Backsteintor und Spreewaldkahn - Uwe Berger - E-Book

Backsteintor und Spreewaldkahn E-Book

Uwe Berger

4,7

Beschreibung

Uwe Berger erzählt in seinen literarischen Miniaturen von Städten, Seen und Wäldern der Mark Brandenburg, von den Bewohnern und ihrer Historie, beschreibt die Gegenwart und blickt in die Zukunft. In seiner verhaltenen Art schildert er Landschaften und Charaktere im Sinne des Mottos, das er der Sammlung voranstellt: „Am Ende ist es doch so, dass das Stückchen Erde, auf dem ich hier stehe, und der Raum, der sich heut über mir wölbt, so unerhört sind wie alles Ferne, Vergangene und Zukünftige.“ Indem der Autor mit eigenwilligen und wachen Augen sieht, Anteil am Lebendigen nimmt, wo er es findet, setzt er eine Tradition fort, die mit dem Namen Theodor Fontane verbunden ist. INHALT: Schweigender Herrensee Kraftwerk und Wiesen Grünes Wasser Strausberger Eindrücke Begegnungen mit Frankfurt an der Oder Das Mädchen vom Möllensee Freienwalde Ernte in Letschin Stadt mit Charakter Klosterruine im Wald Der Kanal Ein Weltwunder Am Werbellinsee Tor in Gransee Igel Die Last der armen Mönche Bei Fürstenberg Die historische Insel Herbst im Frühjahr Es raschelt An den Funkmasten Das Pfeifen Schwarzspechte Tierpark in Friedrichsfelde Pflanzen Der Arat Flimmernde Fenster Reinliche Verwandlung Der Park An der Peripherie Die beiden Rehe Wind am Abend Kirschblüte Elstern Pöterhannes Baum fällen Der Holzfäller Afrikaner tanzen Hausbesuch am Abend Die Schule von Mahlow Unbehagen am Schwielowsee Cecilienhof Glume und Pigalle Chinoiserie Ein Maler Der Hass der Bäume Der Gasspeicher bei Ketzin Kontrol kaputt Auf der Autobahn Renaissance in niemece Raben und seine Kirche Der Bergfried Hinter Beelitz Schönefeld Von oben Weg durch Zeuthen The comfort Der umgestürzte Sendemast Blumenkohl Der Förster Nur ein Augenblick Eine Katzengeschichte Weymouthskiefern und Philosophie Hol den Hund! Gosener Kanal Winkel am Seddinsee Der Brand Besuch in Ziegenhals Im Boot Wasserwirtschaft Stadt im Sorbenland Im Unteren Spreewald Fischfang im Köthener See Spreewaldkähne in Schiepzig Die Allee Die Gesichter Fürstenwaldes Schlepper Schwäne Bussarde Der alte Mann Uferbefestigung Nebelwelt Sonne auf dem See Vogelzug Winterlicher See Menschen in der Weite Spur im Schnee An der Friedrichshagener Brauerei Eisangler Waldarbeiter Das Kleiberpärchen Verfolgung Die Weinende Fischer

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Impressum

Uwe Berger

Backsteintor und Spreewaldkahn

Märkische Landschaften

978-3-86394-021-8 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien erstmals 1975 im Aufbau-Berlag Berlin und Weimar.

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorspann

Am Ende ist es doch so, dass das Stückchen Erde, auf dem ich hier stehe, und der Raum, der sich heut über mir wölbt, so unerhört sind wie alles Ferne, Vergangene und Zukünftige und dass ein einzelnes Leben nicht ausreicht, das nahe Ferne und gegenwärtig Fließende zu begreifen.

Schweigender Herrensee

Der Wagen schaukelt auf dem breiten, ausgewaschenen Waldweg, der zu einer Art Tunnel geworden ist. Die Umgebung hat etwas Urwaldhaftes. In verschiedenen Stockwerken, üppig und lichtarm, schließt uns das Grün ein. Wir suchen den Herrensee im Landschaftsschutzgebiet bei Strausberg. Vor uns taucht ein kleiner blauer Lieferwagen auf. Er steht. Der Fahrer, ein alter Mann, macht ein Schwätzchen mit einem anderen alten Mann auf einem Motorrad. Wir fragen sie nach unserem Ziel, denn verschiedene Wege kreuzen hier den unseren.

„Immer geradeaus", lautet die zweistimmige Auskunft. Der Alte auf dem Motorrad lächelt verschmitzt, als er hinzufügt: „Bis zu der Kneipe. Und dann links."

Die Kneipe haben wir bald erreicht. Hinter einem Drahtzaun mit dem Schild WALDGASTSTÄTTE - MITTAGSTISCH, DIV. BIERE, FREMDENZIMMER verkriechen sich im wuchernden Gras drei alte steinerne Hütten. Zwei davon sind offenbar die Fremdenzimmer, die dritte stellt wohl die Gaststätte dar. Aus einem der „Zimmer" tönt ein Kofferradio. Im anschließenden Wald stehen hochmoderne weiße Bungalows und zeugen von der Mode, sich ein Stück Landschaft anzueignen und einzuzäunen. Wir fahren weiter und immer weiter in dem urwüchsigen Wald, doch erblicken wir keinen See. Schließlich kehren wir um und steigen in eine Schlucht hinab, in der wir schon auf dem Herweg etwas Schilf und eine winzige grüne Wasserfläche bemerkt haben. Unten angelangt, stehen wir am südlichen, verlandenden Ende des Herrensees, das durch einen Schilfgürtel vom eigentlichen See abgetrennt ist.

Die Blättchen der Kleinen Wasserlinse überziehen diesen Teil des Sees fast völlig mit einem dichten Teppich. Eine Gruppe von Bleßrallen verdrückt sich scheu. Am sumpfigen Ufer entlang führt ein Pfad. Erlen ragen aus dem Wasser, Sumpfkräuter treiben, und saftiges Schilf raschelt leise. An dem steilen Hang, der den See umgibt, wachsen riesige Kiefern, ich habe so riesige noch nicht gesehen. Ich schätze ihre Höhe auf dreißig Meter.

Plötzlich öffnet sich das Schilf. Wir sehen auf freies, gelbgrau gefärbtes Wasser, das sich in kleinen Wellen kräuselt. Das Wasser dehnt sich ziemlich weit aus, die Ufer begleiten es als lückenlose grüne Mauer. Menschen sind weder zu sehen noch zu hören. Vor uns schwimmt eine ovale Insel von Weißen Teichrosen mit noch schwach entwickelten Blüten. Die Blätter klappen im Wind empor und stellen sich mal hier, mal dort tütenartig auf, sodass die fest verankerte Insel in ständiger Bewegung ist. Ein haubenloser Taucher zieht an ihr vorbei und verschwindet in der Tiefe, ehe wir ihn ins Glas bekommen. Als er wieder auftaucht, hat er sich ziemlich weit entfernt. Ich bin überzeugt, dass da ein einsamer Rothalstaucher der Jagd auf kleine Wasserlebewesen nachgeht.

Gelassen, in Unkenntnis der Gefahren, die sie bedrohen, schweigt diese Welt. Es ist keine Totenstille, sondern ein bewegtes, knisterndes Schweigen. Wieder verschwindet der Taucher. Die Wellen rieseln, und die Teichrosenblätter stellen sich auf.

Kraftwerk und Wiesen

Der Himmel ist voller Hochspannungsleitungen. Sie gehen alle von einem Punkt aus, dem Kraftwerk bei Alt Landsberg, und verteilen sich schwarz, starr und summend über uns hinweg ins Land.

Grün liegen die Wiesen unter diesem Geflecht. Wären sie ohne die Technik schöner?

Stünden hier und anderswo bei uns nicht solche Werke, die Kraftströme ausschicken, müssten wir bangen um die grünen Wiesen, ihre Lebendigkeit, ihre Schönheit. Die Braunkohlenkumpel jenseits der Spree, die Erdgasförderer im weiten Osten aber halten auch über sie die Arme und machen sie stark, die Wiesen, sodass sie nicht verloren sind im Sturz der Zeit, nicht Requisit idyllischer Verkommenheit, sondern Teil einer vielgestaltigen Landschaft, die wir uns nach unseren Bedürfnissen einrichten.

Sattgrün leuchten die Wiesen. Schwarze Strahlen schießen zwischen ihnen und einem Himmel, der brodelt, ungeduldig rüttelnd, gebändigt ins Weite.

Grünes Wasser

In Alt Landsberg finden wir einen uralten Turm und Reste einer Mauer. Turm und Mauer wurden aus Feldsteinen, runden Geschiebebrocken von Faust- bis Kohlkopfgröße, gebaut. Auf dem Turm liegt ein Wagenrad, Unterlage für ein Storchennest.

Durchs Fernglas betrachten wir vier Störche. Die Einheimischen, vor allem Frauen mit der Einkaufstasche, betrachten uns.

Mitten im tiefen Mischwald, zwischen Eichen, Birken, Fichten, Kiefern und Erlen, abgetrennt vom System der Wasserstraßen, von Frachtkähnen, Motorbooten und Regatten, schläft der Bötzsee.

Wir bewundern ein werkseigenes Ferienheim an seinem Ufer. Das Heim hat eine eigene Badeanstalt, Liegewiesen, Ruderboote — nur sieht man kaum einen Menschen in all der Pracht. Nicht jeder weiß diese Stille zu schätzen. Aber der FDGB wüsste schon dankbare Gäste zu finden.

Sonst sind die Ufer unbebaut. Keiner hat die Schönheit für sich gepachtet.

Das Fernglas rückt uns alles nahe: dichten Wald, Sandufer und klares Wasser, das das Grün der Bäume spiegelt. Wir baden trotz des kühlen Wetters und sind ganz allein. Wir planschen und hüpfen vor Freude in dem grünen Wasser wie die Kinder.

Es ist schön, über diesen stillen See zu blicken. Schöner, in ihm zu sein.

Strausberger Eindrücke

Aus einem winzigen Zimmer des Hotels „Süd" in Strausberg sah ich im Sommer 1960 auf die Wipfel des Waldes, in dem sich der Straussee verbirgt. Nach Harz riechende Luft drang zum Fenster herein.

Für Autos gab es eine breite Auffahrt zum Hotel. An Fußgänger war nicht gedacht. Auf einem Trampelpfad ging ich über einen kiefernbestandenen Hügel zur Straße hinunter, um in die Straßenbahn zu steigen. Im Gras neben dem Pfad lag ein unrasierter Mann und schlief. Es war einer, der etwas auf dem Kerbholz hatte, wie sich später herausstellte. Er wurde im Hotel verhaftet, wo er erschöpft Unterschlupf gesucht hatte.

Düsenjäger rasten durch den wolkenlosen Himmel über dem alten Städtchen, dessen Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht.

Der See, der keine Verbindung zu den Berliner Wasserstraßen hat, verbreitete in der Junihitze angenehme Kühle. Wind kräuselte seine Oberfläche. Unermüdlich flogen Mauersegler eine Handbreit über den Wellen. Sie streiften das Ufer, jagten im Zickzack zwischen Bäumen und Sträuchern, glitten erneut über das dunkelblaue Wasser. Dabei stießen sie eine Art Zwitschern aus, ein leises, schrilles Srie-srie. Fröhliche Menschenlaute tönten aus einer Badeanstalt.

Das jenseitige Ufer erschien als ein dichter grüner Wall.

Ich ging auf die Motorfähre, die sich an einem Drahtseil von Ufer zu Ufer zog. Zwei Dutzend Kinder und deren Erzieherin fuhren mit. Die Kleinen knieten sich an die vordere Bordwand. Es war ein drolliges Bild, wie sie den Fahrgästen ihre strubbeligen Hinterköpfe, ihre Rücken und Schuhsohlen zukehrten.

Am schattigen Südende des Sees saß ich und lauschte dem Treiben der Fische:

Die Fische schnappen nach dem Licht, das freundlich seine Fäden flicht durch dunkle Wipfel ...

Begegnungen mit Frankfurt an der Oder

Mein Vater holte mich 1943 mithilfe eines Arztes aus dem Evakuierungslager in Kleczew, nachdem ich einen Brief durch die Zensur geschmuggelt hatte. Ein Kind, ein Schüler, flüchtete ich vor dem Faschismus, .nicht vor den Bomben. In Berlin konnte ich aber nur während der Ferien bleiben. So brachte mich mein Vater nach Frankfurt an der Oder. Die Stadt beeindruckte mich sehr. Es war ein Ort mit Geschichte, der mir erlaubte, auf der Flucht vor der Gegenwart in der Vergangenheit zu rasten.

Besonders andächtig stand ich vor dem Rathaus, dessen Kernstück schon im 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts gebaut wurde. Frankfurt gehörte der Hanse an, und die Rathäuser der Hansestädte waren zugleich Kaufhäuser. Durch diese Tore also ließen sie ihre Waren schaffen und gingen sie ein und aus, die bürgerlichen Kaufherren, die den Feudalgewalten der Zeit trotzten. Der rote Backsteinbau hatte etwas Breites und Solides. Die gotische Vertikale wurde durch die Ausprägung von drei Stockwerken gemildert. Die eigenartigen barocken Türmchen zwischen den spitzgiebligen Fenstern deuteten auf die baulichen Veränderungen durch den Italiener Thaddäus Pagglion Anfang des 17. Jahrhunderts hin. Nach dem Umbau gab es in dem Rathaus Hallen der Schneider und Schuster, verschiedene Amtsräume, einen Raum für Theaterspiel und Geselligkeiten, das Gefängnis und die Folterkammer.

Schon 1448, als der Kurfürst genügend Macht besaß, den brandenburgischen Städten die Zugehörigkeit zur Hanse zu untersagen, lagen die Dinge für die Stadt nicht mehr günstig. Wie erst stand es fünf Jahrhunderte später um sie! Als ich an einem kühlen Frühlingstag des Jahres 1950 aus dem hoch gelegenen Bahnhof trat, sah ich an der Stelle der Innenstadt eine Wüste. Gleich verwittertem Gestein reihten sich die Schutthaufen zerstörter Häuser. Da lag das Ergebnis dessen, vor dem ich einst hierher geflüchtet war. Nur das Rathaus, die Marienkirche und ein, zwei Häuser hatte es verschont. Doch das ganze Viertel der ärmlichen Häuschen an der Böschung zur Oder war erhalten, denn der Orkan der sowjetischen Artillerie, die sinnlosen Widerstand zu brechen hatte, war über sie hinweggegangen.

Mir erschien das als ein Symbol für die zähe Lebenskraft des „vierten Standes“, in dessen Dienst ich mich gestellt hatte. In diesem Krieg ging für mich und viele meinesgleichen nicht nur die eine und die andere Stadt in Flammen unter. Es hatte sich in unseren Augen auch die Welt, die diese Flammen entzündete, selbst gerichtet, die Welt der räuberisch gewordenen, historisch überlebten Hanseatenerben.

Heute ist Frankfurt an der Oder eine neu erbaute Stadt. Das alte Rathaus fordert uns, die wir die veränderte Gegenwart lieben, zu geschichtlichem Denken auf.

Das Mädchen vom Möllensee

Östlich des Möllensees, bei Erkner, liegt eine Kiesgrube, die mit durchsichtigem Wasser gefüllt ist. Auf der Lichtung im Kiefernwald zwischen der Kiesgrube und dem Möllensee war während des zweiten Weltkriegs eine Flakbatterie eingegraben. Fast noch ein Kind, stürzte ich mich hier bei nächtlichen Fliegerangriffen in eine verhasste Uniform. Hier sah ich den Himmel nachts sich röten und tags sich schwärzen von den Bränden der Stadt. Und hier sangen sowjetische Kriegsgefangene ihre Lieder, die den versteinten Wald zum Leben erweckten.

An einem Herbstabend ging ich mit einem Mädchen den Weg von der Kiesgrube zum Möllensee. Vielleicht war sie vierzehn, ich war fünfzehn. Wir gingen schweigend und verlegen, wir wussten uns nicht viel zu sagen. Als uns im Mondlicht ein Unteroffizier entgegenkam, erstarrten wir vor Schreck, denn ich hatte mich unerlaubt entfernt. Doch jener offenbar auch. Er kam vom Zeltplatz am Möllensee und zischte bloß wütend im Vorbeigehen: „Jetzt wird's verrückt, jetzt fangen die Kinder schon an!"

Der Zynismus des Menschen stieß mich ab, und durch die Abscheu verlor ich meine Verlegenheit. Hatte ich bis dahin nur krampfhaft überlegt, ob ich das Mädchen küssen dürfe, ohne sie zu fragen, wusste ich nun auf einmal, was ich sollte. Ich legte ihr den Arm auf die Schulter und streichelte ihr Haar. Sie war kleiner als ich, hatte ein breites, etwas zugespitztes Gesicht mit einem schönen Mund und sah mich von unten herauf an. Vertrauensvoll nahm sie hin, was ich tat, und ich tat nichts weiter, hätte auch nichts weiter tun können, aber wusste nun, dass es richtig sei.

Finster standen die Kiefern, dufteten und rauschten. Über dem Graben, der die Kiesgrube mit dem Möllensee verbindet, verzweigte sich der Wald. Hier und da warf der Mond ein blinkendes Licht auf die Schwärze des Wassers. Den Brandhimmel sahen wir von drinnen nicht.

Noch einmal trafen wir uns nach dem Ende des Krieges in den Ruinen um den Alexanderplatz, wo sie mit ihrer Mutter wohnte. Wir besuchten ein winziges Kino und sahen den sowjetischen Film über Gorkis Buch „Meine Kindheit“. Als ich sie durch dunkle Trümmergassen nach Haus brachte, legte ich ihr wieder nur den Arm auf die Schulter und streichelte ihr Haar.

Nicht einmal ihren Namen habe ich behalten.

Freienwalde

Die kleine Stadt Bad Freienwalde, schon 1316 urkundlich erwähnt, hat ihre Bedeutung als Knotenpunkt des Verkehrs und als Handelsplatz seit Langem eingebüßt. Durch die Trockenlegung des Oderbruchs, die Mitte des 18. Jahrhunderts begann, verlor Freienwalde die Nachbarschaft zur Oder. Die Oder wurde begradigt, und nur eine Art Kanal, die Alte Oder, blieb — und der Aalfang. Seit Ende des 17. Jahrhunderts ist die Heilkraft eisenhaltiger Quellen in der Nähe der Stadt bekannt.

Zweimal, 1952 und 1954, hielt ich mich in Freienwalde auf. Das „Zentralhotel" war klein, nicht sehr sauber, doch von familiärer Gemütlichkeit. Gegenüber schrie zu verschiedenen Zeiten mit durchdringender Stimme ein Esel. Es war ein furchtbares, heiseres, verröchelndes Geschrei, das an eine rostige Pumpe erinnerte. Ländliche Anwesen säumten die Straßen, teilweise waren es nur Katen. In einem für ihre Entstehungszeiten typischen Widerspruch dazu standen die historischen Repräsentativbauten, das Rathaus, die Kirchen. Ich saß unterhalb des 1798 von David Gilly erbauten Schlosses, das klein auf kleinem Hügel in kleinem Park liegt und heut allen offensteht. Die strengen, mit Pilastern gegliederten Fassaden zeigen die Anfänge der Berliner klassizistischen Schule. David Gillys Sohn Friedrich Gilly war der Lehrmeister Schinkels. Wenn ich mich recht entsinne, wohnte im Schloss auch eine Zeit lang Walther Rathenau, jener großbürgerliche Politiker, der wegen des Rapallovertrags im Auftrag des Großbürgertums ermordet wurde. Der 1922 von Rathenau unterzeichnete Vertrag sah friedliche Koexistenz mit dem Sowjetstaat vor.

Freienwalde ist ein Ort mit Geschichte, wer wollte es bestreiten.

Es zog mich ins Oderlandmuseum im sogenannten Uchtenhagen-Haus, in ein Heimatmuseum, das sich vor anderen seiner Art durch ein gewisses historisches Gewicht der Exponate auszeichnet. Eigenartigerweise rühmt sich Freienwalde immer noch der Edlen von Uchtenhagen, deren Geschlecht vor mehr als drei Jahrhunderten erlosch.

Zur Zeit meiner Besuche war die Stadt bereits zum Verwaltungszentrum für die umliegenden Genossenschaftsdörfer auf dem Barnim-Plateau und im Nordteil des Oderbruchs geworden. Ich sah die Bauern mit dem Pferdefuhrwerk und mit dem Motorrad in die Stadt kommen und selbstbewusst das Rathaus betreten.

Verlässt man Freienwalde in westlicher Richtung, gelangt man an den steilen, sandigen Abfall des Barnim-Plateaus. Hier beginnt oder endet die Märkische Schweiz. Alter, üppiger Mischwald bedeckt das Plateau und füllt die Schluchten. In einer von ihnen, von dunklem Baumgrün eng umschlossen, liegt der kleine stille Teufelssee. Er hinterließ einen zwiespältigen Eindruck in mir.

Vom Hang zur Linken rieselte Quellwasser, das von ockerhaltigem Boden gelb gefärbt war. Wo es in den See lief, schimmerte dieser milchig trüb. Dunkel stand sonst das Wasser im Schatten der Baume. Alles wirkte eng. Schön oder nicht? Es wäre beklemmend gewesen, hätte sich nicht plötzlich von einer Badestelle aus ein einsamer Mann prustend ins Wasser gestürzt und seine Schwimmkünste gezeigt.

Ernte in Letschin

Sieben Jahre nach Kriegsende kam ich als Erntehelfer zu den Bauern. Mit Lastwagen fuhren wir ins Oderbruch, in die Zuckerrübengegend um Letschin. In der ebenen Landschaft ragten nur Berge von Zuckerrüben gleich spitzen Abraumhalden empor. Zuckerrübenberge füllten auch den weiten Hof der Fabrik, in der sie verarbeitet wurden. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft.

Wir fuhren in das lang gestreckte Dorf Letschin hinein und hielten vor der Gastwirtschaft. Mit Henryk, einem Arbeitskameraden polnischer Herkunft, machte ich mich auf, den LPG-Vorsitzenden zu suchen. In der Kneipe zu sitzen war uns zu dumm. Wir fanden den Vorsitzenden bald. Es war ein Mann in blauem Schlosserzeug, der mit dem Motorrad umherfuhr. Und wir bekamen unsere Arbeit.

Eine Erntemaschine hatte die Zuckerrüben aus der Erde gerodet. Unsere einfache, doch auf die Länge mühselige Aufgabe war es, die Zuckerrüben zu Häufchen zusammenzutragen, damit sie aufgeladen werden konnten.

Wir wuschen uns auf dem Hof eines Bauernhauses unter der Pumpe. Die Frauen der LPG hatten Mittagessen für uns gekocht. Eine erzählte, im Stalle junge eine Sau. Mit Henryk und einem anderen ging ich hinein. Die Frau, die uns führte, legte den Finger an den Mund und lächelte. Sie hatte ein breites, faltiges Gesicht.

Das Muttertier lag auf der Seite und schnaufte. Ein mausgroßes Ferkel war schon da, ein anderes trat gerade aus der Geburtsöffnung aus. Es hing an der dünnen, langen Nabelschnur, als wir uns wieder hinausstahlen.

Stadt mit Charakter

Eberswalde ist eine kleine Stadt, aber keine Kleinstadt, kein Krähwinkel. Eberswalde hat Charakter.

Große Ziegelbauten, von einem Kran überragt, empfangen uns selbstbewusst als: VEB Kranbau Eberswalde. Von hier stammen manche unserer überdimensionalen Kräne, jener Hafenkrananlagen und Turmdrehkräne, die in der Welt bekannt sind. Mehrstöckige ältere Mietshäuser stehen an der Straße, auf der wir, von Finow kommend, in die Stadt gelangen. Mit Waren vollgefüllte Kaufhäuser und Läden fallen uns auf.

Seitlich auf dem geräumigen Marktplatz, dem Platz der Freundschaft, stellen wir unseren Wagen ab. In der Mitte des Platzes sprudelt ein Springbrunnen. Das Rathaus mit Ratskeller und Sparkasse wirkt architektonisch etwas verunglückt, Giebel und Erker sind mit ornamentalem Beiwerk überladen — dafür können freilich die Heutigen nicht. Zwei, drei bescheidene Bürgerhäuschen mit Renaissancegiebeln, ein klassizistischer Bau und eine breite gotische Backsteinkirche, die aus dem erhöhten Hintergrund herniedersieht, vervollständigen das Bild.

Ich streife durch die Umgebung.

An einer Bushaltestelle in der Friedrich-Ebert-Straße warten Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts. Keiner gafft neugierig den Fremden an. Zwei kleine Mädchen jagen spielend hintereinanderher. Gegenüber sind die Schaufenster eines „Jugendmodezentrums".

Ich biege in die Schicklerstraße ein. Über ein kleines Wehr und algengrüne Findlinge rauscht das Wasser eines Baches, der Schwärze. Eine Stange mit einem Schild ist ins Wasser gesteckt. Ich trete heran und lese: FISCH- SCHONGEWÄSSER SCHWÄRZE. ANGELN VERBOTEN.

Darunter steht dasselbe in Polnisch. Unter den Bäumen am Bach bemühen sich Frauen und Männer, das Erdreich umzugraben, einen Weg anzulegen und Rasen zu säen. Es sind so viele Menschen, sie schwatzen so nachbarlich und hantieren so ungeübt, dass sofort der freiwillige Arbeitseinsatz erkennbar ist. Stehen zu bleiben und den freundlichen Leuten zuzusehen widerstrebt mir.

Doch vor einem eigenartigen flachen Gebäude mache ich halt.

Es ist, wie eine Inschrift verrät, die Alte Forstakademie. Die 1830 gegründete Institution besteht heute als Fakultät und Institut weiter. Hinter den Säulen des wuchtigen Portals, das die ganze renovierte, farbig getünchte Fassade beherrscht, prangt der achtenswerte Spruch:

Den Wald zu pflegen bringt allen Segen.

Ein Stückchen weiter bearbeiten vier junge Frauen mit der Hacke den Boden vor dem Denkmal Bernhard Danckelmanns, eines Landforstmeisters und Forstakademieleiters, der 1901 in Eberswalde starb. Unter verrutschtem Kopftuch hervor fliegt ein Blick zu mir. Ob die vier mir glauben, dass mein Interesse nur der Bronzestatue gilt?

Stunden später kehren wir noch einmal nach Eberswalde zurück. An unserem Weg in die Stadt liegen ein Landbaukombinat und ein Institut für Angewandte Tierhygiene. Eine endlose Lastwagenkolonne fährt an uns vorbei. Wir essen im Ratskeller Mittag. Die Gäste werden schriftlich gebeten, die Sitzordnung nicht zu verändern, ab 18 Uhr Wein statt Bier zu trinken und nicht zu rauchen. Der junge, langhaarige Ober hat Manieren und sorgt freundlich, aber bestimmt dafür, dass nicht geraucht wird ...

Noch einmal: Eberswalde hat Charakter.

Klosterruine im Wald

Steile, waldbedeckte Hügel sind um uns, als wir von Eberswalde nach Chorin fahren. Das durchsichtige Gezweig der Buchen, die hier häufig vorkommen, hat sich mit einem ersten grünen Schleier bedeckt. In einen Einschnitt zwischen zwei Hügeln hinuntergleitend, sehen wir unvermittelt die roten Dächer des Klosters Chorin über das Baumgrün emporragen. An der Straße zieht sich die uralte Rückfront eines klösterlichen Wirtschaftsgebäudes entlang. Heute gehört das Gebäude mit der teilweise aus Feldsteinen bestehenden Mauer zu einem Forstwirtschaftsbetrieb. Seit 1861 sind Forstleute für die Erhaltung und Pflege der Klosterruine verantwortlich.