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Sie will nur ihre Freiheit. Doch der König spielt nicht mit offenen Karten Nominiert für den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar 2024 Alix liebt ihr Leben so, wie es ist: auf der Burg ihres Vaters, mit ihren kleinen Brüdern und Tante Camille, aber der Brief des Königs lässt ihr keine Wahl: Alle unvermählten adeligen jungen Frauen sind an den Herrschersitz geladen. König Gideon möchte eine von ihnen zur zukünftigen Königin erwählen. Sorgen, König Gideon tatsächlich als potenzielle Braut aufzufallen, macht Alix sich nicht. Zu unbedeutend ist ihre Familie. Doch der Aufenthalt am Königshof zehrt bald an ihren Nerven: Leere Ritterrüstungen stehen Wache, Gemälde spionieren den Besuchern hinterher. Als sie das Portrait des Königs in ihrem Zimmer abhängt und dabei versehentlich die Leinwand verletzt, taucht Gideon am nächsten Tag mit einer Wunde an genau dieser Stelle auf. Spätestens da hat sie seine Aufmerksamkeit erregt. Ein undurchsichtiges Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Und in der großen Ballnacht ändert Gideon plötzlich die Regeln und damit schlagartig alles … »Selection« trifft »Die Tribute von Panem« – fesselnde Empowerment-Fantasy "Ich habe jede Buchseite genossen wie ein Stück Schokolade." Stella Tack
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Seitenzahl: 443
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König Gideon bittet zur Brautschau. Widerwillig leistet Grafentochter Alix dem Befehl Folge. Gideon hat einen furchtbaren Ruf, und heiraten will Alix sowieso nicht. Außerdem täuschen Prunk und Glanz sie nicht darüber hinweg, dass am Königshof düstere Magie waltet.
Ihre Vorahnung bewahrheitet sich bei der großen Ballnacht. Urplötzlich finden sie und die anderen jungen Frauen sich in einem wilden Wald wieder, umgeben von Schlangen, Riesenskorpionen und anderen grausamen Monstern. Der König stellt ihnen eine unmenschliche Aufgabe: Nur diejenige, die alle ihre Konkurrentinnen überlebt, wird zurückkehren in die echte Welt – und zur Königin gekrönt.
Kann Alix sich gegen diese Gefahren behaupten?
Fesselnde Empowerment-Fantasy
Königshof von Torrenfell
Der Anblick von Sternrispen macht mich noch immer traurig.
Jedes Jahr, wenn diese Blumen blühen, erinnere ich mich daran, was wir alles verloren haben. Was wir alle getan haben, im Kampf um eine Krone, die keine von uns wirklich wollte. Und die an manchen Tagen ebenso schwer zu wiegen scheint wie die Last unserer Schuld.
Sternrispentag
Schlangenkönig
Tante Camille
Ankunft in Torrenstadt
Der Wintergarten
Am Hof des Schlangenkönigs
Fuchsfell und Schwanenfedern
Der Eulenturm
Irke von Kaltenfels
Abendessen mit dem König
Unerwarteter Besuch
Ein nächtliches Bad
Tanzstunden mit Tyr
Nachmittagstee
Von Fischen, bestickten Tüchern und Blut
Ein nächtlicher Plan
Im Schatten des Eulenturms
Worte wie Pfeile, Pfeile statt Worten
Grünes Feuer und schreiende Schatten
Drachendung und Schwarzulmensaft
Die Nacht der Königinnen
Eine neue Welt
Das erste Opfer
Die Axt und die Kröte
Ein Grab aus Steinen
Jagdfieber
Die Hexe
Der Seerosenteich
Purpurtraum
Die Nixen
Eine unerwartete Rückkehr
Königlicher Besuch
Unstimmigkeiten
Wintereinbruch
Ein blutrotes Geheimnis
Die Spur im Schnee
Am Scheideweg
Freundinnen
Der letzte Spielzug
Kriegerkönigin
Heimkehr
Epilog
Grafschaft Grimhold
Drei Jahre zuvor
Sämtliche Geräusche treten in den Hintergrund, während ich die Bogensehne spanne und mein Ziel fokussiere. Das Schnauben der Pferde in den Stallungen und ihr Scharren im Stroh, das Waffengerassel der Wachposten auf den Zinnen, die Atemzüge der beiden Männer neben mir – alles verstummt. Ich spüre auch die kühle Brise nicht mehr, die trotz des milden Frühlingsabends durch den Burghof streift. Meine Welt schrumpft zusammen auf den schwarzen Kreis in der Mitte der runden Strohscheibe, dreißig Meter von mir entfernt am Ende des lang gezogenen Schießübungsplatzes. Mein Rücken ist so angespannt wie die Sehne des Langbogens, und Daumen, Zeige- und Mittelfinger, mit denen ich den Pfeil in Position halte, kribbeln im Wunsch, ihn endlich fliegen zu lassen. Ich bin bereit für den Schuss. Ich …
Dröhnend schwingen die Torflügel des Äußeren Rings auf und meine Hand zuckt. Die Sehne schnellt nach vorne und katapultiert den Pfeil in die Luft. Mist. Er schlägt in der Zielscheibe ein, aber mehr als zwei Handbreit vom schwarz gefärbten Kreis entfernt, in dem ich ihn versenken wollte. Virkays Winde!
Jetzt höre auch ich das Kinderlachen und das Klappern von Pferdehufen auf Pflastersteinen, mit der Ruhe im Burghof ist es vorbei. Vater und meine Geschwister sind vom Sternrispenfest zurückgekehrt.
Frustriert lasse ich den Bogen sinken.
»Es war nicht deine Schuld«, versucht Kenshin mich zu trösten.
Ruben, dem es immer noch unangenehm ist, wenn Kenshin mich so formlos anspricht, will nach vorne laufen, um den Pfeil zurückzuholen, doch sein Meister hält ihn zurück. »Warte. Wie soll sie sonst erkennen, ob ihr zweiter Schuss besser sitzt?«
»Ich hoffe, das erkennen wir daran, dass ich ihn direkt im Ziel versenke«, sage ich, doch ich greife nicht erneut in den Köcher.
Kenshin ist unser Erster Jäger. Als ich ein Kind war, hat er mich wie die anderen Dienstleute Herrin genannt. Seit er mich im Bogenschießen unterrichtet, spricht er mich vertraulicher an. Mir ist das nur recht. Man kann nur eine gewisse Anzahl von Stunden neben einem anderen Menschen im Schlamm liegen und auf Beute lauern, bis man auf gestelzte Umgangsformen verzichtet. Er hat mir beigebracht, Wildenten im Flug zu erlegen und Rebhühner in hohem Gras. Für gewöhnlich bin ich treffsicherer als heute.
»Alix!« Conley ist aus dem Sattel geglitten und stürmt auf mich zu. Daphnus klebt ihm auf den Fersen. Bryant steigt gerade deutlich würdevoller vom Pferd. Fletcher ist offenbar in den Armen meines Vaters eingeschlafen. Der Ärger über meinen misslungenen Schuss verfliegt und ich muss schmunzeln. Unglaublich, dieses Kind. Vermutlich waren die Feierlichkeiten im Nebelauental, das Herumtollen und die ganzen Eindrücke dort für unser Nesthäkchen zu viel. Dabei hat er am Vormittag noch geschmollt, weil er gar nicht zum Sternrispenfest mitkommen wollte. Ich will schon Kenshin meinen Bogen in die Hand drücken, um zu Vater zu gehen und ihm Fletcher abzunehmen, doch da haben mich Conley und Daphnus erreicht.
»Alix!«, schreit Conley noch einmal, so laut, als wäre ich taub. Sein Gesicht ist vor Aufregung gerötet und seine Augen strahlen.
»Ein bisschen leiser«, mahne ich. »Ich kann dich auch so gut hören.«
»Warum bist du nur nicht mitgekommen? Es war fantastisch; war es doch, Daphnus, nicht wahr?« Er müht sich sichtlich, ruhiger zu sprechen, doch all das, was er heute erlebt hat, will aus ihm heraussprudeln wie eine Bergquelle aus ihrem Felsspalt. »Es gab Gaukler. Die haben ein Seil zwischen zwei Bäumen gespannt und darauf getanzt. Und sie haben Messer geworfen und mit Bällen jongliert und Theater gespielt, ein Stück über eine Schlange, die König werden wollte …«
Ich werfe Vater einen beunruhigten Blick zu, doch der ist gerade mit Absitzen beschäftigt. Bryant hat derweil Fletcher auf den Arm genommen und zwei Stallmädchen kümmern sich um die Reittiere.
Conley plaudert munter weiter: »Wir haben in Honig eingelegte Früchte gegessen und es gab Tänze und gegrilltes Wildschwein und zwei Priesterinnen der göttlichen Zwillinge waren auch da. Stell dir nur vor: Sie hatten den Winterwolf in einem Käfig dabei!«
»Soso. Dann hoffen wir mal, dass er ihnen nicht entkommt und noch einmal Frost oder gar Eis und Schnee bringt. Davon hatten wir im Winter wahrlich genug.«
»Wir wissen doch, dass es nicht der echte Winterwolf war«, räumt Daphnus ein. »Vater sagt, das ist ein alter Hund, der den Winterwolf nur spielt. Und dass die Priesterinnen ihn nach der Vorstellung aus dem Käfig lassen und ihn mit Leckerbissen füttern zur Belohnung.« Er wirft einen Blick über die Schulter. »Fletcher hat sich trotzdem gefürchtet.«
Das überrascht mich nicht.
Conley übernimmt wieder: »Ich hätte ihn trotzdem gern gefüttert, auch, wenn es nur ein Hund war. Meinst du, er hätte sich von mir streicheln lassen?« Ehe ich antworten kann, führt er fort: »Die Leute haben die ganze Lichtung mit bunten Bändern geschmückt, Alix, du hättest es sehen sollen.«
Das hätte ich tatsächlich gern. Das Nebelauental liegt eingekesselt zwischen dicht bewachsenen Hügeln. In einem Lied heißt es, sie sähen aus wie die gefrorenen Wellen eines smaragdfarbenen Ozeans. Ich bin sicher, nach diesem regenreichen Frühjahr blüht das Tal üppiger denn je und der Nebelauensee, der in seinem südlichsten Winkel liegt, hat in der Nachmittagssonne geglitzert wie ein Juwel.
Conley schlingt seine Arme fest um mich. Dann rümpft er die Nase. »Du riechst nach Stall.« Er lässt jedoch nicht los.
Ich lache und zerzause ihm die Haare. Conley besitzt nussbraune Locken, wie Vater und all wir Grimhold-Kinder. Nur, dass die meiner Brüder kurz geschnitten sind und meine mir bis auf die Schultern fallen, wenn ich sie nicht wie heute zu einem Knoten hochstecke.
»Ich habe ja auch den ganzen Tag gearbeitet und nicht Süßigkeiten in mich hineingestopft und Blütenkränze geflochten.«
Conley legt seinen Kopf in den Nacken und blinzelt mich an. »Sie haben die Tochter eines Schusters zur Frühlingsbraut gekrönt. Dir hätte der Sternrispenkranz viel besser gestanden.«
»Ich will gar keine Krone«, versichere ich ihm und drücke ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Und eine Edeldame sollte ohnehin nicht zur Frühlingsbraut gekrönt werden. Der Sternrispentag ist dafür da, dass wir die harte Arbeit der Bürgerlichen feiern und anerkennen, was sie alles für die Grafschaft tun.«
»Und warum spielt dann immer eine Edeldame die Lichtbringerin?«
»Wir haben dir etwas mitgebracht«, sagt Bryant da und ich merke erst jetzt, dass er neben uns aufgetaucht ist.
Vater und der selig schlummernde Fletcher kommen auch auf uns zu und Kenshin und Ruben verbeugen sich.
Bryant hält mir einen Beutel aus grobem Leinen hin, aus dem es verführerisch duftet.
»Rispengebäck?«, frage ich hoffnungsvoll und greife danach.
Bryant nickt.
»Danke.«
»Für deine Tante haben wir auch welches mitgebracht«, versichert mir Vater und stellt sich neben mich. Er gilt als großer Mann und doch berührt meine Schulter inzwischen fast die seine.
»Danke«, wiederhole ich. Dann gebe ich Bryant das Beutelchen zurück. »Warum geht ihr nicht schon einmal hoch und wascht euch? Es ist gleich dunkel und ihr wollt doch sicher Tante Camille noch Gute Nacht sagen und ihr von eurem Ausflug berichten.«
Conley und Daphnus verdrehen die Augen. Das liegt an meinem Vorschlag mit dem Waschen. Denn Tante Camille lieben sie. Bryant allerdings, vernünftig wie immer, nickt mit ernster Miene, verstaut das Rispengebäck in seinem Wams und sammelt seine beiden jüngeren Brüder ein, um sie unter gemurmeltem Protest zum Palas zu treiben.
»Wir kommen gleich nach«, versichert Vater ihnen, den schlafenden Fletcher weiter in den Armen wiegend.
»Das Entzünden des Frühlingsfeuers verlief ohne Schwierigkeiten?«, erkundige ich mich, nachdem die drei verschwunden sind.
Vaters Augen beginnen zu strahlen. »Lady Kariss hat die Lichtbringerin makellos verkörpert.«
Die Frühlingsbraut mag stets aus dem Volk gewählt werden, die Rolle der Lichtbringerin, die mit einer Fackel bei Abenddämmerung das große Lagerfeuer am Sternrispentag entzündet, fällt traditionell einer Adeligen zu. Früher hat meine Mutter diese Aufgabe erfüllt. Nach ihrem Tod hat Tante Camille sie übernommen. Im letzten Jahr war sie dazu schon zu krank und als ich daraufhin die Lichtbringerin verkörperte, ist der Scheiterhaufen ein bisschen zu früh in Flammen aufgegangen.
»Makellos«, greife ich Vaters Wort auf. »Sicher hat sie das.« Täusche ich mich oder kriecht ihm tatsächlich Röte ins Gesicht? Ich muss mich bemühen, eine ernste Miene zu bewahren. »Du denkst doch nicht etwa daran, dich wieder zu vermählen?«
Vaters Augen weiten sich. »Nein«, antwortet er schnell. »Als Nächstes bist du an der Reihe.«
»Dazu bräuchte es erst einmal einen Kandidaten.«
Obwohl ich mich leichthin gebe, beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Ich will nicht heiraten, jedenfalls noch nicht. Als Tochter eines Grafen werden Werbungsgesuche nicht ausbleiben, jetzt, nachdem ich ins heiratsfähige Alter gekommen bin. Aber ich liebe mein Leben so, wie es ist, hier auf der Burg, mit meinem Vater und meinen Brüdern und Tante Camille, und ich will nicht, dass sich daran etwas ändert.
Wie immer scheint Vater zu bemerken, was in mir vor sich geht, und den Zwillingsgöttinnen sei Dank bedrängt er mich nicht. Stattdessen schielt er auf den Langbogen in meiner Hand, dann auf den Pfeil in der Schießscheibe und hebt die Augenbraue.
»Ihr habt mich erschreckt mit eurer Ankunft«, verteidige ich mich. »Ich habe den Pfeil versehentlich losgelassen. Und der neue Bogen macht es mir nicht gerade leicht.«
Was nicht gelogen ist. Der Bogen ist etwas länger als mein alter und schwerer zu ziehen. Die ersten Male ist mir die Sehne mehrfach gegen die Innenseite meines Armes geschnalzt, obwohl mir das mit dem Übungsbogen, den ich die letzten beiden Jahre benutzt habe, seit ewigen Zeiten nicht mehr passiert ist. Vater hat mir den Langbogen zu meinem siebzehnten Geburtstag vor einem Monat geschenkt. »Ich habe mich noch nicht an ihn gewöhnt.«
»Probier es noch einmal«, schlägt Vater vor und verlagert Fletcher von seinem linken auf den rechten Arm.
Ich lasse den Kopf im Nacken kreisen, rolle meine Schultern, dann ziehe ich einen neuen Pfeil aus dem Köcher. Ich stelle mich in Positur: die Füße parallel nebeneinander, den Oberkörper minimal nach vorne gebeugt. Ruhig hebe ich den Bogen an und spanne ihn, während ich darauf achte, meine Schultern gerade zu halten. Dann konzentriere ich mich auf mein Ziel.
»Atme mehr aus dem Bauch heraus«, empfiehlt Vater, als ob ich das nicht wüsste.
Aber er hat recht. Meine Atemzüge verlangsamen sich und werden tiefer. Wieder tritt die Welt um mich herum in den Hintergrund.
Eins.
Zwei.
Ich lasse den Pfeil fliegen.
Mit einem befriedigenden dumpfen Geräusch bohrt sich seine Spitze ins Stroh.
»Sehr gut«, lobt Vater.
Dabei habe ich die Mitte der Zielscheibe wieder verfehlt. Doch diesmal steckt der Pfeil immerhin am Rand des schwarzen Kreises.
»Wie geht es dem neuen Fohlen?«, will Vater wissen, als wir einige Augenblicke später auf den Palas zugehen.
Mein Ärger über den ungenauen Schuss verfliegt. »Schon viel besser. Ich glaube, es wird es schaffen.«
Es stimmt zwar, dass ich den Küchenjungen und -mägden bei der Arbeit im Garten geholfen habe. Mein eigentlicher Grund allerdings, heute nicht das Sternrispenfest zu besuchen, ist das Junge, das meine Lieblingsstute Sommerwind vor zwei Nächten auf die Welt gebracht hat. Direkt nach der Geburt wirkte es schwach und kränklich, aber langsam erholt es sich. Zudem konnte ich mich so davor drücken, als offizielle Repräsentantin der Grafenfamilie auftreten zu müssen.
Vater lächelt zufrieden. Ich versichere mich mit einem Seitenblick, dass Fletcher in seinen Armen weiterhin tief und fest schläft.
»Stimmt es, dass die Gaukler ein Theaterstück über einen Schlangenkönig aufgeführt haben?« Die Beunruhigung lässt einen bitteren Geschmack in meinem Mund aufsteigen.
Vaters Lächeln verschwindet. »Ich habe danach streng mit ihnen gesprochen.«
»Es sind nicht die Gaukler, um die ich mich sorge.«
»Mit deinen Brüdern spreche ich auch noch, gleich morgen früh.«
»Soll ich …«, beginne ich, doch Vater unterbricht mich.
»Ich kümmere mich darum. Ich bürde dir und deiner Tante ohnehin schon zu viel auf.«
»Worum genau ging es in diesem Theaterstück?«
»Alix.«
»Vater.«
Er seufzt. »Ein Märchen, eine Fabel. Mehr nicht.«
Beharrlich schweige ich, so fährt er schließlich fort: »Der Reichskanzler entdeckt eines Morgens, dass es sich eine Schlange auf dem Thron gemütlich gemacht hat. Sie verlangt, gekrönt zu werden. Jeden, der sie von ihrem hohen Sitz heben will, beißt sie mit ihren Giftzähnen.«
»Das klingt für mich nicht nach einem Märchen«, wende ich düster ein, während ich einen großen Schritt über die erste Stufe der Treppe mache, die zum Palas hinaufführt. Einer ihrer Steine wackelt. »Was ist, wenn die Leute anfangen, darüber zu reden?«
»Grimholder sind nicht so dumm«, versucht er mich zu beruhigen. »Und der König ist weit weg.«
»Nicht so weit weg. Ein Bote hat heute am frühen Nachmittag einen Brief für dich gebracht.«
Vater erstarrt mitten in der Bewegung. »Vom Königshof? Heute? Ich habe erst nächste Woche wieder einen erwartet.«
»Er kam an, kurz nachdem ihr aufgebrochen seid. Ihr hättet euch auf der Großen Weststraße eigentlich begegnen müssen.«
»Daphnus hat sich gewünscht, dass wir durch den Eichenforst reiten. Wo ist er jetzt?«
»Der Bote? Er ist gleich weitergeritten. Er wollte schnellstmöglich Rabenklamm erreichen. Für die Herzogin hat er wohl auch eine Botschaft.«
Man kann Vater ansehen, dass ihm das nicht gefällt. Ein Brief von unserem neuen König, noch dazu außerhalb der Zeit, kann nichts Gutes bedeuten.
»Ich habe den Brief auf deinen Schreibtisch gelegt.« Ich strecke die Arme nach dem schlafenden Fletcher aus. Vater nickt und übergibt mir meinen Bruder. Beim Winterwolf, ist Fletcher schwer geworden.
Vater dreht sich zum Astronomieturm um. Sternkunde ist seine liebste Freizeitbeschäftigung. Deshalb hat er sein Arbeitszimmer auch dort eingerichtet, in einer Kammer direkt unter der Zinne.
»Hast du den Brief gelesen?«, fragt er mich.
»Natürlich nicht.«
»Komm nachher zu mir, wenn du den Zwerg ins Bett gebracht hast. Dann sprechen wir.«
»Als Zwerg kann man ihn bald nicht mehr bezeichnen«, antworte ich und zwinge mich, eine Leichtigkeit in meine Worte zu legen, die ich nicht verspüre. »Zum Herumtragen wird er langsam zu schwer.«
»Soll ich …?«, bietet Vater an, doch ich schüttle den Kopf.
»Das schaffe ich schon. Lies du besser den Brief.«
Vater streichelt mir mit dem Knöchel seines Zeigefingers über die Wange.
Ich versuche, ihn zuversichtlich anzusehen, doch das Lächeln, das ich auf meine Lippen zwingen will, flackert nur kurz auf und stirbt dann wie eine ausgepustete Kerzenflamme.
»Vielleicht sind es ja gute Nachrichten«, bemühe ich mich, uns zu beruhigen. Doch während ich mich die Treppe zu den Schlafkemenaten im ersten Stock hinaufquäle, muss ich an dieses Theaterstück auf dem Sternrispenfest denken. Das war kein Märchen. Unser neuer König besitzt Giftzähne. Bisher hat er nur in der Hauptstadt gewütet. Und es ist für uns alle besser, wenn er sein Augenmerk nicht auf Grimhold richtet.
Niemand in Torrenfell schätzt den König, der seit knapp einem Jahr auf unserem Thron sitzt, weder die Adeligen noch das einfache Volk. Wer keine Angst vor ihm hat, verachtet seine Launen und hasst sein arrogantes Wesen.
Was König Gideons Thronbesteigung noch tragischer macht, ist, dass sein Vorgänger, Regent Karg, hohes Ansehen genoss und sich vermutlich das ganze Land heimlich gewünscht hat, dass Kargs Sohn ihm nachfolgt. Aber unser Regent ist im vergangenen Frühjahr an einer mysteriösen Krankheit gestorben und sein Sohn ist kaum älter als Bryant. Gideon Darkenfall ist nun einmal der rechtmäßige Erbe.
Er entstammt einer jahrhundertealten Königslinie. Sein Ururgroßvater hat Torrenmark und Sturmfell einst zu dem mächtigen Land vereint, das es heute ist, und sein Großvater hat Torrenfells Küsten gegen den Ansturm einfallender Nordländer verteidigt.
Unglücklicherweise stammt Gideon jedoch auch von Eldreth Serpentis ab: Seine Mutter war eine Hexe. Er war noch ein kleiner Junge, als man sie entlarvt hat, acht Jahre alt oder neun, so genau weiß ich das nicht. Man hat sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Reinigung durch Feuer nennen sie es. Und mit ihr hat man seine Schwestern verbrannt. Manch einer ist der Ansicht, es wäre besser gewesen, den Jungen ebenfalls den Flammen zu übergeben. Doch der König, der mit unbewegter Miene zugesehen haben soll, wie seine Gemahlin und seine beiden Töchter lebendigen Leibes verbrannten, hielt seine schützende Hand über den Thronerben. Zumindest bis zu seinem unerwarteten Tod, nur ein halbes Jahr später.
Gideon wurde zu einem Vertrauten seines Vaters aufs Land geschickt und die Kargs übernahmen die Regierungsgeschäfte in seinem Namen.
Ich war damals noch gar nicht auf der Welt, das alles ist zwanzig Jahre her. Meine Mutter lebte zu jener Zeit noch in der Hauptstadt, aber sie ist tot und Vater weigert sich, über die Vergangenheit zu sprechen. Von Tante Camille weiß ich jedoch, dass auch er am Schuldspruch der Königin beteiligt war.
Manchmal frage ich mich, warum im vergangenen Jahr alle so überrascht taten, dass sich Gideon krönen ließ. Haben die Jahre sie vergessen lassen, dass es ihn gibt? Haben sie geglaubt, es sei noch Zeit bis zu seiner Thronbesteigung? Nahmen sie an, er würde sein Erbe nicht einfordern, nachdem sein Volljährigkeitstag bereits vor Jahren verstrich und er nicht in der Hauptstadt auftauchte?
Oder gibt es doch Adelige in höchsten Kreisen, die mit ihm sympathisieren? Im vergangenen Sommer kochten Gerüchte auf, dass hinter Regent Kargs tödlicher Krankheit mehr steckt als eine Laune des Schicksals.
Gideon Darkenfall sorgte dafür, dass sie schnell wieder verstummen – oder zumindest nur noch in vertrauter Gesellschaft und hinter vorgehaltener Hand geäußert werden. Binnen Wochen hat er sämtliche Ratgeber des alten Regenten ihrer Ämter enthoben und sie durch eigene Vertraute ersetzt. Er hat Kritiker mundtot gemacht, »Verleumder«, wie er sie nennt, in den Kerker werfen lassen und seine »Feinde« dem Henker übergeben. Eine ganze Reihe Adeliger unterschiedlichen Alters, die früher regelmäßig bei Hof verkehrten, sind überraschend verstorben. Vater hält sich seit jeher von der Hauptstadt fern. Jetzt reist er nur noch dann dorthin, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.
Die Menschen von Torrenfell hassen ihren neuen König. Sie fürchten das Gift der Schlange.
Ich frage mich, was in dem Brief steht, und hoffe, Gideon Darkenfall hat nicht vor, seinen unbarmherzigen Blick auf meine Familie zu richten.
Nachdem ich Fletcher ins Bett gebracht habe, wasche ich mich und schlüpfe in saubere Kleidung. Den Rock und das verschwitzte Leinenhemd lege ich in den Korb aus geflochtenen Weidenruten, der neben der Tür steht, damit ein Dienstbote die Schmutzwäsche morgen zum Waschen abholen kann. Die geschnürten Lederschuhe stelle ich daneben. Langbogen und Köcher verstaue ich in der mit Ornamenten geschmückten Holztruhe vor meinem Bett. Auf ihr hat Bryant auch das Beutelchen mit dem Rispengebäck abgelegt.
Meine Kammer ist wesentlich kleiner als die meiner Brüder, so schmal, dass zwischen der Wand und dem Bett kaum ein Schritt Platz ist. Licht fällt nur durch ein winziges Fenster, und wenn ich es öffnen will, muss ich auf das Kopfteil meines Bettes steigen. Aber diese Kammer gehört nur mir, ich muss sie mit niemandem teilen, sieht man einmal von Molly ab, eine der zahlreichen Mäusejägerinnen der Burg, und das tröstet sogar darüber hinweg, dass es im Raum keinen Eisenofen gibt.
Molly ist auch jetzt hier. Bryant muss sie hereingelassen haben. Sie hat sich auf dem Bett zusammengerollt und beobachtet mich unter halb geschlossenen Lidern. Ein paar Augenblicke gönne ich es mir, mich neben ihr ins Bett zu legen, ihr weiches, warmes Fell zu streicheln und ihrem Schnurren zu lauschen, während ich die Decke anstarre und mich frage, was der Schlangenkönig von uns will. Dann rappele ich mich auf, um meinen Brüdern Gute Nacht zu sagen. Mutter hat es sich nicht nehmen lassen, das tagtäglich zu tun. Seit ihrem Tod vor vier Jahren habe ich diese Tradition übernommen.
Eigentlich sollten Bryant und Conley sich eine Kemenate teilen und Daphnus und Fletcher eine andere. Da meine beiden mittleren Brüder jedoch unzertrennlich sind, teilen sie sich nun ein Schlafgemach und Bryant und Fletcher das andere.
Zuerst besuche ich die beiden Wildfänge. Sie sind noch immer ganz aufgekratzt vom Sternrispenfest und es dauert, bis ich sie dazu überreden kann, unter die Decke zu schlüpfen. Zweifellos werden sie sich wieder freistrampeln, sobald ich die Kemenate verlassen habe.
An der Zimmertür, die der ihren gegenüberliegt, klopfe ich zunächst an und warte. Bryant ist schließlich kein kleiner Junge mehr. Als niemand antwortet, öffne ich die Tür einen Spalt. Das Zimmer ist dunkel, was ungewöhnlich ist, weil Bryant vor dem Schlafengehen normalerweise noch liest. Doch in der kleinen Öllampe, die an einer Eisenhalterung an einem der vier massiven Bettpfosten hängt, brennt keine Flamme und einer der gewaltigen Folianten aus der Bibliothek unseres Vaters ruht ungeöffnet auf dem Nachtschränkchen. Fletcher liegt zusammengerollt im Bett, den Daumen im Mund, friedlich schlafend. Bryant ist nicht da.
Ich finde ihn in der Burgkapelle. Er sitzt auf einem Samtkissen in der Nische der Zwillingsgöttinnen und blickt hinauf zu dem Wandgemälde, das Virkay und Mirkay zeigt, wie sie den Winterwolf in ihren Käfig locken.
»Bist du gar nicht müde?«, frage ich, als ich neben ihn trete.
»Wusstest du, dass sie früher einen echten Wolf gefangen haben?«, entgegnet er.
»Für das Sternrispenfest? Um den Winterwolf zu symbolisieren?«
Er nickt. »Sie haben ihn Virkay zu Ehren geopfert.«
»Das muss lange her sein«, antworte ich.
In der Hauptstadt verehren sie vor allem andere Götter – Kazirk, den Herrn über die Götter, seinen Sohn Ador, den Heiler, und Liarnn, die Göttin des Handels. Aber in Grimhold leben wir von Ackerbau, Viehzucht und vom Holzhandel, darum sind uns Virkay und Mirkay, die Zwillingsgöttinnen, die wichtigsten. Sie sind für den Wechsel der Jahreszeiten verantwortlich: Mirkay ist die Singende Gärtnerin, die dem Land neues Leben schenkt und die Pflanzen wachsen und gedeihen lässt, während ihre Schwester Virkay, die Schweigende Jägerin, den Winterwolf bewacht. Im Herbst schafft es dieser jedoch stets, sich aus seinem Käfig zu befreien, und bringt Eis und Schnee in die Welt. Virkay begibt sich auf die Jagd, bis es ihr endlich gelingt, ihn zurück in den Käfig zu treiben, den Mirkay aus dem Holz ihrer Pflanzen formt.
Dann beginnt der Kreislauf erneut. Der Sternrispentag symbolisiert das erneute Einfangen des Winterwolfs, und deshalb gilt er als unser wichtigster Feiertag.
»Ist es den Zwillingen schon einmal misslungen, den Wolf einzufangen?«, fragt Bryant neugierig, als ich mir ein Samtkissen schnappe, um mich neben ihn zu setzen.
»Tante Camille hat mir erzählt, dass einmal, als sie ein kleines Mädchen war, Schnee bis in den Juni hinein fiel und der Frost alle knospenden Pflanzen zerstört hat. Das war ein Hungerjahr. Sie sagt, die Orakel haben behauptet, die Menschen hätten die göttlichen Schwestern erzürnt.«
»Ob sie damals einen Wolf geopfert haben, um ihre Gunst zurückzuerlangen?«
»Wir bringen keine Lebewesen mehr als Opfer dar. Nicht, seit aus Torrenmark und Sturmfell ein Land geworden ist.«
»Auf dem Sternrispenfest haben sie gesagt, König Gideon gedenkt …«
»Vater wird morgen mit euch über den König sprechen«, unterbreche ich ihn, vermutlich schärfer als nötig. Hier in der Kapelle wird uns wohl niemand belauschen. Sanfter füge ich hinzu: »Und auch über das Theaterstück der Gaukler. Dem Hund, den die Priesterinnen mit sich gebracht haben, ist nichts geschehen, falls du dir darüber Sorgen machst.«
»Das weiß ich doch.« Bryant lehnt sich mit der Schulter an mich. »Ich wäre lieber bei dir in der Burg geblieben.«
Ich lege meinen Arm um ihn. »Du bist der Erbe von Grimhold. Es ist wichtig, dass die Leute dich ab und an zu Gesicht bekommen. Gerade zum Sternrispenfest.«
»Ich weiß.« Bryant klingt resigniert.
»Du kannst dich nicht die ganze Zeit in deinem Zimmer verkriechen und die Nase in Bücher stecken.«
»Ich weiß«, wiederholt er und seufzt so tief, als ob er das mehr als alles andere bedauert. Ein bisschen habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich selbst genau das getan habe: mich vor einem öffentlichen Auftritt zu drücken.
»Außerdem«, versuche ich ihn aufzumuntern, »hätte mir niemand Rispengebäck mitgebracht, wenn du nicht mitgegangen wärst. Deine Brüder hätten niemals daran gedacht.«
Das lässt ihn schmunzeln. »Sicher nicht«, stimmt er mir zu. »Conley und Daphnus hätten heute übrigens beinahe die Frau des Müllers im Nebelauensee versenkt.«
»Wie haben sie das denn schon wieder geschafft?«
Bryant beginnt zu erzählen, und ich vergesse, dass ich mit ihm in der Kapelle sitze, in der Nische der göttlichen Zwillinge. Ich vergesse sogar für einen kurzen Moment, mir Sorgen zu machen.
Als ich eine Stunde später den Burghof in Richtung Astronomieturm überquere, ist die Nacht endgültig hereingebrochen. Der Himmel ist klar, perfekt zum Sternegucken. Doch das unangenehme Ziehen in meinem Bauch sagt mir, dass mein Vater heute noch nicht zum Teleskop gegriffen hat.
»Herrin«, spricht mich ein Mann an, der so plötzlich aus den Schatten tritt, dass ich mich beherrschen muss, nicht zusammenzuzucken. Erst, als er seinen Hut vom Kopf nimmt, erkenne ich ihn.
»Mikal! Auch noch spät auf den Beinen bist du.«
»Ja, Herrin.« Verlegen knetet er die Krempe seiner Kopfbedeckung. »Die Weiden hinter der Burg sind fast abgegrast. Spätestens übermorgen muss ich die Schafe woanders hintreiben.«
»Auf die Weidestellen im Osten?«
»Dorthin will Berka ihre Rinder bringen.«
»Also nach Norden?«
Er blickt mich an, erwartet die Entscheidung von mir.
Ich lächle ihn aufmunternd an. »Nach Norden, Mikal«, sage ich fest.
»Danke, Herrin.« Erleichtert setzt er sich seinen abgegriffenen Hut wieder auf und zieht sich zurück.
Fünf Stockwerke hoch ist der Astronomieturm, und als ich endlich vor der obersten Kammer angelangt bin, muss ich kurz auf dem Absatz Pause machen, um Atem zu schöpfen. Vater sagt, der beschwerliche Weg hier herauf hält die Leute davon ab, ihn mit unwichtigen Dingen zu behelligen.
Ich klopfe an die Tür.
»Alixandra?«, dröhnt seine Stimme von drinnen und ich trete ein.
»Setz dich.« Er deutet auf den knarzenden Holzstuhl, der seinem Schreibtisch gegenübersteht. Wie immer ist der Tisch zur Hälfte überfüllt mit Rechenschieber, Pergament, Siegelwachs, Schreibfedern, einem Tintenfässchen sowie Vaters geliebtem Astrolabium. Heute beugt er sich jedoch nicht über seinen Almanach, sondern schiebt einen Bronzepokal auf der Arbeitsplatte hin und her. Eine angebrochene Weinflasche steht daneben, ebenso wie ein Teller mit einem großzügig bemessenen Stück geräuchertem Schinken. Es verbreitet seinen würzigen Geruch. Und rechts von allem liegt der geöffnete Brief des Königs.
Plötzlich bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich wirklich wissen will, was in ihm steht.
»Soll ich lieber morgen wiederkommen?«, frage ich hoffnungsvoll.
Vater richtet sich auf. »Besser, wir bringen es gleich hinter uns.«
Das klingt nicht gut. Es muss um mehr gehen als eine Steuererhöhung. König Gideon will doch nicht etwa die Leibeigenschaft wiedereinführen? Darüber gibt es Gerüchte seit dem zurückliegenden Winter.
Ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet. »Nun?«, frage ich, nachdem ich mich geräuspert habe.
Er schiebt mir das dicht beschriebene Pergament zu und greift hinter sich, um aus dem Regal einen weiteren Pokal zu nehmen. Während ich die Botschaft des Königs zu mir ziehe, schenkt er mir vom Weißwein ein.
An den hochwohlgeborenen Grafen Grimhold, beginnt der Brief.
In aufrichtiger Verbundenheit wende ich mich an Euch mit dem Gesuch um Eure Unterstützung, unserem Land zu einer neuen Blütezeit zu verhelfen.
Ich unterdrücke ein Schnauben. Torrenfell geht es bereits sehr gut. Oder ging es zumindest, ehe der Schlangenkönig aus seinem Exil gekrochen ist.
»Dir wird das Lachen noch im Hals stecken bleiben«, prophezeit Vater.
Ich richte heute meine Stimme an Euch nicht nur als König, sondern auch als verantwortungsvoller Diener meines Volkes.
Ich spüre Vaters Blick auf mir, während ich weiterlese.
Es ist mein fester Wunsch, noch vor dem nächsten Winter den Bund der Ehe einzugehen.
Das Ziehen in meinem Bauch wird stärker.
So möchte ich meiner Einsamkeit ein Ende setzen, vor allem anderen aber gedenke ich, meinem Volk die Königin zu schenken, die es verdient.
Er kann doch nicht … Er wird doch nicht …
Um diesem Vorhaben gerecht zu werden, plane ich ein nie da gewesenes Ereignis, zu dem alle unvermählten, heiratsfähigen Töchter adeliger Abstammung, die innerhalb meiner Landesgrenzen leben, an den Hof geladen sind.
Nein!
Eine Brautschau ungesehener Pracht erwartet sie. Ich freue mich auf die Ehre, auch Eure Tochter zu begrüßen, von der ich schon viel Lobenswertes vernommen habe.
Der Geruch des Räucherschinkens kommt mir mit einem Mal so penetrant vor, dass mir zu den Bauchschmerzen auch noch schlecht wird.
Gewiss wird ihre Anmut und ihr Wesen die Blicke aller auf sich ziehen.
In diesem Punkt werde ich ihn sicher enttäuschen.
Ich erwarte von Euch als dem treuen Diener der Krone, der Ihr seid, Eure Tochter binnen einer Zehntnacht in die Hauptstadt zu schicken. Am letzten Tag des Sternrispenmondes soll sie auf dem Sternrispenball tanzen.
Tanzen!
In enger Verbundenheit und mit dem Vertrauen in Eure Klugheit verabschiede ich mich
Gideon I.
König von Torrenfell
Anders als der Rest der Botschaft ist die Unterschrift in tannengrüner Tinte geschrieben. Die Buchstaben sind eng gesetzt, besitzen aber einen dramatischen Schwung, der von Eitelkeit spricht.
Mit zitternder Hand lege ich das Pergament zur Seite. »Soll das ein Scherz sein?«
Vater schiebt den zweiten Pokal auf mich zu. »König Gideon ist nicht für seinen Humor bekannt.«
Statt zu antworten greife ich nach dem Wein und trinke einen großzügigen Schluck. Vater lässt mir Zeit, während ich darauf warte, dass der Alkohol seine Wirkung tut. Ob er mich nun beruhigt oder betäubt, ist mir egal. Ich nehme noch einen zweiten Schluck.
»Was gedenkst du zu tun?«, fragt er schließlich.
»Ich?«
»Die Entscheidung liegt ganz bei dir.«
Ich werfe dem Brief einen hasserfüllten Blick zu. »Es wirkt auf mich nicht so, als würde der König mir eine Wahl lassen.«
»Alle unvermählten, heiratsfähigen Töchter adeliger Abstammung«, zitiert Vater. »Wir könnten einen Boten nach Rabenklamm schicken.«
Ich blinzle, vollkommen überfordert von der Wendung des Gesprächs.
»Ich weiß, du magst die steinige Küste nicht und hast den Sohn der Herzogin nur ein oder zwei Mal gesehen …«
»Du willst mich mit dem Erben von Rabenklamm vermählen?«
»Nur, wenn du einverstanden bist«, versichert Vater mir sofort.
Ich trinke einen weiteren Schluck.
»Du sagst immer, die Herzogin mag unsere Familie nicht. Warum sollte sie einwilligen, ihren Erben ausgerechnet mit mir zu verheiraten? Er kann es bestimmt besser treffen.«
»Du stellst dein Licht unter den Scheffel, Kind.«
»Du weißt, was ich meine. Die Herzogin …«
»… besitzt wie ich eine unvermählte Tochter im richtigen Alter. Ich könnte ihr anbieten, sie mit einem deiner Brüder zu verloben.«
»Was?«
»Nicht mit Bryant, vermutlich. Die Herzogin würde keines ihrer Kinder je nach Grimhold schicken.«
»Conley ist erst elf. Und Daphnus nur zehn!«
Vater greift über den Schreibtisch nach meiner Hand und drückt sie. »Ich habe deine Mutter aufrichtig geliebt, Alixandra. Aber als unsere Eltern uns verheiratet haben, kannten wir uns nicht. Wir alle sind unseres eigenen Glückes Schmied.«
»Trotzdem. Zu einer Ehe gehören zwei. Und Rabenklamm …« Ich verstumme, ziehe meine Hand zurück und umarme mich selbst. Meine Bauchschmerzen werden immer schlimmer.
»Ich werde dich nicht zwingen«, verspricht Vater sofort. »Doch bedenke: Die raue Küste mag immer noch besser sein als die Schlangengrube am Königshof.«
Ein paar Herzschläge lang schweigen wir uns an.
»Du findest, ich sollte nicht gehen«, sage ich dann.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»König Gideon wird ohnehin niemals mich erwählen.«
Vater steht auf, kommt um seinen Schreibtisch herum und stellt sich hinter mich. Vorsichtig legt er seine Hände auf meine Schultern. »Du bist eine hübsche junge Frau geworden.«
Etwas in mir zieht sich zusammen. Ich kenne meinen Anblick aus Bronzespiegeln. Ich bin zu groß für eine Frau, besitze nicht die Anmut unserer Küchenmagd Griszell und schon gar nicht die Schönheit der Tochter des Stallmeisters. Und von meinen Augen will ich gar nicht sprechen.
»Das musst du sagen, weil du mein Vater bist.« Meine Stimme klingt rau.
»Nein, Alix«, widerspricht er. »Ich meine es ernst.«
»Jedenfalls will ich den Sohn der Herzogin nicht heiraten«, sage ich schnell, um das Thema zu wechseln. »Aber an den Hof will ich auch nicht.«
Vater drückt noch einmal meine Schultern. »Mir gefällt es ebenso wenig wie dir, aber eine der beiden Möglichkeiten muss es sein.«
»Ich könnte dem Konvent der göttlichen Zwillinge beitreten«, kontere ich, obwohl ich weiß, dass das Unsinn ist. »Oder wir behaupten, ich sei unpässlich.«
Allerdings hat mich der Bote gesehen. Ich habe den Brief entgegengenommen; er weiß, wer ich bin.
Hitze steigt in mein Gesicht, als ich vorschlage: »Vielleicht könnten wir sagen, ich erwarte ein Kind.«
Vater stolpert einen Schritt zurück. »Das würde deinen Ruf ruinieren.«
»Und wenn schon, ich will ohnehin nicht von hier fort.«
Jetzt ist er es, der einen weiteren Schluck Wein braucht. Dann seufzt er schwer und geht zum Fenster, um in die Nacht zu starren.
»Der Morgen ist klüger als der Abend«, sagt er schließlich. »Geh zu Bett, Alix. Vielleicht fällt uns bis morgen noch etwas ein.«
Ich umarme ihn, bevor ich mich auf den Weg zurück in meine Kammer mache. Schlaf, das ist ihm sicher ebenso klar wie mir, werde ich heute kaum finden.
Als ich am nächsten Morgen erwache, ist es bereits später Vormittag. Die Sonne fällt hell ins Zimmer, offensichtlich nicht bereit, mich auch nur ein bisschen länger ruhen zu lassen. Ich komme mir gerädert vor. Die halbe Nacht habe ich mich von einer Seite des Bettes auf die andere gewälzt, und wenn ich dann doch weggedämmert bin, haben mich wirre Träume geplagt. Blinzelnd richte ich mich auf. Molly sitzt am Fußende des Bettes und beobachtet mich mit schiefgelegtem Kopf. Ich strecke die Hand nach ihr aus und sie tappst auf mich zu und lässt sich streicheln.
»Ach, Molly«, murmle ich. »Was soll ich nur tun?«
Aufstehen, befindet die Katze offenbar. Sie schmiegt ihr Köpfchen noch einmal an meinen Handballen, dann springt sie aus dem Bett, läuft zur Tür und wirft mir einen Blick über die Schulter zu.
»Du musst raus, was?«
Nachdem ich die Tür kurz für sie geöffnet habe, schlüpfe ich aus meinem Nachthemd und hole mir frische Kleidung aus der Truhe. Meine Sachen von gestern sind aus dem Weidenkorb verschwunden. Einer der Dienstboten hat sie bereits zum Waschen geholt.
In der Burgküche drückt mir Hris, unser Koch, mit einem väterlichen Lächeln eine Schale Haferbrei in die Hand. Mein Magen knurrt voller Vorfreude, als mir der säuerliche Duft des Rhabarberkompotts in die Nase steigt, von dem er einen großzügigen Löffel zum Brei dazugegeben hat.
»Danke.«
»Schlecht geschlafen?«, fragt er, während er den Küchenhilfen über die Schultern guckt, die Brotteig kneten und Gemüse schnippeln.
Ich brumme nur ausweichend.
»Kannst du mir noch ein Schälchen Kompott richten?«, bitte ich Hris, sobald er einen seiner fleißigen Helfer angewiesen hat, Schafskäse aus dem Vorratskeller zu holen.
»So hungrig?«, fragt der Koch.
»Für Tante Camille«, erkläre ich. »Vielleicht weckt das ihren Appetit.«
»Ich habe ihr kurz nach Sonnenaufgang bereits davon hinaufgeschickt.«
»So früh war sie schon auf?«
Sein Gesicht verfinstert sich. »Sie hat Varonikk schon vor dem ersten Hahnenschrei in die Vorratskammer geschickt, um Mohnsaft zu holen.«
Der Appetit vergeht mir.
Hris tritt hinter mich und drückt mich auf die Bank zurück. »Jetzt scheint es ihr schon viel besser zu gehen. Iss den Brei auf, du brauchst deine Kraft.«
Weiß er von dem Brief des Schlangenkönigs? Ich versuche, in seinem Mienenspiel einen Hinweis auf diese Frage zu finden, doch falls dem so ist, lässt er sich nichts anmerken. So schnell ich kann, löffle ich mein Frühstück in mich hinein und verlasse die Küche mit einem raschen Dank, ehe Hris mir noch eine zweite Portion auftun kann.
Tante Camilles Kemenate liegt in einem schwer zugänglichen Bereich der Burg. Die Außenmauer ist der Felswand zugewandt, sodass selbst an Sommertagen wenig Licht hereinfällt. Das ist aber nicht der Grund, weshalb sich meine Tante trotz der frühlingshaften Temperaturen draußen unter einer Decke verkriecht.
Sie sitzt aufrecht im Bett, aber unter ihren Augen liegen Schatten. Bei meinem Anblick setzt sie ein Lächeln auf und tut so, als ginge es ihr gut.
»Holst du mir bitte einen Tee?«, fordert sie das Mädchen auf, das auf einem Stuhl in ihrer Nähe sitzt und stickt. Die Kleine springt hoch und legt die Handarbeit zur Seite. Als sie auf dem Weg nach draußen an mir vorbeihuscht, verneigt sie sich. Sie ist Hris’ Nichte und arbeitet erst seit einigen Wochen in der Burg.
»Wie geht es dir heute?«, frage ich, kaum dass das Mädchen die Tür hinter sich geschlossen hat.
»Gut.«
Sicher eine Lüge. Ich setze zu einer Antwort an, doch Tante Camille hebt die Hand, hält mich auf. »Der König hat dich an den Hof geladen«, sagt sie stattdessen.
»Du hast bereits davon gehört?«
»Dein Vater war heute Morgen bei mir.«
Die Unruhe, die mich gestern Abend überfallen hat, kocht wieder hoch, vermischt sich mit der Sorge um sie. »Was soll ich tun?«
»Das fragst du noch? Es ist eine Einladung des Königs. Natürlich wirst du gehen.«
»Du weißt doch, was man sich über ihn erzählt!«
»Er wird dir schon nicht den Kopf abbeißen. Es ist eine königliche Brautschau. Was soll da schon passieren? Und nach Rabenklamm willst du doch gewiss nicht.«
Auch davon hat ihr Vater also erzählt.
»Ich möchte überhaupt nicht fortgehen«, schmolle ich. »Kann nicht einfach alles so bleiben, wie es ist?«
»Unsinn. Du bist die Tochter eines Grafen. Eines Tages musst du gehen.«
»Der König wird ohnehin nicht mich wählen.«
Tante Camille schüttelt den Kopf, als hätte ich etwas furchtbar Dummes gesagt. »Darum geht es doch gar nicht. Auf dieser Brautschau werden die wichtigsten unvermählten Edeldamen des Landes zugegen sein. Und auf diesem Ball, da kannst du dir sicher sein, Dutzende Edelmänner. Das ist deine Möglichkeit, Verbindungen zu knüpfen und Freundschaften zu schließen.«
»Wozu?«
Ihre Augen verengen sich. »Wozu? Weil das nun mal der Lauf der Dinge ist.«
»Du lebst doch auch schon dein ganzes Leben hier«, halte ich dagegen.
Tante Camille tätschelt die Decke neben sich und ich setze mich zu ihr. Als ich ihre Hand ergreife, beunruhigt es mich, wie kalt sie ist.
»Die Kleine bringt gleich Tee«, sagt sie, weil sie natürlich wieder einmal errät, was in mir vorgeht. Bin ich ein solch offenes Buch? Daran werde ich arbeiten müssen, wenn ich in die Hauptstadt reise. Der Gedanke erschreckt mich. Als sei bereits entschieden, dass ich fortgehen muss.
»Dein Vater wird nicht ewig Herzog von Grimhold bleiben«, sagt Tante Camille da. »Irgendwann wird der Titel auf Bryant übergehen. Und es wird der Tag kommen, an dem er sich vermählt.« Sie streichelt meinen Handrücken. »Das wird schwierig für dich werden, wenn du dann noch hier bist, Alix. Auf einer Burg kann es nur eine Herrin geben.«
»Ich weiß, was mich erwartet«, antworte ich abweisend.
Sie lächelt mitleidig. »Glaubst du, nach all den Jahren, in denen du dich um deine Brüder gekümmert und deinen Vater bei der Verwaltung der Burg und der Ländereien unterstützt hast, wirst du einfach so schweigen können, wenn eine andere Entscheidungen trifft, die du vielleicht nicht gutheißt?«
Ich blicke meiner Tante direkt in die Augen. Sie hat jahrelang mit meiner Mutter unter einem Dach gelebt und ich hatte immer den Eindruck, die beiden seien sich sehr zugetan gewesen.
Und wieder errät Tante Camille meine Gedanken. »Ich habe deine Mutter sehr, sehr gemocht, Alix, das weißt du. Wir waren bereits Freundinnen, ehe sie deinen Vater geheiratet hat, und die Schweigende Jägerin weiß, sie ist viel zu früh von uns gegangen. Und doch ist es uns beiden nicht immer leichtgefallen, miteinander umzugehen. Mir gefielen manche Entscheidungen nicht, die sie für die Burg getroffen hat, und ihr missfiel, dass der Koch und die Stallmeisterin sich meist erst an mich wendeten und dein Vater nichts dagegen tat. Was glaubst du, wie es dir gefallen wird, wenn eine fremde Frau all die Dinge regelt, um die zuvor du dich gekümmert hast?«
Ich senke den Kopf, um sie nicht ansehen zu müssen. Natürlich hat sie recht. Wie würde ich mich fühlen, wenn Mikal nicht mehr mich fragen würde, auf welche Weide er die Tiere treiben soll, sondern meine Schwägerin?
»Wenn du an die Einladung denkst, kommt dir nur das in den Sinn, was die Leute sich über den König erzählen«, fährt meine Tante fort. »Aber der Besuch in der Hauptstadt ist für dich eine wundervolle Gelegenheit, die Welt kennenzulernen. Auf den Märkten dort findest du Waren von überall: Seide von den Perleninseln und die köstlichsten Leckereien aus dem Osten. Die Menschen sind anders als hier im Norden. Du machst dir keine Vorstellung, Alix. Die Welt hat so viel mehr zu bieten als diese kleine Grafschaft.«
»Warum bist du dann nicht in der Hauptstadt geblieben?«
Tante Camille hat ein paar Jahre dort gelebt, nicht viele. Als Vater meine Mutter geheiratet hat, kam sie mit den beiden zurück nach Grimhold.
Meine Frage lässt das Glitzern in ihren Augen verlöschen. Sie zieht ihre Hand zurück. »Geh mal zur Kommode und öffne das untere Schubfach.«
Ich runzle die Stirn, stehe jedoch auf und tue, was sie verlangt. Die Kommode besteht aus geöltem Kirschholz, Mondblumen sind über den Griffen der einzelnen Schubladen eingraviert – die Wappenblume meiner Familie. Ich muss mich anstrengen, die Schublade aufzuziehen, weil sie klemmt.
»Beeil dich«, drängt Tante Camille. »Bevor Hris’ Nichte mit dem Tee zurückkommt.«
Ich erblicke einen Schal aus dunklem Leinen, auf den mit butterfarbenem Faden Rosenranken gestickt sind. Daneben liegen ein Döschen mit Haarnadeln, Tante Camilles kleiner Handspiegel, ein Beutel aus rotem Samt und einer aus dunklem Leder sowie ein altes, abgegriffenes Gebetsbuch.
»Unter dem Schal«, weist sie mich an.
Ich greife danach, der Stoff fühlt sich wunderbar weich an und die Stickereien sind filigran. Ich habe ihn Tante Camille noch nie tragen gesehen, nicht mal zu den Hohen Feiertagen. Darunter kommt ein winziges, wachsversiegeltes Fläschchen zum Vorschein, das eine purpurfarbene Flüssigkeit enthält. Ich drehe mich damit um und blicke meine Tante scharf an. »Das hier?!«
»Du weißt, was das ist?«, fragt sie mich ungerührt.
Ich nicke und muss mich räuspern, bevor ich antworten kann. »Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass du noch eins besitzt.«
Tante Camille lacht leise. »Nicht für mich. Sondern für den Fall, dass … Auch wenn aus dir und dem jungen Niklas nichts geworden ist …«
Sie verstummt und meine Ohren beginnen zu glühen.
Grafentöchter heiraten nicht aus Liebe. Sowohl meine Eltern als auch Tante Camille haben früh dafür Sorge getragen, dass ich mir dahingehend nichts vormache. Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht verlieben können. Ich war es erst einmal: In Nik, den Sohn unserer Kupferschmiedin. Er ist ein weiterer Grund, warum ich dem Sternrispenfest dieses Jahr fernbleiben wollte. Kenshin hat mir erzählt, dass Nik sich mit einem Mädchen aus dem Dorf verlobt hat. Unsere Tändelei ist seit ein paar Monaten vorbei und zwischen uns ist nichts passiert, sieht man von schmachtvollen Blicken, doppeldeutigen Worten und ein paar heimlichen Küssen hinter den Stallungen ab. Dennoch wollte ich mir den Anblick ersparen, wie Nik und seine Zukünftige beim Sternrispenfest über das Feuer springen.
Tante Camille hat mir im letzten Herbst, als sie von mir und Nik Wind bekam, ein identisches Fläschchen in die Hand gedrückt und mir eingeschärft, es zu trinken, sollte ich mit ihm weiter gehen. Auch damals haben meine Ohren geglüht, aber ich habe es an mich genommen, wenngleich ich es nicht brauchte. Bei aller Schwärmerei hatte ich nicht vor, es so weit kommen zu lassen. Zumal mir bewusst war, dass eine Schwangerschaft nicht das Einzige ist, was man sich einfangen kann, wenn man unbedacht handelt, und so schnell, wie Nik von mir zu seiner Verlobten gewechselt ist, war das vermutlich klug.
Andererseits, wenn ich ihn unter meinen Rock gelassen hätte, müsste ich vermutlich jetzt nicht der Einladung des Königs Folge leisten. Während ich mit dem Fläschchen in der Hand zu Tante Camille zurückgehe, stelle ich mir mich mit einem dicken Bauch vor. Nein, als Mutter sehe ich mich ebenso wenig wie als Edeldame bei Hofe.
»Nimm es mit in die Hauptstadt«, befiehlt sie mir.
»Tante!«
»Du bist kein Kind mehr.«
»Ich habe das erste Fläschchen noch.«
»Umso besser. So hast du zwei.«
Ich bin ehrlich geschockt. »Was hältst du von mir?«
Sie lächelt mich beruhigend an. »Ach, Alixandra. Vermutlich wirst du sie nicht brauchen. Aber Vorsicht ist besser als Nachsicht.«
Zögerlich stecke ich das Fläschchen in eine der Taschen in meinem Rock und setze mich wieder neben sie.
»Wie soll ich ohne dich denn bei Hofe zurechtkommen?«
Tante Camilles Blick vernebelt sich. »Ich werde einer alten Freundin schreiben. Sie soll dich unter ihre Fittiche nehmen.«
So ist es also. Ich habe mich entschieden. Ich werde die Einladung annehmen. Nun, ich hatte ohnehin nie eine richtige Wahl. Der Zeitpunkt scheint gekommen, damit aufzuhören, so zu tun, als sei das anders.
Das Mädchen kommt mit dem dampfenden Tee und ich verabschiede mich und verspreche meiner Tante, sie am Nachmittag wieder zu besuchen, zusammen mit Fletcher. Sie in Grimhold zurückzulassen, wird mit das Schwerste sein. Die Krankheit schließt ihre Klauen immer unbarmherziger um sie.
»Alix«, hält sie mich auf, als ich die Tür hinter mir zuziehen will.
»Ja?«
»Olympia wird dir gewiss helfen. Aber bei Hof ist es anders als hier. Nicht jeder … sagt das, was er wirklich denkt. Vertrau auf deinen Bauch. Und hab keine Angst, eigene Entscheidungen zu treffen.«
Noch vor dem Mittagessen teile ich Vater mit, dass ich die Einladung des Königs annehmen werde.
Die nächsten Tage vergehen in einem Wirbel aus Vorbereitungen. Die Dienstmädchen bringen Bordüren und Stickereien an meinen Kleidern an und Truhen werden gepackt. Vater lässt ein Ballkleid umnähen, das Mutter gehört hat. Ich kann mich noch an das Mittsommerfest erinnern, an dem sie es getragen hat. Mutter war kleiner als ich und die Schneiderin muss es etwas anpassen. Es fühlt sich seltsam an auf meiner Haut. Ich habe nicht vor, es bei Hof zu tragen. Doch Vater besteht darauf, dass ich es mitnehme. Tante Camille hat bereits Lady Olympia geschrieben und ihr meine Maße mitgeteilt, damit diese das Schneidern zweier neuer Kleider veranlassen kann, die der aktuellen Mode entsprechen. Auch Vater verfasst Briefe. Er selbst wird mich nicht begleiten.
Fünf Tage nach Ankunft der Einladung mache ich mich auf den Weg an den Königshof. Kenshin und Ruben sind meine einzigen Begleiter, sieht man einmal vom Kutscher und seinem Sohn ab. Eigentlich soll ich nicht selbst reiten, doch zwischen den Bergen von Gepäckstücken in der engen Kutsche langweile ich mich zu Tode. Immerhin kann ich Kenshin überreden, dass ich ihnen stundenweise Gesellschaft leisten darf. Ich reite dann auf einem der Packpferde, dessen Last wir an meiner statt in die Kutsche räumen. Und am zweiten Abend unserer Reise lässt Kenshin mich sogar mit seinem Bogen schießen, denn meinen durfte ich nicht mit in die Hauptstadt nehmen.
»Beweise ihnen bei Hof, dass wir im Norden nicht alle Wilde sind«, hat Vater mich beauftragt. Der Gedanke an eng geschnürte Mieder, unbequeme Tanzschuhe und Dutzende Nadeln in meinem Haar begeistert mich nicht gerade.
Am frühen Nachmittag des dritten Tages nach unserem Aufbruch erreichen wir Torrenstadt. Obwohl mir jeder gesagt hat, dass dort alles größer und prächtiger ist, bin ich von ihrem Anblick doch ehrlich beeindruckt: gewaltige Stadtmauern aus einem dunklen, fast schwarzen Stein ragen viele Meter hoch in den Himmel. Die Wachtürme, die das massive Eingangstor flankieren, sind sogar noch höher. Von dort aus muss man über das halbe Land blicken können. Bunte Fahnen flattern im Wind, der am Morgen aufgekommen ist und der in dieser luftigen Höhe sicher noch stärker weht.
Die Straßen in der Stadt sind alle gepflastert und so breit, dass die Kutsche problemlos auf ihnen entlangrollt. Menschen drängen sich auf den Gehwegen, und ihre Unterhaltungen vermischen sich mit dem Gebell von Hunden, dem Klappern von Wagenrädern und dem Rufen der Händler zu einer Kakophonie, die über mich hereinschlägt wie das Wasser eines Teiches, in den man eintaucht.
Wohin ich auch blicke, ich sehe farbenfrohe Gewänder, Pferdegespanne und Karren. Es riecht nach Frischgebackenem, bratendem Fleisch, Schweiß, Blumen und Pferdeäpfeln. Dieses Duftpotpourri ist fast noch schwerer zu ertragen als der Lärm. Kaum jemand beachtet uns. Wenn Vater mit uns durch das Dorf wandert, folgen uns auf Schritt und Tritt Blicke. Hier ist unsere Kutsche nur eine von vielen.
Tante Camille, die mich kennt, hat mir eingeschärft, wenigstens nicht zu Pferde bis zum Haus ihrer Freundin zu reisen. Auch, wenn es mir nicht schmeckt, meinen letzten Vormittag in Freiheit eingeengt in der stickigen Kabine zu verbringen, begreife ich nun, dass das eine weise Entscheidung war. Torrenstadt ist nicht Grimhold und ich kann wohl kaum in meinen Jagdhosen und einem Leinenhemd bei Lady Olympia auftauchen. Auch wenn die Vorstellung verführerisch ist, ein solches Auftreten könne König Gideon zu Ohren kommen. Vielleicht würde er mich dann sofort zurück nach Hause schicken.
Jetzt klebe ich am Kutschfenster und starre auf das geschäftige Treiben und die prächtigen Bauwerke. Worte können sich mit der Wahrheit kaum messen. Wir poltern an einer Tempelanlage vorbei, die mir fast so groß erscheint wie unsere Burg daheim. Zwei edle Damen, die Säume und Krägen ihrer Kleider trotz der Hitze pelzverbrämt, treten von dort auf die Straße. Die Gemüsehändlerin, die vor dem Tempeltor ihre Ware verkauft, beachten sie gar nicht.
Es mag die dritte Stunde nach Mittag sein, als wir in eine von Kastanien flankierte Allee einbiegen. Die Bäume stehen in voller Blüte und ihre sattgrüne Belaubung und die weißen Dolden verbergen die Gebäude dahinter vor meinen neugierigen Blicken. Erst, als der Kutscher die Pferde vor einem violett gestrichenen Eisentor anhält, wird mir bewusst, dass Tante Camilles Freundin, Lady Olympia, nicht irgendjemand sein kann. Ihr Anwesen wirkt riesig. Sie muss sehr vermögend und vermutlich auch einflussreich sein. Es wundert mich, dass ich bisher noch nichts von ihr gehört habe. Die Wächter – sie tragen violette Livreen, die perfekt zur Farbe des Eisentores passen – werfen nur einen flüchtigen Blick in die Kutsche, nachdem Kenshin sich mit ihnen unterhalten hat. Sie nicken mir zu, dann lassen sie uns passieren. Obwohl wir uns mitten in der größten Stadt des Reiches befinden, fahren wir einen langen Weg entlang bis zu einer herrschaftlichen Villa, die ebenfalls violett gestrichen ist. Ich runzle die Stirn. Welche der Adelsfamilien Torrenfells trägt freiwillig diese Wappenfarbe?
Unter dem mit Säulen geschmückten Vorbau zur Eingangstür stehen die blassen Statuen zweier Frauen. Beide sind nackt. Die eine trägt einen Bogen in der Hand und hat einen Köcher geschultert. Sie hält den Kopf stolz erhoben und ihr Gesicht blickt streng, als warne sie den Betrachter, sie herauszufordern. Es muss Virkay sein, die Schweigende Jägerin, denn die Statue neben ihr umarmt ein Bouquet unterschiedlicher Pflanzen, so üppig, dass es ihre Blöße bedeckt: Mirkay, die Singende Gärtnerin. Ihr Gesicht besitzt etwas seltsam Vertrautes, doch ehe ich es näher betrachten kann, öffnet sich die Tür und ein Dienstmädchen tritt auf die Schwelle. Kenshin öffnet die Kutschentür und streckt mir die Hand entgegen. Ich streiche mir flink den Rock glatt und lasse mir aus meinem rollenden Gefängnis helfen. Endlich!
Die Sonne küsst meine Haut und ich erlaube mir, kurz die Augen zu schließen und Kraft zu sammeln. Am liebsten würde ich meinen Körper jetzt strecken, meine Schuhe von den Füßen streifen und zwischen den in Form geschnittenen Buchsbäumen zu unserer Rechten einfach verschwinden, doch da spricht mich das Dienstmädchen bereits an.
»Willkommen, Lady Grimhold«, begrüßt sie mich mit einem einnehmenden Lächeln.
»Danke«, antworte ich ihr und meine es ehrlich. »Lady Olympia erwartet mich.«
»Gewiss«, bestätigt sie. »Kommt bitte herein. Tomak?«
Ein kleiner Junge tritt aus den Schatten. Er trägt ein weißes Hemd mit gestärktem Kragen, violett gefärbte Hosen und er mustert mich so ernst und gewichtig, dass ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken kann. Conley und Daphnus könnten sich eine Scheibe von ihm abschneiden.
»Kümmere dich bitte um die Begleitung von Lady Grimhold«, weist ihn das Dienstmädchen an.
Tomak nickt.
»Vielen Dank«, sage ich zu ihm, werfe einen Blick zu Kenshin und Ruben und folge dem Dienstmädchen ins Haus. Von einem gewölbten Dach hängt ein eiserner Kerzenleuchter, um dessen Arme bunte Bänder gewunden sind. Die Kuppel wird von schlanken Säulen getragen, die aus dem gleichen violett geäderten Stein bestehen wie die Bodenplatten der Eingangshalle. An den Wänden hängen fein gearbeitete Wandteppiche und Gemälde in goldenen Rahmen. Unter ihnen stehen Sitzgelegenheiten aus dunklem Holz, auf denen mit Goldfäden bestickte Kissen liegen. Was für ein Prunk! Das Schmuckstück dieses Empfangsbereichs ist jedoch das Treppenhaus, das sich in kunstvollen Spiralen einer Galerie im ersten Stock entgegenwindet.
»Wenn Ihr Euch einen Augenblick gedulden mögt«, zieht das Dienstmädchen meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ich werde Lady Olympia über Eure Ankunft in Kenntnis setzen.«