf, so viele Fragen zu stellen. Das schickt sich nicht.«
Und damit war die Sache erledigt gewesen.
Was Theodora wohl tun würde, wenn sie Lina jetzt hier sehen könnte? Dass Klaas und sie auf einen echten Wunschbrunnen zuhielten, würde ihr ganz und gar nicht gefallen. Aber Lina war kein kleines Kind mehr, und das hier war eine Gelegenheit, die sie sich nicht entgehen lassen wollte.
Und überhaupt: Sie wollte doch bloß einen Blick in den Brunnen werfen! Wenn stimmte, was alle sagten, waren die Wunschgeister ohnehin verschwunden. Es war nicht mehr wie in den alten Zeiten, in denen die Menschen die geheimen Plätze aufgesucht, den Wunschgeistern gehuldigt hatten und etwas von ihnen erbaten.
Nur ein Blick …
Und trotzdem klopfte ihr das Herz bis zum Hals, als sie so nah am Brunnen standen, dass sie mit der Hand die Umfassung berühren konnte. Der Stein war rau, selbst die Flechten, die an ihm wuchsen, fühlten sich ausgetrocknet an. Vorsichtig stellte Lina sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor, blickte über den Rand in den Schacht hinab.
Er musste tief sein. Der Wasserspiegel lag weit unten, eine schwarze Scheibe, auf der sich das Licht nur schwach brach. Ein kühler Luftzug stieg auf, streichelte ihr Gesicht wie mit Nebelfingern. Die Zeit verlangsamte sich und der Geruch von Moos und feuchtem Stein kitzelte ihre Nase.
»Lina«, flüsterte Klaas ängstlich.
»Warte«, bat sie ihn, doch er trat einen Schritt zurück.
Sie wollte sich ihm zuwenden, um ihn aufzuziehen, da nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Wasser wahr.
»Was war das?«, entschlüpfte es ihr atemlos, und sie starrte hinunter in die Tiefe. Doch der Schacht präsentierte sich still und reglos. Keine Wellenbewegungen auf der dunklen Oberfläche. Hatte sie sich die Regung nur eingebildet? War es nicht mehr als eine Reflexion der Sonne gewesen?
Sie legte den Kopf in den Nacken, spähte hinauf in das Geäst der Linde. Durch ihr Blattwerk fiel nur wenig Licht.
»Was ist? Hast du etwas gehört?« Klaas klang beunruhigt. »Gesehen?«
»Ich …«, begann sie, doch plötzlich fühlte sie es. Die Bäume, die die Lichtung umstanden, schienen enger zusammenzurücken. Das Wispern des Windes klang nicht mehr geheimnisvoll, sondern unheimlich. Und der Lufthauch aus dem Brunnenschacht schien jetzt vor Kälte zu beißen.
Lina wich vom Brunnen zurück, ein Ast zerbrach unter ihren Stiefeln. Er knackte viel zu laut!
»Lina.« Klaas klang jetzt panisch.
Warum hörten sie auf dieser Lichtung keines der üblichen Waldgeräusche? Warum war es plötzlich mitten im Sommer eiskalt?
»Lass uns gehen«, hauchte sie.
Er nickte, rannte hinüber zu der Stelle, an der ihr Ball gelandet war. Dann machten sie sich auf den Weg zurück durch die Hecke in den Wald.
Niemand hielt sie auf.
Die Lichtung mit dem Brunnen betraten sie nie wieder.
Viele Jahre nicht.
Bis …
Wenn sie etwas wirklich nicht konnte, dann war es sittsames Warten. Als Lina vor einigen Tagen zum ersten Mal für Meister Renaldo Porträt gesessen hatte, war ihr das noch nicht so anstrengend vorgekommen. Damals war sie von den Farbtöpfen und Pinseln fasziniert gewesen, die im ganzen Raum verteilt standen, von den Staffeleien und der lebensgroßen Skulptur eines geschlechtlosen Menschen, deren Gelenke von einem geschickten Schmied mit Scharnieren so verbunden worden waren, dass Meister Renaldo sie nach Belieben bewegen und in Positur bringen konnte.
Bei ihrer zweiten Sitzung hatte sie sich die Zeit damit vertrieben, zu rätseln, was sie wohl entdecken würde, wenn sie den Stoff von den abgehängten Leinwänden zöge. Angeblich arbeitete der Meister an einer Gemäldeserie für die Baronin von Silberesch. Aeldis vermutete, dabei handele es sich um Landschaftsdarstellungen des Gartens der Baronin, auf den diese so stolz war. Oder um Porträts ihrer geliebten Langhaarkatzen. Aber warum sollte Meister Renaldo sie dann verhüllen? Was, wenn er an etwas Frivolerem arbeitete?
Die Darstellung einer Nymphe und eines Satyrs beim Liebesreigen beispielsweise, raunte ihr die Stimme ihres Schalks zu. Womöglich noch mit den Gesichtern der Baronin und ihres Ehemanns!
Das ließ sie schmunzeln.
»Bitte, Prinzessin«, schallte die Stimme des Meisters sofort durch den Raum. »Nur noch wenige Pinselstriche.«
Es fiel Lina schwer, ein Stöhnen zu unterdrücken.
Sehnsuchtsvoll schielte sie hinüber zu den großen Fenstern, die so viel Tageslicht in den Raum fallen ließen und Freiheit versprachen.
»Lina«, mahnte nun auch Aeldis. Ihre Schwester stand neben dem Meister und blickte ihm über die Schulter.
Sie hat gut reden, dachte Lina. Sie muss diese Tortur ja auch nicht über sich ergehen lassen.
Nicht, dass das Aeldis etwas ausgemacht hätte. Ihr fiel es nicht schwer, sich stundenlang auf einem unbequemen Holzstuhl den Hintern platt zu drücken und dabei auch noch anmutig und huldvoll auszusehen. Und falls es ihr doch zu langweilig wurde, konnte sie einfach ein bisschen Sternenstaub zu sich nehmen. Davon allerdings ließ Lina, so wagemutig sie sonst auch war, lieber die Finger.
Geschlagene zwanzig Minuten vergingen zäh wie Honig, ehe Meister Renaldo sie endlich zu sich rief. Erleichtert hüpfte Lina vom Stuhl und lief zu ihm.
Als sie jedoch einen Blick auf das Porträt von sich warf, krampfte sich ihr Magen zusammen.
»Das ist …«
»Ja …?« Der Meister klang aufgeregt. Er hielt den Atem an und streckte den Rücken durch.
»… schrecklich«, beendete Lina den Satz. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Das Grinsen fiel aus Meister Renaldos Gesicht. »Schrecklich?«
Er klang, als glaube er, sich verhört zu haben.
Hatte er aber nicht.
»Lina!«, rügte Aeldis schockiert. »Meister Renaldo, hört nicht auf meine Schwester. Das Porträt ist perfekt.«
»Ich sehe absolut makellos darauf aus«, widersprach Lina und starrte die Frau an, die der Meister mit Öl auf die Leinwand gepinselt hatte: rosige Wangen, leuchtende Augen, eine perfekt sitzende Hochsteckfrisur – nicht eine einzige Haarsträhne hing anders, als sie sollte – und ein Lächeln auf den Lippen, das zu allem Überfluss auch noch geheimnisvoll wirkte. So hatte sie doch gewiss nicht geguckt!
So konnte sie schlichtweg nicht lächeln. Wiga behauptete immer, wenn sie es versuche, sähe sie aus wie ein grinsender Frosch. Und auch die Figur, die diese Prinzessin auf dem Porträt besaß, hatte recht wenig mit der ihren gemein. Meister Renaldo hatte ihr mindestens zehn Pfund von den Hüften genommen.
»Prinzessin …«, stammelte dieser erneut. Ganz offensichtlich fehlten ihm die Worte.
Dafür fielen Lina einige ein. »Hättet Ihr mir nicht wenigstens eine Warze auf das Kinn malen können? Oder eine krumme Nase?«
»Aber … Hoheit. Ihr habt keine krumme Nase.«
»Ich bin auch nicht so schlank, und trotzdem stellt Ihr mich so dar!«
Aeldis legte ihr die Hand auf die Schulter. »Bist du übergeschnappt?«
Unwillig schüttelte Lina ihren Griff ab. »Was glaubst du, was die Freier denken werden, wenn sie dieses Porträt von mir sehen?«
»Sie werden erkennen, dass du eine wunderschöne junge Frau bist, die …«
»Genau«, unterbrach Lina sie. »Genau das werden sie.«
Verzweifelt lief sie um die Staffelei herum und zu dem Platz, auf dem sie Stunde um Stunde ausgeharrt hatte, während Meister Renaldo ihr Abbild in Öl gebannt hatte. Das in blaues Leinen gebundene Buch, das sie als Accessoire gehalten hatte, um frommer auszusehen, hätte sie am liebsten in die Ecke gepfeffert. Wann hatte man sie in den vergangenen Jahren jemals freiwillig mit einem Buch gesehen? Und wenn, dann sicher nicht mit den Heiligen Schriften unserer Guten Mutter, der Mondfrau. Es war einfach nur lächerlich.
Aeldis lief ihr hinterher. »Du bist übergeschnappt. Ich wünschte, Meister Renaldo hätte mein Porträt gemalt.«
»Das wäre mir auch lieber gewesen.«
Aber von Aeldis gab es bereits ein Porträt. Und es war schön, auch wenn es nicht von einem so begnadeten Meister gefertigt worden war. Während das von Lina dutzendfach kopiert durch die halbe Welt geschickt werden würde, verblieb das Gemälde von Aeldis im Palast. Trotz der Schönheit der Prinzessin. Lina fand ihre Schwester wunderschön, sogar viel schöner als sich selbst, und das gab sie ohne jeglichen Neid zu. Aeldis besaß glänzend braune Locken, einen langen Schwanenhals und dichte Wimpern. Sie war die perfekte Rose in einem schön gepflegten Garten, und Lina war sich sicher, dass es zahllose Edelmänner gab, die Aeldis gern pflücken würden. Doch ihre Schwester war Vaters Liebling, und zu ihrem Unmut hatte er ihre Hand noch niemandem versprochen. Und würde es vermutlich auch nie. Lina beneidete sie darum.
»Wenn die Prinzen dein Bildnis sehen, wirst du dich vor Anträgen kaum retten können«, prophezeite Aeldis.
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Lina stürzte zurück zu Meister Renaldo und versuchte, ihm den Pinsel aus der Hand zu reißen.
»Prinzessin!«, quietschte er erschrocken.
»Lina!«, rief Aeldis.
»Nun gebt schon her«, mühte sie sich, den Künstler zum Nachgeben zu bewegen. Wenn er nicht bereit war, ihr zumindest eine winzige Warze ins Gesicht zu malen, so musste sie das eben selbst übernehmen.
»Hör auf!« Aeldis riss sie grob an der Schulter zurück. Sie sah zart und unschuldig aus, aber wenn sie wollte, hatte sie einen Klauengriff, dem niemand entkam. Lina versuchte, sich zu befreien – auch weil sie wusste, wie sehr dieses Gerangel Aeldis ermüden würde. Mit einem unbarmherzigen Ratschen gab der Seidenstoff ihres Kleides nach.
Aeldis ließ erschrocken los. Lina taumelte und prallte gegen ihr Porträt. Mit dem Ellenbogen streifte sie das Gemälde.
Jetzt war es Meister Renaldo, der entsetzt aufschrie. Beherzt sprang er vor. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, die Leinwand zu packen, ehe sie zu Boden fiel.
Es wurde mucksmäuschenstill im Atelier. Die ausgestopften Tierköpfe, die an sämtlichen Wänden hingen, schienen Lina mit ihren schwarzen Glasaugen vorwurfsvoll niederzustarren.
Meister Renaldo stellte die Leinwand behutsam auf die Staffelei, und alle drei betrachteten, was geschehen war.
Das Saphircollier, das die Gemälde-Lina um den Hals trug, war völlig verschmiert, die Farbe war noch nicht trocken gewesen. Dafür klebte von der blauen Ölfarbe, die Meister Renaldo verwendet hatte, jetzt etwas an Linas pastellrosa Kleid. Denn natürlich hatte ihr Vater darauf bestanden, dass sie dieses Kleid trug, während sie gemalt wurde – um ihre Unschuld zu unterstreichen.
Lina wusste, sie sollte ein schlechtes Gewissen haben, da sie das Gemälde ruiniert hatte, nur … was nicht fertig war, konnte auch nicht verschickt werden.
»Meister Renaldo«, flüsterte Aeldis erschüttert.
Er griff nach einem Leinentuch, das auf einem Tischchen neben der Staffelei lag, und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Dabei verteilte er Farbflecken auf seiner Haut.
»Schon gut«, sagte er. »Das ist nichts, was ich nicht richten kann.«
Als wüsste Aeldis, was ihr durch den Kopf ging, warf sie Lina einen mahnenden Blick zu. Es gehörte nicht viel dazu, ihn zu interpretieren: kein Wort.
»Es tut mir leid, Meister Renaldo«, sagte Lina dennoch. Zerknirscht zupfte sie an dem Ärmel herum, an dem die Naht gerissen war.
»Schon gut, Prinzessin«, versicherte er ihnen, aber es klang überhaupt nicht so, als würde er das auch meinen. »Es ist nur … Ich muss … müsste …«
»Haltet Ihr es für sinnvoll, wenn meine Schwester noch einmal für Euch sitzt?«, fragte Aeldis unschuldig.
Lina versteifte sich. Dieses Biest!
Den Göttern sei Dank fand Meister Renaldo diese Vorstellung wohl ebenso furchtbar wie sie selbst.
»Nein, nein«, versicherte er schnell. »Das wird nicht nötig sein.«
Aeldis öffnete das Ridikül, das an ihrem Handgelenk baumelte, und kramte darin, bis sie eine Silbermark gefunden hatte, die sie dem Meister reichte. »Dann lassen wir Euch besser allein, damit Ihr Euer Kunstwerk retten könnt. Es ist wirklich grandios, Meister.«
Er lächelte sie an, schielte dann in Linas Richtung. »Allein? Ja. Das wird das Beste sein. Danke, Prinzessinnen.«
Während Aeldis und Lina das Atelier verließen, fragte diese sich, wer erleichterter darüber war, dass sie gingen: sie selbst? Oder Meister Renaldo?
»Vater will mich loswerden«, beschwerte sich Lina frustriert, nachdem sie in die Kutsche geklettert war. »Und du hilfst ihm auch noch dabei.«
»Welch einen Unsinn du wieder redest.« Aeldis schob den Vorhang zur Seite, um Luft hereinzulassen; in dem mit feuerroter Seide ausgekleideten Kutschkasten stand die Hitze. Die Stadt rumpelte an ihnen vorbei. Kein Anblick, den zu verpassen Lina etwas ausgemacht hätte. Schmollend sank sie in den Polstern zurück.
»Und warum dann das Porträt?«, fragte sie. »Warum die Eile?«
»Du wirst achtzehn Jahre alt dieses Jahr …«
»Im Spätherbst erst.«
Aeldis seufzte. »Du weißt so gut wie ich, dass man sich solch eine Gelegenheit nicht entgehen lässt.«
Damit spielte sie auf Meister Renaldo an, der angeblich nur einen Sommer lang hier zu residieren gedachte. Lina verschränkte die Arme vor der Brust. Natürlich hatte sie recht. Was für ein Glück sie doch hatte, dass ausgerechnet dieses Jahr der berühmte Meister hier einkehrte. Und natürlich ausgerechnet zu der Zeit, in der die königliche Familie selbst im Sommerpalast verweilte.
»Das ist nicht der einzige Grund, und das weißt du ebenso wie ich.«
Aeldis verdrehte die Augen.
»Es ist so«, beharrte Lina. »Ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Theo hat Vater diesen Floh ins Ohr gesetzt.«
»Das hat sie gewiss nicht«, wies Aeldis sie streng zurecht. Nach einer Pause fügte sie hinzu. »Welchen Floh? Das Porträt? Glaubst du nicht, sie hätte Vater eher gebeten, dass der Meister eines von ihr anfertigt?«
Lina schnaubte. »Das wird er gewiss ohnehin tun. Spätestens nach ihrer Thronbesteigung.«
»Mögen bis dahin noch viele Jahre vergehen.«
»So habe ich das nicht gemeint.«
»Sondern?«
»Ach, Aeldis, du weißt doch: Ich liebe Theo aus ganzem Herzen, aber, bei den Göttern, sie hat keinen Stock im Allerwertesten, sondern einen ausgewachsenen …«
»Lina!«
»Eichenstamm«, beendete sie den Satz.
Aeldis’ Kopf lief puterrot an. Aufgeregt spähte sie aus dem Kutschfenster.
»Hier hört uns doch niemand«, beschwichtigte Lina sie.
Ihre Schwester gab ein undamenhaftes Grollen von sich – eines, wie sie es nie und nimmer bei offiziellen Anlässen hören lassen hätte – und verschränkte ebenfalls die Arme.
Sie starrten sich vorwurfsvoll an.
Aeldis war diejenige von Linas drei Schwestern, die ihr am nächsten stand. Obwohl sie nur Halbgeschwister waren, wusste Lina, dass es ihr umgekehrt genauso ging. Trotzdem gab es Augenblicke, in denen sie ihre Nerven gegenseitig ganz schön strapazierten. Augenblicke wie diesen zum Beispiel.
Die Kutsche passierte die Stadttore und bog in die breite Landstraße zum Sommerpalast ein. Sie führte an Feldern und Wiesen vorbei, in den Duft der Weizenfelder mischte sich der Gärgeruch gefallener Äpfel, die am Wegesrand vor sich hin rotteten.
»Diese Hitze«, beschwerte sich Aeldis und betupfte sich mit einem Seidentuch die Stirn. Sie öffnete ihren Handbeutel und griff nach dem perlenbesetzten Golddöschen, das sie immer bei sich trug.
»Bist du sicher …?«, fragte Lina vorsichtig.
Ihre Schwester warf ihr einen genervten Blick zu. Ohne zu antworten, befeuchtete sie ihre Fingerspitze, tippte damit in den schneeweißen Sternentaub und verschmierte die winzigen Kristalle auf der Innenseite ihrer Unterlippe.
»Theo tut nur ihre Pflicht«, sagte sie ruhiger und ließ das Golddöschen zuschnappen.
Theo, eigentlich Theodora, war ihre älteste Schwester, die Thronfolgerin. In Vorbereitung auf ihr schweres Erbe hatte sie fünf Jahre lang im Kloster gelebt. Lina fand, dass ihr das nicht allzu gut bekommen war. Obwohl sie das Kloster bereits vor Jahren verlassen hatte, trug sie immer noch auf Schritt und Tritt ein Gebetsbuch mit sich herum. Und Fredegunde, eine Schwester der Sterne, die ihr seit den Klostertagen als mütterliche Ratgeberin zur Seite stand, hing wie eine Klette an ihr.
Lina seufzte. Theo hatte Fredegunde, Aeldis war der Liebling ihres Vaters. Und Ludowiga, ihre dritte Schwester, war bereits vor zwei Jahren mit Wilhelm von Falkenhain verheiratet worden. Was Lina anging, nun, ihr blühte das gleiche Schicksal. Sobald Meister Renaldo ein Dutzend handtellergroße Kopien ihres makellosen Porträts erstellt hatte und Vater diese von Boten in alle Länder unter der Sonne schicken ließ, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ein Freier an ihr Tor klopfte.
Es war nicht so, dass ihr Vater sie nicht liebte, dass wusste sie. Aber …
»Theo hat zu ihm gesagt, dass es für ihn leichter werden wird, wenn ich erst verheiratet bin«, verriet sie Aeldis.
Deren Kiefer fiel herunter. »Zu Vater? Das hat sie nicht.«
»Oh doch.« Lina richtete sich auf. »Heute Morgen, als ich aus den Ställen zurückkam.«
»Hast du sie belauscht?«
»Nein!« Leiser fügte sie hinzu: »Na ja. Vielleicht ein bisschen.«
Aeldis schnalzte mit der Zunge. »Das geht nicht. Du kannst nicht den König und die Thronfolgerin belauschen.«
»Hab ich auch nicht. Sondern meinen Vater und meine Schwester. Und es ging schließlich um mich.«
»Trotzdem!«
»Hörst du mir überhaupt zu? Sie wollen mich verheiraten! Wegschicken.« Zu allem Ärger zog sich ausgerechnet jetzt ihre Kehle zu. »Weil er meinen Anblick nicht mehr ertragen kann.«
Aeldis stand auf und setzte sich neben sie. Lina musste ein Stück rutschen, damit für beide genug Platz auf der schmalen Kutschbank Platz war, dann ließ sie zu, dass ihre Schwester den Arm um ihre Schulter legte und sie an sich zog.
Tränen verschleierten ihren Blick, und schnell kniff sie sich mit den Nägeln von Daumen und Zeigefinger in die weiche Haut ihres Unterarms, damit der Schmerz sie ablenkte.
»Es liegt nicht an dir«, flüsterte Aeldis in Linas Ohr. »Es ist nicht so, als ob sie dich loswerden wollen. Es ist nur so, dass du …«
Sie verstummte und Lina beendete dumpf den Satz für sie: »Dass ich meiner Mutter immer ähnlicher sehe.«
Ihre Mutter, die vor sieben Jahren auf so furchtbare Weise gestorben war. Und deren Verlust sie alle nie wirklich überwunden hatten. Ihr Vater am wenigsten.
Die restliche Kutschfahrt verlief schweigend, die Schwestern hingen jeweils ihren düsteren Gedanken nach. Die bloße Vorstellung von einer Heirat schnürte Lina die Luft ab. Gewiss würde ihr künftiger Gemahl nicht wollen, dass sie in Hosen auf die Jagd ging oder im Wald Pilze sammelte. Aeldis hingegen wollte vermutlich nicht, dass Lina heiratete, weil sie sich dann übergangen fühlen würde. Von all dem, was Lina Angst machte, träumte sie. Wobei Lina befürchtete, dass es für ihre romantisch veranlagte Lieblingsschwester ein unsanftes Erwachen geben würde. Es half natürlich nicht, dass Wilhelm von Falkenhain ihre Schwester Ludowiga so glücklich machte. Und dass ihr Vater seine eigene Ehe als erfüllend empfunden hatte. Zumindest die mit Linas Mutter. Aeldis, Ludowiga und Theodora waren Linas Halbschwestern, die Kinder der ersten Frau des Königs. Diese war im Kindbett verstorben, da war Aeldis erst ein Jahr alt gewesen. Weil alle drei Prinzessinnen noch zu klein gewesen waren, als dass man sie Ammen, Zofen und Hofdamen hätte überlassen können, hatte der König auf Anraten seiner Minister bereits kurz nach der Beisetzung seiner ersten Frau erneut geheiratet: Linas Mutter. Dass sich ausgerechnet dieses Zweckbündnis als die große Liebe von König Theoderic entpuppen würde, hätte damals wohl niemand vermutet. Nur zehn Monate nach der Hochzeit war Lina auf die Welt gekommen. Und nach dem Tod von Königin Ermengard hatte ihr Vater kein drittes Mal geheiratet. Lina war zu diesem Zeitpunkt erst zehn Jahre alt gewesen, und Theo hatte aus dem Kloster zurückkommen müssen, um die Aufsicht über die Erziehung ihrer Schwestern zu übernehmen. Und weil sie Fredegunde mitgebracht hatte, hieß das vor allem, den Mädchen die Gebote aus dem Heiligen Buch einzubläuen und ständig an ihnen herumzumeckern. Nun ja, vor allem an Lina.
Missmutig schielte die auf den Farbklecks auf ihrem Kleid. Wenn Theo den zu Gesicht bekommt, wird sie auch daran herummeckern.
Entschlossen zog sie die Vorhänge zu, als sie sich dem Sommerpalast näherten. Trotz seines pompösen Namens war dieser verhältnismäßig klein und kein Vergleich mit dem Schloss in der Hauptstadt, in der sie die meiste Zeit des Jahres verbrachten. Der Sommerpalast war eher Familienanwesen als Regierungssitz, wenngleich selbst seine Fassade einem Kunstwerk glich, verschnörkelt mit Ornamenten und Reliefs wie eine kunstvolle Sahnetorte. Die gewaltigen Fenster gleisten wie Spiegel im Sonnenlicht. Hinter dem Hauptgebäude erstreckte sich ein weitläufiger Lustgarten, ein Meer aus bunten Blumenbeeten, gepflegten Hecken und Kieswegen, der sanft bis zu einem Obsthain abfiel.
Wenn der König hier residierte, ruhten die Regierungsgeschäfte, sah man mal von einigen Dringlichkeitssitzungen ab. Auf dem Land arbeiteten weniger Bedienstete und es begleiteten sie auch kaum Besucher – zumindest bis zum Ende des Sonnenmonats, wenn der große Mittsommerball im Lustgarten hinter dem Palast gefeiert wurde. Dann strömten Adelige aus der Hauptstadt und den umliegenden Grafschaften herbei, manchmal sogar aus dem Ausland. Die meisten wohnten für die Zeit in ihren eigenen Landhäusern oder sie mieteten Unterkünfte im Umland. Der Sommerpalast gehört Linas Familie und war nur für eine geringe Anzahl an Gästen ausgelegt.
Direkt an das Palastgelände schloss sich der Königsforst an, ein dichter, dunkler Wald. Als Kind hatte Lina viele Nachmittage damit verbracht, darin herumzutollen und ihn zu erforschen, gemeinsam mit Klaas, dem Sohn des Wildhüters. Gar kein Benehmen für eine Prinzessin, wie sie wiederholt ermahnt wurde. Klaas lebte schon lange nicht mehr hier, aber Lina ging im Sommer noch immer gern in den Wald, wo er an besonders heißen Tagen kühle Schatten bot.
Als die Familie nach dem Tod ihrer Mutter zwei Sommer in Folge nicht hergekommen war, hatte sie sich gleichzeitig erleichtert und zerstört gefühlt. Ihre liebsten Erinnerungen an ihre Mutter waren an den Sommerpalast geknüpft. Ihre liebsten und die schrecklichsten.
Das Scharren der Torflügel verriet Lina, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatten. Der hohe, vergoldete Zaun, der den Vorhof des Sommerpalasts von der Straße abgrenzte, wirkte mehr wie das Geschmeide einer Dame denn wie ein Bollwerk der Verteidigung. Die Kutsche rollte über die Pflastersteine des Innenhofs und in den Lärm mischte sich das sanfte Plätschern des Springbrunnens.
»Oh«, entschlüpfte es Aeldis, die aus dem Fenster spähte.
Lina beugte sich vor, um an ihr vorbei einen Blick hinauszuwerfen. Ihr Vater stand mit Theodora im Innenhof und unterhielt sich mit jemandem. Was machten sie um diese Zeit hier? Ihre Schwester hätte sie in der Kapelle vermutet und ihren Vater an seinem Schreibtisch, beschützt von Artos, seinem Lieblingsterrier, und beschäftigt mit seiner royalen Korrespondenz. Oder, falls er die bereits hinter sich gebracht hatte, seiner neuesten Flamme.
»Der König mag kein Interesse daran haben, sich erneut eine Königin zu suchen«, sagte Linas Kammerzofe gern. »Den Frauen abgeschworen hat er deshalb nicht.«
»Mit wem unterhält er sich da?«, frage Lina, weil sie es nicht genau erkannte.
»Meister Conrad?«, vermutete Aeldis. Auch sie konnte nur raten, weil ihnen Theo in ihrem königsblauen Kleid die Sicht versperrte.
»Nein«, antworte Lina, die über Theos Schulter blondes Haar aufblitzen sah. Meister Conrad stand seit über dreißig Jahren in den Diensten ihres Vaters und war inzwischen schlohweiß. Aber die hohen Stiefel und die dunkle Hose – es könnte einer der Stallburschen sein.
Die Pferde zogen die Kutsche Richtung Stall und Linas Augen weiten sich. Es handelte sich um keinen der Burschen. Es war überhaupt kein Mann.
Die Frau, die Vater und Theodora gegenüberstand, trug zu ihren Stiefeln und den engen Beinkleidern ein locker fallendes Leinenhemd und darüber eine bestickte Lederweste. Ihr Gesicht war sonnengebräunt und voller Sommersprossen, die blonden Haare hatte sie zu dünnen Zöpfen geflochten. Linas Herz hüpfte freudig in ihrer Brust.
Obwohl sich die Kutsche noch bewegte, griff sie nach der Türklinke. Aeldis hielt sie zurück. »Was hast du vor?«
»Das ist Bettlin«, antwortete Lina.
Die Runenschmiedin kam alle paar Jahre in den Sommerpalast. Für ein paar Tage übernahm sie dann die Schmiede, besserte beschädigte Kleinteile aus, die so filigran waren, dass der Palastschmied es nicht hinbekam, und fertigte neues Geschmeide. Sie verdiente sich als wandernde Handwerkerin ihren Unterhalt, zog durch die ganze Welt und wusste deshalb die wunderbarsten Geschichten zu erzählen.
Lina liebte es, sie in der Schmiede zu besuchen. Ob Bettlins abenteuerliche Geschichten nun stimmten oder sie ihr einen Bären aufband, konnte Lina nie sagen, aber das spielte auch keine Rolle.
Aeldis zog sie zurück auf die Bank. »Du kannst trotzdem nicht aussteigen.«
Lina wollte etwas erwidern, ihre Schwester darauf aufmerksam machen, dass sie Bettlin seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte, da fiel ihr Blick auf die Stelle, auf die Aeldis zeigte, und sie verstand: ihr ruiniertes Kleid.
»So kannst du Vater nicht unter die Augen treten.«
»Warum hat mir niemand gesagt, dass sie heute ankommt?«, schmolle Lina und streckte die Füße aus.
»Du hättest trotzdem zu Meister Renaldo gemusst«, beschied Aeldis unerbittlich. »Und sie wird ja nicht gleich morgen wieder abreisen. Du kannst nach dem Abendessen zu ihr.«
»Das Abendessen! Das auch noch.«
Nicht nur Bettlin war heute angereist, auch der Botschafter von Tinriall wurde erwartet. Linas Laune mochte deshalb so sehr in den Keller gesunken sein, weil sie befürchtete, dass ihr Vater vor hatte, ihm direkt eines der Porträts, die Meister Renaldo von ihr kopieren würde, mitzugeben. Die Königin von Tinriall besaß einen Sohn, der nur drei Jahre älter war als sie selbst.
»Sollen wir die Dienstbotengänge benutzen?«, fragte Aeldis, als sie vor den Stallungen aus der Kutsche stiegen. Sofort wurde Lina flau im Magen und sie schüttelte den Kopf. Die Idee war nicht schlecht. Die Dienstbotengänge zogen sich wie die Fäden eines Spinnennetzes durch den Sommerpalast. Doch Lina brachte es nicht über sich. Zu sehr erinnerte die Gänge sie an damals.
»Vater und Theo scheinen beschäftigt«, antwortete Lina stattdessen. »Und jemand anderem zu begegnen, davor habe ich keine Angst. Wenn du dicht vor mir gehst, wird Fleck und Riss vermutlich niemand bemerken.«
Aeldis nickte ergeben. »Dann los.«
Durch den hinteren Innenhof waren es nur ein paar Schritte bis in das Hauptgebäude des Palastes. Dort atmete Aeldis erleichtert auf. Die schweren Samtvorhänge vor den Fenstern hinderten die Sommerhitze daran, sich im Inneren der Eingangshalle auszubreiten, und durch die dicken Außenmauern war sie noch nicht gekrochen. Ihre Absätze klapperten auf den marmornen Treppenstufen. Der Geruch nach Seifenlauge und Zitrone verrieten Lina, dass die Dienstboten erst vor Kurzem alles geschrubbt hatten. Gut, dass wir nicht bereits im Vorhof ausgestiegen sind, sonst hätten wir dessen Schmutz an unseren Sohlen hereingetragen.
Sie huschten die breite Empfangstreppe hinauf, durchquerten den Flur, der zum hinteren Treppenhaus und von dort in die oberen Stockwerke führte. Mondfrau und Sonnenkrieger waren ihnen hold, niemand begegnete ihnen. Zumindest nicht, bis sie ihre Gemächer fast erreicht hatten.
»Ich wünschte …«, raune Lina gerade Aeldis zu, als sie ein missbilligendes Räuspern unterbrach.
»Hoheit«, mahnte die dunkle Stimme einer Frau. Lina verdrehte die Augen, sammelte sich jedoch schnell, ehe sie sich umdrehe.
»Schwester Fredegunde«, sagte Aeldis und knickste ehrerbietig.
Lina schlucke herunter, was sie eigentlich hatte sagen wollen, und deutete ebenfalls einen Knicks an.
Die Schwester der Sterne tat es ihnen gleich. Ihre Robe war übersäht mit winzigen rautenförmig geschnittenen Plättchen aus Gold und Silber. Eigentlich hätten sie bei jeder Bewegungen klirrend aneinanderschlagen müssen, stattdessen hielten sie so still, als seien sie von ihrer Trägerin eingeschüchtert. Wie schaffte sie das nur? Und warum hatte der alten Knochen nicht längst einen Hitzschlag erlitten? Sie musste eingehen unter dem schweren, hochgeschlossenen Stoff. Doch die Priesterin würde eher in Ohnmacht fallen, als sich in etwas anderem als dem vollen Ornat zu zeigen.
»Ihr habt die Andacht verpasst«, teilte sie den Prinzessinnen mit.
»Wir waren in der Stadt«, antwortete Aeldis. »Leider haben wir es nicht mehr rechtzeitig geschafft.«
Als ob sie das überhaupt vorgehabt hatten. Theodora war von den Schwestern die einzige, die täglich mehrfach in der Kapelle betete. Wenn sie erst den Thron bestieg, würde auch sie dafür keine Zeit mehr haben.
Fredegunde musterte sie eingehend, und Lina schob sich möglichst unauffällig ein Stück hinter ihre Schwester, um den Fleck am linken Ärmel ihres Kleides zu verbergen, im schattigen Flur fiel der Priesterin der Riss im rechten gewiss nicht auf.
»Ah. Das Porträt von Prinzessin Marlina«, sagte Fredegunde.
Kam es Lina nur so vor oder verzog der alte Sauertopf die Lippen spöttisch?
Dann kniff sie die Augen zusammen. »Euer Kleid.«
Sie hatte es also doch entdeckt!
»Nur ein kleiner Riss«, sagte Aeldis rasch.
»Ein Riss?«
Lina trat hinter Aeldis hervor. »Ein kleines Malheur, Schwester. Nichts, was nicht ein paar Nadelstiche und ein Waschtrog richten könnten. Wenn Ihr uns jetzt entschuldigt. Wir müssen uns für das Abendessen umziehen.«
Sie wollte sich umdrehen, doch so schnell entkamen sie Fredegundes Fängen nicht. »Ich muss Euch daran erinnern, Prinzessin, besser auf Eure Worte achtzugeben als auf Euer Kleid. Es scheint mir, wenn ich nicht zugegen gewesen wäre, hättet Ihr unbedacht einen Wunsch ausgesprochen.«
Lina reckte ihr Kinn. »Gewiss hätte ich das nicht.«
»Die helle Sonne«, erwiderte Fredegunde kühl, »bringt jede Lüge an den Tag.«
Lina stemmte die Hände in die Hüften. »Was wollt Ihr mir unterstellen?«
Kühl musterten die beiden sich.
»Meine Schwester hätte gewiss nicht …«, begann Aeldis, aber weil Lina nicht wollte, dass sie für sie eine Priesterin anlog, unterbrach sie sie schnell: »Selbst, wenn ich einen Wunsch ausgesprochen hätte, was glaubt Ihr, würde geschehen? Die Wunschgeister sind schon lange verschwunden, predigt Ihr das nicht selbst? Oder zweifelt Ihr etwa an der Macht der Götter?«
Aeldis zuckte erschrocken zusammen, doch Lina achtete nicht darauf. Befriedigt stellte sie fest, dass Fredegunde, die Lippen fest zusammenpresst, sich einen weiteren Kommentar ersparte.
»Habt einen schönen Tag«, wünschte Lina ihr scheinheilig, und bevor diese etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und zog Aeldis mit sich.
In Linas Zimmer half Aeldis ihr aus dem ruinierten Kleid. In ihrem Schloss in der Hauptstadt, das deutlich größer war als der Sommerpalast, teilten sie sich ein Zimmer. Hier jedoch waren die Schwestern getrennt untergebracht. Aeldis Zimmer lag ein Stockwerk über dem von Lina. Von ihrem Fenster aus konnte man über die Palastmauern hinweg bis hinüber zu dem gewaltigen Wald sehen, der alles umgab. Nicht, dass Aeldis diese Aussicht geschätzt hätte. Lieber als in die Ferne zu starren und über Abenteuer zu sinnieren, die sie eines Tages erleben könnte, lag sie mit einer ihrer Ritterromanzen im Bett und träumte von heißen Küssen und geflüsterten Liebesschwüren in lauschigen Lauben.
»Vorsicht«, warnte Aeldis sie, nachdem sie die Schnüre an Linas Kleid gelöst hatte und zusah, wie sie sich aus dem engen Stoff zwängte.
»Wozu?«, fragte Lina. »Es ist doch ohnehin ruiniert.«
Aeldis gab ihr einen Klaps auf die Schulter. »Der Riss ist schnell genäht und die Farbe …« Sie stockte kurz. »Vielleicht weiß eine der Wäscherinnen Rat.«
»Hoffentlich«, murmelte Lina.
Natürlich war auch ihr daran gelegen, das Kleid zu retten. Meister Renaldo hatte sie darin porträtiert. Ihr Vater würde darauf bestehen, dass sie es zu offiziellen Anlässen trug, vor allem, wenn die ersten Freier bei Hof eintrafen. Sollte der König erfahren, dass seine jüngste Tochter es geschafft hatte, nicht nur einen, sondern gleich zwei Ärmel zu ruinieren, würde ihn das in sämtlichen seiner Vorurteile Lina gegenüber bestätigen.
Aeldis zog das Kleid hinab, sodass Lina heraussteigen konnte. Ihr Unterkleid klebte regelrecht an ihr, so sehr hatte sie geschwitzt, aber daraus konnte sie sich selbst befreien. Splitternackt lief sie zur Waschschüssel und goss frisches Wasser hinein. Ihr Blick fiel dabei durch das geöffnete Fenster hinaus in den Park, wo der große Goldfischteich in der Nachmittagssonne funkelte.
»Es ist so eklig heiß, am liebsten würde ich ein Bad im Teich nehmen«, klagte sie. »Oder von mir aus auch im Fluss.«
»Die Wachposten würden sich freuen«, spottet ihre Schwester. Während Lina sich wusch, breitete sie das Kleid auf dem Bett aus und nahm den Riss in Augenschein.
»Und?«, fragte Lina.
»Es wird ein bisschen mehr Arbeit, als ich zunächst dachte. Meinst du, Fredegunde wird unsere Begegnung für sich behalten?«
Lina schnaubte. »Der alte Besen sucht doch sicher bereits Theo, um ihr haarklein alles zu erzählen.«
»Lina!«
»Ist doch wahr.«
»Damit, dass du besser auf deine Worte achten solltest, hat sie jedenfalls nicht unrecht.«
Lina hängte den benutzten Lappen über das Fensterbrett, damit der nasse Stoff in der Sonne trocknen konnte.
»Lina«, protestierte Aeldis erneut.
»Wir sind hier auf dem Land, Aeldis, nicht in der Hauptstadt. Bis hier oben und durch die ganzen Efeuranken erkennt kein Mensch etwas!«
Aus ihrer Kleidertruhe holte sie Beinkleider und ein Hemd, wie sie Männer trugen.
»Das willst du anziehen?«
»Ich will vor dem Essen noch einmal bei Bettlin vorbeischauen.«
»Du und diese Schmiedin …«
Mit einem entschlossenen Ruck zog Lina die Schleife am Bund der Unterhose fest. »Es ist aufregend, was sie zu erzählen hat. Und keine Angst: Ich kann auf meine Worte achten. Auch wenn mir das ganze Gewese um die Wunschgeister doch reichlich albern erscheint.«
Aeldis furchte die Stirn. »Wie meinst du das denn jetzt schon wieder?«
Lina griff nach der Lederhose. »Seit wie vielen Jahrhunderten hat man keine Wunschgeister mehr gesehen? Ob das nun an den Göttern liegt oder nicht: Sie sind verschwunden. Falls es sie jemals gab.«
»Natürlich gibt es Wunschgeister.« Aeldis blickte sie an, als habe sie den Verstand verloren.
Lina verdrehe die Augen. Waren die Geschichten von Wunschgeistern nicht nur alte Märchen, die die Mütter und die Alten Kindern erzählten, um ihnen Angst einzujagen? Und die Kirchen der Mondfrau und des Sonnenkriegers den Gläubigen predigten, um sie in Schach zu halten?
Einst gab es allerorten Wunschgeister. Sie lebten in Bäumen und Bächen, in Berggrotten und Brunnen. Sie erfüllten die Wünsche der Menschen, doch sie brachten auch Leid und Verderben über das Land. Bis Sonne und Mond vom Himmel stiegen und die hinterlistigen Geister in eine andere Welt bannten.
Es gab zahllose Geschichten von Menschen, die durch ihren Handel mit den Wunschgeistern ins Unglück gestürzt worden waren. Und dann waren da natürlich die alten Sagen, die von grauenhaften Kreaturen erzählten, die sich auf unvorsichtige Wanderer stürzten. Seit Hunderten von Jahren hatte jedoch niemand mehr Geister gesehen – weder die eine Art noch die andere. Schwestern der Sterne, wie Fredegunde, oder ihre männlichen Pendants, die Brüder des Himmels, wurden dennoch nie müde, vor den Gefahren des Wünschens zu warnen.
»Erinnerst du dich noch an die Geschichte der Königin, die sich gewünscht hat, jünger zu sein?«
Obwohl Lina, was die Existenz der Wunschgeister betraf, so ihre Zweifel hatte, schauderte sie. Das Märchen, auf das Aeldis hinauswollte, erzählte von einer alten und gebrechlichen Königin, die sich gewünscht hatte, die Jahre mögen von ihr abfallen. Ein Eichengeist erfüllte ihr Begehren. Die Frau war fortan rückwärts gealtert, sie war immer jünger geworden, und nichts, was sie tat, konnte das aufhalten. Sie war als Säugling in den Armen ihrer Enkel und Urenkel gestorben.
»Oder an den jungen Bierbrauer, der sich sehnlichst wünschte, geliebt zu werden …«
»Und dann nirgendwo mehr hingehen konnte, weil alle Menschen ihm körperlich nah sein wollten, ja, ja, ich weiß. Geschichten.«
»Denk nur, was geschehen könnte, wenn du unbedacht …«
»Momentan mache ich mir mehr Sorgen darum, dass der alte Sauertopf schnurstracks zu Theo gerannt ist und …«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Lina.
Sie warf Aeldis einen vielsagenden Blick zu.
Aber es war nicht Theodora, die vor der Tür stand, sondern der König.
»Darf ich eintreten?«, klang seine Stimme dumpf durch das Holz.
»Einen Augenblick noch«, rief Lina. »Ich ziehe mich gerade um.«
Mit einem Satz war sie beim Bett, schnappte sich das Kleid und versteckte es in der Kleidertruhe.
»Herein.«
Die Tür öffnete sich und ihr Vater trat ein. Groß wie er war und dank der gewaltigen Puffärmel an seinem Wams nahm er fast den ganzen Türrahmen ein. Er hatte sich herausgeputzt wie zu einem Staatsbesuch. Selbst die Krone saß auf seinem Kopf, und die trug er hier auf dem Land wirklich nicht oft, ja, gar so selten, dass er sie vor ein paar Jahren einmal in der Hauptstadt vergessen hatte. Als Lina begriff, was sein Aufzug bedeutete, sank ihre Laune noch tiefer.
»Der Botschafter ist bereits eingetroffen«, vermutete sie.
Statt darauf zu antworten, starrte ihr Vater sie an. »Was trägst du denn da?«
»Meine Jagdkleidung, Papa. Das siehst du doch.«
»Warst du nicht bei Meister Renaldo?«
Nicht auch noch dieses Thema. »Ich habe dich im Hof gesehen«, versuchte sie ihn abzulenken. »Mit Theodora. Und der Runenschmiedin.«
Er nickte. »Sie kam vor einer Stunde an.«
»Sie hat gewiss viel zu erzählen.«
Die Miene ihres Vaters wurde weicher. Er wusste, wie sehr Lina es liebte, Bettlins wilden Geschichten zu lauschen. »Das hat sie gewiss.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich beeile mich, versprochen. Bis zum Abendessen bin ich längst zurück.«
»Du willst sie jetzt besuchen? Das geht nicht. Sie hat alle Hände voll zu tun. Und du …«
Hilflos blickte er zu Aeldis, die mit gefalteten Händen neben Linas Bett stand. »Das Abendessen?«, fragte sie unnötigerweise.
»Mit dem Botschafter«, bekräftigte der König.
Lina spürte, wie es in ihr brodelte. »Du kannst es gar nicht abwarten, mich loszuwerden, nicht wahr? Hast du mich bereits nach Tinriall verschachert?«
Sie ballte die Hände zu Fäusten, trotzdem zitterten sie.
Ihres Vaters Augen sprühten Funken: »Genug.«
»Warst du deshalb bei Bettlin?«, fragte Lina, die gar nicht daran dachte, jetzt klein beizugeben. »Soll sie mir einen schönen Brautschmuck schmieden?«
»Du sprichst Unsinn.«
»Weshalb sonst war Theodora mit dir bei ihr?«
»Das geht dich nichts an.« Er walzte auf sie zu – trotz seines Alters war der König ein stattlicher Mann – und einen absurden Moment lang fürchtete Lina, er wolle sie schlagen, obwohl er das noch nie getan hatte. Stattdessen ging er an ihr vorbei – direkt zur Kleidertruhe.
»Du ziehst auf der Stelle diesen Aufzug aus.«