Die Neigung - Uwe Berger - E-Book

Die Neigung E-Book

Uwe Berger

4,5

Beschreibung

„Wie ist das mit der Schweigepflicht? Ich hab immer gedacht, sie bezieht sich auf das, was der Patient dem Arzt anvertraut. Gilt sie denn auch für das, was ein Arzt am Patienten versäumt?“ Die Frage und ihre Beantwortung im Interesse des Kranken ist ein Grundproblem in Uwe Bergers Roman DIE NEIGUNG. Der Kampf einer jungen Ärztin um gesittetes Verhalten in einem Krankenhaus, einem komplizierten Umfeld, führt zwei Menschen näher zusammen, die Ärztin Baum und den Fahrer Kusmin. Er bestärkt sie, gibt ihr Halt und Format. Der Unterschied in Bildung und Lebensgewohnheiten wird angesichts der Situation bedeutungslos. Das Problem der sozialen Unterschiede jedoch bleibt und führt in die jüngste Vergangenheit, in der es ebenfalls um engagiertes Denken und entschlossenes Handeln ging. Das spannende Buch erschien erstmals 1984 im Aufbau-Berlag Berlin und Weimar. LESEPROBE: Soweit war ich, als mir der Zufall zu Hilfe kam. Vergeblich hatte ich versucht, mit den jungen Burschen meines Arbeitstrupps in Verbindung zu kommen. Ich behandelte sie gut, gönnte ihnen reichliche Pausen oder verschaffte ihnen eine Sonderration. Mit den wenigen Brocken Russisch, die ich gelernt hatte, kritisierte ich vorsichtig - um mich nicht selbst zu gefährden - die faschistische Praktik der Geiselmorde. „Krieg gegen Frauen und Kinder ist nicht gut“, sagte ich oder: „Nicht alle Deutschen sind so ...“ Sie verzogen keine Miene, sahen mich nur an und schwiegen. Da überraschte ich im Zimmer eines Vorgesetzten an einem Spätnachmittag, als ich ein Telefon zu reparieren hatte, eine junge Frau. Sie stand vornübergebeugt und schrieb ein Dokument ab. Erschrocken auffahrend starrte sie mich an. „Lass mich erschießen, wenn du kannst“, sagte sie leise, in ziemlich gutem Deutsch, jedes Wort betonend. Langsam bewegte sie ihre Hand zur Bluse. Ich ahnte, was sie vorhatte, und packte sie am Arm.“ „Nicht! Ich tu dir nichts. Du kannst gehen.“ Wortlos und starr blickte sie mich an. „Nimm mit, was du geschrieben hast!“ „Wie heißt du?“ „Robert Schlegel.“ Sie nahm ihren Zettel, besann sich, legte ihn wieder hin und fügte noch einige Notizen hinzu, dabei abwechselnd auf das Papier und auf mich schielend. Ihre Ruhe machte mich fassungslos. „Beeil dich!“ Sie faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Bluse. Sorgfältig legte sie die Akte, der ihr Interesse gegolten hatte, in eine Mappe und packte die Mappe in eine Schublade. Dann streifte sie mich noch einmal mit einem Blick. Legte den Finger auf die Lippen

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Impressum

Uwe Berger

Die Neigung

Roman

978-3-86394-023-2 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien erstmals 1984 im Aufbau-Berlag Berlin und Weimar.

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste …

Hölderlin

1. Kapitel

Der Kombinatsdirektor Karpenstein war mit seinem Wagen auf der Fahrt nach außerhalb am frühen Morgen verunglückt. Übernächtig hatte er beim Überholen den im Nebel entgegenkommenden blauen Lada zu spät bemerkt. Es gab trotz beiderseitiger Bremsmanöver einen Zusammenstoß. Die Volkspolizei verständigte Rettungsamt und Kombinat. Karpensteins Fahrer Kusmin, der nicht weit entfernt vom Unfallort wohnte und angerufen wurde, traf noch vor dem Schnellhilfewagen bei den Verunglückten ein. Ohne lange zu überlegen, lud er seinen Chef und den Fahrer des Lada, die notdürftig verbunden auf Decken lagen, in sein Auto und jagte zum nächsten Krankenhaus. Die Verletzten schaukelten in den Polstern hin und her.

Die diensttuende Ärztin von der Rettungsstelle fuhr Kusmin hart an. Ob er schon mal was vom Schock gehört habe. Schockpatienten dürften gar nicht oder müssten wenigstens liegend transponiert werden. Es wäre besser gewesen, auf den Schnellhilfewagen zu warten.

Verlegen stand Kusmin am Wagen, in den sie sich hineinbeugte. „Ich dachte, es ginge um Schnelligkeit", sagte er. „Außerdem war ja noch ein Schwerverletzter da, nicht wahr ..."

Die schmale Ärztin mit dem glatten Haar richtete sich auf. „Reden Sie nicht! Fassen Sie lieber mit an. Der eine kann gehen, wenn wir ihn stützen. Den anderen müssen wir mit der Trage holen.“

Jetzt, da es ums Praktische ging, war Kusmin in seinem Element. Welcher es sei, der gehen könne, fragte er. Es war der Fahrer des Lada. Sie solle ihn das machen lassen. Er half ihm heraus. Der Mann hatte eine Kopf- und eine Knieverletzung, er legte Kusmin und der Ärztin die Arme auf die Schultern. Zu dritt gingen sie langsam ins Haus.

Im Zimmer ließ sie den Patienten sich hinlegen und sah sich suchend um. „Wo ist denn Schwester Beate? Immer, wenn man sie braucht, ist sie nicht da ..."

„Kann ich helfen?“

„Nehmen Sie die Gondel, die vor der Tür steht.“

„Die ... was?“

„Na, diese fahrbare Trage ... und schaffen Sie sie zum Auto. Warten Sie, bis ich komme.“

Sie griff zum Hörer.

Er fuhr die Gondel hinaus, nahm seinen stöhnenden Chef auf die Arme und legte ihn behutsam darauf. Als er ihn fortschob, kam die Ärztin ihnen entgegen.

„Meine Anordnungen können Sie auch nicht befolgen“, sagte sie. Aber es klang mild.

Er unterdrückte ein Lächeln, das ihm in der Situation unpassend erschien. Irgendwie tat es ihm wohl, sich zusammen mit dieser zierlichen Frau um Karpenstein und den anderen kümmern zu können. Kusmin hing an seinem Chef, mit dem er auf du und du stand, ohne dass sie das ihre unterschiedlichen Aufgaben hätte vergessen lassen. Er dauerte ihn sehr, wie er so dalag.

Gleichzeitig hatte er ein ihm eigentlich unbegreifliches Vertrauen zu der Ärztin, die tatkräftig und umsichtig handelte.

„Was nun?“, fragte er sie. „Wann kann ich erfahren, wie es um meinen Chef steht?“

„Die Chirurgen sehen sich jetzt die Verletzten an, ich werde dabei sein. Sie könnten inzwischen Ihre Personalien hinterlassen.“

„Darf ich mich dann bei Ihnen erkundigen? Wie ist Ihr Name?“

„Baum. Eigentlich geben wir Fremden keine Auskunft. Vielleicht kennen Sie Name, Anschrift und Telefon von Angehörigen.“

„Ich heiße Kusmin und bin der persönliche Fahrer des Generaldirektors Karpenstein. Ich werde Sie fragen …“

„Hm.“

Sie waren vor der Rettungsstelle angelangt. Dort hatte inzwischen Schwester Beate, eine kräftige, nicht mehr junge Frau, den anderen Verletzten in einen Rollstuhl gesetzt.

„Zum kleinen OP?“, fragte sie.

Die Ärztin nickte. Die Schwester schob den Rollstuhl aus der Tür und fuhr los. Kusmin mit seiner Gondel hinterher. Am Operationstrakt hielt die Schwester an, drehte sich um und wies Kusmin mit einer Handbewegung fort. Er kam nicht dazu, sich zu ärgern, denn die Ärztin entschuldigte sich mit einem Lächeln bei ihm.

Allein stand er auf dem Gang.

Die Aufregung der vergangenen halben Stunde klang in ihm nach. Wie hatte Karpenstein das alles nur passieren können? Es würde sich herausstellen. Das Wichtigste war, dass er überlebte. Mit einer gewissen Beschämung gestand sich Kusmin ein, dass ihm auch die Ärztin in diesem Augenblick nicht ohne Bedeutung war. Es überraschte ihn, wie mühelos und leicht er mit ihr sprechen konnte, er, der sonst Frauen gegenüber gehemmt war. Er blieb vor ihr der, der er war, musste sich nicht verstellen - das hatte er bisher kaum an sich gekannt. Vielleicht lag es an der außergewöhnlichen Situation, in der es um einen Dritten ging. Oder daran, dass es etwas zu tun, etwas mit den Händen zu schaffen gab. Oder an seiner Aufregung. Er wusste es nicht.

Kusmin ging zur Rettungsstelle, in der Schwester Beate erschienen war, machte seine Angaben und setzte sich vor die Tür. Nach einigen Minuten ging er zur Telefonzelle und meldete dem Genossen Gugisch, seinem Parteisekretär, dass er „Karpenstein lebendig abgeliefert“ habe, aber sonst noch nichts wisse. Insgeheim hatte er Sorge, Gugisch könne ihn zurückbeordern. Doch dieser war sehr betroffen und bedankte sich nur. Kusmin hatte vor, zu warten. Die Doktorin würde ihm Auskunft geben. Und er wollte sie noch einmal sehen.

Endlich kam sie den Flur entlang. Mit schnellen Schritten näherte sie sich. Er stand auf.

„Wie steht es, Frau Doktor?“

„Er wird überleben. Mehr kann ich nicht sagen.“

„Das genügt doch“, rief er mit ausbrechender Fröhlichkeit. Am liebsten hätte er sie umfasst und herumgeschwenkt. Aber er fügte nur hinzu: „Ich danke Ihnen.“

„Wofür“, sagte sie und wandte sich einer alten Frau zu, die, blass auf einer Gondel liegend, soeben herangefahren wurde.

„Nun, was fehlt Ihnen denn?“, sprach sie sie an.

Der warme und wie von Schmerz ein wenig brüchige Klang ihrer Stimme bewegte Kusmin. Nie war er sentimental gewesen. Was geschah mit ihm? Da er ganz offensichtlich nicht mehr gebraucht wurde, sagte er: „Auf Wiedersehen. Ich ruf noch mal an.“ Und ging. Dabei dachte er: Warum hab ich gesagt, dass ich noch mal anrufe? Ich habe doch gar kein Recht dazu. Ach, was. Ich tu’s.

Helga Baum, nachdem sie die alte Frau untersucht und eingewiesen hatte, erinnerte sich mit leichtem Verwundern an den Fahrer. Ein sonderbarer Mensch, dachte sie, er sieht gut aus. Scheint sich mit seinem Chef zu verstehen.

Und wieder, ehe sie Zeit gefunden hatte, etwas zu essen, wurde ihre Hilfe verlangt.

Am Nachmittag des folgenden Tages rief er bei ihr in der Rettungsstelle an. „Walter Kusmin“, meldete er sich. „Ich weiß, dass Sie mir nichts über Karpenstein sagen können. Er liegt auf der Station, und wir haben schon von ihm gehört ... Ich möchte Sie fragen, ob ich Sie mal persönlich sprechen kann, ob Sie eine Stunde Zeit für mich haben …“

Stille.

Jetzt ist es raus, dachte er. Ein Glück, dass es das Telefon gibt.

Helga schwankte. Eine gewisse Neugier trieb sie, gegen ihren Willen zu fragen: „Wann?“ Du meine Güte, dachte sie, da fang ich etwas an.

Sie trafen sich am Sonntagnachmittag am Bahnhof Friedrichstraße. Es war noch winterlich kalt. Den Rand des Gehweges bedeckte ein schmutzig brauner Eispanzer. Die Menschen trugen Anoraks, Felljacken und Pelzmützen und hatten es, wie immer in dieser Gegend, eilig. Über der Spree und ihren gemauerten Ufern segelten leise kreischend die Möwen.

Auf Helgas Wunsch gingen sie ins Pergamonmuseum.

Vor den säulenhaften vorderasiatischen Standbildern des ersten Saales verweilten sie nicht lange. Beim Ischtartor sagte Walter: „Solche glasierten Ziegel gibt es auch in den alten Moscheen und Mausoleen Mittelasiens.“

Sie sah ihn erstaunt an. „Waren Sie dort?“

„Ja.“

An der großen Freitreppe des Pergamonaltars bemerkte sie: „Vielleicht konnte sich hier ein Mensch der alten Zeit innerlich befreit und erhoben fühlen, und er ist zu den Göttern emporgestiegen und dabei doch zu den Menschen gelangt.“

„Die innere Befreiung ist ein Selbstbetrug.“

„Nicht immer. Manchmal kann sie nützlich sein. In der Medizin zum Beispiel, als Suggestion oder Autosuggestion. In der klassischen Kunst ist sie kein Selbstbetrug, sondern das Ideal vom Menschen. Und dieses Ideal muss nicht immer in vollem Widerspruch zur Wirklichkeit stehen. Revolutionen suchen es zu verwirklichen und nähern sich ihm. Scheint das Ziel erreicht, rückt es weiter und führt die Menschen durch die nächste Etappe. Ohne das Ziel, das Ideal, die rote Fahne gehen die Menschen in die Irre, zerfleischen sie sich, herrscht das Chaos.“ Sie sprach schnell und ohne sich länger zu besinnen. Dadurch wurde das Dozierende ihrer Worte gemildert.

„In der Antike gab es noch keine rote Fahne.“

„Es gab Spartakus, es gab das Prinzip des Menschlichen, an das wir anknüpfen.

„Sie wissen immer eine Antwort.“ In der Anerkennung schwang ein wenig gutmütige Ironie mit.

Walter war froh, mit ihr sprechen und überhaupt mit ihr hier, bei den Bauten der Vergangenheit, sein zu können. Doch nun stockte das Gespräch. Er wusste nicht weiter. Das Markttor von Milet gefiel ihm nicht. Die Säulen erschienen ihm sinnlos. Wozu benötigte ein Markt ein solches Tor? Vielleicht gehörte es auch nicht in diesen engen, dämmerigen Raum, sondern brauchte Sonnenlicht, Weite und Meer, um schön zu sein. Andererseits konnte er sich vorstellen, dass nur die Begeisterung von Altertumsforschern, Kunsthistorikern und Museumsleuten so etwas für schön erklärte und dass es keiner wagte, eine andere Meinung zu haben.

„Ich weiß nicht“, sagte er, „das hier ist doch kein Bauwerk, sondern nur ein protziger Schmuck, der Bauwerke nachäfft, was Leeres ...“

„Wirklich, Sie haben recht!“ Sie war heute zum zweiten Mal überrascht.

Walter war ihr dankbar, dass sie ihn mit Wissen nicht verunsicherte, sondern ihm half. Und plötzlich begriff er, dass sie ein Mensch war, der Wärme und Güte brauchte.

„Kommen Sie", bat er und fasste sie vorsichtig ein wenig am Ellenbogen, „wir sehen uns noch die Figuren an.“

Schweigend standen sie im lichterfüllten nächsten Raum vor der Göttin aus Attika. Schließlich ging er um die Statue herum. „Von vorn sieht sie am besten aus. Geheimnisvoll. Warum lächelt sie?“

„Man weiß es nicht. Man spricht vom archaischen Lächeln, weil es bei anderen Plastiken dieser frühen Zeit wiederkehrt. Es ist hier ein ernstes, fast trauriges Lächeln - vielleicht ein Symbol für Güte und Freundlichkeit. Doch lächelt da schon ein lebendiger Mensch mit eigenwilligen Zügen, zu Stein erstarrt ..."

Und Walter sah, auch sie zog die Mundwinkel nach oben beim Lächeln, auch sie hatte ein langes, schmales Gesicht. Vielleicht nur eine entfernte Ähnlichkeit, aber doch ... Er hatte nicht den Mut, es ihr zu sagen. Am Ende meinte sie, er schmeichele ihr.

Aber er fragte: „Was denken Sie? Sie haben eben auch so gelächelt.“

„Ach, nichts weiter ... Nur, was ich gesagt habe.“

„Und was hält die steinerne Göttin in der Hand?“

„Einen Granatapfel.“

„Was bedeutet der?“

„Er symbolisiert die Fruchtbarkeit.“

„Nun weiß ich eine Menge ... Wollen wir was essen gehen?“

Sie fühlte sich aus der Stimmung gerissen und fragte erstaunt: „Haben Sie solchen Hunger?“

„Ja“, sagte er trocken. „Ich bin für was Nahrhaftes nach so viel Stein.“

„Wenn ich aber gern noch bliebe und mit Ihnen überhaupt nicht essen gehen will?“

„Dann bleib ich eben auch. Lieber hungrig bei Ihnen als ohne Sie satt sein.“

Sie musste lachen, besah noch einiges und verließ dann mit ihm, ohne einen Blick in den Raum mit den römischen Kopien zu werfen, das Museum.

„Sie müssen wissen“, erklärte sie im Hinausgehen, „ich habe kurze Zeit Kunstgeschichte studiert und dann auf Medizin umgesattelt.“

„Warum?“

„Ich wollte mich nicht vorwiegend mit der Wirklichkeit der Kunst, sondern mit der Wirklichkeit selbst beschäftigen, ich wollte dem Leben näher sein.“

„Das versteh ich. Das versteh ich sogar sehr gut.“

Im Opemcafé saßen sie dann einander gegenüber. Helga betrachtete ihn. Er war schlank und hatte kräftige, vertrauenerweckende Hände. Er aß mit Appetit und ohne sich zu zieren. Angenehm berührt, dachte sie: Ich seh ihm gern dabei zu. Die schmatzenden Lippen meines geschiedenen Mannes widerten mich an.

„Warum sind Sie Kraftfahrer?“

„Eigentlich bin ich Monteur beim Anlagenbau. Aber ich hatte das Vagabundieren satt. Meine damalige Freundin wollte auch, dass ich damit aufhöre. Der Kombinatsdirektor brauchte einen Fahrer, und da sich gerade nichts anderes bot, bin ich’s geworden.“

„Die damalige Freundin ...?“

„Es hat nicht geklappt mit uns. Erst wollte sie nicht heiraten, weil ich dauernd unterwegs war, und dann wollte ich nicht, weil sie dauernd an mir herumerzog. Sie war Lehrerin und konnte das Korrigieren zu keiner Zeit und nirgendwo lassen - die armen Kinder, was die alles nicht durften. Sie sah in mir nicht ihren Partner, sondern ein Erziehungsobjekt, ein groß gewordenes Waisenkind, das ihre Lenkung brauchte. Sie hat dann einen Lehrer geheiratet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das mit den beiden gut geht.“

„Sie sind eine Waise?“

„Ja. Doch das ist eine lange Geschichte. Die erzähl ich ein andermal. Sind Sie Parteisekretär?“

„Nein. Wie kommen Sie darauf?“

„Weil Sie im Museum von der roten Fahne gesprochen haben.“

„Muss man Parteisekretär sein, um von der roten Fahne sprechen zu können?“

„Natürlich nicht.“

Walter war misstrauisch, auch sie könne ihn irgendwie erziehen wollen. Doch ihr gefiel er von Minute zu Minute besser.

Sie schwiegen.

Es war kein verlegenes Schweigen, in dem man nach Worten zur Fortführung des Gespräches sucht, auch kein leeres Schweigen, das auf Interesselosigkeit beruht, sondern ein zustimmendes Schweigen, in dem man ausruht und sich wohlfühlt in der Nähe des anderen.

„Und Sie“, fragte er nach einer Weile, „wie leben Sie?“

„Nun ja, es geht mir gut.“ Sie lächelte. „Aber wann wäre der Mensch zufrieden. Von meinem Mann hab ich mich getrennt; und ich bin sicher, ich habe dadurch nichts verloren. Ein Egoist ... Er glaubte allen Ernstes, es sei in der Ordnung, wenn er sich jede Freiheit nimmt und mir keine zubilligt. Aber je länger ich darüber nachdenke, um so mehr finde ich, dass ich ihm ebenfalls etwas verweigert habe, nämlich die Anerkennung seiner Persönlichkeit, das, was ihm eine wirkliche und keine krampfhafte Selbstbestätigung im Leben ermöglicht hätte ...“

„Was für einen Beruf hatte er?“

„Er war Ingenieur für Femsehelektronik. Ein so einseitig auf sein Fachgebiet orientierter Mensch, dass er in der Wohnung nicht mal eine Steckdose erneuern oder ein Türschloss einsetzen konnte. Der Typ des unpraktischen Ingenieurs. Dabei war er eitel, von seiner Wirkung auf Frauen überzeugt, was er ständig ausprobieren musste ... Lassen wir das!“

„Ich würde Sie gern öfter sehen“, sagte er und sah sie gerade an.

„Warum nicht“, antwortete sie. „Aber es sollte bei Freundschaft bleiben.“

„Was ist das - Freundschaft zwischen Frau und Mann?“ Walter spürte, dass er sehr unbefangen war. Für diese Frau empfand er eine Sympathie, als ob er sie schon lange kannte.

Als Ärztin war es Helga gewohnt, den Menschen in seiner natürlichen Existenz zu begreifen. Sie war jetzt dreißig, eine achtjährige Ehe lag hinter ihr, und sie hatte es gelernt, den Problemen nicht auszuweichen, die Dinge bei Namen zu nennen. So sagte sie, und ein charmantes Lächeln milderte die Kahlheit der Worte: „Man muss nicht miteinander ins Bett gehen, um befreundet zu sein.“

„Das stimmt“, räumte er ein, und mit derselben Offenheit entgegnete er: „Aber was wäre eine Freundschaft ohne diese - Nähe?"

Es war ein Ringen mit Worten, ein Drängen, Widerstehen, teilweises Annehmen und erneutes Bemühen. Im Gespräch spielten sie Möglichkeiten durch und nahmen sie Wirkliches vorweg. Eine leise Erregung bemächtigte sich Walters. Sie sah ihm in die Augen und bemerkte es. Seine Stimmung übertrug sich auf sie, und sie sagte ohne Überlegung: „Sie können einem gefährlich werden.“

„Das will ich nicht“, sagte er, plötzlich ruhig und beglückt. „Eine Gefahr will ich nicht sein."

„Ich meinte ..."

„Ich habe verstanden ..."

Er legte seine Hand auf ihre, und sie ließ sie ihm.

„Über eines müssen Sie sich klar sein“, sagte sie. „Ich bin eigenwillig. Was ich nicht will, das will ich nicht.“

„Gegen Ihren Willen soll nichts geschehen. Jedenfalls von meiner Seite und was Sie betrifft. Aber ich habe auch einen Willen, und das ist ebenso zu bedenken. Tun können wir also nur, womit wir beide einverstanden sind und was wir beide wollen.“

„Aber wenn wir beide nicht dasselbe wollen?"

„Dann tun wir’s eben nicht.“

„Es könnte aber sein, dass in diesem Fall unterlassen wird, etwas Richtiges zu tun.“

„Das ist knifflig. In so einem Fall müssen Sie mich zu überzeugen versuchen. Dann habe ich aber auch das Recht, Sie überzeugen zu wollen, wenn es an dem ist. Was soll also unser Gerede über den starken Willen? Natürlich muss man bitten, drängeln, werben, überzeugen dürfen ...“

„Und dabei den anderen achten ...“

„Und sein gleiches Recht anerkennen ...“

Sie hatten sich in eine Art Zorn geredet. Die zärtliche Erregung beider war wie ausgelöscht. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich im Gespräch behauptet hatte und ihre Hand noch hielt. Er streichelte die schmalen, zarten Finger.

2. Kapitel

Helga suchte sich über ihre Situation klar zu werden. Sobald sie ihre Gedanken freihatte von Laborbefunden, Elektrokardiogrammen und Röntgenaufnahmen, dachte sie an den Nachmittag mit Kusmin. Das Gespräch war ziemlich weit gegangen, eigentlich weiter, als sie wollte. Jetzt, wo er ihr nicht mehr gegenübersaß, fragte sie sich, wie das hatte geschehen können. Er musste sie verwirrt haben. Das brachte sie gegen sich selbst auf. Sie dachte dauernd an ihn. Kam es einfach davon, dass sie seit längerer Zeit mit keinem Mann so zusammengesessen hatte, oder lag es an ihm? Mit ihrem Idealbild hatte er kaum Ähnlichkeit, doch verglich sie ihn mit ihrem Geschiedenen, erschien er ihr sympathisch.

Auf der Dienstberatung am Nachmittag war sie so abwesend, dass ihr Chef, der Oberarzt Dr. Stobe, ein rotgesichtiger Gastroenterologe, sie anfuhr: „Na, Kollegin Baum, träumen Sie vom Paradies, oder sehen Sie rot?“

„Wissen Sie was, Stobe“, entgegnete sie kühl und ohne die unter Medizinern übliche Form zu wahren, „fragen Sie mich lieber nach meiner Arbeit.“

„Hm. Da möchte ich mal was bemerken ... Sie arbeiten im Einzelfall zu aufwendig. Die Patienten werden verwöhnt und verlangen dann beim nächsten Mal oder beim anderen Arzt das gleiche intensive Interesse. Bei der großen Zahl von Patienten können wir das nicht verkraften ... Quantum und Qualität der Behandlungen müssen in einem vertretbaren Verhältnis zueinander stehen.“

„Nicht einverstanden. Im Einzelfall muss so viel Diagnostik und Therapie sein, wie nötig ist - und das trotz aller Berechnungen. Unsere Aufgabe ist es, zu helfen und nicht abzufertigen.“

„Seien Sie doch nicht so starrsinnig“, mischte sich eine Ärztin ein. „Die Patienten strömen zu Ihnen, Sie sind überlaufen und schaffen es nicht. Am Ende gehen Sie uns kaputt.“ Es war Frau Dr. Köhler, eine Vierzigerin, die meist nicht viel sagte und still ihre Aufgaben erledigte.

„Das soll meine Sorge sein“, sagte Helga, „oder vielleicht doch nicht nur meine. Ich glaube kaum, dass der schöne Satz von Quantum und Qualität, den unser Chef da formuliert hat, unseren Grundsätzen entspricht.“

„Wie bitte?“ Stobe räusperte sich.

„Na, ich sehe eben manchmal rot. Haben Sie doch gesagt ..."

Der Oberarzt lachte - es klang ein wenig gezwungen - und sagte besänftigend: „Sie sind aber heute kratzbürstig. Es war ja nicht so gemeint. Meine Aufgabe ist es, unsere Kräfte sinnvoll einzusetzen.“

Auf dem Weg zur S-Bahn dachte Helga: Man müsste jemand haben, mit dem man drüber sprechen kann. Jemand, der einen versteht und den’s interessiert. Diese leere Wohnung ist furchtbar.

Wider Erwarten erwischte sie in der Bahn einen Sitzplatz. Ein betrunkener alter Mann sprach die vor Helga sitzende junge Frau an: „Darf ich ein bisschen mit Ihnen sprechen? ... Entschuldigen Sie, ich habe getrunken. Aber ich bin bei Verstand. Ich möchte dieses Stückchen ... dieses Stückchen nicht allein fahren.“ Er war gutartig in seinem Rausch.

Die Frau, die in Anorak, Jeans und Pelzmütze verpackt war, lachte. „In dieser Bahn fährt keiner allein."

„Ja ... Aber es freut mich, dass ich neben Ihnen sitze."

„Man kann sich den Nachbarn nicht aussuchen.“

„Ich weiß ... Sie freuen sich gar nicht, neben ... neben mir zu sitzen.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen ..."

Die Frau lachte wieder, ein gutmütiges, etwas spöttisches Lachen. Der Alte wusste nicht weiter, hob die Hände von den Knien und ließ sie wieder fallen. Schließlich sagte er: „Ich wünsche Ihnen alles Gute ... Dass Ihnen ein freundlicher Mann die Tür aufmacht, wenn Sie nach Hause kommen ...“

„Danke, Ich wünsche Ihnen auch alles Gute.“

Der Alte erhob sich schwankend. „Ich muss jetzt aussteigen ... Schade ... Und nochmals Dank ... für die Freundlichkeit.“ Er reichte ihr mit Schwung die Hand, die sie auch nahm, und wandte sich zur Tür.

Die Ärztin und die junge Frau lächelten sich zu.

In Rummelsburg verließ auch Helga den Zug. Am zugefrorenen Neuen Tränkegraben entlang ging sie ins Hans-Loch-Viertel. Vor der Tür ihres Aufgangs stand ein Mann. Freudig erschrocken dachte sie, es sei Kusmin. Aber er war es nicht. Mit einem Gefühl der Leere fuhr sie im Fahrstuhl nach oben und schloss ihre Wohnungstür auf.

Sie zog Pelzjacke und Stiefel aus. Stille. Sie ging ins Bad und wusch sich die Hände. Auf der Leine hing getrocknete Wäsche. Sie betrat die Küche. Im Becken lag abgewaschenes, aber nicht weggeräumtes Geschirr. Auf dem Fußboden bemerkte sie Krümel vom eilig eingenommenen Frühstück. Überall wartete Arbeit. Wie viel es war, wenn man alles allein machen musste! Sie packte Eier, Butter und Wurst aus, legte alles in den Kühlschrank.

Stille. Am liebsten wäre sie wieder gegangen.

Sie flüchtete in das kleine Arbeitszimmer, in dem nur ein halb volles Bücherregal und ein neu gekaufter Schreibtisch standen. Hier hatte Otto Baum, ihr ehemaliger Mann, ausgeräumt. Manches vermisste sie nicht, aber um viele Bücher tat es ihr leid. Sie griff nach dem Telefonbuch und sah unter Kusmin nach. Er hatte kein Telefon. Sie hätte nie als Erste bei ihm angerufen. Das passte nicht zum Rollenspiel von Mann und Frau.

Es wäre nur schön gewesen zu wissen, dass sie hätte anrufen können.

Sie wählte die Nummer ihrer Eltern. „Helga. Guten Abend, Vater ... Ein Wunder, dass du schon da bist. Mir war so, und da hab ich bei euch angerufen ... Seid ihr am Sonntag zu Hause? ... Vielleicht komm ich. Vielleicht bring ich auch jemand mit, ich weiß noch nicht ... Nein, ihr kennt ihn nicht, ich kenne ihn eigentlich auch noch nicht ... Zu tun ist genug, leider. Grüß Mutter! Bis dann ..."

Ein Telefonat wie viele, mit der Vertrautheit, aber auch mit der Eintönigkeit des Alltäglichen.

Ach, die Eltern, immer wieder die Eltern. Sie waren die Kindheit, in die man nicht zurückschlüpfen konnte. Sie waren nicht das Leben, das eigene, die Verantwortung, das Ausstrecken der Kräfte, die Hingabe. Gerade ihre Existenz machte einem manchmal den Mangel im eigenen Dasein bewusst. Dennoch liebte sie sie und gerade auch darum. Sie forderten sie noch immer.

Helga erhob sich und begann mit der Hausarbeit. Der Staubsauger brummte, das Bügeleisen flitzte, und das Geschirr flog scheppernd in den Schrank. Sie ließ warmes Wasser in die Wanne und streckte sich wohlig darin aus, betrachtete sich. Sie war zwar eine dünne, schmale Person, aber die Brüste und die Schenkel waren nicht kümmerlich, nein, keineswegs. Alles in Ordnung. Schluss jetzt, Helga, mit der Selbstbesichtigung, befahl sie sich, es scheint sich wieder zu lohnen, zu warten, zu hoffen, sich zu sehnen ...

Jenen Otto Baum hatte sie zu schnell und zu bereitwillig geliebt. Sehnsüchtig und voller Illusionen war sie ihm in die Arme gefallen. Nein, Liebe hatte nichts mit Illusion, aber viel mit Klarheit zu tun. Lieben hieß jemand mit seinen Schwächen kennen und ihn dennoch mögen, aber nicht sich über Mängel hinwegtäuschen und hinweglügen. Lächerlich war es, von der „Allmacht der Liebe“ zu träumen und zu glauben, dass sie „heilen" könne.

Gewiss fiel Liebe nicht vom Himmel. Wie sie langsam zerstört werden konnte - und Baum hatte sie getötet mit seiner verstockten, nicht zu akzeptierenden und durch nichts zu beirrenden Überheblichkeit - so konnte sie auch allmählich geweckt werden. Freilich, ohne das existierte sie nicht: ohne dieses plötzliche Erkennen, diese unerklärliche Sympathie, dieses Berührtsein von zwei Augen, einem Lächeln, einer Geste ...

Geräuschvoll plätschernd stieg Helga aus der Wanne und trocknete sich ab.