Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming - Uwe Berger - E-Book

Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming E-Book

Uwe Berger

4,8

Beschreibung

Der Paul-Fleming-Roman von Uwe Berger (3 Auflagen: 1983, 1985, 1987) folgt dem historischen Optimismus, der 1975 in seinem Sonett „Nebel" ausgedrückt ist: „Kein Nebel hält das Denken auf." Paul Fleming bricht 1634 mit einer holsteinisch-gottorpischen Gesandtschaft nach Reval auf, um eine „moskovitische und persianische" Gesandtschaft anzutreten, nämlich die auf kaiserlichen Wunsch hin stattfindende Erkundung eines Landwegs für Handelsbeziehungen zum Osten. Psychischen Nebel zerteilend verlässt Fleming für fünf Jahre die Heimat, in der der Krieg wütet, die Pest haust, die Geliebte gestorben ist. Er begegnet den freien Kolonisatoren bei Nowgorod, trifft auf Esten, Russen, Nogaier, Dagestaner und Perser, fährt mit dem hölzernen Schiff auf der Wolga bis zur Kaspisee und muss Schiffbruch miterleiden. Gewalttätige Auseinandersetzungen mit usbekischen Gästen des Schahs in Isfahan bleiben ihm ebenso wenig erspart wie die ätzende Arroganz des zweiten Gesandten Brüggemann, der die Ziele der Gesandtschaft und auch diese selbst gefährdet. Dem Fremdenhass setzt Fleming seine poetische Gesinnung entgegen. Noch in Reval hatte er sich in Elsabe, die Tochter eines reichen deutschen Kaufmanns, verliebt, aber sie lehnte den Mann ohne Amt ab. In Astrachan wendet er sich Roxolane zu, wie er sie nennt, die aus den „Steppen des Ostens" stammt. Wieder in Reval gewinnt er das Herz seiner Anna. Um sich ihrer wert zu erweisen, bricht er, ohne sich von den Strapazen der großen Reise erholt zu haben, überstürzt auf, um in den Niederlanden einen medizinischen Titel zu erlangen. Auf dieser europäischen Reise stirbt Paul Fleming. Das Buch erschien erstmals 1983 beim Aufbau-Verlag Berlin.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 210

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Uwe Berger

Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming

ISBN 978-3-86394-473-5 (E-Book)

Lew Ginsburg gewidmet

Die Druckausgabe erschien 1983 beim Aufbau-Verlag Berlin und Weimar

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

1. Kapitel

Aber es gibt auch einen Sinn, den wir dem Leben geben können, indem wir Verhängtes annehmen und Gesetze beachten...

Am 28. Februar 1634 wurde der vierundzwanzigjährige Fleming mit einigem Begleitvolk und schwerem Gerät der Expedition vorausgeschickt, deren Aufbruch aus Narva sich verzögerte. Noch war die Schlittenbahn nach Nowgorod gut; doch befürchtete man bald Tauwetter und Morast. Fleming hatte gelernt, Pferd und Schütten zu lenken, ohne umzuwerfen, und betrachtete die Landschaft, die sie durchfuhren, Verschneite Talhänge am Eis des Flusses entlang. Dichte schwarze Fichtenwälder, weiß bedacht, und die kahlen, gefleckten Ruten der Birken mit den Klümpchen der Saatkrähennester.

Fleming spürte fast leibhaftig die Säfte in dem scheinbar toten Geäst, das, was blieb von der Zeit, wenn der Mensch nicht mehr war. Das Leben machte sich zum Aufbruch bereit. Zurück lagen die brennenden Häuser Leipzigs, die brüllenden Söldner des dänischen Grafen Holk, die für kaiserlichen Sold mordeten und brandschatzten, und die auf Karren fortgebrachten Pestleichen. Er fühlte sich frei und ohne Beschwernis. Im Augenblick waren nicht einmal die Herren Gesandten über ihm, der stille, gemessene Crusius, der aufbrausende, herrschsüchtige Brüggemann, und beider Rat, sein gelehrter und überlegener Freund Olearius. Die Männer, deren Schlitten dem seinen folgten, waren ihm anvertraut. Nicht nur der Frühling und die Überraschungen des Lebens erwarteten sie, vor ihnen lagen auch die Weiten Russlands.

In Dörfern, die nur aus wenigen Holzhäusern bestanden, machten sie halt. Die Frauen der Bauern brachten ihnen mit vorgestreckten Armen Brot und Salz. Die Männer stellten ihnen Fragen über Herkunft und Absicht. Den Strelitzen, der die Reisenden seit dem Überschreiten der russischen Grenze begleitete, beachteten sie kaum. Manche waren freie Bauern, Swojezemzy, wie sie sich dem Dolmetsch gegenüber bezeichneten. Ihre Väter hatten einst ein Stück Wald gerodet und das Land, das niemand gehörte, urbar gemacht. Die Nachfahren, so vernahm Fleming von ihnen, konnten es noch immer als das ihre betrachten. Mit Gefallen sah er, der sich den Bauern und dem bäuerlichen Leben von Kindheit an verbunden fühlte, die stattlichen, grobgesichtigen Männer. Sie waren hart und im Gespräch voll zurückhaltendem Stolz. Ihre Weiber hatten ihnen zu gehorchen, aber wussten sich bei Gelegenheit auch zu wehren.

Während einer Rast geschah es, dass sich Fleming bei einer schlanken Frau für das säuerliche Getränk bedankte, das sie vor die Gäste auf den Holztisch stellte. Sie sah nicht auf. Aber als der Hausherr sie mit einer Handbewegung aus dem Raum wies, fuhr sie ihn heftig an und ging mit stolz erhobenem Kopf...

Und dann Nowgorod. Auf Schwemmland beiderseits des Wolchow eine große Zahl von Holzhäusern, die von steinernen Kathedralen überragt wurden. Verfallene Kirchen außerhalb der bebauten Gebiete zeigten, dass die Stadt einst noch größer gewesen war. Vor zwei Jahrhunderten, vor dem Niedergang und dem Anschluss Nowgorods an das Großfürstentum Moskau, hatte sich der Einfluss der Bojarenrepublik bis zum Ural erstreckt. Aber war auch die große Zeit vorbei und gab es keine Volksversammlung mehr, in der die einfachen Leute neben den Bojaren und Kaufleuten gesessen hatten, die Vergangenheit war noch in der Stadt zu spüren, und ihre Traditionen lebten fort.

In einem hölzernen Haus, bei einem schlichten Manne nahm Fleming Quartier. "Parva, sed ad magnos mihi jam domus utilis usus", schrieb er schon bald in einem Gedicht, "lignea, sed domino non minus aequa suo." Und das hieß: Klein ist das Haus, doch brauchbar für mich; aus Holz, doch auch seinem Herrn gerecht. Fleming besaß die Gabe, das Fremde nicht mit den Augen des Fremden zu sehen, sondern die Dinge aus sich, aus ihrem eigenen Wesen heraus zu verstehen. Er schlüpfte in das Gehäuse mit dem großen gemauerten Ofen, der Schlafbank, dem Tisch, zwei Stühlen und der Truhe und fühlte sich wohl in ihm.

Aber er konnte nicht verhindern, dass ihn die Erinnerung befiel, als er, in dem gut gewärmten Zimmer sitzend, kunstvolle lateinische Verse baute. Auch seiner geliebten Rubella hatte er in Latein gedacht: Rubella seu Suaviorum liber, das Buch der Küsse. Schmerz und Verlangen ergriffen ihn. Ihr waches Gesicht mit der hellen, leicht sommersprossigen Haut schwebte vor ihm. Das rötliche Haar war hochgebunden - er hatte seine Hand so gern hineingesteckt. Er meinte die Wärme ihres Leibes zu spüren. Da sah er ihren Hals von Pestbeulen entstellt. Flehend richteten sich ihre Augen auf ihn und verblassten. Ach, Rubella. Das Knarren des Leichenwagens nahm dich hinweg, den Klang deiner spöttischen Worte.

Fleming stand auf, schwankte und ging unsicher zum Ofen, wo er sich mit beiden Armen festhielt. -

Gern wanderte er durch die Straßen, die von verblichenen alten und bunten neuen Blockhütten gesäumt waren. Andächtig verharrte er vor der Erlöser-Kirche in der Ilja-Straße. Die Fassaden waren unsymmetrisch gegliedert; aus der Mitte eines viergiebeligen Satteldaches erhob sich der mächtige und zugleich schlanke Turm mit dem gestreckten Zwiebeldach.

Wie ein Stein gewordener Traum von Liebe und Hoffnung stand diese Kathedrale vor der waldigen Ebene mit dem Strom.

Am Ufer des Wolchow lag der Djetinez. Die roten Mauern trugen eigenartige M-förmige Zinnen. Sie umschlossen verschiedene Gebäude. Im Granowitaja Palata, einem dreigeschossigen Ziegelbau, hatte er, angetan mit steifem Rock und gespornten Stiefeln, dem Statthalter des Zaren ein Schreiben der Herren Gesandten übergeben. Nicht weit davon entfernt hob die ehrwürdige Sophien-Kathedrale ihre weißen Mauern mit den vielen blinkenden Kuppeln in den Frühjahrshimmel. Sie sei schon sechshundert Jahre alt, erfuhr er. Ihren Westeingang schmückten die Flügel einer hohen Bronzetür, die ein Magdeburger Meister angefertigt hatte.

Die Tür war sicher ebenfalls mehrere hundert Jahre alt. Mit zugekniffenen Augen suchte Fleming das bewegte und stilisierte Ganze zu erfassen. Danach begann er die einzelnen Relieffelder, die Szenen und Figuren zu studieren. Es vergnügte ihn, Maria mit dem Spinnrocken zu sehen, während der Heilige Geist auf sie niederfuhr. Maria und die schwangere Elisabeth umarmten einander, und die primitive Darstellung war von der schwesterlichen Geste beseelt. In der linken unteren Ecke - er musste sich dazu hinhocken - fand er Adam und Eva, die sich Blätterbündel vor den Leib hielten. Sieh an, jeder der beiden trug einen Apfel der Verführung in der Hand! Dazu gesellten sich die plastischen Bildnisse des Bischofs Wicmannus von Magdeburg, des Erzgießers Abram und anderer. Zwei Krieger mit Schwert und Lanze setzten ihren Fuß auf getötete Feinde, den Sieg der Tugend über das Laster symbolisierend. Auf dem rechten Türflügel hockten zwei Männer in einem Burgverlies, von Kriegern bewacht. Und dann, wiederum ganz unten, der Kindermord zu Bethlehem. Ein Mann, auf einem Berg von Leichen stehend, einem Kind den Kopf abschlagend...

Was für eine finstere, von simplen Gegensätzlichkeiten eingeengte Welt, in welcher der einzelne versank. Die neue Zeit atmete etwas anderes, den Geist, der auf die Einheit der Widersprüche, das Selbstbewusstsein des Menschen zielte. Dennoch - Deutschlands Gegenwart war wie sein Mittelalter. Dieses Meisterwerk kündete vom heimatlich Vertrauten und von dem, was es in sein Gegenteil verkehrte. Wärme, Güte, Liebe ebenso wie Verblendung, Unterdrückung, Mord. Heute waren die Dörfer verbrannt, die Städte ausgelaugt oder zerstört. Die Bürger fristeten verzweifelt ihr Leben. Die Bauern fanden sich ausgetrieben.

Auch geistig ausgetrieben. Was hatte der Bauernsohn, der Peter Timm, der als Diener und Pferdeknecht bei ihm war, mit der "Neujahrsode" anzufangen gewusst? Gegen jede Regel hatte Fleming ihm vor Tagen einige Strophen seines Gedichtes mitgeteilt, darunter die, welche davon sprach, dass die brache Erde Spieß und Degen brauche, doch verändert zu Pflug und Spaten. Timm hatte nur verlegen gehüstelt und verstohlen gegähnt.

Fleming dankte den Russen, die ihn zur Sophien-Kathedrale geführt hatten. Er fühlte sich bestärkt in dem Vorhaben, das er und andere als Ziel der Expedition ansahen, nämlich durch Verbindung zum Osten, zu Russland und zu Persien, dem deutschen Krieg auf irgendeine, noch zu ergründende Weise beizukommen. Hatte er doch den heimatlichen Feldern vor seinem Weggang zugerufen: "Denkt, dass eurer Ruhe wegen wir der Mühe ziehn entgegen!" Streng und warmherzig zugleich waren sie, die Russen. Was aber wusste man in Leipzig vom Osten, außer dass er von Barbaren bevölkert sei? Selbst der geschulte humanistische Geist seines Freundes Olearius blieb in diesem Vorurteil befangen.

Barbarisch war der Krieg. Waren die, die ihn brachten. Nowgorod zeigte sich überlegen, voll eigener Kultur und für die Kultur des Westens aufgeschlossen.

In der Handelsgegend befand sich ein steinerner Kaufhof, in dem Schweden und Deutsche ein- und ausgingen. Nahebei lagen nicht nur ein Schwedischer und ein Lübecker Hof, wo die Gäste Quartier nahmen, sondern es gab auch eine Büchergasse. Hier erstand Fleming einen lateinischen Druck des Galenus aus dem 16. Jahrhundert. Einige Bände von Machiavellis "Istorie fiorentine" legte er in Anbetracht seines mageren Beutelinhalts auf den Tisch des Händlers zurück. Ein Mann mit blondem Bart und älter als er beobachtete das, trat heran und sprach ihn auf Deutsch an.

"Ein universaler Geist, der sich keiner Täuschung über die Natur des Menschen hingibt."

"Auch der Galenus hier sucht nach der Wahrheit über die Natur des Menschen", entgegnete Fleming lächelnd.

Der Bärtige war der im Zarendienst stehende Oberdolmetscher Heinrich Nienburg. Fleming hatte ihn schon bei der offiziellen Visite im Granowitaja Palata gesehen. Nienburg lud ihn in seine Wohnung ein, die sich in einem steinernen Gebäude des Djetinez befand. Verwöhnt von Natalja, der russischen Frau des Gastgebers, verbrachte Fleming dort angenehme Stunden. Die Männer sprachen über die Dichtkunst, über Ovid und Petrarca, über Heinsius und Opitz. Nienburg, Sohn eines deutschen Pastors aus Moskau, zeigte sich hocherfreut, nicht nur einen Verehrer Opitzens, sondern auch einen Dichter zu finden, dessen hohe Begabung er durchaus zu erkennen imstande war.

"Opitz hat die Seele der deutschen Dichtung geweckt", sagte er, "aber sie gleichzeitig auch vor allen Nichtgebildeten, allen Einfachen verborgen."

"Sein 'Aristarchus' empört sich gegen die Verachtung der deutschen Sprache", wandte Fleming ein.

"Ja. Freilich in Latein. Ich meine aber etwas anderes, zumal auch ich das Lateinische liebe. Opitz überlässt die Dichtung dem 'geheimen Gespreche der großen hohen Seelen'. Es liegt aber der Funke Gottes, ja Gott selbst in jeder Seele."

"Das ist Ketzerei, wenn man es genau nimmt." "Lieber Freund, hier in Nowgorod gab und gibt es noch ganz andere Ketzereien. Suchen wir die Wahrheit, gleichgültig, wie ihre Feinde sie nennen." "Können Sie sie immer aussprechen?" "Nein. Aber die Dichtung kann sie zum Bild machen, zum Leben erwecken und allen hinreichen. Fahren Sie durch unser Russland und machen Sie deutsche Gedichte, die nicht dem Höfling im Ohr klingeln, sondern die Wahrheit für jeden aufschließen. Dann werden Sie Ihrer Heimat helfen, wie es Luther mit der Bibel tat."

"Sie wissen wie ich, dass die Wahrheit des Gedichts nicht jeden erreicht", sagte Fleming und dachte an das Erlebnis mit seinem Pferdeburschen. "Aber ich ahne, was Sie mir antworten werden. Die Wahrheit, wenn auch nur so, wie ich sie finden kann, muss gesagt sein und rein und klar und für jeden, damit sie da ist, wenn sie gebraucht wird. Und wird sie nicht gebraucht, so fällt das Versäumnis auf die, die sie nicht nehmen."

Nienburg war aufgestanden und umarmte ihn. Zwischen beiden entspann sich echte Freundschaft. Fleming widmete dem Oberdolmetsch zwei Gedichte. In dem einen bekannte er, dass er hier einen Geist angetroffen habe, der liebe, was er könne, und mit Verlangen höre, wenn er "die Faust anschlage".

Am sandigen Ufer des Wolchow sitzend, entwarf Fleming die Alexandriner einer Ode auf Nowgorod. Er hatte sich über den breiten Strom rudern lassen und sah nun auf die Handelsseite mit ihren Palisaden und steinernen Tortürmen, mit ihren Holzdächern und Zwiebelkuppeln. Unter dem Eindruck all des Neuen richtete er an sich die Aufforderung, den Frühling der Jahre zu nutzen, das Wahre zu erfahren und dem zu trauen, was er sah. Dem Vorsatz folgend, begann er in langen Fügungen die Bauern zu preisen, denen er um Nowgorod begegnet war. Malte das Bild des Freien, "der alles missen kann und alles haben auch". Zu einem solchen Leben gehörte kein Gold, und "aus Golde wird kein Blut". Die Vorstellungen antiker Hirtengedichte mischten sich ihm hinein, aber auch die Sehnsucht eines deutschen Bauernliedes, das sich gegen die Fron empörte. Dann setzte er den Schluss mit der jähen, fast groben Wendung, dass Krieg von Kriegen herkomme, und mit der inhaltsschweren Frage, ob hier das Land sei, "da Ehr und Redlichkeit von uns sich hingewandt" haben.

Das Wasser zu Flemings Füßen lag fast bewegungslos, von einem warmen Wind nur sanft gekräuselt. Er fühlte, es war in Bewegung, in schwerem, drängendem Rücken nach Norden, nach dort, wo ein schwarzgrüner Waldsaum den Himmel stützte und von wo er, der Deutsche, kam.

Von dem Tag an, da er die Ode vollendet hatte, wartete Fleming auf das Eintreffen der Landsleute und den Fortgang der Expedition. Erwartungsvoll stand er am Ilmensee, dort, wo der Wolchow austritt, und ließ seine Blicke nach Süden fliegen. Da war kein Horizont. Das gelbgraue Meer vor ihm ging in die unheimlichen graugelben Wolken über. Es war ihm, als wolle ihn die Unendlichkeit in sich einsaugen. Aber sie würde ihn ebenso wenig vernichten wie die, die ihn in der Weite erwarteten, die dem Unheil widerstanden, das sie in das Wasser zog, an die Erde fesselte, aus den Wolken auf sie niederfiel. Er kam nicht als Bedroher und fühlte sich nicht bedroht von der Kraft, die nötig war, um sich gegen Unrecht, Wolfsgier und Tod zu erhalten.

Geheimnisvolle, gelassene Stille lag über dem See. Am Ufer Schilf und Sand, fast vertraute Nähe. Im Rücken des Schauenden weißes Mauerwerk. Ein Weg.

2. Kapitel

Ein Jahr danach ging Fleming am Ostseestrand unweit von Reval entlang. Wieder war es Frühling. Das Meer in der Bucht lag blau im Sonnenlicht. Flache Wellen rollten murmelnd auf den Sand. Fleming setzte die Füße dorthin, wo es feucht und fest war. Manchmal musste er dem vorschießenden Wasser ausweichen. Große Silbermöwen erhoben sich vor ihm, flogen aufs Meer und kehrten hinter ihm an ihren alten Platz zurück.

Olearius und Polus kamen ihm entgegen. Mit Olearius war Fleming vor kurzem aus Moskau zurückgekehrt, wo die Gesandtschaft vom Zaren die Erlaubnis zum Durchzug nach Persien eingeholt hatte. Der in Merseburg geborene Polus, Poesieprofessor und lehrender Dichter am Revaler Gymnasium, gehörte zum Kreis ihrer hiesigen deutschen Freunde. Beide trugen steife Röcke, während Fleming sich einen Mantel aus wollenem Tuch umgelegt hatte.

"Höre, Paul", sagte Olearius, "unser Freund erzählt mir Wunderdinge von den Poeten in Livland. Wenn die Barbarei nicht so nahe wäre, müsste ich glauben, der ganze Parnass habe sich in diese Gegend verfügt."

"Spotten Sie nicht", entgegnete Polus. "Das gute Livland hat viel mit seinen Nachbarn kämpfen müssen. Ohne das könnte es ebenso reich und kunstvoll wie Deutschland sein. Aber wie man hört, sind auch in unserem Vaterland durch den Krieg etliche Gegenden ziemlich kahl gemacht worden. Und warum, wenn man fragen darf, ziehen denn Sie in die Wüste?"

"Ja, gewiss", sagte Olearius und lächelte hinterhältig, "ich habe nur gescherzt. In Wahrheit ist es so, wie mein Freund Fleming verkündet hat: Denkt, dass in der Barbarei alles nicht barbarisch sei. Wir reisen, um Gegensätzliches zu studieren. Kehren wir zurück, wird uns unser Vaterland noch schöner erscheinen."

Fleming, der schweigend zugehört hatte, schüttelte missbilligend den Kopf. "Meine Verse gefallen dir nicht. Du meinst, dein Gelehrtenblick sehe schärfer als sie. Und doch irrst du dich. Mit deiner pedantischen Genauigkeit kommst du nicht hinter die Wahrheit, weil du ausgehst vom Vorgewussten und nicht vom Vorgefundenen, von solchen Begriffen, die dein, was wir antreffen, nicht eben gerecht werden."

"Wenn ich mich recht erinnere, hast du deine Verse auch schon geschrieben, bevor du hergekommen bist. Und was sagt denn schon: nicht alles barbarisch. Es kann viel und wenig bedeuten, alles und nichts. Dies ist kein sorgfältiger Umgang mit dem Wort."

"Ich hatte schon andere Begriffe, als ich herkam, und du wirst noch keine anderen haben, wenn du zurückkehrst. Sorgfältiger Umgang mit dem Wort heißt doch sich der Wahrheit annähern - immer nur annähern können wir uns -, aber das Vorurteil behindert uns in der Annäherung, lässt uns der Wahrheit angenäherte Worte nicht oder falsch verstehen."

"So habe ich Sie noch nicht sprechen hören", mischte sich Polus ein, "so hitzig. Vertagen wir nur den Disput. Ich fürchte übrigens fast, dass er endlos sein könnte, denn hier stehen sich zwei philosophische Schulen gegenüber. Wir alle sind heute Abend bei der Familie Niehusen zu Gast - hüten Sie sich dort vorm Disputieren. Die drei Töchter des Hauses möchten wohl etwas Freundlicheres von Ihnen hören."

Die Männer hatten sich während des Gesprächs der Hafenbrücke genähert. Zwischen ihr und einem in der Bucht vor Anker liegenden Schiff fuhren Boote hin und her und brachten Ladung. Im Südwesten waren die Mauern, Wehrtürme und spitzen Kirchen Revals vor der Burg auf dem Domberg zu sehen. Die Stadt, dem schwedischen König Untertan, hatte einst der Hanse angehört. Noch immer bestimmten deutsche Kaufleute in ihr und galt für die estnische, deutsche und schwedisch-finnische Bevölkerung das Lübische Recht. Für den russischen Handel mit den Ländern im Westen und Norden war Reval ein wichtiger Umschlagplatz.

Fleming trennte sich bald von den Freunden und eilte allein seiner Herberge zu. Der Streit mit Olearius hatte ihn erregt. Gerade weil er sich diesem verbunden fühlte. Immerhin verdankte er dem um zehn Jahre Älteren die Bestallung als Hofjunker und Truchsess für die Gesandtschaft des holsteinischen Herzogs. Aber was bedeutete das, wenn ihre Geistesgemeinschaft zerbrach. Ingrimmig dachte er, hänge denn seine Ehre von dem einen ab, und er hämmerte im Gehen Verse: Er und alle, die dich hassen, müssen doch dich dich sein lassen... Sorgfältiger Umgang mit dem Wort? Und dabei die neu erkannte Wahrheit übersehen? Ach, diese Schulmeister, die mit Sorgfalt die großen Gedanken in Teile zerlegten und zum Bild ihrer herkömmlichen Lehre zusammenschusterten. Der Reformator hatte sie erkannt: Sie lehren eitel falsche List, was Eigenwitz erfindet. Nicht Eigenwitz, sondern die Wahrheit der Wirklichkeit, das war es. Und: Das Wort sie sollen lassen stahn.

In düsterer Stimmung erschien Fleming am Abend im Haus des Kaufmanns und Bürgerschaftsältesten Heinrich Niehusen. Man speiste und trank und machte Trinksprüche. Verloren drehte Fleming sein Glas in den Händen und starrte in die hell lodernden Flammen des großen Kamins. Er fühlte sich einsamer, als er war, und mochte mit niemand sprechen. Was hatte er, fern von der Heimat, unter Fremden in fremder Stadt an diesem fremden Ort zu suchen? Da drangen Worte aus einem weiblichen Mund an sein Ohr.

"Sie schreiben Gedichte, Herr Magister, hab ich gehört. Das interessiert mich."

Er sah auf. Wie ein plötzliches Licht blendete ihn die Schönheit ihres Gesichts, der Glanz des blonden Haares; und die Stimme hallte in ihm nach. Es freue ihn, sagte er, Interesse gerade von ihr zu vernehmen. Das klingt dumm, dachte er zugleich, ich kenne sie ja gar nicht. Sie lachte und erklärte, sie sei Elsabe, die zweite der Niehusen-Töchter. Er bat sie, ihn nur nach allem zu fragen. Wie die Dichtkunst fortkomme im Land des Krieges, wollte sie wissen, wie Mars und Amor sich vertrügen. Er berichtete ihr, was er sonst nie tat, von seinen Gedichten auf Rubella und von dieser selbst, vom schwarzen Tod der Liebe.

Sie hielt den Atem an und sah mit erschrockenen Augen in sein Gesicht. Sie suchte von dem Thema wegzukommen und erkundigte sich, ob er nur Lateinisch schreibe, ob er das Deutsche für geeignet halte, tiefe Gedanken und feine Empfindungen auszudrücken. Doch, es sei geeignet, meinte er, für einen Deutschen sogar besser. Immer sei ein Literat in der Sprache am meisten zu Haus, in der ihn seine Mutter unterwiesen habe. Die seine sei früh gestorben, aber die Frau, die seinen Vater nach ihr geliebt habe, habe auch ihn geliebt. Sicher vermöchte auch ein Este sich am besten in Estnisch auszudrücken. Freilich gebe es in dessen Sprache kaum künstlerische Vorbilder, wenn man von den Liedern absehe, die das Volk singe, und von den Märchen, die es erzähle. Sie nickte und sagte, am Revaler Gymnasium wirke ein junger deutscher Lehrer, der ähnlich denke. Er heiße Brockmann, lehre Griechisch, schreibe deutsche und lateinische Gedichte und zeige den Esten, wie man estnische Verse machen könne.

Drei Musiker begannen wie bei Hof auf Theorbe, Viola und Flöte zu spielen. Nach bürgerlicher Sitte führte Heinrich Niehusen seine Frau zum gemessenen Tanz. Paare, die sich kannten, griffen sich an den Händen und taten es ihnen nach. Fleming, der in einem Gespräch immer ganz aufging und Elsabe gegenüber Scheu empfand, versäumte es, sie rechtzeitig zu bitten, und musste zusehen, wie sie von anderen geleitet wurde. Schließlich gelang es ihm, noch einmal in ihre Nähe zu kommen. Er sprach sie an, als sie bei ihren Schwestern saß. Sie machte ihn bekannt. Die ältere, Elisabeth, großgewachsen und kühl, lächelte nur und sagte nichts. Die jüngere, Anna, halbwüchsig noch, mit braunem Haar und braunen Augen, fragte ihn, ob er nicht das Tanzen versuchen wolle. Er erwiderte, er wolle es der vorschlagen, mit der er zuerst gesprochen, und sah Elsabe an. Diese erhob sich, Anna schlug die Augen nieder.

Fleming spürte Elsabes kühle, trockene Hand. Ein Gefühl der Freude und Unbeschwertheit durchströmte ihn. Ohne sich zu besinnen, sagte er: "Die Gesandten und ihr Gefolge werden sich nach Hause begeben, aber die Bagage bleibt bis zum Reisebeginn im nächsten Frühjahr hier und ist zu vervollständigen. Eine Wache und eine Aufsicht sind nötig. Ich könnte mich dazu bereit erklären. Aber es muss schon morgen entschieden sein. Raten Sie mir! Wollen Sie, dass ich hier bleibe?"

Er blickte sie bittend an. Sie war nicht im Geringsten erstaunt und sah ihm offen entgegen. "Bleiben Sie", sagte sie leise.

Er war wie von Sinnen, machte Scherze und schwatzte. Wie ein Studiosus fragte er sie, wann er sie wieder sehe, ob sie morgen Nachmittag zur Groten Strandporte komme und ein wenig mit ihm spazieren gehe. Sie kühlte ihn ab. Vielleicht. Doch er solle ihr nicht den Hof machen.

3. Kapitel

Sie kam. Ihr Haar leuchtete im Licht. Ein dunkelblauer Manteau verhüllte sie.

Elsabe war keineswegs so entflammt wie Fleming. Doch eine dunkle Neugier trieb sie zu diesem breitgesichtigen, mittelgroßen Mann mit den verwunderten Augen. Er prüfte nicht, wie die meisten Menschen ihrer Umgebung, alles auf möglichen Gewinn hin, sondern suchte das Wesen der Dinge und die Schönheit der Welt zu ergründen. Dabei ließ er anderen Gerechtigkeit widerfahren und fasste, was er dachte, in unverblümte Worte. Sicher würde er sie jetzt, fern von der Gesellschaft, stumm in die Arme schließen. Er würde ihr gehören.

Aber Fleming ging ihr jenseits des nördlichen Stadttores, das die Grote Strandporte hieß, mit schnellen Schritten entgegen und gab ihr die Hand. "Es ist schön, dass Sie gekommen sind", sagte er einfach. An der Ruine des Pockenhauses vorbei spazierten sie zum Strand, auf dem Fischerboote lagen. Kreisende Möwen blitzten in der Sonne. Das Meer rauschte feierlich. Der Duft der blauen Tiefe und der silbernen Fische strich über sie hinweg in das Land hinein. Er begann von Nowgorod und Moskau zu erzählen, und sie dachte, ihn anblickend, dass er nicht zu der Art von Bewerbern gehörte, die sie kannte. Die einen waren reich und wollten sie zu allem übrigen Besitz erwerben, die anderen waren klüger, aber mittellos und hofften sich durch sie besser zu stellen. Jene sahen sie als Handelsgut an, diese meinten nicht sie. War Fleming bereit, sie über alles zu setzen?

Er spürte ihre geistige Abwesenheit und hielt inne. Sie blieb stehen und wandte ihm das Gesicht entgegen. Langsam schob er seine Hände in ihren Kragen, umfasste ihren Kopf und küsste sie. Schwankend zwischen Scham und Freude, konnte sie nicht verhindern, dass ihre Augen feucht wurden. Wie selbstverständlich war dies. Wie anders als die Träume. Seine Nähe durchzuckte sie fast schmerzlich. Sanft wich sie zurück.

Verlegen, ihrer Gefühle nicht sicher, wanderten sie am Meer entlang. Dann begannen sie, jeder den anderen nach seinem Leben auszufragen. Da gab es ihr Heranwachsen zwischen Haus und Hafen, Rathaus, Speicher und Schiff, Gymnasium und Familie, mit Elisabeth, die die Mutter spielte, und Anna, die zu ihr aufblickte. Da war seine Jugend im kleinen sächsischen Hartenstein, der Pfarrershaushalt mit der gütigen Stiefmutter, die Schule und die Universität in Leipzig, die Lehrer und die Freunde, das Studium und die Dichtung, die Künste und die Medizin, Krieg, Belagerung, Seuche und Aufbruch.

Fleming wagte es nicht, noch einmal ihr erregtes Gesicht zu küssen. Er streichelte ihre Hand.

Sie besuchten den Garten, der der Familie Elsabes gehörte. Sie gingen durch das Stadttor zurück und schritten nebeneinander her die Lange Strate hinunter. Beim Abschied an der kleinen Seitenpforte des elterlichen Anwesens streifte sie mit ihren Lippen seine Stirn und verschwand.

Elsabe, Liebste! dachte er, sich losreißend und fortgehend. Und: Verzeih mir, Rubella, sie hat deine Lieblichkeit!

Wieder und wieder trafen sie sich. Elsabe musste sich Ermahnungen ihres Vaters anhören. Es zieme sich nicht, dass sie allein mit einem fremden jungen Mann so weite Gänge unternehme. "Er ist kein Fremder für mich", wandte sie ein. Nun gut, dann solle sie ihn ins Haus einladen. Fleming habe den Titel eines Magisters der Künste und der Philosophie, sei gescheit und auch nicht unsympathisch, aber weder besitze er etwas, noch könne er auf eine achtbare Anstellung verweisen. Diese Gesandtschaft müsse doch für eine abenteuerliche und höchst ungewisse Sache gelten. Schweden und Russen seien ebenso am Handel mit Persien und Indien, an Seide und Gewürzen, interessiert und würden es gerade den Holsteinern gestatten, ihn in die Hand zu bekommen! Die Zukunft Flemings sehe dunkel aus. Traurig und ein wenig hilflos stand Elsabe vor ihrem Vater.

So geschah es, dass Fleming häufig im Hause Niehusen zu Gast war. Seine Beziehung zu Elsabe verlor dadurch an Ungebundenheit, wurde mehr einbezogen in die Regeln der gesellschaftlichen Konvention, die sie ohnehin nicht missachtete. Er schrieb sehnsüchtige Sonette. Sie glichen, wenn auch nicht in Detail und Ausdruck, so doch in der Seelenlage denen des Meisters Petrarca an die geliebte Laura, die er nie besessen, nur mit endlosen lyrischen Klagen erfleht und angebetet hatte.

An einem schwülen Sommernachmittag betrat Fleming den Hof des Anwesens in der Langen Strate und fand eine schmale Gestalt über den Rand des Springbrunnens gebeugt. Ihr Oberkörper war unbekleidet. Es war Anna, die sich unter dem Wasserstrahl kühlte. Ehe sich Fleming zurückziehen konnte, fuhr sie mit einem kleinen Schrei herum. Tropfen perlten über ihre Brüste. Wie versteinert stand sie, eine Brunnenfigur, und sah ihm in die Augen. Er bot ihr einen guten Tag und ging vorüber. Von da an war ihm bewusst, dass sie ihm öfter zu begegnen suchte. Er tat, als bemerke er es nicht, sprach aber immer ein paar freundliche Worte mit ihr. Einmal, als er ein wenig von oben herab geredet hatte, äffte sie ihn, ganz im Gegensatz zu ihrer stillen, guten Art, zornig nach: "Ach, Anna, weißt du... Ich bin nicht Ihre Schülerin!" Und er antwortete: "Verzeih, Anna, so denke ich auch nicht."

Sein Verlangen nach Elsabe wurde immer stärker. In ihrem Zimmer umarmte er sie. Heftig drückte er die Zögernde an sich und dachte: Warum soll meine Liebste nicht spüren, wie es um mich bestellt ist? Sie entzog sich ihm nicht. Lange standen sie so versunken. Dann begann sie beruhigend zu flüstern.

Auf sein Drängen verließ sie an einem hellen Juliabend heimlich das Haus. Sie schlichen durch die Seitenpforte, Die leere Straße hallte von ihren Schritten wider. In den Fenstern flimmerte Licht. Aus der Tiefe des Raums senkte sich langsam eine helle Nacht auf die Stadt, das ruhig liegende Meer und die beiden Menschen. Sie betraten den Garten an der Groten Strandporte und setzten sich in die Laube. Eine Grille sang ihr verzweifeltes, eintöniges Lied, Durch die Kleider spürte er ihr klopfendes Herz. Er sagte: "Elsgen, lass uns tun, was die Liebe erlaubt und verlangt."