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Eine zauberhaft nette Hexenfamilie - doch gefangen in der Zeit! Die 16-jährige Marissa ist eine waschechte Hexe, die mit ihrer großen Familie in einem verwinkelten Landhaus am Rande der Stadt auf einer Insel lebt. So weit, so idyllisch. Doch als Marissas Tante, das schwarze Schaf der Hexenfamilie, plötzlich wieder auftaucht, passieren seltsame Dinge: Marissas Cousine bricht abends krank zusammen und alle scheinen den gleichen Tag immer und immer wieder zu erleben. Fieberhaft macht sich Marissa auf die Suche: Warum genau wurde Tante Gladys verstoßen? Wie gelangte vor 150 Jahren das Haus mit seinem eigenwilligen Charakter in den Besitz ihrer Familie? Und warum sind alle in einer Zeitschleife gefangen? "Beneath the Ivy – The Witches of Silvercrest Coven" ist eine humorvolle und tiefgründige Young-Adult-Hexengeschichte mit jeder Menge verwunschener Landhaus-Atmosphäre und nicht nur einem Familiengeheimnis, das es aufzudecken gilt! - Fantasy-Jugendbuch ab 14 Jahren, das das Thema Traumabewältigung behutsam aufgreift - Spannende Mystery-Fantasy in einem magischen Landhaus-Setting - Herzlich-warme Hexengeschichte mit überraschenden Wendungen und einem Hauch Romantasy - "Und täglich grüßt das Murmeltier" trifft "Charmed" - Von Fantasy- und Märchenspezialist Christian Handel atmosphärisch und mitreißend erzählt Verhexte Familiengeheimnisse, die es zu entzaubern gilt! Marissas Zuhause, Silvercrest Manor, ist ein gemütliches Landhaus mit schiefen Böden und einem Garten voller Kräuter und Heilpflanzen. Es gehört der Hexenfamilie Winslow, seit Ururgroßmutter Florence vor 150 Jahren auf die Insel kam. Wie es in den Familienbesitz gelangte, ist ein ungelöstes Rätsel. Manche behaupten, Florence habe mit blutroten Rubinen oder ihrer Unschuld bezahlt. Andere erzählen, der Verkäufer McSweeney habe einen Fluch von ihr verlangt. Doch die Winslows sind zwar Hexen, aber weder reich noch verfluchen sie Leute. Gefangen in einer Zeitschleife, geht Marissa nicht nur diesem Mysterium auf den Grund. Eine atmosphärische Young-Adult-Hexengeschichte voller Geheimnisse, die für gemütliche Lesestunden sorgt!
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über das Buch
Silvercrest Bay ist eine gemütliche Kleinstadt, in der jeder einfach jeden kennt. Aber so gewöhnlich Familie Winslow auch scheint, sie gehört einem alten Hexengeschlecht an. Junghexe Marissa hält ihr Leben trotzdem für ziemlich normal. Jeder Tag scheint dem vorhergehenden zu gleichen … bis zu dem Tag, an dem das tatsächlich der Fall ist. Denn auf einmal ist der gesamte Ort in einer Art Zeitblase gefangen. Und außer Marissa bemerkt das niemand. Als auch noch ihre Cousine Norah todkrank zusammenbricht und Tante Gladys, das verstoßene schwarze Schaf der Familie, im Ort gesichtet wird, schrillen bei Marissa die Alarmglocken. Versucht jemand, mit dunkler Magie ihre Familie zu vernichten? Sie macht sich mit all ihren Kräften - und ausgerechnet der Unterstützung ihres Erzfeinds Caleb Rosenbaum - dran, herauszufinden, was der Ursprung allen Übels ist ...
Playlist
Casually Cruel by Leslie Clio
August by Taylor Swift
Witchcraft by Wonderwall
Winter Blue by Heather Nova
Ghosts by Stevie Nicks
Into the Fire by Sarah McLachlan
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Epilog
Der Traum ist immer gleich: Meine Cousine droht zu sterben und niemand hilft mir, sie zu retten.
Ist es ein Albtraum? Oder ein Blick in die Zukunft?
»Du bist heute ja früh aus dem Bett gefallen«, begrüßt Grandma mich freudig. Sie steht am Herd und gießt Teig in ihre gusseiserne Lieblingspfanne, in der bereits Butter brutzelt. Neben ihr schlägt ein Schneebesen Sahne auf und sofort bessert sich meine Laune. Offensichtlich ist Pancake-Tag!
»Das Haus hat mich geweckt.« Ich versuche, vom Teig zu kosten, aber natürlich bekommt Grandma es mit und haut mir auf die Finger.
»Das Haus?«, fragt sie.
Ich seufze – sowohl wegen meiner zu kurz geratenen Nachtruhe als auch weil sie mich nicht naschen lässt. »Es hat ganz wild mit den Fensterläden geklappert. Hast du denn nichts gehört?«
Grandma schüttelt den Kopf. »Minnie und ich waren vollauf damit beschäftigt, einen Schwarm Krähen zu vertreiben. Sie haben den Ahorn neben dem Friedhof bezogen und von dort die Salatbeete ins Visier genommen. Eine Plage, ich sag’s dir! Dabei wollten wir doch eigentlich nur Morgentau sammeln.«
»Krähen?«, frage ich und runzele die Stirn. Die sieht man selten auf Carter’s Island.
»Bringen nichts als Unglück!«, antwortet Grandma. »Aber immerhin konnten wir so die Federvorräte auffüllen. Nur traue ich den Biestern zu, dass sie sich wieder blicken lassen. Minnie überlegt, ob wir eine Schutzrune im Garten anbringen, nur für alle Fälle.«
Schutzrunen verhindern, dass ein ungebetener Gast einen Ort betreten kann. Grandma und Tante Minnie haben auf der ganzen Insel welche verteilt. Aus Gründen.
»Wo ist Tante Minnie jetzt?«
Grandma widmet sich ihren Pancakes. »Noch draußen.«
Ich gehe zum Esstisch, auf dem eine Schüssel mit Brombeeren steht. Sie sind prall, glänzen prächtig und wirken so saftig, dass man Angst bekommt, sie könnten noch zwischen den Fingern zerplatzen.
Rasch stibitze ich eine. Sie platzt nicht, aber als ich auf die dunkle Frucht beiße, breitet sich eine säuerliche Süße in meinem Mund aus, mit der es keine Supermarkt-Brombeere der Welt aufnehmen kann. Solche Früchte bringt nur Tante Minnie in ihrem Garten zum wachsen.
Streng genommen ist sie gar nicht meine Tante, sondern meine Großtante. Wir nennen sie nur alle so, von Grandma einmal abgesehen. Die beiden sind Schwestern und sie leben seit ihrer Geburt in Silvercrest Manor. Das, wenn man mich fragt, das schönste Haus der Welt ist. Allerdings auch das launischste.
»Gibt es etwas zu feiern?«, frage ich, während ich heimlich weiternasche.
»Dass du ausnahmsweise mal nicht zu spät zur Schule kommst?«
»Ha, ha!«, murre ich. »Hast du dem Haus etwa gesagt, es soll mich wecken?«
»Als ob es sich von mir etwas sagen ließe.«
Punkt für sie. Silvercrest Manor macht, was es will. Meist verhält es sich äußerst zuvorkommend. Unsere Toiletten riechen beispielsweise niemals streng – und der Grund dafür ist nicht etwa, dass, wie Tante Natasha (sie ist wirklich meine Tante) behauptet, Winslow-Frauen nicht pupsen. Es weist uns unmissverständlich darauf hin, wenn die Asche aus dem Kamin geholt werden muss, und klopft sogar selbst die Teppiche aus – auch dann, wenn noch einer von uns darauf steht. Zu neunt wohnen wir hier: Grandma hat ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss, Tante Natasha mit ihrer Familie wohnt im ersten Stock und direkt darüber haben wir unser Reich: Mom, Dad und ich. Und Tante Minnie mit ihrem Erkerzimmer.
Das Haus passt auf uns alle auf. Als Dad sich im letzten Herbst mit einem gebrochenen Fuß herumärgern musste, hat das Haus die Treppenstufen einfach ein paar Wochen lang niedriger gemacht. Was allerdings dazu führte, dass wir anderen mindestens einmal am Tag gestürzt sind, weil uns die normale Höhe der Stufen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Aber der gute Wille zählt. Und Silvercrest Manor besitzt einen guten Willen. Na ja, zumindest einen eigenen. Im Frühjahr hat ein schlimmer Sturm die alte Kiefer im Vorgarten erwischt. Sie ist geknickt wie ein Zahnstocher und dabei gegen das Haus geknallt. Es ist, Hekate sei Dank, nichts passiert, sieht man von ein paar Kratzern am Balkongeländer ab. Offenbar fand das Haus jedoch, dass wir uns mit der Reparatur zu viel Zeit ließen, denn eines Morgens war der Schlüssel zu Dads Autowerkstatt verschwunden. Zunächst dachten wir, er hätte ihn verlegt, aber als er beim Abendessen im Suppentopf auftauchte (der Schlüssel natürlich, nicht Dad, und das auch erst, nachdem Grandma ihre geliebte Zucchinisuppe gekocht hatte) und dieses Spiel sich am Folgetag wiederholte (da fand sich der Schlüssel in meiner Unterwäscheschublade), war uns klar, dass das Haus nicht zufrieden war. Also reparierten Dad und Onkel Doug das Balkongeländer und siehe da, der Schlüssel blieb fortan dort, wo er sein sollte.
Momentan gibt es meines Wissens jedoch nichts, worüber sich Silvercrest Manor aufregen könnte. Wir haben die Außenfassade im Frühjahr streichen lassen, den Flur auf Grandmas Anweisung hin neu tapeziert und blitzblank geschrubbt – sogar von Hand und nicht mittels Magie. Denn ja: Wir sind keine gewöhnliche Familie – aber das habt ihr euch vermutlich schon gedacht. Wir Winslows sind Hexen. Beziehungsweise Hexer – ich will die rar gesäten männlichen Nachkommen unserer Familie ja nicht unterschlagen. Winslow-Frauen neigen zu weiblichen Kindern, was vermutlich mehr mit unseren Genen zu tun hat als mit unserer Magie. Unter den Hexenfamilien des nordamerikanischen Festlands gibt es ebenso viele Hexer wie Hexen, bei einigen sind es sogar mehr Männer als Frauen.
»Wie wäre es«, fragt Grandma, ohne sich umzublicken, »wenn du den anderen auch noch ein paar Brombeeren übrig lässt und stattdessen den Tisch deckst?«
Ich verdrehe gespielt die Augen. »Erst mal brauche ich einen Kaffee«, behaupte ich und springe vom Stuhl auf. Seine Beine schrammen über die Fliesen. Grandma seufzt.
Unsere komplette Küche sieht aus, als sei sie aus der Zeit gefallen. Die Schränke sind aus petrolfarben lackiertem Holz, über dem Gasherd hängen Kupfertöpfe, in bunt bemalten Blumentöpfchen wachsen Küchenkräuter und gegenüber dem Esstisch steht ein uralter Eisenofen, den wir allerdings nicht mehr benutzen, sondern der nur noch zur Zierde dient. Selbst der Kühlschrank ist bereits uralt (Grandma sorgt dafür, dass er noch läuft – sie ist eine Herdhexe). Einzig neben dem Vorratsschrank steht ein nigelnagelneuer chromglänzender Kaffeevollautomat. Den haben wir meinem Dad zu verdanken. Er und Onkel Doug sind die einzigen Nichthexer in unserer Familie.
»Magie«, witzelt Mom immer, wenn sie sich einen Cappuccino aus der Maschine macht, aber die ist momentan nicht da, sondern auf einer Forschungsreise in Island.
»Machst du mir auch einen, Rissa?«, ruft Dad vom Flur aus. »In den Thermobecher zum Mitnehmen.«
»Ich bin doch keine Barista«, empöre ich mich, aber das ist natürlich nur Spaß.
»Bitte«, schiebt er hinterher, doch da drücke ich ohnehin bereits ein paar Knöpfe, das Ungetüm vor mir dampft und zischt wie ein miesgelaunter Drache und spuckt schwarzes Gold aus. Himmlischer Duft steigt mir in die Nase und vertreibt die Reste meiner Müdigkeit.
Während der Kaffee in meine Tasse läuft, schiele ich hinauf zur Kuckucksuhr. 6:48 Uhr.
»Musst du schon los?«, frage ich, als ich Dads Thermobecher in die Maschine stelle.
Er geht zum Tisch, schnappt sich ein paar Brombeeren und zwinkert mir verschwörerisch zu. »Leider ja.«
Ganz offensichtlich hat er sich heute auch beim Bügeln beeilt. Beim Hemd, das er trägt, hat er mehr Falten in den Stoff gemacht als entfernt.
»Was ist los?«, frage ich ihn.
»Viktor Rosenbaum bringt gleich seinen Volvo in die Werkstatt«, sagt er.
Grandma schnalzt missbilligend mit der Zunge.
»Sag nichts«, mahnt Dad sie.
»Du solltest nicht für diese Familie arbeiten.«
»Ach, Dianne.« Er haucht ihr einen Versöhnungskuss auf die Wange. »Viktor Rosenbaum hat mit eurer alten Fehde ebenso wenig zu tun wie ich. Er trägt ja nicht mal ihren Nachnamen.«
»Du hast mit dieser Fehde zu tun, seit du in diese Familie eingeheiratet hast«, korrigiert sie ihn kühl. Wenn es um die McSweeneys geht, versteht sie keinen Spaß.
»Ich glaube, deine Sahne wird gleich zu Butter.«
»Ach, verdammt.« Sie fährt zum Schneebesen herum. »Genug!« Sofort hört er auf zu rühren. Missgelaunt kostet sie. »Geht noch.« Sie wirft Dad einen genervten Blick zu, als sei er dafür verantwortlich, dass die Sahne fast verdorben wäre.
Dad grinst mich verschwörerisch an und ich strecke ihm seinen Becher entgegen. Er greift danach, wirft aber gleichzeitig noch mal einen Blick auf die Uhr. Das rächt sich: Der Thermobecher rutscht ihm durch die Finger und fällt – kurz bevor er den Boden berührt, bleibt er schweben. Dad bückt sich, um ihn aus der Luft zu pflücken. »Danke, Minnie.«
Tatsächlich kommt Tante Minnie gerade durch die Terrassentür ins Haus. Sie hat die Haare hochgesteckt und trägt eine quietschgelbe Gartenschürze. In der einen Hand hält sie ein Körbchen mit frisch geerntetem Rhabarber, in der anderen ihre geliebte Gartenschere, die so rostig ist, dass sie mich an eine Horrorfilmrequisite erinnert. Verschiedene Familienmitglieder haben ihr bereits funkelnagelneue Exemplare geschenkt, aber sie weigert sich standhaft, sich von ihrer alten zu trennen.
»Habe ich das gerade richtig gehört? Du reparierst das Auto von Viktor McSweeney?« Ihre Gartenschere schnappt zu.
»Viktor Rosenbaum«, korrigiert Dad.
Grandma schnaubt. »Ein Wolf, der sich in ein Schafsfell hüllt, ist immer noch ein Monster.«
»Eigentlich sind Wölfe keine …«, beginne ich, beiße mir jedoch auf die Zunge, als mich ihr eisiger Blick trifft.
»Du bist besser still, Fräulein«, kommt Tante Minnie ihrer Schwester zu Hilfe. »Kannst du mir verraten, warum ich heute Morgen dein Fahrrad zwischen meinen Sonnenblumen gefunden habe?«
Blut schießt mir ins Gesicht. Was ihre Pflanzen angeht, versteht Tante Minnie keinen Spaß. Und unsere Fahrräder sind grundsätzlich hinter dem Haus an ein Geländer anzuschließen. Zynischerweise gilt das allerdings nicht für das Tandem, dass sich meine Großtante mit meiner Grandma teilt.
»Ist das Rhabarber?«, frage ich schnell. Es ist August und für Rhabarber eigentlich zu spät, aber solch irrelevante Naturgesetze kümmern weder Tante Minnie noch ihren Garten. Ihr besonderes Talent liegt in der Pflanzenmagie.
Mein Ablenkungsmanöver funktioniert. Der strenge Gesichtsausdruck meiner Großtante weicht auf, stolz schwenkt sie das Körbchen hin und her.
Dad ergreift seine Chance. »Ich muss los.«
Ehe ihn jemand aufhalten kann, verschwindet er in den Flur. Wir hören die Schlüssel klappern, als er sie vom Hacken nimmt, dann steckt er – mutig, wie er ist – noch einmal seinen Kopf in die Küche. Tja, das Leben unter uns Hexen hat ihn abgehärtet. »Fast hätte ich es vergessen! Rissa, deine Mutter lässt dir schöne Grüße ausrichten. Sie meldet sich morgen, wenn sie von ihrem Ausflug zurückkommt.«
Jetzt bin ich wirklich wach! »Der Ausflug ist heute?«
Das hatte ich gar nicht mehr auf dem Schirm. Ich will zum Flurspiegel laufen, aber Dad hält mich auf. »Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen. Sie ist schon weg.«
»Aber, Dad! Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Wir haben gestern Abend gespiegelt, als du unterwegs warst.«
Gespiegelt nennen wir es, wenn wir mit jemandem über verzauberte Spiegel sprechen. Im Grunde wie ein Videocall, allerdings mit den Vorteilen, dass er nichts kostet und – besonders wichtig für uns – niemand uns abhören kann. Wir machen kein Geheimnis aus unserer Existenz, binden den Menschen aber auch nicht unbedingt auf die Nasen, dass wir Hexen sind. Und Hexer.
Größter Vorteil der Spiegel: Wir können Gegenstände hindurchreichen, solange sie durch den Rahmen passen. Mom hat einen behexten Handspiegel mit nach Europa genommen. Dank ihm besitzt mein Cousin Tyler jetzt isländisches Vulkangestein und Tante Minnie einige neue, äußerst seltene Pflanzenzwiebeln. Mom hat ihn allerdings nicht deshalb eingepackt, um uns mit Souvenirs zu versorgen, sondern weil er gerade groß genug ist, damit Dad ihr eine Tasse Kaffee hindurchreichen kann – oder Tante Natasha eines ihrer Mandeltörtchen aus dem Zucker & Zimt. Nicht dass meine Mutter das jemals zugeben würde, wo sie doch niemals müde wird zu betonen, dass wir unsere Magie nur zu wichtigen Gelegenheiten einsetzen dürfen. Als ob sich eine Winslow je daran gehalten hätte!
Obwohl sie manchmal nervt, vermisse ich Mom. Sie ist seit über einem Monat in Europa, um magische Kultstätten aufzusuchen. Eine Recherchereise für das neue Buch, das sie schreibt. Dad schenkt mir noch ein entschuldigendes Lächeln, dann verschwindet er zur Arbeit.
»Ich hab sie ewig nicht gesehen«, murmle ich enttäuscht.
»In zwei Wochen ist sie ja wieder da«, tröstet Tante Natasha. Ihre Absätze klappern auf den Fliesen, als sie mit raschen Schritten die Küche durchquert. Obwohl sie vermutlich schon einige Zeit wach ist – typisch Frühaufsteherin –, sieht sie frisch wie der junge Frühling aus und auch ihre Kleidung ist wie aus dem Ei gepellt.Tante Natasha drückt Grandma zur Begrüßung, dann schnappt sie sich den Teekessel und füllt ihn mit Wasser. »Ihr fahrt doch heute zum Wochenmarkt, richtig?« Ohne auf eine Antwort zu warten, stellt sie den Kessel auf eine freie Herdplatte und fragt: »Könnt ihr im Books & Biscuits vorbeifahren? Ich habe ein paar Schulbücher für Tyler bestellt, die abgeholt werden können.«
»Wie viele sind es denn?«, fragt Tante Minnie vorsichtig.
»Zu viele«, stöhnt mein kleiner Cousin Tyler dramatisch, der mit seiner Schwester im Schlepptau in die Küche kommt. Norah ist genau so alt wie ich und meine beste Freundin. Wie immer hält sie ein Buch in der Hand. Sie verbringt so viel Zeit mit dem Lesen wie andere Leute mit ihren Smartphones und scheint der Meinung zu sein, dass man unter keinen Umständen das Haus ohne Buch verlässt. Das pastellfarbene Cover deutet auf einen Liebesroman hin – meine Cousine ist eine hoffnungslose Romantikerin –, ihrer Miene nach zu urteilen, müsste es aber eher ein Psychothriller sein.
Grandma scheint Norahs schlechte Laune nicht zu bemerken.
»Gerade rechtzeitig«, begrüßt sie die beiden. »Die Pancakes sind fertig.«
»Du hilfst beim Tischdecken, junger Mann«, weist Tante Natasha Tyler an.
Tante Minnie drückt Tyler einen Stapel Teller in die Hand. »Schaffst du das?«
Tyler bläst sich eine Locke aus der Stirn und nickt. Dann trägt er mit ernster Miene das Geschirr zum Tisch.
»Die reichen«, sagte Tante Natasha, als Tante Minnie weitere Teller aus dem Schrank holen will.
»Isst Douglas nicht mit?«, fragt Grandma und wendet mit einer geschickten Bewegung des Handgelenks einen Pancake in der Luft. Ganz ohne Magie.
»Kommt erst heute Abend zurück«, antwortet Tante Natasha. Onkel Doug arbeitet als Rechtsanwalt und muss öfter von Carter’s Island aufs Festland übersetzen, um im Hauptquartier der Kanzlei vorbeizusehen. Meist nur für ein, zwei Meetings, diesmal ist er offenbar über Nacht dortgeblieben.
»Und Benji ist gestern auch nicht nach Hause gekommen«, sagt meine Cousine und setzt sich mit einem missmutigen Gesichtsausdruck an den Tisch.
»Norah«, mahnt ihre Mutter sie.
Norah ist ebenso wenig ein Morgenmensch wie ich, aber so miese Stimmung bin ich von ihr gar nicht gewohnt.
Nicolas?, forme ich mit den Lippen.
Sie zuckt nur mit den Schultern. Ist sie deshalb so schlecht gelaunt? Den Sommer über war Norah mit Nicolas Ashby zusammen. Vor zwei Wochen hat er sich von ihr getrennt, weil sie ihm »zu kindisch« sei. Was im Klartext heißt, dass sie noch nicht bereit war, ihr Höschen für ihn auszuziehen. Wenn man mich fragt: Nicolas Ashby ist ein riesengroßes Arschloch. Aber Norah hat’s hart getroffen und sie ist irgendwie immer noch in ihn verliebt.
Wir Winslows lieben leidenschaftlich und kompromisslos, sagt meine Mom immer, das wirst du merken, wenn es so weit ist. Sie hat ja auch gut reden, immerhin hat sie sich Dad geangelt.
»Was hast du denn heute, Norah-Schätzchen?«, fragt Tante Minnie, nachdem wir uns alle zum Frühstück um den Tisch versammelt haben und meine Cousine ihren Pancake nur auf dem Teller hin und her schiebt.
»Nichts«, antwortet sie knapp.
Tante Natasha seufzt.
»Geht es dir nicht gut?«, versucht Grandma es.
»Es ist nichts, okay?«, blafft Norah sie an. Das Klirren und Klimpern der Gabeln erstirbt. In diesem Tonfall wird an unserem Tisch nicht gesprochen. Erst recht nicht mit Grandma. Als Norah die besorgten Blicke bemerkt, zieht sie beschämt die Schultern ein. »Es ist nichts«, wiederholt sie leiser. »Bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht anfahren.«
»Schon gut.« Grandma tätschelt ihr den Arm – und erstarrt. »Du bist ja eiskalt! Wirst du krank?«
Norah befreit sich aus ihrem Griff. »Ich hab mich nur ein bisschen erschreckt.«
»Erschreckt?«
»Das Haus hat sie im Bad eingesperrt«, teilt Tyler uns mit vollen Backen mit. Im Gegensatz zu Norah hat er einen gesunden Appetit. Wenn ich richtig gezählt habe, vertilgt er gerade seinen dritten Pancake.
»Bitte?« Grandma legt überrascht die Gabel beiseite.
Norah verdreht die Augen. »Es war nichts, okay? Die Tür hat nur geklemmt. Silvercrest hatte einfach einen dieser Momente.«
»Mich hat es heute mit klappernden Fensterläden geweckt«, sage ich und Norah wirft mir einen dankbaren Blick zu.
»Da seht ihr es.«
Grandma runzelt die Stirn. »Damit geht man nicht leichtfertig um. Das Haus handelt niemals ohne Grund. Warum es Rissa geweckt hat, liegt auf der Hand. Aber warum sollte es dich einsperren? Vielleicht bleibst du heute besser zu Hause.«
»Quatsch«, widerspricht Norah. »Ich habe einfach schlecht geschlafen. Und ich bin froh, aus dem Haus zu kommen. Dieser Geruch macht mich noch ganz wahnsinnig.«
»Welcher Geruch?« Tante Minnie schnuppert verwirrt. Auch ich runzle die Stirn. Es duftet nach Kaffee, heißer Butter und Pancakes: herrlich.
»Ich hätte nicht mit offenen Fenstern schlafen sollen«, erklärt Norah. »Mein ganzes Zimmer stinkt nach Jasmin.«
Ich will ihr gerade anbieten, doch einfach bei mir zu schlafen – wir könnten lange wach bleiben, über Nicholas und ihr gebrochenes Herz plaudern, Sternschnuppen zählen oder zum Hundertsten Mal Ein ganzes halbes Jahr gucken – doch Tante Minnie ist schneller.
»Jasmin?«
Das Wort klingt viel zu scharf.
»Der Gestank ist so penetrant, dass ich davon Kopfweh bekomme.« Norah schiebt sich nun doch ein Stück Pancake in den Mund.
Merkt sie denn nicht, wie angespannt Grandma, Tante Minnie und ihre Mutter plötzlich sind? Hat sie die Blicke nicht gesehen, die die drei gewechselt haben?
»Was ist los?«, fragt Tyler. Ihm ist es nicht entgangen.
»Nichts«, behauptet Grandma und lügt dabei so schlecht wie Norah eben.
Jasmin, überlege ich. Warum versetzt sie der Duft von Jasmin in Alarmbereitschaft?
Und was ist mit dem Haus heute los?
Silvercrest Manor gehört den Winslows, seit meine Urahnin Florence vor hundertfünfzig Jahren auf die Insel kam. Sie erwarb es von einem New Yorker Großindustriellen namens Percival McSweeney, der es in den 1860er-Jahren erbauen ließ, als Carter’s Island noch kaum besiedelt war. Unseres Wissens floss in seinen Adern keine Unze Magie. Warum er es nicht behalten wollte und er es ausgerechnet meiner Urahnin verkauft hat, darüber erzählt man sich hier unterschiedliche Geschichten.
Es wird behauptet, Florence habe mit blutroten Rubinen dafür bezahlt. Oder mit ihrer Unschuld, wie man das damals wohl nannte. Andere erzählen, McSweeney habe einen Fluch von ihr verlangt.
Ehrlich gesagt glaube ich, dass keine dieser Geschichten stimmt. Ja, wir Winslows sind Hexen, aber weder sind wir reich, noch verfluchen wir Leute.
Und was die Jungfräulichkeit von Ururururgroßmutter Florence betrifft: Da die Einträge in der Familienchronik beweisen, dass sie bereits eine Tochter hatte, als sie auf die Insel kam, halte ich auch dieses Gerücht für haltlos. Seltsam ist es allerdings schon, dass in der Chronik nirgends vermerkt wurde, wie genau sie Silvercrest Manor von Mr. McSweeney erworben hat. Und dass dieser kurz nach der Übereignung spurlos verschwand, gießt seit über einem Jahrhundert ordentlich Öl ins Feuer derjenigen, die unsere Familie brennen sehen wollen. Die McSweeneys geben uns jedenfalls die Schuld am Verschwinden ihres Patriarchen – und deshalb gibt es bereits seit hundertfünfzig Jahren böses Blut zwischen uns, eine Art Blutfehde, die sich mittlerweile zu einem kalten Krieg entwickelt hat.
Zurück zu Silvercrest Manor: Als gesichert erscheint mir, dass das Haus erst durch den Einzug der Familie seinen, nun, nennen wir es »Charakter«, entwickelt hat. Auf dem uralten Foto vom Grundstück, das in Ebenholz gerahmt im Flur hängt, besitzt Silvercrest Manor deutlich weniger Giebel und Schornsteine und sieht auch allgemein etwas gewöhnlicher aus.
Das ist allerdings nicht das einzig Exzentrische an unserem Anwesen, und ich spreche nicht von den Launen des Hauses. Wir Winslows lieben es farbenfroh, ja mitunter sogar schreiend bunt. Von außen ist Silvercrest Manor ein dreistöckiges Haus mit zahlreichen Giebeln, schrägen Dächern und zu vielen Schornsteinen. Die Fensterrahmen und Türen sind weiß gestrichen und über die Fassaden klettern üppiger Efeu und ein Blauregen, der dank Tante Minnie mehr als doppelt so lange blüht wie normaler Blauregen.
So weit, so idyllisch.
Sobald man jedoch ins Innere tritt, drängt sich einem das Gefühl auf, einer von Tante Minnies viel gerühmten Obstkörben sei explodiert und die Früchte hätten ihre Farben an die Wände abgegeben. Das fängt bereits im Flur an: Die Innenseite der Haustür ist violett lackiert, die Treppe in die oberen Stockwerke indigofarben und die Flurwände erstrahlen seit letztem März in einem warmen Olivgrün, was sich eigentlich mit Tante Minnies unzähligen Zimmerpflanzen beißen sollte, es aber seltsamerweise nicht tut.
In Grandmas Schlafzimmer herrscht Sonnengelb vor, im unteren Badezimmer Blassrosa und Weiß. Und das ist nur das Erdgeschoss.
Tante Minnie sagt, in den späten Sechzigern habe Silvercrest Manor eine Weile grellgelbe Schindeln getragen und einen avocadogrünen Anstrich gehabt, und sie sei sehr froh, dass es jetzt wieder auf Weiß setze, weil sich das besser mit dem Blauregen und dem Efeu vertrage. Auch die restlichen Zimmer haben sich im Laufe der Jahre verändert, ganz den Bedürfnissen seiner Bewohner entsprechend. Das Haus sorgt für uns. Aktuell jedenfalls scheint es sich um Norah zu sorgen, denn als wir zu Schule aufbrechen wollen, verschließt es erneut alle Türen.
»So was aber auch«, brummt Grandma. »Vielleicht solltest du doch zu Hause bleiben. Rissa, siehst du was?«
Ich horche in mich hinein, aber abgesehen davon, dass Norahs Verfassung und das Verhalten des Hauses ein mulmiges Gefühl in mir auslösen, spüre ich nichts.
Als ich den Kopf schüttle, wirft Norah den anderen einen vielsagenden Blick zu. »Na also. Alles gut. Kann ich nicht einfach mal einen Tag schlechte Laune haben? Und Silvercrest Manor genauso?«
Grandma wirkt nicht überzeugt, aber nach einem kurzen Zögern lässt sie uns gehen. Nachdem ich die Haustür freundlich bitte, lässt sie sich auch tatsächlich öffnen.
»Geht es dir wirklich gut?«, frage ich Norah, als wir das Gartentor hinter uns geschlossen haben und die Strawberry Lane hinuntergehen. »Oder willst du nur nicht die Strandparty verpassen?« Die ist für den Abend geplant und Norah redet seit einer Woche von nichts anderem. Dafür lässt sie sogar ihre Liebesromane im Schrank.
Doch sie zuckt nur mit den Schultern. »Geht schon.«
Ich hebe eine Augenbraue. »Es ist Nicholas, oder? Was hat der Arsch jetzt schon wieder gemacht? Ich schwöre dir, wenn er heute auch nur ein Wort …«
»Lass gut sein.« Sie stöhnt und kneift die Augen zu. Mit Daumen und Zeigefinger massiert sie sich die Nasenwurzel.
»Norah«, dränge ich sie.
»Marissa«, antwortet sie im gleichen Tonfall und ich weiß, dass ich das Thema fallen lassen muss. Wenn sie so drauf ist, brauche ich nicht mit ihr zu diskutieren.
Schweigend gehen wir die Straße hinunter. Mr. Beaty sitzt auf der Bank in seinem Vorgarten und putzt wieder einmal seine Angeln – seine Lieblingsbeschäftigung. Im Gegensatz zu den meisten Inselbewohnern hat er keine Angst, in der Nähe »der Hexen« zu leben. Bevor er in den Ruhestand gegangen ist, war er Fischer, und als wir noch klein waren, hat er uns öfter mit hinaus aufs Meer genommen. Jetzt verbringt er die meiste Zeit mit seinem Cocker Spaniel im Garten. Chocolate bellt uns freudig zu, weicht aber nicht von der Seite seines Herrchens.
»Beeilt euch besser«, ruft der alte Herr uns zu. »Sonst verpasst ihr noch den Bus.«
Und tatsächlich, da taucht er auch schon am Fuß des Hügels auf.
»Mist«, entfährt es mir. Ich war doch so früh dran heute, wie kann es da bitte sein, dass wir uns schon wieder verspätet haben? Ich ruckle meinen Rucksack zurecht und nehme die Beine in die Hand. »Los«, rufe ich Norah über die Schulter zu.
Sie flucht, beginnt aber zu rennen.
Schon nach wenigen Schritten merke ich, dass wir es nicht schaffen werden. Der Bus blinkt bereits und fährt an. Ich überlege nur einen Augenblick, dann strecke ich die linke Hand aus und knüpfe einen Zauber. Die Ampel springt auf Rot und der Bus legt eine scharfe Bremsung hin.
Hui! Das Blut schießt mir ins Gesicht, als ich sehe, dass er nur einen Fußbreit vor der Kreuzung zum Halten kommt.
»Das war knapp«, keucht Norah.
Die Tür öffnet sich und der Fahrer wirft uns einen misstrauischen Blick zu. Er ahnt vermutlich, dass eine von uns für die Ampel verantwortlich ist, aber Hekate sei Dank fragt er nicht nach. »Rein mit euch«, brummt er nur und Norah und ich verziehen uns auf zwei freie Plätze in der vorletzten Reihe.
Norah greift nach ihrer Wasserflasche und der Bus setzt sich ruckelnd in Bewegung. Als wir in die Lavendar Road einbiegen, fällt mein Blick auf das verlassene Grundstück mit dem verwilderten Garten, das früher Mrs. Throndsen gehört hat. Dort haben wir oft als Kinder gespielt, bis unsere Eltern es verboten haben. Das Haus ist schon lange unbewohnt und gilt als einsturzgefährdet. Ich liebe den Anblick der schlanken Birken, die sich hinter dem Eisenzaun aufreihen wie Soldaten. Sie sind uralt und ihre Stämme sind fast vollständig von Efeu umschlungen. Sie …
Ich erstarre.
Zwischen den grünen Blättern bewegt sich etwas. Nein, nicht etwas: jemand! Ich sehe eine dunkle Gestalt, kaum mehr als ein Schemen, und auf einmal wird mir eiskalt, weil ich mir sicher bin, dass, wer auch immer dort steht, mich direkt anstarrt.
Ich beuge mich vor, doch da ist die Gestalt weg. Ist sie verschwunden, hinter die efeuumrankten Bäume zurückgetreten? Oder war sie nie da? Habe ich sie mir eingebildet? Hat meine Sehergabe mir eine Vision geschickt?
Die Eiseskälte will nicht verschwinden.
»Norah …«, sage ich und greife nach ihrem Arm.
»Hast du ein Taschentuch?«, fragt sie, und als ich mich zu ihr umdrehe, sehe ich, wie sie sich die Hand vor die Nase hält. Blut quillt zwischen ihren Fingern hervor.
»Mist!« Ich zerre am Reißverschluss meines Rucksacks und suche die Taschentücher.
Der junge Mann, der vor uns sitzt, ist schneller. Er reicht meiner Cousine ein Päckchen.
»Danke«, sage ich, weil Norah genug damit zu tun hat, den Kopf in den Nacken zu legen und die Blutung zu stoppen. »Sicher, dass es eine gute Idee ist, heute zur Schule zu gehen?«
»Es ist nur Nasenbluten, Rissa«, sagt sie.
Und zu diesem Zeitpunkt glaube ich ihr das natürlich auch noch.
Die Honeyhill High liegt auf der anderen Seite der Stadt, auf der Kuppe eines Hügels, von dem aus man den hellen Sandstrand in der Ferne sehen kann, wie er sich endlos am Horizont entlangzieht. Direkt unterhalb der Schule schmiegt sich ein kleiner Park an den Hang, dessen Bäume an Spätsommertagen wie heute willkommenen Schatten spenden. Der Bus hält am Fuß des Hügels und wir machen uns auf den Weg durch den Park. Trotz des milden Wetters läuft Norah der Schweiß übers Gesicht. Sie muss sich regelrecht nach oben quälen, doch als ich ihr den Arm anbiete, um sie etwas zu stützen, bügelt sie mich mit einem knappen »Geht schon« ab. Immer wieder schiele ich zu ihr hinüber. Ihr Zustand gefällt mir gar nicht und ich muss meine Finger ständig zu Fäusten ballen und wieder lösen, um mich zurückzuhalten und nichts zu sagen. Mein Magen zieht sich trotzdem beunruhigt zusammen. Ich entspanne mich erst etwas, als Ifedayo, eine Freundin von Norah, auf dem Schülerparkplatz direkt vor der Highschool zu uns stößt und die beiden sich recht normal miteinander unterhalten.
Der Gebäudekomplex der Schule selbst ist in einer Art Retro-Renaissancestil errichtet: weiße Säulen wie von einem griechischen Tempel, reich verzierte Fassaden mit filigranen Ornamenten und große Bogenfenster, die das Sonnenlicht in die hohen Räume fluten lassen. In den Innenhöfen plätschern Brunnen. Ich nehme an, das Ganze könnte man auch retrohellenistisch nennen.
»Hast du die Bio-Hausaufgaben gemacht?«, fragt Ife und Norah nickt. Als ob meine Cousine auch nur ein einziges Mal ohne Hausaufgaben in die Schule kommen würde. Ganz im Gegensatz zu mir. Meist habe ich die nur fertig, wenn ich am Vortag zum Nachsitzen verdonnert wurde. Deshalb hänge ich auch meinen eigenen Gedanken nach und bekomme erst mit, dass die beiden das Thema gewechselt haben, als ich zum zweiten Mal an diesem Morgen den Namen Rosenbaum aufschnappe.
»Ich weiß, ihr mögt Caleb Rosenbaum nicht«, sagt Ife gerade. »Aber irgendwie tut er mir leid.«
»Wir mögen nicht ihn nicht«, korrigiert Norah sie.
»Dann eben seine Familie.«
»Und wieso tut er dir leid?«, mische ich mich ins Gespräch ein und folge ihrem Blick. Caleb Rosenbaum steht neben dem Springbrunnen mit der Triton-Statue und unterhält sich mit Melinda Anderson. Ausgerechnet. Als Winslow mag mich meine Familienehre dazu verpflichten, Caleb Rosenbaum zu verachten. Melinda kann ich aber allein deshalb nicht leiden, weil sie eine arrogante Zicke ist. In der vierten Klasse hat sie behauptet, ich würde bei den Tests schummeln und meine Noten wären nur deshalb so gut, weil ich meine Kräfte einsetzen würde. Was nicht gestimmt hat – auch wenn ich versucht gewesen sein mag. Und, nein, ich bin nicht nachtragend, aber Melinda schafft es regelmäßig, ihr Umfeld daran zu erinnern, was für ein Kotzbrocken sie ist. Auch wenn sie es in Momenten wie diesen, wenn sie einem hübschen Jungen gegenübersteht, gut kaschieren kann.
»Melinda schmeißt sich ganz schön an ihn ran«, sagt auch Norah.
Ife schnaubt. »Sie glaubt wohl, freie Bahn zu haben, weil sich Monroe und er getrennt haben.«
»Haben sie?«
Ich hebe eine Augenbraue. »Das habe ja sogar ich mitbekommen.« Nicht dass ich ein großer Jade-Monroe-Fan wäre, aber ihr Video über die Trennung von Caleb und ihre neue Beziehung mit Hollywood-Superstar Oscar Vasques wurde selbst mir ein gutes Dutzend Mal in die Timeline gespült.
»Melinda interessiert sich nur für ihn, weil er der einzige Junge in unserer Stufe ist, den wir nicht seit dem Kindergarten kennen«, schmollt Ife.
»Hast du auch ein Auge auf ihn geworfen?«, frage ich neugierig.
Doch sie winkt ab. »Die ganze Aufregung um ihn macht ihn interessant, aber das bedeutet nicht, dass ich auf ihn stehe.«
So etwas wie Erleichterung breitet sich in meinem Magen aus. Möglichst unauffällig blicke ich zum Springbrunnen – genau in dem Moment, in dem Caleb in unsere Richtung schaut. Täusche ich mich, oder verziehen sich seine Lippen zu einem Lächeln?
Ausgerechnet jetzt raunt Melinda ihm etwas ins Ohr. Er lacht laut los und ich wende schnell den Blick ab.
»Er scheint jedenfalls nichts gegen ihre Aufmerksamkeit zu haben«, sage ich spitz. »Ist halt auch nur …«
»… ein Mann?«
»Ein oberflächlicher Schönling.«
Ife schüttelt den Kopf. »Er ist eigentlich ganz nett. Wisst ihr …«
Doch was sie sagen will, erfahren wir nicht, weil in diesem Augenblick eine prall gefüllte Wasserbombe direkt an ihrem Kopf zerplatzt. Kalte Flüssigkeit spritzt in alle Richtungen und trifft auch mich. Während Norah wütend aufschreit und Ife erschrocken nach Luft schnappt, höre ich das schadenfrohe Lachen eines grenzdebilen Unterstuflers, der auf seinem Skateboard an uns vorbeirauscht. So ein Teufel!
Ehe ich darüber nachdenken kann, benutze ich meine Kräfte. Das Skateboard löst sich unter seinen Füßen in Luft auf. Es verschwindet nicht wirklich, ich habe es nur für ein paar Sekunden in die Abstellkammer von Silvercrest Manor geschickt. Das gehässige Lachen des Fieslings verstummt, als er der Länge nach über den Asphalt schrappt.
»Fuck«, hören wir ihn brüllen. Dann kracht das Skateboard auf seinen Rücken.
Caleb Rosenbaum geht zu ihm und hilft ihm auf die Füße. »Geht’s dir gut?«, fragt er, doch was der kleine Mistkerl antwortet, bekomme ich nicht mehr mit. Jemand tippt mir auf die Schulter. Als ich mich umdrehe, steht Mr. Mancini vor mir, mein Sportlehrer.
»Miss Winslow«, sagt er eisig. »Was hatten wir bezüglich Hexerei an der Schule besprochen?«
Benji, Norah und ich treffen uns in der Mittagspause immer im hinteren Teil der Cafeteria. Dank seines leuchtend blauen Haarschopfs entdecke ich ihn bereits, als er den Raum betritt und sich durch die Masse an Schülerinnen und Schülern auf mich zuschiebt.
»Ist es wahr, dass Mr. Mancini dich zum Nachsitzen verdonnert hat?«, fragt er, als er bei mir ankommt.
»Das hat sich ja schnell herumgesprochen.« Leicht angesäuert beiße ich von einer der Karotten ab, die Tante Minnie mir in die Lunchbox gepackt hat.
Benji schnappt sich ebenfalls eine. »Eine Stunde Nachsitzen, und das schon in der ersten Woche des neuen Schuljahrs. Kompliment, Cousinchen.«
»Es hat wohl nicht geholfen, dass ich im letzten gefühlt kein einziges Mal pünktlich beim Sportunterricht war.«
Benji stibitzt sich eine weitere Möhre.
»Lass das«, warne ich ihn. »Das ist mein Mittagessen.«
»Wie herzlos du bist.«
»Ja. Und weil ich so herzlos bin, hab ich dir deine Lunchbox mitgebracht.«
Als ich seine blaue Plastikbox aus meinem Rucksack hole, die er tatsächlich noch mit Superhelden-Stickern beklebt hat, als wäre er ein Elfjähriger, strahlt er übers ganze Gesicht. »Habe ich heute schon erwähnt, dass du meine Lieblingscousine bist?«
»Als ob Tante Minnie uns ohne dein Mittagessen aus dem Haus gelassen hätte.«
Er will sich die Dose schnappen, doch ich halte sie außerhalb seiner Reichweite. »Erst will ich wissen, warum du gestern nicht nach Hause gekommen bist.«
Er reißt die Augen auf. »Marissa Winslow!«
»Tu nicht so schüchtern.«
Eine Karotte schwebt auf ihn zu.
»Ach«, sage ich mit gesenkter Stimme. »Ich werde zum Nachsitzen verdonnert, aber du darfst in der Schule hexen?«
Benji wackelt mit den Augenbrauen. »Du darfst dich einfach nicht erwischen lassen, dann ist vieles möglich.« Er schielt nach rechts, wo die Mitglieder der Footballmannschaft sitzen. »Gilt übrigens in jeglicher Lebenslage.«
Am Tisch drüben dreht Rodrigo Gonzales, der Captain der Honeyhill Tigers, den Kopf in unsere Richtung. Als er mich neben Benji sieht, senkt er ihn jedoch schnell wieder.
Vor Überraschung lasse ich die Lunchbox fallen. »Nicht dein Ernst! Mister Macho?«
Benji legt Daumen und Zeigefinger zusammen und fährt damit über seine Lippen, als wolle er einen Reißverschluss zuziehen.
»Du bist unmöglich.«
Er öffnet seine Lunchbox und greift nach dem Käse-Tomaten-Sandwich, das Tante Minnie ihm gemacht hat – und das inzwischen völlig labberig sein müsste, es aber allen Naturgesetzen zum Trotz nicht ist.
»Wo bleibt denn Norah?«, frage ich, während ich mich wieder meinen Karotten widme. Wenn sie noch länger trödelt, ist die Pause bald um.
Benji, der gerade vom Sandwich abbeißen will, verharrt in der Bewegung. »Wie? Das weißt du nicht?«
Ein seltsames Gefühl macht sich in meinem Magen breit. »Was weiß ich nicht?«
»Na, sie ist daheim.« Benji klingt ganz unbekümmert. »Nach der zweiten Stunde. Ife hat sie gefahren.«
Plötzlich fühlt sich mein ganzer Körper so an, als ob ihn eine Horde Ameise überfallen hätte. »Wieso?«
Er legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt sanft zu. »Nichts Wildes, Rissa. Himmel, bist du bleich. Entspann dich. Sie hatte nur …«
»Nasenbluten?« Auf meinen Armen bildet sich eine Gänsehaut.
Jetzt verliert Benji etwas von seiner Sicherheit. »Was ist los? Hast du etwas gesehen?«
Wir Winslows haben alle je eine Hexenkraft, die besonders stark ausgeprägt ist. Bei Norah und Tante Minnie ist es die Pflanzenmagie. Grandma Dianne ist eine Herdhexe, Tante Natasha auch. Welche Kräfte Tyler einmal erben wird, wissen wir noch nicht, denn unsere Fähigkeiten zeigen sich meist erst mit dem Einsetzen der Pubertät. Mom und Benji sind Elementarhexen, wobei Mom Wind und Erde kontrollieren kann, während mein Cousin – und das ist selten – alle vier Elemente beherrscht. Dad und Onkel Doug haben in die Familie eingeheiratet und sind keine Hexer. Und ich, na ja, ich bin das, was man gemeinhin eine Seherin nennt. Ihr wisst schon: Manchmal bekomme ich Visionen oder prophetische Träume. Sie sagen mal mehr, mal weniger klar die Zukunft voraus, weil die Zeit etwas ist, das ständig fließt, und selbst geringe Entscheidungen unser Schicksal verändern.Meine Gabe erlaubt es mir außerdem, mit den richtigen Mitteln einen Blick in die Vergangenheit zu werfen oder an einen anderen Ort, selbst wenn ich dort noch nie war. Da ich dafür mit Kopfschmerzen aus der Hölle bezahle, mache ich das nur äußerst selten und fast nie zum Spaß. Zumal ich diese Kräfte noch nicht wirklich steuern kann.In der Familie gibt es sonst niemanden mit diesem Talent, der mich unterrichten könnte.Vieles ist also reines Herumexperimentieren.Als das Haus Dads Schlüssel versteckt hat, habe ich versucht, ihn mit meiner Magie aufzuspüren – aber statt herauszufinden, wo der verdammte Schlüssel ist, habe ich in einer Vision gesehen, dass meine Eltern noch ein sehr lebendiges Sexleben pflegen. Es war zwar nur eine Sekunde – aber glaubt mir, das hat gereicht.
Wenn große Dinge bevorstehen, bekomme ich oft Stunden oder Tage vorher ein ganz flaues Gefühl in meinem Magen. Je schlimmer das zu erwartende Ereignis, desto heftiger die Symptome. So auch jetzt. Ich will es abstreifen, das ungute Gefühl, das mich überkommt, wenn ich an Norah denke, aber …
»… gesehen habe ich nichts.« Ich blicke Benji direkt in die Augen. »Norah sagt, ihr Zimmer stinke nach Jasmin. Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?«
»Dass sie ihr Fenster nachts besser schließen sollte?«
»Ich meine es ernst, Benjamin. Auf unserem ganzen Grundstück wächst kein Jasmin. Und Grandma und Tante Minnie wirkten besorgt. Und deine Mutter auch.«
»Davon hat Norah nichts gesagt. Sie hat mir nur geschrieben, dass sie sich jetzt ausruht. Sie hat sich gestern Abend mit Tante Minnie im Garten etwas überanstrengt.«
»Aber davon war heute beim Frühstück überhaupt nicht die Rede!«, protestiere ich. Norah hat Tante Minnie gestern zwar wirklich mit dem Efeu geholfen, aber das machen die beiden regelmäßig und es war noch nie ein Problem.
»Ich sollte zu ihr«, murmle ich.
Benji greift nach seinem Sandwich. »Du kannst nicht gehen«, sagt er. »Du hast noch eine Verabredung mit Mrs. Birch.«
Ich stöhne genervt. Das Nachsitzen hatte ich schon ganz vergessen. Wunderbar.
In der Honeyhill High wird das so gehandhabt: Egal, wer es einem aufgebrummt hat, das Nachsitzen selbst betreut stets Mrs. Birch. Sie ist mindestens hundert Jahre alt und genau so lange zieht sie diese Nummer auch schon durch. Seit ich an der Schule bin, war sie noch keinen einzigen Tag krank, und wenn ich nicht genau wüsste, dass man vom Aussehen her nicht auf magische Kräfte schließen kann, würde ich sagen, sie sieht aus wie eine Hexe. Oder wie sich Kinderbuchautoren und Märchenerzähler Hexen vorstellen: Spitze Nase, ein durchdringender Blick, bei jedem Wetter trägt sie langärmelige, altmodische Blusen mit Spitzenkragen und ihre Lippen hat sie immer so fest zusammengepresst, dass ihr Mund nur ein schmaler Strich in ihrem Gesicht ist.
»Lucinda Birch ist eine Schreckschraube, aber gewiss keine Hexe«, sagt Grandma jedes Mal, wenn ich vom Nachsitzen komme. Sie kennt die Lehrerin noch aus der Zeit, als sie selbst an der Honeyhill High unterrichtet hat. Hauswirtschaft und Chemie – was auch sonst?
Damals wie heute scheint es nichts zu geben, das Mrs. Birch mehr Freude bereitet, als auffällig gewordene Schülerinnen und Schüler beim Nachsitzen zu beaufsichtigen. Was die Sache noch schlimmer macht: Jede dieser Stunden läuft gleich ab. Sie platziert uns auf unnötig harten Holzstühlen an winzigen Pulten, die ungefähr im Abstand von einer Armlänge voneinander entfernt stehen, Sprechen ist verboten und sämtliche elektronischen Geräte sind zu Beginn der Stunde bei ihr abzugeben. Selbst die Taschenrechner, was für diejenigen richtig blöd ist, die Mathe- oder Physikaufgaben erledigen müssen (und nicht über Hexenkräfte verfügen). Zu allem Überfluss besitzt der Nachsitzraum eine gläserne Außenwand, durch die wir direkt hinunter auf den Honeyhill Park gucken können, wo Picknickdecken ausgebreitet werden, Musik gehört und Eis gegessen wird.
Das Einzige, was die Aussicht, eine Stunde in diesem Glasgefängnis zu verbringen, erträglich macht, ist die Tatsache, dass ich es für gewöhnlich schaffe, dort meine Hausaufgaben zu erledigen.
Als ich heute zum Nachsitzraum gehe, glaube ich deshalb, dass das Schlimmste, was mich erwartet, ihr penetrantes Rosenparfüm ist. Auf den Anblick des Schülers in der ersten Reihe bin ich allerdings nicht vorbereitet.
»Nur herein, Miss Winslow«, bellt mich Mrs. Birch von der gegenüberliegenden Seite des Raums aus an. Sie hat das Kinn gehoben und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Und schließen Sie bitte die Tür hinter sich. Und Ihren Mund.«
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich Caleb Rosenbaum regelrecht anstarre. Die anderen – zwei Schüler und eine Schülerin, die ich nur vom Sehen kenne – blicken mild neugierig in meine Richtung. Ich räuspere mich und betrete das Zimmer. Als ich mich – wider besseren Wissen – an ein Pult in der dritten Reihe setzen will, winkt mich Mrs. Birch nach vorne.
»Ihr Smartphone, bitte«, verlangt sie streng. »Und nicht so schüchtern. In der ersten Reihe ist noch Platz.« Sie deutet auf das Pult direkt neben Caleb.
»Was machst du denn hier?«, flüstere ich, kaum dass ich neben ihn sitze.
Er blickt mich mit gerunzelter Stirn an. »Nachsitzen?«
Mrs. Birch räuspert sich vernehmlich. »Wir wollen doch heute nicht länger als nötig bleiben. Nicht wahr?« Ich wette, sie genießt das regelrecht. »Konzentrieren Sie sich auf Ihre Aufgaben. Wenn ich nicht irre, benötigen Sie dazu Ihren Kopf und Ihre Hände, nicht aber Ihren Mund.«
»Mein Mund befindet sich an meinem Kopf«, höre ich einen der Schüler hinter uns flüstern.
»Haben Sie etwas zu sagen?«, fragt Mrs. Birch scharf.
Der Schüler schweigt.
Ich tue es ihm gleich und ziehe meinen Spiralblock und das Deutsch-Arbeitsblatt aus meinem Rucksack: Linus und Lena unternehmen eine Reise mit dem Zug.
Als ich mich für eine Fremdsprache entscheiden musste, kam mir Deutsch sinnvoll vor, weil Deutschland, Österreich und die Schweiz einen so reichen Sagenschatz besitzen und es viele überlieferte Hexengeschichten gibt. Ich dachte, das würde mir später helfen, sollte ich wie meine Mutter in die Forschung gehen. Inzwischen frage ich mich allerdings, was es mir bringt, wenn ich weiß, wie Linus und Lena auf ihrer Fahrt von Hamburg nach München mit dem Zugbegleiter Small Talk halten oder wie man einen Sauerbraten bestellt. Gibt es so etwas überhaupt in Boardrestaurants?
Kurz überlege ich, ob ich mich statt mit den Deutsch-Hausaufgaben mit den Notizen zu meiner Ahnin Elizabeth Winslow beschäftigen soll – mein persönliches außerschulisches Forschungsprojekt –, doch stattdessen erwische ich mich dabei, wie ich Caleb Rosenbaum anstarre. Ife hat leider recht. Schlecht sieht er wirklich nicht aus. Markante Wangenknochen und ein leicht kantiges Kinn. Während er sich so über seinen Block beugt, fallen ihm die dunklen, leicht gewellten Haare in unordentlichen Strähnen ins Gesicht, was ihm einen nachdenklichen Ausdruck verleiht. Er trägt diesen seltsamen schmalen Armreif, ohne den man ihn nie sieht. Sein Bleistift kratzt über das karierte Papier, neben ihm liegen ein Geodreieck, ein Zirkel und ein Mathebuch. Die Zungenspitze hat er zwischen die Zähne gesteckt, so sehr konzentriert er sich. Erledigt er seine Mathe-Hausaufgaben etwa ohne Taschenrechner? Das ist ja fast noch seltsamer, als dass er hier gelandet ist.
Ich recke den Kopf, um zu sehen, was genau er da rechnet, doch just in diesem Moment blickt er auf und schaut zu mir – direkt in meine Augen.
Ich erstarre. Caleb Rosenbaum zögert, dann verziehen sich seine Lippen zu einem kurzen Lächeln, ehe er sich wieder auf seine Hausaufgaben konzentriert.
Ich komme mir ertappt vor.
Während ich mir noch darüber Gedanken mache, was er wohl von mir denken mag, sehe ich, wie er den Kopf dreht – und mich erneut beim Starren erwischt. Wie dunkel seine Augen sind. Fast so dunkel wie seine Haare. Und sie besitzen eine Intensität, die schwer zu ertragen ist. Als ob er mit ihnen bis auf den Grund meiner Seele blicken könnte.
Meine Wangen werden heiß und ich wende mich rasch ab. Was für ein bescheuerter Gedanke. Peinlich ist das!
Entschlossen konzentriere mich auf Linus und Lena. Oder versuche es zumindest.
Warum grinst Caleb Rosenbaum mich so blöd an?
Er denkt doch nicht etwa, ich beobachte ihn, weil er mir gefällt? Ich meine, er weiß, dass ich eine Winslow bin und er ein McSweeney. Und warum, bei Hekate, ist er überhaupt hier? Caleb Rosenbaum ist ein Musterschüler. Er sitzt niemals nach.
Andererseits, was weiß ich schon über ihn?
Als sich unsere Blicke ein drittes Mal kreuzen, zwinkert er mir zu. Ich halte das nicht mehr aus. Ehe ich es mir anders überlegen kann, bewege ich meine Finger unter dem Pult. Ein lautes Klatschen unterbricht die konzentrierte Stille im Raum, gefolgt von einem leiseren Knirschen.
Zwei Schüler geben einen erschrockenen Laut von sich, alle Köpfe drehen sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist: die Glasfassade. Zerbrochene Eierschalen kleben an der Außenscheibe, zähflüssiger Eidotter rinnt an ihr herunter.
»Was zum …«, entschlüpft es Mrs. Birch, da klatscht es ein weiteres Mal. Und noch mal. Immer mehr Eier prallen gegen die Scheibe und verspritzen ihre glibberige Masse.
»Das ist ja unerhört!« Mrs. Birch läuft zum Fenster und blickt nach unten.
Da alle gerade abgelenkt sind, nutze ich die Gelegenheit und bewege meine Finger unter dem Pult. Das nächste Ei klatscht so fest gegen die Scheibe, dass es sie zum Vibrieren bringt.
Mrs. Birch zittert vor Wut. »So eine Unverschämtheit! Ihr bleibt hier und erledigt eure Aufgaben.« Ohne unsere Antwort abzuwarten, stürmt sie aus dem Klassenzimmer, zweifellos um die Missetäter zu stellen, die von unten aus ihren Angriff auf ihr heiliges Nachsitzzimmer gestartet haben.
Nur dass sie niemanden finden wird.
Kaum hören wir ihre klappernden Schritte auf der Treppe, steht die Hälfte der Nachsitzenden auf und läuft zur Außenwand, um sich das Spektakel anzusehen.
Ich beschließe, keine Zeit zu verlieren, und drehe mich demonstrativ zu Caleb. »Was machst du hier?«
Wieder grinst er. Was soll das denn?
»Nachsitzen«, sagte er gedehnt.
»Ha, ha!«, antwortete ich. »Ich meine: ernsthaft.«
»Ernsthaft. Ich sitze nach.«
»Ach ja? Und warum?«
Er lehnt sich im Stuhl zurück und verschränkt die Arme. »Warum willst du das wissen?«
Ich verdrehe die Augen. »Weißt du, was? Es ist mir egal!«
Ist es natürlich nicht. Schließlich hätte ich sonst keine Eier heraufbeschworen, um Mrs. Birch für eine Weile loszuwerden. Aber das kann ich unmöglich zugeben. Das verbietet mir mein Stolz.Also starre ich betont desinteressiert auf mein Arbeitsblatt.
Linus und Lena müssen umsteigen.
»Wie hast du das mit dem Skateboard gemacht?«, fragt Caleb da.
Genervt hebe ich eine Augenbraue.
»Ich meine«, fährt er fort, »in einem Augenblick war es da, und dann war es verschwunden. Und dann wieder da.«
Ich blicke ihn bloß schweigend an. Alle in der Honeyhill High wissen, dass ich eine Hexe bin. Und einer Familie von Hexen entstamme. Vermutlich schwant Mrs. Birch längst, dass ich für die kleine Ablenkung an der Fensterscheibe verantwortlich bin.
»Jetzt sag schon«, drängt Caleb und ich seufze tief.
»Jahrelanges Training, eine Menge Rituale bei Nacht – mit viel Krötenschleim und Eidechsenschwänzen.«
Er reißt die Augen auf. »Wirklich?« Seine Stimme klingt einen Tick zu hoch – irgendwie süß; ich muss schmunzeln.
Schnell räuspere ich mich. »Ist es nicht das, was deine Familie von uns denkt?«
Wir liefern uns einen kleinen Starr-Wettkampf. Keiner von uns beiden ist bereit, als Erstes wegzusehen.
»Das mit den Eiern, warst du das?«, fragt das Mädchen, das mit uns nachsitzen muss, und spaziert zu ihrem Pult zurück. Hat sie uns belauscht? Nicht cool. Will ich, dass sich die Sache hier in der Schule herumspricht? Das könnte mittelfristig recht unangenehme Konsequenzen haben. Aber noch ehe ich dazu komme, alles abzustreiten, verselbstständigt sich die Situation.
»Hammer, Winslow!«, ruft der Junge, den Mrs. Birch vorhin ermahnt hat. »Die Birch steht immer noch unten und sucht den Übeltäter.«
Die anderen beginnen zu lachen.
Bis auf Caleb Rosenbaum. Der hat wieder die Zunge zwischen den Zähnen und notiert mit seinem Bleistift Zahlenreihen auf dem Papier. Streber.
Das Mädchen stellt sich neben mich. »Kennst du nicht auch einen Hexspruch, mit dem du die Zeit manipulieren kannst? Also so, dass sie schneller vergeht? Ich habe echt keine Lust mehr, hier weiter abzuhängen, ich will endlich auf die Party am Strand.«
»Ähm«, antworte ich.
»Kommst du heute Abend auch?«, fragt Caleb da.
Ich verdrehe die Augen. »Eher nicht.«
»Warum nicht?«
»Ist einfach nicht mein Ding.«
Und seins doch eigentlich auch nicht, zumindest sieht er nicht so aus, als würde er viel Zeit im Freien verbringen. Er ist eher der Typ, der in Buchhandlungen abhängt, sich in einen Wälzer vertieft und darüber die Zeit vergisst. Ironischerweise könnte ich ihn mir extrem gut in unserer Bibliothek auf Silvercrest Manor vorstellen, wie er auf dem Samtsofa unterm Fenster sitzt und …
»Keine Lust auf ein bisschen Spaß?«, raunt er mir da zu und reißt mich damit aus meiner Tagträumerei.
Ich recke das Kinn. »Sich unter lautem Gegröle volllaufen lassen? Ist nicht unbedingt meine Vorstellung von Spaß.«
»Wieso glaubst du, dass es nur darum geht?«
»Weil ich, im Gegensatz zu dir, schon mein ganzes Leben auf Carter’s Island lebe.«
»Und trotzdem habe ich dich noch nie auf einer Strandparty gesehen. Glaub mir, es geht um mehr als um Alkohol.«
»Entschuldige, ich habe natürlich die schlechte Musik und den Müll vergessen, der danach überall am Strand liegt.«
Caleb schüttelt den Kopf. »Mein Gott, bist du zynisch.«
»Warst du schon mal nach so einer Party am Strand?«
»Ich frag mich gerade tatsächlich, ob du das schon warst. Das hier ist eines der schönsten Fleckchen auf der ganzen weiten Erde. Ihr wisst, glaube ich, alle gar nicht, wie schön ihr es habt. Bist du noch nie in der Morgendämmerung am Strand aufgewacht?«
»Du meinst mit Sand in den Klamotten und völlig durchgefroren?« Jetzt übertreibe ich maßlos, denn natürlich habe ich schon am Strand übernachtet – und als Winslow muss man sich auch keine Sorgen über Sand in den Klamotten oder durchgefrorene Knochen machen. »Viel Spaß dir jedenfalls«, versuche ich, das Gespräch zu beenden. »Ich bin sicher, Melinda Anderson wird begeistert davon sein, dich dort zu sehen.«
Er öffnet den Mund, um zu antworten, doch in diesem Moment kommt Mrs. Birch zurück ins Zimmer. Sofort verstummen alle und tun so, als interessierten sie sich ausschließlich für ihre Hausaufgaben.
Mrs. Birch beäugt mich mit einem Basiliskenblick, während sie an uns vorbeistolziert, wirkt aber auch etwas außer Atem, weshalb uns ihre spitzen Kommentare erspart bleiben.
Ich konzentriere mich auf Linus und Lena. Aber immer wieder bringt mich etwas dazu, nach rechts zu Caleb zu schauen. Und fast jedes Mal erwische ich ihn dabei, dass er auch in meine Richtung blickt.
Als ich nach der Stunde aus dem Schulgebäude trete, sehe ich Benji im Schatten einer alten Linde sitzen. Er lehnt entspannt am Stamm, ignoriert allerdings das Comicheft auf seinem Schoß und blickt stattdessen zu Rodrigo Gonzales, der neben ihm steht und wild gestikuliert. Es sieht nicht so aus, als ob sie streiten würden. Eher das Gegenteil. Ihr Lachen hallt bis zu mir herüber.
Kurz überlege ich, ob ich noch einmal ins Gebäude verschwinden soll, damit sich die beiden ungestört unterhalten können. Aber ein Blick auf die Uhr erinnert mich daran, dass unser Bus in zwölf Minuten abfährt. Also schlage ich den Weg zur Linde ein.
Benji ist eineinhalb Jahre älter als ich, nächsten Monat wird er volljährig – zumindest was die Hexengemeinschaft betrifft. Mit achtzehn Jahren erhalten wir all unsere Rechte und Pflichten, dazu gehört, die eigene Fähigkeit bis zur Perfektion zu trainieren. Deshalb zieht er nächsten Sommer zu entfernten Verwandten nach Berkeley, zum einen, um seine Elementarkräfte ausbilden zu lassen, zum anderen, um dort auf das College zu gehen. Ich werde ihn vermissen. Ob er nach seinem Studium zurück auf die Insel kommt, weiß er noch nicht. Vielleicht ist seine anstehende Abreise der Grund dafür, dass er es in diesem Sommer darauf anzulegen scheint, so vielen Kerlen wie möglich den Kopf zu verdrehen.
»Stör ich?«, frage ich die beiden, als ich in Hörweite komme.
Rodrigo fährt erschrocken herum. »Nein, nein!«, beteuert er übertrieben vehement.
Benji stopft sein Comicheft in den Rucksack und steht auf. »Da bist du ja endlich. Dann können wir jetzt nach Hause?«
»Du tust gerade so, als hätte ich mich absichtlich verspätet.«
»Hab von der Aktion mit dem Skateboard gehört, Winslow«, sagt Rodrigo. »Krasse Sache.« Er nickt mir zu, dann hebt er die Hand und verschwindet. »Man sieht sich.«