Der Schamanenstein - Uwe Berger - E-Book

Der Schamanenstein E-Book

Uwe Berger

4,5

Beschreibung

Uwe Berger schaut sich die Welt persönlich an, über die er schreibt. Das gilt auch für den dritten und letzten Band seiner Reiseimpressionen DER SCHAMANENSTEIN, in dem er von Menschen und Orten nicht nur in Europa, sondern auch in Sibirien berichtet. Mit seiner Frau geht er, bewacht von riesigen Zirbelkiefern, am steinigen Ufer des Baikalsees entlang. Die unendlichen Wasser scheinen sich zu krümmen. Beide sprechen mit Ewenken, Burjaten und den Buddhisten eines Lamaklosters bei Iwolginsk. Die Mönche empfangen und verabschieden die Gäste mit milder Freundlichkeit. Am Ufer des Bratsker Stausees erzählt eine junge Frau von den Verbannten, die ihre Vorfahren waren, und von dem, was der Amerikaner George Kennan in seinem Buch SIBERIA AND THE EXILE SYSTEM im 19. Jahrhundert festgehalten hat. INHALT: Erinnerung in Wolgast Herbststurm Fischkutter Gefährliche Natur Dörfer Überbleibsel Stein und Eisen Humus Engagierte Bewährung Intakt Die Frau mit dem Fahrrad Nicht mitgekommen Seen Im Motorboot Herbstliche Veränderung Eisbrecher Schlittschuhlaufen Dorf in der Braunkohle Nach Grimma Das Göschenhaus Näheres über Sagorski Dreitagestadt An einem Haar Regen Ein Mensch Wohin denn? Justitia Die Friedensburg Seen versetzen Alarm Grotten Fröhliche Landschaft Die Geste des Geologen Planung in Schwarza Der Vater Arnstädter Treffen Ankunft in Böhmen Alles Freund! Um ein weniges Welche Freude, welche Kenntnis Kirchen Die Frauen von Loket Der Marktplatz Folgerichtigkeiten Nur einmal ... Die Angara Stadtbummel Verbannung Juli am Baikal Der Jäger Zedern Steine Rote Feder Steppenleben Ein lamaistisches Kloster Trankopfer Tanja

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Impressum

Uwe Berger

Der Schamanenstein

Menschen und Orte

ISBN 978-3-86394-003-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1980 beim Aufbau-Verlag Berlin und Weimar

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Die Umarmungen, die mir zuteilwerden, leben länger als Steine, wenn ich sie in lebendiges Gefühl für die Menschen zurückverwandele.

Erinnerung in Wolgast

Unter der Klappbrücke, die bei Wolgast die Insel Usedom mit dem Festland verbindet, tanzen spitze Wellen. Der Sturm fegt uns Sprühregen ins Gesicht. Am Kai im Süden liegen einige Kümos, Küstenmotorschiffe, und ein graues Minenräumboot.

Von dem Platz jenseits der Brücke gehen sternartig verschiedene Straßen ab. In einem schmalen überbrückten Wasserarm drängt eine heftige Strömung gegen zwei quer liegende Kähne. Ein Schaumteppich hat sich gebildet. Im Hintergrund erhebt sich ein hoher Kornspeicher. Er ist 1836 aus dunkelroten Backsteinen errichtet worden und kündet von einstiger Kaufmannsherrlichkeit.

Wir überqueren den Platz, der dem Wind preisgegeben ist und vom Regen gepeitscht wird. „Das Städtchen hat für mich was Heimeliges“, sage ich. Warum, will Anneli wissen.

„Das ist schwer zu sagen. Vielleicht, weil man gerade bei solchem Wetter gern an die schützenden Häuser und warmen Stuben denkt. Jedenfalls empfinden die Küstenbewohner so ..."

Ein Junge, dem das nasse Haar am Kopf klebt und das Wasser aus den Gummistiefeln schwappt, schiebt sein Fahrrad durch eine Haustür. Wir betreten einen kleinen HO-Lebensmittelladen, der in einem vorspringenden Eckhaus liegt. Einige Frauen und ein Maat der Volksmarine kaufen Brot und Butter, Wurst und Schokolade ein.

„Außerdem“, sage ich, als wir wieder draußen sind, „erinnert mich hier vieles an Kappeln, obwohl wesentliche Kontraste bestehen.“

Kappeln ist die Geburtsstadt meiner Mutter. Meine Erinnerungen an diesen Ort sind zwiespältig. Auf dem Rückweg über die Klappbrücke zum Parkplatz und auf der anschließenden Fahrt erzähle Ich von meiner letzten Begegnung mit Kappeln im Sommer 1945.

Sechzehnjährig, war ich mit einem faschistischen Truppenteil durch Dänemark nach Schleswig-Holstein marschiert. Nun wartete das Gefangenenlager. Es hieß, Soldaten, die Verwandte in der Nähe haben, könnten sogleich entlassen werden. Mithilfe des Zugführers, eines jungen, dicken und unkriegerischen Leutnants, gelang es mir, vom Bataillonschef einen Entlassungsvermerk im Soldbuch zu erhalten. Allerdings verlangte dieser Leutnant als Gegenleistung, dass ich sein großes Fernglas mitnehme, um es ihm später zuzustellen. Ein anderer Leutnant beschimpfte mich. Ich verrate die Truppe, auch nach dem ersten Weltkrieg sei die Sache weitergegangen, mit Freikorps und so weiter. Ich drehte ihm den Rücken und machte mich noch am selben Abend allein auf den Weg. Im nächsten Dorf ließ mich ein misstrauischer Bauer im Schweinestall schlafen. Neben dem schnaufenden, grunzenden Tier in dem stinkenden Koben legte ich mich auf ein wenig Stroh. Einige Tage war ich unterwegs. Dann erschien ich zum Entsetzen Johns, meines Onkels, und seiner Familie in Kappeln.

Zuerst wurde ich gefragt, ob ich Läuse habe. Natürlich hatte ich welche, wie jeder, der meinen Weg gegangen war. Als John von dem Fernglas hörte, zeterte er angstvoll, das müsse weg, und noch in derselben Stunde vergruben wir es im Garten. Später habe ich es herausgeholt, in einen Karton gepackt und an die Adresse geschickt, die mir der dicke Leutnant genannt hatte.

Meine Mutter schätzte den jüngeren ihrer Brüder nicht, sie war für den älteren, den früh verstorbenen, gescheiten und rebellischen Heinrich. John sei nur Kaufmann, meinte sie immer, und habe der elterlichen Buchhandlung den humanistischen Geist genommen. Und John war Nazi. Das aber sollte sich auch nach dem Krieg für ihn noch als vorteilhaft erweisen. Die britische Besatzungsmacht erkannte nur von ihr vorgenommene Entlassungen an. John, ich und andere sollten in das große Gefangenenlager bei Heide einrücken. Die Briten hatten die Abwicklung aller möglichen Aufgaben in die Hände von Nazioffizieren gelegt, die, mit ihren Orden geschmückt, auch das Rathaus von Kappeln bevölkerten.

Zu denen hatte nun John die besten Beziehungen.

Während die Gruppen der Einrückenden bei den Bussen standen, kam er gelaufen, teilte mir mit, er sei wegen seines Rheumatismus befreit, nahm seinen Tornister und wollte auch seine Stullen haben, die ich in meinem Brotbeutel trug.

„Nein, die bekommst du nicht“, erklärte ich ungerührt und stieg ein.

Qualvolle Wochen des Wartens, des Hungerns und des Krankseins folgten. Mit Hunderttausenden. In Scheunen und auf nackter Erde hinter Stacheldraht. Dann endlich wurden wir geschleust. Ein Militärarzt mit den Zeichen der SS auf den schwarzen Kragenspiegeln, der lässig auf einem Schreibtisch saß, betrachtete uns unterhalb der Gürtellinie. Ein britischer Soldat sammelte mit umgehängter Maschinenpistole in einem verschlossenen Keller, in den wir gruppenweise geführt wurden, alle Armbanduhren ein.

Wieder kam ich nach Kappeln. Der Ort zog mich noch immer an. Seine kleinen Häuser. Die Silos am Hafenkai. Die grünen Ufer der Schlei, auf denen Champignons wuchsen und Rinder grasten, als wäre nichts geschehen, John eröffnete mir, dass ich nicht in seinem Haus, sondern bei meiner Großmutter im Altersheim schlafen werde. Eine Hepatitis überwand ich dort, auf einer schmalen und zu kurzen Sitzbank liegend, die Beine wegen der Lehne auf einen seitwärts herangeschobenen Hocker gestreckt.

Als ich wieder einigermaßen bei Kräften war, machte ich mich nach Berlin auf. Ich wollte meine Eltern suchen, von denen ich keine Nachricht hatte. John kam an den Lastwagen, auf dessen Fracht ich hoch oben mitfahren würde, und gedachte mir einen Apfel aus seinem Garten zu schenken. „Nein, danke“, sagte ich. „Den kannst du behalten.“

Die erste Reisenacht verbrachte ich mit anderen auf dem Flur einer evangelischen Einrichtung in Hamburg, die nächste auf einem abgestellten Güterzug in Hannover. Zusammen mit einem etwas älteren Schwarzfahrer kundschaftete ich eine Gelegenheit nach Berlin aus: einen Zug mit amerikanischem Getreide. Die Waggons waren plombiert. Wir mussten durch die schmale Luke unter dem Dach klettern und fanden andere blinde Passagiere vor, unter ihnen Frauen. Die militärische Wachmannschaft des Zuges bestand anfangs aus Briten, später aus Amerikanern. Natürlich bemerkten sie, dass da nicht nur Getreide fuhr. Sie drohten, uns hinauszuwerfen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden. Die einen begnügten sich mit Armbanduhren. Die anderen wollten Frauen. Der erste sowjetische Soldat, den wir sahen, verhielt sich anders. Er gehörte zur Wache eines kleinen Bahnhofs und sah mich und noch einige zu den Toiletten rennen. Er schüttelte nur schimpfend die Faust und ließ uns wieder in der Luke verschwinden.

Bei Genthin verließ ich den Getreidezug, kaufte mir eine Fahrkarte und fuhr mit einem Personenzug weiter. Seltsamerweise fuhren damals hier im Osten solche Züge schon wieder.

An einem heißen Septembertag erreichte ich Berlin. Mehliger Trümmerstaub und Leichengeruch um den Potsdamer Platz. Das Mietshaus, in dem meine Eltern gewohnt hatten, war in sich zusammengestürzt. Mit Kreide waren Namen und neue Adressen der Bewohner an die Mauerreste geschrieben. Wieder machte ich mich auf den Weg. Diesmal nach Weißensee. Dann öffnete meine Mutter eine Tür. Sie war sehr abgemagert. „Junge, wo kommst du her?“, fragte sie erschüttert. Ich sagte es ihr, und sie entgegnete: „Vielleicht hättest du in Kappeln bleiben sollen.“

Aber dorthin zog mich nichts mehr.

Neben mir am Lenkrad sitzt Anneli, hinter uns wippt unser Sohn auf dem Polster auf und nieder. Zu unserer Linken das regenverhangene Meer. Bungalows und Zelte. Wieder ist es September. Aber es ist, als trennten mich Jahrhunderte von Kappeln.

Herbststurm

Über die Autobahn südlich von Pasewalk schwebt ein großer Vogel mit gezackten, schwarz-weiß getönten Flügeln und einem gegabelten Schwanz von der Farbe zarten Fleisches. Ein Roter Milan, Im Halbkreis immer höher steigend, schwingt er sich in die graue Unendlichkeit des Himmels.

Pasewalk und auch Anklam sind ansehnliche Städte mit würdigen alten Bauwerken und ebenso lebendigen wie sauberen Neubauvierteln. Bezeichnend ist das Bild, das wir kurz vor Anklam finden. Links der Hohe Stein, ein runder Wartturm aus dem 15. Jahrhundert mit Zinnen und Kegeldach. Rechts sechs Futtersilos der Neuzeit, große, graue Türme aus Beton.

Wir fahren auf die Insel Usedom. Inder Nacht blicken wir vom Campingplatz bei Ueckeritz auf ein träge bewegtes Meer. Ein bleicher Mond wirft seine Lichtbahn auf das Wasser, das schwarz und schwer wie geschmolzenes Metall liegt. Es ist unheimlich. Wind rauscht, und Wellen klatschen. Am östlichen Horizont die Lichter von Schiffen, die zur Odermündung im benachbarten Polen gleiten oder von dort kommen.

Wir sind im Herbst nach Usedom gekommen. Am anderen Tag ist der Wind zum Sturm geworden.

Von der Düne aus sehen wir bis weit ins Meer die breithin laufenden Brecher. Unter uns ist die Düne mit Betonplatten befestigt. Schwer schlägt das graue Wasser dagegen, und Fontänen spritzen empor.

Die auf einem Absatz der Befestigung stehenden Strandkörbe werden umspült. Der alte einbeinige Hausmeister unseres Bungalowdorfs kommt herauf. „Die möten weg“, sagt er. „Dat geht schnell, und die See holt sie.“ Ich frage ihn, ob er Hilfe braucht. Er verneint und zeigt mit seiner Krücke zu den Bungalows. Dort machen sich vier kräftige junge Erdölarbeiter auf den Weg. Die Unterkunft, in der wir zu Gast sind, gehört dem VEB Erdöl und Erdgas Grimmen. „Mit denen kann man was machen“, bemerke ich. „Ja, die Jungs sünd in Ordnung“, antwortet der Alte. Er war einmal Fischer.

Das Meer donnert. Melonengroße Kiesel poltern auf dem Beton hin und her. Möwen stoßen in den Wind. Aber dieser ist stärker als sie, packt sie und wirft sie zurück. Elegant lassen sie sich seitwärts abkippen und segeln schwerelos davon.

Fischkutter

Am Strand von Ahlbeck liegen Fischkutter mit Namen wie „Kehrwieder“, „Seeteufel“ oder „Sturmvogel“. Sie sind aus schweren Bohlen gemacht, aber klein, vielleicht sechs Meter lang und zwei breit. Einige haben ein Steuerhäuschen mit großen roten und grünen Positionslampen obendrauf, einfache, nach drei Seiten offene Holzkästen mit einer farbigen Lichtquelle. An einer Eisenstange sind zwei kleine Scheinwerfer befestigt. Dann gibt es noch einen Kasten für den Motor, ein nach oben gezogenes Schwert, zwei Seitenbänke und sonst nichts.

Es sind Nussschalen. Auf stürmischer See würde ich mich nicht sehr wohl in ihnen fühlen. Die Bezeichnung „Kehrwieder“ erinnert an reale Vorkommnisse.

Interessant ist das Landemanöver dieser Fischkutter.

Der „Seeteufel“ kommt von draußen. Es gibt keinen Kai, sondern nur den flachen Sandstrand. Ein Fischer steht im Steuerhaus, der andere am Bordrand und wirft etwa fünfzehn Meter vom Ufer einen Anker. Der Kutter fährt weiter, bis er Grund berührt. Dann wird er, mit laufendem Motor, am Ankerseil mit dem Bug zum Meer gedreht. Der Ankerwerfer springt ins Wasser - er hat lange Seestiefel an - und holt das Tau von einem anderen Anker, der im Sand des Strandes steckt.

Insgesamt an vier Ankern wird das Schiff befestigt.

Leicht in der Brandung schaukelnd, liegt es da, als die Männer ihre Geräte schultern und nach Hause marschieren.

Gefährliche Natur

Vom Dolgener See bemerken wir nichts, bevor wir an seinem Ufer stehen. Steil geht es zum Wasser hinab, und ebenso steil setzt sich der Hang unter Wasser fort. Auf unserer Seite ist Weideland. Das andere Ufer des schmalen und langen Rinnensees wölbt sich, mit Hochwald bedeckt, empor. Die Entfernung dahin beträgt nur anderthalb hundert Meter.

Wir ketten einen Ruderkahn los und gleiten leise über die dunkel spiegelnde Fläche. Zwei Haubentaucher begleiten uns in einigem Abstand. Rasch haben wir das Südende des Gewässers erreicht. Ein einsames Haus schmiegt sich an die Böschung. Menschen begegnen wir nicht. Etwas Unheimliches, Feindseliges kommt dadurch in die Landschaft.

Das Waldufer lockt uns.

Noch zwei Meter vor ihm berühre ich mit dem senkrecht hinabgestoßenen Riemen keinen Grund. Wo dieser endlich aus bodenloser Tiefe heraufsteigt, schweben verschiedene Exemplare einer bleichen Pflanze im Wasser. Nach meiner Ansicht ist es das Gemeine Hornblatt, dessen Familie es schon im Tertiär gab.

Nur wenige Schilfstengel konnten Fuß fassen.

An Land zieht sich zuunterst eine Barriere von Erlen hin. Dunkelgrün, mit einem rötlichen Schimmer, leuchten die Blätter in dem Sonnengefunkel, das gerade durch die Wolken bricht. Darüber strecken sich Buchen, untermischt mit Fichten und Birken. Ein Bach, der aus einer Kluft mit freigespülten runden Steinen rinnt, mündet mit einem kleinen Delta in den See.

Wir ziehen den Kahn aufs Trockene und klettern das Steilufer hinauf. Kleine, grüne Moospolster bedecken den Hang. Den Raum zwischen und über ihnen bewohnen Schnecken, Frösche und Eichelhäher. Säulenartig ragen die Silberstämme der Buchen in den Himmel.

Man könnte sich in ein früheres Erdzeitalter versetzt fühlen.

Wieder empfinde ich die Kleinheit und Verletzlichkeit des Menschen im Geschehen der Natur. Immer noch und immer wieder muss der Mensch sich gegen die Natur behaupten - auch, indem er sie nicht sinnlos verändert und in ihrem Gleichgewicht stört, und auch, indem er sich gegen seine eigene „Natur“ behauptet.

Wie zur Bestätigung meiner Gedanken wird mir eine Lehre erteilt, als wir ebenen Boden erreicht haben.

Der Bach hat sich zwei bis drei Meter tief eingeschnitten. Um auf die andere Seite der Schlucht zu gelangen, krieche ich auf einem Baum entlang, der über sie gestürzt ist: gleich einem mesolithischen Jäger auf dem Urbild der Brücke. Ein Ast, an dem ich mich halten will, bricht, und ich falle hinunter. Nur eine Abschürfung ist die Folge. Aber ich ärgere mich über meine Gedankenlosigkeit.

Die überall verstreuten, durch und durch morschen Äste hätten mir Auskunft über den Zustand des gestürzten Baumes geben können.

Dörfer

Auf Fahrrädern besuchen wir die Dörfer in der Umgebung des Dolgener Sees.

Koldenhof mit seinen Bauernhäusern aus roten Backsteinen ist still und wirkt vergessen. An einer der Behausungen lese ich die Jahreszahl 1880. Aber wir bemerken auch Baustellen. In der Post, einer engen Stube mit Ladentisch, frage ich vergeblich nach Zeitungen.

Die gibt es hier nicht.

Zwischen Koldenhof und Dolgen treffen wir auf die modernen Schweinemastanlagen, deren Duft sich weithin verbreitet. Als gelbe Brühe treten die Abfallstoffe der Fleischproduktion zutage. Wohin mit der Gülle? ist hier die Frage. In Dolgen befindet sich das Zentrum der KAP, das heißt die Leitung der Kooperativen Abteilung Pflanzenproduktion, und ebenso wie in Koldenhof ein Konsum. So klein dieser Laden ist, er enthält allerhand. Man kann sich wie in der Stadt mithilfe eines Metallkorbes selbst bedienen. Wir kaufen Kekse und etwas Seife. Ich sage zur Kassiererin, das sei kein großer Einkauf für drei Leute.

„Das macht nichts“, tröstet sie uns großzügig. „Jetzt ist es ja nicht voll ...“

Auf einem steinigen, tief eingeschnittenen Feldweg radeln wir in Richtung Osten. Vom nächsten Dörfchen lernen wir nur die Silhouette kennen.

Und den Bahnhof.

Der besteht aus nichts als dem Schild Weitendorf und einer weißen Gartenbank auf dem Kiesstreifen vor den Gleisen.

Das erste Haus von Lüttenhagen empfängt uns im bunten Schmuck vieler Astern. Das zierliche Gehöft versinkt geradezu in der blauen, violetten und roten Blütenpracht. Eine Schar weißer Gänse sucht uns die Passage streitig zu machen.

Vor dem Gemeindeamt steigen wir von den Rädern. Neben dem Eingang zur Amtsstube befindet sich eine Tür, über der die Inschrift Gemischtwaren prangt. Eine dicke Frau in weißem Kittel tritt heraus, als sie uns suchend umhergehen sieht, und sagt: „Zum Friedhof geht es an der Scheune vorbei. Der Hund beißt nicht!“ Offenbar sieht sie uns an, was wir suchen.

Knurrend und bellend zieht sich ein schwarzer Hund von unbestimmbarer Rasse in ein Loch im hölzernen Scheunentor zurück. Wir heben einen Riegel von der ebenfalls hölzernen Tür des Friedhofszauns und treten zu den bunt geschmückten Gräbern.

Mehr als die siebenhundertjährige Eiche im Hintergrund, deren knorriger Stamm am Boden etwa zehn Meter Umfang hat, interessiert mich der Glockenstuhl. Er lehnt sich an ein Kirchengebäude an, das eigentlich nur eine Hütte ist und dessen Wände aus Fachwerk mit roten Backsteinen bestehen. Der Glockenstuhl, der den Kirchturm ersetzt, ist ein überdachtes Gerüst aus starken Bohlen. Zwei Glocken hängen darin. Diese sind unterschiedlich groß und zeigen sich stark verrostet. Ich muss anderthalb Meter in die Höhe klettern, um die Inschrift an der größeren zu entziffern: Friedrich Wilhelm GroSSherzog u. Kirchenpatron. W. Bergfeld Pastor. Lüttenhagen 1873. Vor mir liegt das Seil, mit dem sicher noch heute geläutet wird. Glockenstuhl und Bethaus wirken recht vernachlässigt. Eine fehlende Glasscheibe ist durch eine Kunststofffolie ersetzt.

Aus Lüttenhagen hinausfahrend, bemerken wir ein stattliches Gebäude für Landtechnik. Uns freut der Kontrast. Jene durch Religion verbrämte Rückständigkeit, die besonders in Mecklenburg zu Hause war, wurde überwunden. Interessant sind die Zeugen einer solchen Vergangenheit in dem Maße, wie sich die Gegenwart von ihnen abhebt.

Überbleibsel

Auf dem Hauptmannsberg bei Carwitz, hoch über der Feldberger Seenlandschaft, liegt ein großes, gut erhaltenes Steinhügelgrab aus der Bronzezeit. Das ist keine Grabstätte, wie sie in der Steinzeit aus klobigen Findlingen und einer Deckplatte gebaut wurde, sondern ein Hügel aus Steinen von Faust- bis Melonengröße. Diese wurden regellos um eine Urne mit Beigaben aufgehäuft. Ich gehe rundherum und schätze die Abmessungen. Der Hügel hat an der Basis einen Durchmesser von etwa sechzehn Metern und ist gut zwei Meter hoch. Obendrauf steht eine Hinweistafel.

Wir blicken von der Höhe auf die Seen und die Hügel im Osten. Es ist ein abwechslungsreiches Bild. Inseln und Halbinseln, Buchten mit Schilf, Wiesen, Sträucher und Baumgruppen, die sich über eine kuppige Landschaft hinziehen. Ein einzelnes Boot. Ein paar Reusenstangen. Drei Pferde auf der Weide.

Hinter uns nähert sich Hufschlag. Aus dem Gestrüpp von Besenginster, Schwarzdorn und Brombeere taucht ein Reiter auf. Es ist ein Junge in grünem Hemd, weißen Hosen und braunen Stiefeln, der selbstsicher auf dem braunen Hengste hockt.

Auf die Reste eines anderen urgeschichtlichen Grabes treffen wir am Rand des Buchenwaldes, der westlich von Feldberg beginnt. Ich sehe zunächst nur zwei Reihen unregelmäßig verstreuten Geschiebes. Fast könnte man denken, es handele sich um Steine, die vom nahe gelegenen Feld aufgelesen wurden. Dass die Reihen eine west-östliche Richtung haben, ist vielleicht Zufall. Doch an einer Stelle bilden tief im Boden steckende, mit grünen Flechten überzogene Felsblöcke ein Halboval. Einer von ihnen, der flach und schmal ist, steht nach Osten hin unnatürlich senkrecht im Erdreich. Unter den kleineren Kieseln, die die Innenfläche ausfüllen, entdecken wir ein über faustgroßes Stück Sandstein von Walzenform. Offenbar ein Bruchstück. Seine regelmäßige Gestalt kann wohl kaum anders als durch Bearbeitung erklärt werden.

Ist es ein sogenannter Handstein, dann wurde mit ihm vor dreitausend Jahren Korn in einem steinernen Trog gemahlen. Man gab ihn den Toten mit aufs Grab, damit sie sich im „Leben danach'" zu behelfen wüssten.

Neugierig schlendere ich auf und ab.

Außer einem Kreuz, das aus zwei frischen, starken Astenden säuberlich zusammengefügt und -genagelt ist, finde ich jedoch nichts mehr. Das Christussymbol an diesem Ort befremdet mich. Zeugt es von einem Bekehrungseifer, der vor den Toten der Vorgeschichte nicht haltmacht?

Da unser Interesse geweckt ist, suchen wir noch weitere Überbleibsel frühen menschlichen Lebens in der Landschaft.

Bei Weitendorf, einer einsamen, winzigen Ansiedlung, überragt ein steiler Hügel die Umgebung. An seinem Fuß breitet sich in einer sandigen Mulde der Weitendorfer Haussee aus. Ein Bootssteg zeigt in das Wasser. Im Hintergrund blicken die Häuser des Dorfes über kahle, flache Anhöhen.

Wir erklettern den steilen Hügel. Dabei umgehen wir einen abschüssigen Hang, in welchem kleine Löcher die Anwesenheit von Uferschwalben verraten. Der Hügel trägt wie einen wirren Haarschopf ein Gestrüpp von Heckenrosen und Schwarzdorn. Einige Findlinge schimmern aus dem Verhau. Wie die Karte mitteilt, ist es ein Steingrab aus der Vorzeit. Hier haben also Menschen, die Werkzeuge aus Bronze kannten, ihre Toten beigesetzt. Auf einem beherrschenden Punkt. Voll Ehrfurcht und im Glauben an ein Weiterleben, den die beginnende Klassenscheidung aus der kreatürlichen Angst formte.

Mir ist, als habe sich seither die Gegend kaum verändert. An das braune Gelände, in das der Mensch immer wieder die Samen der Feldfrüchte senkt, schließt sich ein Waldgebiet an. In einem länglichen Einschnitt dehnt sich ein See mit dem eigenartigen Namen Sprockfitz aus. Seltsam ist auch der See selbst, weil er alle fünf bis zehn Jahre fast sein ganzes Wasser verliert und sich dann wieder auffüllt. Die Silberweiden an seinem sandigen Ufer, die sich der Überflutung mit Wasserwurzeln anzupassen vermögen, leuchten hellgrün zu uns herauf.

Stein und Eisen

Wir kommen durch das Gebiet der bewaldeten Endmoräne westlich von Feldberg. Bei einem Hügel, einer sogenannten Aufstauchung, finden wir unter den Bäumen ungewöhnlich große Gesteinsblöcke; die Anhäufung trägt den Namen Hartwigstein. In der Nähe soll nach der Karte eine Wüstung, eine vor Jahrhunderten verlassene Dorfstelle, liegen. Außer einem offenbar behauenen Findling am Rand einer Lichtung bemerke ich nichts. Der Findling, der aus rötlich grauem Sandstein besteht, hat eine rechteckig konische Form. Die Hinterseite ist fast gerade. Wie ein Mark- oder Grenzstein ragt der über ein Meter hohe Felsbrocken senkrecht aus dem Gras empor. Eine Inschrift suche ich vergeblich.

Dann sind wir in Feldberg.

Vor der Heimatstube liegt ein Grenzstein von der 1442 festgelegten Grenze zwischen Mecklenburg und Brandenburg südlich von Triepkendorf. Obendrauf ist als Grenzzeichen ein Maltheserkreuz eingemeißelt. Interessant ist auch eine bronzezeitliche Trogmühle aus dem Gebiet um Feldberg. Als Kuriosum empfinde ich ein gusseisernes Grabkreuz mit der Inschrift: „Hier ruhet in Gott der Glasermeister A. J. Gundlach, geb. den 9. Febr. 1785, gest. den 12. Novbr. 1851.“