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Uwe Berger

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Beschreibung

Die Handlung entwickelt sich vor und nach 1945. Schauplätze sind Berlin, Dresden und Paris. Der Ingenieur John steht zwischen zwei Frauen, der mit ihm verheirateten lasziven Helene, die nazifreundlich ist, und der attraktiven Carola, die in seinem AEG-Betrieb als Sekretärin arbeitet und einer linken Gruppe angehört. John verbirgt sie vor der Gestapo. Carola kann nach Frankreich fliehen. John bleibt und hat Kontakt zu einem Mitglied der verschwörerischen „Teegesellschaft“. Von Helene geschieden, versucht John nach dem Krieg in Ostberlin mit der aus der Résistance selbstsicher zurückgekehrten Carola zu leben. Er, den die lauernde Gewalttätigkeit Helenes abgestoßen hat, erträgt auch die intolerante Starrheit Carolas nicht. Er sucht nach mehr. Am Grabmal von Walther Rathenau erkennt er, wie sehr er mit den Verhältnissen in Ostberlin kollidiert, wie einsam er ist, und erliegt bald darauf einem Herzversagen. Doch auch Carola hat ihre Schwierigkeiten und versöhnt sich nach dem Tod von John mit Helene. Das Leben lehrt sie, über sich selbst zu entscheiden.

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Impressum

Uwe Berger

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Roman

ISBN: 978-3-86394-057-7 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Die Straßenbahn ratterte und ächzte in allen Fugen. Die sommerliche Hitze war jetzt, in der Frühe, noch erträglich. Die Bäume standen grau und staubig am Straßenrand. John dachte an den üblichen Abschied von seiner Frau. Auch Helene hatte etwas von der Mattigkeit dieser Bäume gehabt und ihn wie abwesend auf die Stirn geküsst. Er mochte es nicht, wenn sie so war. Aus ihrem schwelenden Überdruss konnte jäh die Flamme blinden Zorns schlagen. Ein harmloses Wort, das ihr nicht gefiel, und ihr Unmut ergoss sich verheerend über ihn. Sein Gerechtigkeitsgefühl war dann verletzt; doch seine zitternde Empörung reizte sie noch mehr.

Heute war Derartiges nicht geschehen. Er hatte nur gespürt, dass sie auf der Lauer lag, dass sie nach einem Anlass suchte, um über ihn herzufallen. Der Anlass würde sich früher oder später schon finden, da gab er sich keiner Illusion hin. Ganz egal, ob er sich bemühte, liebevoll zu sein oder nicht.

Am besten ist es, so dachte er, Gleichmut zu üben, sein Schicksal auf sich zu nehmen. Letzten Endes meint es das Schicksal nicht schlecht mit mir. Da das Werk für die Rüstung arbeitet, werde ich nicht eingezogen. Immerhin.

Die leicht angerußten Ziegelmauern seines zweiten Zuhauses kamen in Sicht. John stand auf, schob sich am Schaffner und seinem klappernden Wechselapparat vorbei und stieg aus.

Er hatte sie immer lächerlich gefunden, die an vergangene Stilepochen erinnernden Zinnen, Spitzbogen und Treppengiebel des Eingangstores. Aber wen interessierte sein Geschmack. Er grüßte den Wachmann und verspürte den typischen Kabelgeruch des Werkes. Kisten türmten sich an seinem Weg. Vom letzten Hof aus sah man aufs Wasser. Es flimmerte schwach in der trüben Morgensonne . Ein Hauch von Fäulnis wehte herauf.

Wie lange noch würde er hier entlanggehen?

Er fürchtete nicht so sehr den Alltag des Krieges, der ihn jeden Tag an die Front holen konnte, der sich jetzt auch im Osten maßlos ausbreitete und mit nächtlichen Fliegerangriffen nach Berlin langte - ein wenig freilich fürchtete er das alles schon. Doch mehr beherrschte ihn eine namenlose Angst vor dem Ungewissen, vor dem Morgen, vor dem Menschen nebenan. Dabei war er kein Feigling; einer unausweichlichen Gefahr vermochte er gelassen ins Auge zu sehen.

Vielleicht lag es an Helene.

Vor Kurzem hatte es eine jener Auseinandersetzungen gegeben, die ihn mit Schauder erfüllten. Sie schlug ihm die Brille vom Gesicht. Als er die vor Wut Schäumende an den Armen packte und sie sich mit festem Griff vom Leibe hielt, biss sie ihn in die Hand. Sie stieß Worte des hemmungslosen Hasses hervor. Umbringen sollte man dich!

Konnte er sie noch lieben?

John stieg die kahle, steinerne, von einem Eisengeländer begleitete Treppe hinauf. Er öffnete eine grau gestrichene Stahltür mit dem Schildchen ING. BREHMER. Der Raum, den er betrat, war fast so nüchtern und hässlich wie die Treppe. Spärliches Licht fiel auf einen zerkratzten Schreibtisch, einen hölzernen Stuhl, einen Schrank mit Schubfächern und einem verschließbaren Rollladen. Eine zweite Tür, die mit einer Glasscheibe versehen war, führte in die Montagehalle. Dort waren Elektromotoren aufgereiht, über die sich Männer in blauer Arbeitskleidung beugten. John nahm Pläne und Zeichnungen aus dem Schrank, warf einen Blick darauf und schickte sich dann zu einem Rundgang an.

Das Telefon klingelte.

Der wissenschaftliche Direktor ließ bitten. John ging hinüber in das benachbarte Gebäude. Im Vorzimmer des Chefs saß Fräulein Rathmann, die Sekretärin, eine schlanke Person mit dunklen Augen.

"Worum geht's?", erkundigte er sich, "Fragen Sie ihn selbst."

"Ich frag aber Sie, Carola."

"Es geht um Sie und was man Ihnen zutrauen kann."

"Ein neuer Auftrag?"

"Ich muss Sie jetzt anmelden." Carola stand auf.

"Warten Sie noch einen Augenblick ...“

Sie kam hinter ihrem Tisch hervor, wandte den Kopf zu ihm hin und sah ihn an.

"Meinen Sie", fuhr John fort, "dass die AEG wieder Leute einsparen will und dass ich die Uk-Stellung von dem einen oder anderen aufheben soll? Würden Sie das verantworten wollen?"

"Ich glaube kaum. Aber Sie müssen entscheiden."

"Danke."

Warum stelle ich der jungen Frau solche Fragen, dachte John.

Sie ist scheu und zurückhaltend. Zwingt man sie aber zur Antwort, hat sie eine unerwartete Sicherheit.

Carola öffnete die Tür zum Zimmer des Chefs. Mit einem Lächeln in den Mundwinkeln ging John an ihr vorüber. Hinter einem großen, dunkelgebeizten Schreibtisch saß Potter, der Mann, der hier in allen wichtigen Fragen das letzte Wort hatte. Er verstand es jedoch, nicht nur zu befehlen, sondern auch anzuregen und den Erfolg zu organisieren. Seine grauen Haare waren kurz geschoren. Prüfend sah er durch die Brille auf den Eintretenden.

"Herr Brehmer, ich hab Sie hergebeten, um mit Ihnen was Neues zu besprechen. Der Auftrag kommt von ganz oben.“

Während des anschließenden Gesprächs ging Potter gleich ins Detail. Er konnte in wenigen Sätzen Wesentliches sagen. John blickte auf das Parteiabzeichen am Jackett seines Gegenübers und dachte: Bist Nazi, aber wohl kein verbohrter, hängst dein Mäntelchen nach dem Wind, um deinen Posten zwischen Aufsichtsrat und Praxis zu behalten. Ich brauch so was nicht, kann mir selbst treu bleiben. Ingenieur bin ich und nichts weiter. Die besten Ingenieure sind die, die nichts weiter sein wollen; und die finden immer ihr Auskommen ...

"Also", fasste Potter zusammen, "wir haben es mit hochgespanntem Gleichstrom zu tun. Dafür müssen wir entsprechende Schalter konstruieren. Ihre Aufgabe."

John verabschiedete sich. Ein persönliches Wort fiel nicht.

Wenig später brachte ihm Fräulein Rathmann technologische Unterlagen für die neue Aufgabe. Im grauen Arbeitszimmer leuchtete ihre rosafarbene Bluse. Mit gesenktem Kopf stand sie an Johns Schreibtisch, und er sah auf ihren Scheitel, das glatt anliegende, kurze schwarze Haar.

"Wie kommen Sie mit Ihrem Chef aus?“, fragte er plötzlich. "Ist er nicht wie eine Maschine?"

"Meinen Sie vielleicht, dass Sie besser sind?" Sie blitzte ihn mit kampflustigen Augen an.

John stutzte. Gut pariert, dachte er, und dabei ziemlich schroff. Dann deutete er ihre Worte auf seine Weise, mit männlicher Selbstgefälligkeit. Gutmütig lachend, sagte er: "Nein, das meine ich nicht. Jeder hat seine Schwächen. Und Sie, Carola?"

Sie hob den Kopf. "Ich bin eine unwichtige Person."

"Nein, das sind Sie nicht", erwiderte er mit Nachdruck. Ziemlich eigenwillig war sie. Aber ihr Widerspruch hatte nichts Abweisendes, im Gegenteil, er berührte ihn angenehm in dieser Welt des Heilschreiens, Kriechens und Horchens. Sie fordert mich heraus, ihren Wert zu erkennen, stellte er fest.

"Ich gehe denn", sagte sie.

"Ja", antwortete er und lauschte dem Nachhall ihrer Stimme. "Auf Wiedersehen", fügte er hinzu.

Kopfschüttelnd begann er, sich mit den Unterlagen zu beschäftigen. Der Auftrag verlangte einiges Nachdenken und Neudenken. Er freute sich auf die Arbeit, hoffte, dass sie ihn fesseln und die Unruhe, die ihn seit einiger Zeit beherrschte, von ihm nehmen werde.

Der Nachmittag kam. Der blaue Himmel, aus dem die atemlose Hitze niederfiel, füllte sich mit niedrig ziehenden Wolken.

Pünktlich verließ John das Werk. Eine Windböe fegte die Straße entlang und schleuderte ihm Staub und Sand ins Gesicht. Er rieb sich die Augen. Große Tropfen klatschten auf das schmutzige Pflaster, Mit anderen Menschen auf die Straßenbahn wartend, dachte er: Mein Leben verläuft zwischen Werk und Wohnung. Am Wochenende ist das Laubengrundstück Inhalt und Ziel des Lebens. Das eigentlich Wichtige geschieht nicht. Oder kommt es noch?

Das Bedrohliche der Zeit wurde von John zugleich als das Fordernde empfunden, und zwar nicht in dem Sinne der Nazis, die in den Menschen, in den jungen vor allem, die Lust am Ungeheuerlichen, Unverantwortlichen geweckt und gezüchtet hatten. Eine Forderung anderer Art durchgeisterte ihn, aufregender als alles übrige. Er wusste nicht, was es sein könnte und wie es hieß; er wusste nur, es war da, es würde vielleicht auf ihn zukommen und dürfte ihn nicht unvorbereitet finden.

Ein harter Donnerschlag riss ihn aus seiner Versunkenheit. Es begann rauschend zu regnen. Die Frauen an der Haltestelle spannten ihre Schirme auf. Einige Männer hielten sich die Aktentasche über den Kopf. John klappte den Kragen seines Jacketts hoch. Die Straßenbahn musste gleich kommen.

"Wollen Sie mit unter meinen Schirm, Herr Brehmer?", fragte eine weibliche Stimme neben ihm. Es war eine Frau aus der Betriebsverwaltung, rundlich, mit welligem blonden Haar.

"Schönen Dank", sagte er, "ich kann ja ’n bisschen näherrücken." Und er beugte sich unter den Schirm. Es genierte ihn ein wenig, obwohl er nicht unempfindlich gegen eine Freundlichkeit war, die der öden Welt der Fabrik und dem gleichförmigen Alltag Farbe und Schönheit verlieh. Die Frauen leisteten in dieser Hinsicht mehr, dessen war er sich bewusst. Dennoch wurzelte wegen der Konflikte mit Helene ein unbewusstes Misstrauen gegen alles Weibliche in ihm. So blieb er wortkarg.

Die Straßenbahn rollte mit metallischem Singen heran. Während der Fahrt unterhielt er sich notgedrungen ein bisschen mit der Schirmträgerin. Erinner ich mich richtig, Sie sind Frau Kowalski? - Ja, und Sie haben ein Töchterchen, nicht (woher sie das nur wusste). Wie geht es ihr? - Gut. - Mein Sohn ist an der Front, im Osten. Er ist nicht viel jünger als Sie. Ich hab solche Angst.

John verstummte. Billigen Trost zu spenden vermochte er nicht. Auch traf ihn der unbeabsichtigte Vorwurf, es besser zu haben als der Sohn. Aber das Schweigen, das eintrat, verband eher, als dass es trennte. Man tat ja ohnehin gut daran, nicht alles auszusprechen. Saugende Ohren gab es fast überall. Schweigen, das sagte: Wir verstehen uns. Von Schweigen begleitet war, als sie ausstieg, ihr Lächeln, das er wortlos erwiderte.

Die kleine muntere Ditte. John freute sich auf sie, an die er erinnert worden war. Seit vier Jahren gab es sie. Anfangs hatte es so ausgesehen, als werde durch sie alles besser.

Der Regen rann in ununterbrochenen Strömen an den Scheiben der Bahn herab, Man sah wie durch Mattglas. Die Häuser farblose Felswände. Die Autos huschende Ungeheuer. Die Menschen schwärzliche Schatten.

2. Kapitel

Es regnete kaum noch, als John die Straßenbahn verließ und die Treppe zur S-Bahn erklomm, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Auf dem Bahnsteig blieb er an gewohnter Stelle stehen. Sein Blick streifte die Anschläge an der Litfaßsäule. Ein Zettel war schief über die Kino-Reklame geklebt. Neugierig trat er näher und las den mit Schreibmaschine getippten Satz: ARBEITER, STÜRZT HITLER, DEN MÖRDER! Ein eisiger Schreck durchzuckte ihn. Vorsichtig wandte er sich um. Niemand beobachtete ihn. Er ging ein paar Schritte beiseite und ärgerte sich über sich selbst.

Einen solchen Schreck zu kriegen! Immerhin, die solche Zettel schrieben und anklebten, riskierten Kopf und Kragen. Und die sie lasen und nicht Alarm schlugen, vielleicht auch, wer weiß?

In einer Anwandlung von Neugier überlegte John: Mal sehen, wie die Leute reagieren! Und stellte sich so, dass er die Anschlagsäule unauffällig im Auge behielt.

Ein großer Junge, der einen Haarschnitt wie der Schauspieler Victor de Kowa hatte, bleib stehen, neigte den Kopf, pfiff leise und schlenderte weiter, die Hände in die Hosentaschen schiebend. Eine bebrillte ältere Frau ging dicht heran und sagte: "O Gott!" Sie entfernte sich eilig. Eine junge Frau mit eingerolltem dunklem Haarkranz lief rot an, drehte sich scharf um und steuerte, mit den Stöckelschuhen klappernd, die Tür der Bahnhofsaufsicht an. Na bitte! dachte John und konzentrierte sich auf die heranrollende S-Bahn.

Bald hatte er die Vorstadtgegend erreicht, in der er mit seiner Familie wohnte. Niedrige zwei- und dreistöckige Häuser säumten die Straßen. Fenstergiebel und Simse schmückten die Fassaden. Die Mehrzahl derer, die hier lebten, waren kleine Beamte, Kaufleute und Handwerker; auch Helenes Eltern gehörten zu diesen Leuten. Unter den Wolken hervor schien die Abendsonne auf die Häuserreihen und das gemächliche Treiben der Passanten, die den dampfenden Pfützen auswichen.

Was für ein ruhiges, friedliches Bild, dachte John, aber es trügt. Der Klebezettel ging ihm nicht aus dem Sinn. Der Krieg im Osten nahm furchtbare Dimensionen an. Immer Schrecklicheres entwickelte sich; und offenbar gab es eine Front auch in Deutschland .

John schloss eine schwere, kunstvoll gedrechselte Haustür auf, stieg über eine hölzerne Treppe in die erste Etage und klingelte. Eine hochgewachsene Frau öffnete. Aschblondes, künstlich gewelltes Haar umgab ihr blasses Gesicht mit den großen Augen.

"Guten Abend, Helene."

"Guten Abend."

Falsch, dachte John, falsch! In meiner Stimme lag schon wieder dieses ekelhafte Bitten um gute Laune - und das gerade reizt sie. Warum kann ich Ihr nicht kühl und gelassen entgegentreten, so, wie sie es tut. Da haben wir ein Spiel einstudiert, in dem ich immer wieder die zugewiesene Rolle übernehme.

John legte seine Aktentasche auf die rotangestrichene Flurgarderobe, sah in den länglichen Spiegel und bemerkte, dass sich im Hintergrund die Tür zum Kinderzimmer einen Spalt breit öffnete.

Ditte lugte mit einem Auge heraus. Er hockte sich so hin, dass sein Kopf in derselben Höhe wie der ihre war, kniff ein Auge zu und starrte sie mit dem anderen im Spiegel an. Die Tür wurde aufgestoßen, und Ditte sprang mit fröhlichem Geschrei auf ihn zu. Er nahm sie auf den Arm und drückte sie.

"Immer dieses Gewese", sagte Helene.

Statt zu antworten, kitzelte John die Kleine. Sie kreischte.

„Hör auf zu quieken“, befahl die Mutter dem Kind.

„Ich kitzle sie doch“, wandte John ein.

"Du machst sie ganz verrückt; ich mag das nicht.“

Verärgert, aus der Stimmung gerissen, stellte er Ditte auf den Boden, gab ihr einen zärtlichen Klaps auf die Rückseite und flüsterte ihr zu: "Also dann!"

John ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den kleinen, runden Tisch mit der rötlich-grauen Marmorplatte, der aus irgendeinem Grunde bei ihnen der Rauchtisch hieß.

"Komm ein bisschen her zu mir", sagte er zu Helene und versuchte seiner Stimme, obwohl er wütend war, einen versöhnlichen Klang zu geben.

Sie ließ sich mit einer schlaksigen Bewegung in den Sessel fallen, warf den Kopf nach hinten und fragte: "Ja, was ist?"

"Erzähl mir ein bisschen von euch", meinte John. "Was habt ihr gemacht?"

"Wir waren bei meiner Mutter."

Gerade das hatte er nicht hören wollen. Er lebte auf gespanntem Fuß mit ihrer Familie. Kam Helene von dort, erschien sie ihm immer besonders aggressiv. Der Vater, Postamtsleiter, jetzt Major im militärischen Nachrichtenwesen, war Nazi und hielt ihn für einen Drückeberger und Miesmacher. Die Mutter mochte den Schwiegersohn nicht, ja, sie hasste ihn. Sie teilte nicht nur die Ansichten ihres Mannes, sondern sie glaubte auch, John wende Tochter und Enkelin von ihr ab. So tat sie alles, um ihren Anspruch und ihren Einfluss auf Helene und Ditte geltend zu machen.

Mit einem Gefühl des Unbehagens lehnte sich John im Sessel zurück. Obwohl er wusste, dass er einen Fehler beging, drückte er seine Gedanken unverblümt aus: "Jedes Mal, wenn du bei deiner Mutter warst, bist du gegen mich eingenommen. Geh doch nicht so oft hin. Lass uns etwas mehr zusammenrücken."

"Solche Reden bringen mich gegen dich auf, nicht meine Mutter."

"Denk mal nach über meine Worte."

"Denk selber nach."

Sinnlos, mit ihr zu sprechen! überlegte John erbittert. Offenheit ist nicht angebracht. Am besten, ich balle die Faust in der Tasche.

Knisternde, unzufriedene Stille trat ein.

Nach einiger Zeit erzählte er - indem er sich Mühe gab, einen leichten Ton anzuschlagen - von dem Klebezettel auf dem Bahnsteig. Es gebe Leute, die zum Sturz Hitlers aufrufen, und es sei ihnen offensichtlich bitterernst.

"Die wollen bloß auf sich aufmerksam machen. Meinst du, dass ihr das Gesindel auch in eurem Werk habt?"

Ihre Stimme klingt etwas schrill, dachte John, und ihre Augen flackern.

"Ich glaube nicht", antwortete er. "Jedenfalls habe ich nichts bemerkt." Er war sich dessen bewusst, dass er log. Warum tu ich das? fragte er sich. Will ich sie beschwichtigen? Oder warum tu ich das?

Wenig später setzte man sich zum gemeinsamen Abendessen an den großen, runden Tisch. Helene band Ditte einen Latz um.

"Will nicht", sagte das Kind.

"Doch, du musst", beharrte die Mutter.

Es gab Bratkartoffeln, Brot mit Margarine, Leberwurst und Kunsthonig, dazu Kräutertee. Als Ditte ein Stück Kartoffel fallen ließ, wurde sie von Helene ermahnt.

"Sag du doch auch mal was“, forderte sie ihn auf.

"Ich mag euch beide." Eine weiche Stimmung hatte John erfasst. Er war des Geplänkels müde.

Helene sah ihn groß an.

Nach dem Essen brachte die Mutter das Kind zu Bett. In Gedanken versunken, räumte John den Tisch ab. Er hatte einmal gehofft, Helene werde durch die Kleine mehr erfüllt sein und könne ihm deshalb vielleicht näherkommen. Nichts davon war eingetreten. Im Gegenteil. Eifersüchtig bewachte sie Ditte; und neue Reibungsflächen entstanden.

John ließ sich am Schreibtisch nieder, der am offenen Fenster stand. Die Kastanie draußen war von der sinkenden Sonne durchleuchtet. Über Dächern und Giebeln schwamm in der Ferne grauvioletter Dunst. Der nüchterne Reiz von Berlin. Dresden, wo seine Eltern lebten, war lieblicher. Er nahm ein dickes, schwarzes Heft zur Hand, sein Tagebuch, und begann zu schreiben:

"10. Juli 1941. Wieder einmal denke ich an das Zuhause bei meinen Eltern. An die große Stehuhr, die alle Stunde schlägt. An die bunte Kelimdecke, die meine Mutter gestickt hat. An die Bücher im Schrank, die medizinischen meines Vaters, die schöngeistigen meiner Mutter. An den Hauch von Gepflegtheit und Kultiviertheit, der die Wohnung durchzieht wie der Küchendunst die Wohnung der Nachbarn. Durchs Fenster sieht vom Altmarkt der Turm der Kreuzkirche herein, dem Aufsatz einer riesigen Kommode gleich. Meine Mutter ist sanft und gut; und hat sie mal eine Laune, entschuldigt mein Vater sie. Aber wie sie durch die Wohnung geht, im Gefühl der Geborgenheit, wie sie mit Erna, dem Mädchen, die Arbeit im Haushalt bespricht, das hat etwas Überholtes. Die Geborgenheit ist Schein.

Wir haben Krieg.

Gestern meldete das Radio, dass die Spitzen deutscher Panzerverbände östlich von Minsk zum Dnepr vorstoßen. Wie weit werden sie noch vorstoßen? Auch Napoleon stieß immer weiter vor. Der Krieg, wird er nur fern von uns geführt, oder schlägt er auch auf uns nieder? Coventry ist vernichtet worden, deutsche Bomben treffen London, und diese Riesenstadt soll zur Vergeltung für britische Angriffe 'coventriert' werden, wie es heißt. Wird nicht vielmehr Vergeltung uns treffen? Bomben fallen auf Berlin, und es fallen immer mehr. Das innere Befinden der Menschen ist wie das äußere Geschehen. Feindschaft, Tücke und Angst; Lauern, Neiden und Prahlen. Und nichts macht vor meiner Tür halt. Es gelingt mir nicht, den noblen Stil meines Elternhauses fortzusetzen.

An die Stelle der Würde tritt die Niedertracht."

John klappte das Heft zu, schob es unter einen Stapel von Akten und stand auf. Wie würde sie reagieren, wenn sie es las?

Die Nachrichten zu hören, hatte er keine Lust. Aber Ditte wartete sicher auf einen Gute-Nacht-Kuss. An der strickenden Helene vorbei steuerte er auf das Kinderzimmer zu. Ihre Worte, die Kleine werde schon schlafen, beantwortete er mit der Bemerkung, er wolle mal sehen. Und tatsächlich, Ditte lag mit offenen Augen und schlang ihre dünnen Arme um seinen Hals.

Neben seiner Frau im Bett ruhend, überdachte John die vergangenen Stunden. Was hatte der Tag gebracht? Einen neuen Auftrag.

Kaum ein paar Gedanken. Einen Blick. Einen Schreck. Der Alltag des Krieges schleppte sich so hin. Helene las in einer Auswahl aus Fontanes "Wanderungen durch die Mark“. Er betrachtete von der Seite her ihr vertrautes Profil, die kräftige Nase, das feine Kinn. Rührung überkam ihn. Sie beide hatten immer wieder einen neuen Anfang gefunden.

"Was ist?", fragte sie mit träger Stimme, da er nicht aufhörte zu starren.

"Du wanderst in der Fantasie?"

„Nö - eigentlich nicht. Ich erinner mich an Bekanntes, freu mich auf Unbekanntes."

Er streckte den Arm aus und. streichelte ihre Wangen und ihr Kinn. Da sie weiterlas und sich nicht rührte, zog er den Arm zurück und wünschte ihr eine gute Nacht.

John schlief unruhig. Gegen Morgen träumte er, eine Frau stehe vor ihm, die Erna, dem Hausmädchen seiner Eltern, ähnelte, als sie noch jünger und er noch ein Kind war. Sie kam mit Ihren Augen seinem Gesicht nahe. Ihre Lippen waren lang und schmal. Sie küsste ihn. Er fragte sie, ob er sie entkleiden dürfe. Sie nickte, als verstehe es sich von selbst. Er streifte ihr das einfache Kleid über die Locken. Ihr Leib schimmerte eigenartig, wie von Mondlicht übergossen. Er verbarg sein Gesicht zwischen ihren weichen Brüsten und drängte sich an sie. In seiner Erregung dämmerte der Gedanke, dass er träume und innehalten müsse. Er machte sich mit Willensanstrengung wach und fand sich neben Helene, die gleichmäßig atmete.

Der Traum, dessen Bilder sich noch vor seinem inneren Auge bewegten, hatte ihn mit nagender Sehnsucht erfüllt. Aber diese Sehnsucht, so musste er sich gestehen, galt nicht Helene. Wem aber galt sie dann? War sie namenlos? Sicher würde er bald entschiedener versuchen, die Kühle seiner Frau zu überwinden.

Bald. Nur nicht jetzt.

Jetzt wollte er den Traum festhalten und ihn erneut, wenn er verblasste, heraufholen. Bis es Zeit zum Aufstehen war.

3. Kapitel