Flammen oder Das Wort der Frau - Uwe Berger - E-Book

Flammen oder Das Wort der Frau E-Book

Uwe Berger

4,8

Beschreibung

Die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar wurde 1943 deportiert und in Auschwitz umgebracht. Nach dem Krieg machte sich im Westen Deutschlands Hermann Kasack um ihr Werk verdient. Im Osten tat dies Uwe Berger, der auch die Erzählung FLAMMEN über sie schrieb. Dabei benutzt er das authentische Material, die Briefe an ihre Schwester, die wenigen Lebensdaten, und er erfüllt das Datengerüst mit seiner Fantasie. Das sind vor allem die Gespräche, der Name Joseph, nicht der Fakt, ihre Leidensgefährtinnen, die Umstände ihres Todes in Auschwitz. Uwe Berger zeichnet eine sensible und entschlossene Frau. An ihre Schwester schreibt sie, dass sie den Weg gehe, der ihr von innen her bestimmt ist. Die gewaltigen Bilder ihrer Poesie sprechen für sich: Mag sein, sie haben meinen Traumwald nicht Mit Blättern, die sich langsam müde färben, Und nicht die kahle Straße vorm Gesicht, Darauf ich täglich wandre in mein Sterben. LESEPROBE: »Gertrud«, sagte Dora mit tonloser Stimme, »er ist nicht mehr. Sie haben Bernhard umgebracht.« Für einen Augenblick erstarrte Gertrud. Dann ging sie auf Dora zu, umarmte sie und strich ihr übers Haar. »Komm, setz dich.« Dora hatte sich gefasst und kramte aus ihrer kleinen Tasche einen Umschlag hervor. »Von Brandenburg haben sie ihn zur Prinz-Albrecht-Straße gebracht und dann nach Buchenwald. Dort hat er nur ein paar Tage gelebt. Hier, lies!« Gertrud entnahm dem Umschlag einen Zettel von der Größe eines halben Briefbogens. Es war ein ausgefüllter Vordruck mit dem Kopf KONZENTRATIONSLAGER BUCHENWALD, KOMMANDANTUR. Gertrud las, Bernhard Israel L. sei am 28. August 1942 an den Folgen einer Schussverletzung bei einem Fluchtversuch im Krankenhaus verstorben. Die Leiche sei eingeäschert worden. Gegen die Ausfolgung der Urne bestünden, wenn eine Bescheinigung der örtlichen Friedhofsverwaltung beigebracht werde, dass für ordnungsgemäße Beisetzung Sorge getragen sei, keine Bedenken. Gertrud atmete tief. »Ob er wirklich zu fliehen versucht hat?« »Sicher nicht. Solche Gelegenheiten sind selten.« »Man hat keine Bedenken gegen die Ausfolgung der Urne ...« »Ich habe die Urne nicht überführen lassen. Die Asche soll da sein, wo die Asche seiner Kameraden ist.« Sie wandte sich ab. »Ach, Dora, wie kann ich dir helfen?« »Es ist gut bei dir sein.« Die Freundinnen schwiegen. In Gertruds Gedanken hallte es nach: Keine Bedenken ... Was denn? War Doras Mann ein Verbrecher? Hatte nicht vielmehr ein Mord an ihm stattgefunden?

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Impressum

Uwe Berger

Flammen oder Das Wort der Frau

Erzählung

ISBN 978-3-86394-002-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1990 beim Aufbau-Verlag Berlin und Weimar

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

... die Stille, in welche sie die Ewigkeit menschlicher Gedanken und Gefühle aufnahm, aus der sie ausbrach mit der Gewalt des Wortes.

1. Kapitel

Sie ging wie in einem Traum, in dem sie sich selbst als Fremde empfand. Ihre Füße bewegten sich ohne ihren Willen, und ihre Gedanken flatterten hilflos gegen die Häuserwände. Der Nollendorfplatz prangte nicht in den erdbraunen und ziegelroten Farben, die sie von einem Bild her kannte und die sie unbewusst erwartet hatte. Um sie herum war alles aschegrau. Selbst die aus der Tiefe gekommene U-Bahn war fahl überstaubt und rasselte, von Pfeilern hochgehoben, zwischen steinerner Erde und verhangenem Himmel dahin. Am Hochbahnhof Bülowstraße, dessen Gestänge die Verspieltheit einer Gartenlaube und die Feierlichkeit eines Doms nachahmte, bog sie in die Potsdamer Straße ein. Sie blieb vor dem Schaufenster eines Buchladens stehen. Inmitten der Auslage thronte eine Biografie über Horst Wessel, den Verfasser der nach ihm benannten Hymne des Reiches, über den gemunkelt wurde, er sei ein Zuhälter gewesen. Schwarz glänzend grinste sein Bildnis sie an. Im Hintergrund reihten sich Wildwestschwarten, deren schreiende Umschläge Reklame für den Schießhelden Billy Jenkins machten. Sie wandte sich angewidert ab.

Als sie die Potsdamer Brücke erreichte, drang ein Lichtstrahl durch die dicken Wolken. Für einen Augenblick war es, als werde die Straße breiter, die Luft sauberer. Die Buchhandlung an der Ecke stellte ihr Niveau mit Büchern von Novalis, Binding und Kolbenheyer zur Schau. Die Romantik, weitergeführt von Heldenverklärung und mystischer Borniertheit. Ein Hauch jenes exklusiven Gehabes wehte sie an, das auch aus den hochmütigen Fassaden dieser Gegend sprach. Es war die Kehrseite ungeistiger Rohheit. Ihre Füße trugen sie hinab zur steinernen Einfassung des Landwehrkanals. Dunkel und drohend lag das Wasser. Was hatte es gesehen, was geschluckt und fortgetragen.

Ein hagerer Mann mit dem Nazi-Abzeichen auf dem Mantelaufschlag kam ihr entgegen. Er musterte sie von oben bis unten und wich ihr nicht aus. Trotz ihres Bemühens, eine Berührung zu vermeiden, streifte er sie mit der Schulter. Es durchzuckte sie.

Der grüne Rasen auf der Böschung, die Kastanien, die noch schlappe, frischgrüne Blätter entrollten, erinnerten sie schmerzlich an den Garten des Hauses in Finkenkrug. Dort war sie mit Pflanzen und Tieren befreundet gewesen, hatte in Versen die Ringelnatter, die Kröte, die Krähe zu Sinnbildern menschlichen Leidens und Richtens gemacht. Dort hatte sie Ruhe gefunden auf der Flucht vor der Welt. Aber ihre unruhigen Gedanken waren wieder hinausgewandert, aufgeschreckt von den Schreien der Gefolterten und Gequälten, den Schreien, die in der Stille an ihr Ohr drangen. Der Rauch des Reichstagsbrandes und der brennenden Bücher hatte die Sträucher ihres vertrauten Gartens berührt. Wer Brände legte und die Vernunft tötete, tötete auch Menschen.

Was bedeutete ihr der Hauch des frischen Grüns, das aus den Bäumen brach, der dumpfe Geruch des unheimlichen Wassers? Nichts war geblieben als die Erinnerung und dieser Stich ins Herz, den ihr der Anblick des kleinen Jungen auf dem Roller gab. Wie inbrünstig hatte sie sich ein Kind ersehnt, als sie die Kinder anderer, als sie die kleinen Taubstummen unterrichtete, die nur sehend und tastend mit der Welt verkehrten. Wie inbrünstig noch heute.

Nichts war geblieben, auch das Haus nicht, um das herum der Garten sich friedlich und ruhig gelagert hatte. Nicht einmal die Hündin. Für alles gab es juristische Verfügungen. Gesetz war die Drohung Hitlers geworden: »Es soll ihnen vergehen, das Lachen ...« Ihnen, den Juden. Vor einem halben Jahr waren die Läden der Juden geplündert, ihre Synagogen verwüstet, sie selbst zu Tausenden verschleppt, ihr Eigentum geraubt worden. Man hatte sie mit der Zahnbürste die Straße reinigen lassen, man hatte sie erschlagen. Pogromgelüste waren zum Gesetz erhoben. Pedantischer Sadismus zog einem langsam den Strick am Halse zu. »Though this be madness, yet ther’s method in’t«, hieß es bei Shakespeare. Der Wahnsinn hatte Methode. Haltet die Diebe, schrien die Diebe. Waren sie gesättigt mit Österreich und der Tschechoslowakei? Es trieb sie immer weiter. Unheil für Verfolgte und Verfolger lag in der Luft.

Sie, Gertrud C., war allein. Was vermochte sie zu tun?

Mit beiden Händen hielt sie sich fest an dem Geländer, das den Kanal begleitete. Sich hinüberschwingen? Manche begingen Selbstmord. Sie kämpften nicht wie diese Kommunisten, von denen man immer wieder hörte, die untertauchten in der Masse der einfachen Leute, starben, mit anderem Gesicht wiederauflebten. Die meisten Menschen ihrer eigenen Art und Herkunft sahen nicht einmal, was sich ihnen näherte, steckten den Kopf in den Sand. Und wenn sie sahen, erstarrten sie. Ihr blieb nur das Wort. Das war nicht viel - und doch. Ihre Hände hafteten wie angefroren an dem kalten eisernen Geländer.

Wie lange war es her, dass sie Gedichte über alte Stadtwappen geschrieben hatte. Damals war sie die Stimme der Leidenden, die nie gekrönt werden. Unüberhörbar blieb ihr der Ruf der zum Gefressenwerden bestimmten Kreatur: Steht auf, ihr Herren, bald muss Tischzeit sein! Sie hatte eine Zukunft erblickt, da jeder Gast den Bedienern wert ist und kein Unten und kein Oben sein wird. Aber sie musste sich einbezogen sehen in Pogrome, deren Vergangenheit immer grauenvollere Gegenwart wurde. In dem anderen Buch, das im vergangenen Jahr erschienen und sogleich wieder eingestampft worden war, hatte sie sich zu ihrem Schicksal bekannt. Sie war die Fahrende, die spürte, nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein, die Erzieherin mit der kahlen Straße vorm Gesicht, auf der sie täglich in ihr Sterben wanderte. Und sie hörte das Flehen des Fisches, hingelegt in dieses Netz mit Tausend, Abertausend Leibern und ausgegossen in schwarze Tröge. Sie, die Hörende und Sehende, durfte nicht verraten. Sie hatte sich ihrer Worte würdig zu erweisen.

Nicht gehetzt, sondern entschlossen pochten ihre eiligen Schritte auf den großen Steinplatten des Kanalweges.

Ebenso wenig wie die Selbstaufgabe kam für sie die Emigration in Betracht. Nach England zu gehen war nicht mehr möglich, weil es nicht mehr möglich war, ihren alten Vater mitzunehmen. England oder Amerika, glichen sie zudem nicht dem kahlen, kalten Betonbau jenseits des Kanals? Ihre Welt lag anderswo, und es war die Revolution nicht, die sie hinderte, dorthin auszuwandern, sondern die fehlende praktische Möglichkeit. Wie hilflos im Leben waren Menschen wie sie, die sich im Reich des Geistigen so sicher bewegten.

Bei den blassgrünen Bäumen des Lützowplatzes wich sie vom Kanal. Unendlich eintönig erschien ihr der Weg zurück zum Nollendorfplatz, an den nichtssagenden Fassaden der Winterfeldtstraße, der Martin-Luther-Straße entlang. Sie sah die Menschen nicht. Beinahe hätte sie den Eingang des Hauses in der Speyerer Straße 10 verfehlt, der sich von anderen nicht unterschied.

Der greise Vater saß in dem großen Wohnzimmer, dem dunkle Eichenmöbel ein steifes, vornehmes Aussehen gaben. Er hatte eine Zeitschrift in der zitternden Hand und sagte ungeduldig: »Du warst lange fort.«

»Ich habe nach der Vergangenheit gesucht«, sagte sie, und es klang sanft und anschmiegsam.

»Und?«

»Sie ist tot Die Farben sind erloschen. Der Landwehrkanal riecht nach Leiche.«

»Aber Gertrud!«

»Möchtest du Kaffee oder Tee trinken?«

Man sah Ludwig C. noch immer den Rechtsanwalt an, der er einmal gewesen war. Doch seine weißhaarige Würde, die durch einen dunklen Anzug unterstrichen wurde, verbarg nicht seine Gebrechlichkeit. Gertrud war schmal und unauffällig. Große dunkle Augen, ein ebenso fein wie energisch geschnittener Mund gaben ihrem Gesicht innere Schönheit.

Schweigend tranken sie Tee und aßen ein wenig Brot und Marmelade. Dann stand Gertrud auf.

»Ich will einen Brief an Hilde schreiben.«

Sie stellte das Geschirr auf ein Tablett, säuberte das Tischtuch. Ihr Vater blickte wie aus dem Schlaf erwachend auf und fragte mit brüchiger Stimme: »Meinst du denn, dass noch jemals etwas Geschriebenes von dir ans Licht kommt?«

»Licht wird sein, wenn auch vielleicht nicht mehr für uns.«

In dem kleinen Zimmer, das nach hinten hinaus lag, setzte sie sich an ein Tischchen, nahm einen weißen Bogen und schrieb an ihre Schwester in der Schweiz. Sorgfältig bedachte sie dabei die ungebetenen Augen, die mitlesen würden. »Liebe Hilde ... Meine Aufgabe hat immer gleichsam in mir gelegen; da liegt sie noch, und was ich suche, ist nur der geeignete Ort, an dem ich mich ihr widmen kann. Und ich weiß nicht ... ich muss immer denken, dass in Amerika dieser geeignete Ort nicht zu finden sei ... Ich habe nun einmal - wie bei unserem Gebet - das Antlitz nach Osten gekehrt, und dass dies bei mir keine >neue Mode< ist, weißt Du. Es hat sich schon früh gezeigt: umsonst war ich nicht als etwa Neunjährige mit Hilde Josan befreundet, und die Josans waren sehr asiatische Russen, hatten in Sibirien gelebt und in China ... Ich bin auch wohl so eine >verhinderte Asiatin< - und wäre froh, wenn die Verhinderung beseitigt werden könnte; als Europäerin würde der Weg nach Westen mir wahrscheinlich leichter fallen ...«

England und Frankreich verhandeln in Moskau, dachte Gertrud, aber man hört nichts weiter; meine Sätze werden unverfänglich erscheinen. Sie nahm einen anderen Bogen Papier und entwarf ein kontrastreiches Wortbild von Jean-Paul Marat.

Wie sie einst von einem streunenden Hund geschrieben hatte, er grinse die hübschen Pinscher an mit bös verzerrtem Maul, so begann sie: »Du Tier. Du Dreck. Du zottelndes Geschlampe.« Und es lag darin nicht nur weibliche Abscheu vor dem Ungepflegten, es lag darin nicht nur die Bewunderung, die Anrufung des Aufstands, nein, die Revolte, die Revolution selbst erhob ihr Haupt: Marat, der Äcker sah um verfallene Hütten und in alle Hungerhände Brot und, verwüstet, stöhnend, im Fieberwahn den eingerollten Morgen neuer Zeit ergriff und ihn aufwarf wie eine Fahne. Und die Dichterin, die mit aufgerissenen Augen durch das Fenster starrte, dann wieder den Kopf übers Papier neigte, empfand nicht für ihre Gesellschaftsschicht, nicht einmal für die aus der Reichsbürgerschaft Ausgestoßenen, sondern für die Armen und Unterdrückten alle, in deren Not sie die eigene erkannte.

Über den Dachrand des gegenüberliegenden Hinterhauses färbte sich der Himmel glühend rot. Eine Krähe strich hindurch.

2. Kapitel

Es regnete und regnete. Blickte man durch das Fenster in den Himmel, sah man nur ein langsam brodelndes Grau, und nichts war. Keine Menschen, keine Zeit, keine Ewigkeit. Aber man hörte den Regen, er klopfte blechern auf das Dach und die Fenstersimse. Auf die Pfützen der Straßen malte er bewegliche und vergehende Punkte und Kreise. Ein dunkel gekleidetes, älteres Paar steuerte, sich unter einen schwarzen Schirm duckend, an den Lachen vorbei auf den Hauseingang zu.

Gertrud löste sich vom Fenster. Der Besuch kam. Gleich würden die Birkensteins, Nässe, Klagen und Geschwätzigkeit mitbringend, in der Wohnung erscheinen. Sie wanderten aus, sie gingen nach Montevideo; es war die letzte Begegnung mit ihnen. Der Novembertag würde nach ihrem Weggang wohl noch trostloser werden.

Es klingelte. Sie ging und öffnete die Wohnungstür.

»Man war höhnisch, aber korrekt auf der Behörde für Auswanderer«, erzählte Onkel Alex beim Tee.

»Und die Auswandererabgabe?«, fragte Gertruds Vater.

»Die dient der Unterstützung ärmerer Auswanderer. Alles ist gesetzlich geregelt, Ludwig. Die Reise bezahlen meine Verwandten.«

»Der Exodus ist gesetzlich geregelt«, sagte Ludwig mit abwesendem Gesichtsausdruck

Onkel Alex drang in ihn, auch den Weg nach draußen zu wählen. Ludwig wehrte ab. Er werde nicht einmal die Reise bis Lissabon überstehen. Und dann die Überfahrt. Sein Platz sei hier. Bis zum Ende. Er habe das Eiserne Kreuz. Und Gertrud? Sie sei eine Frau. Ihr werde man nichts tun.

»Ihr täuscht euch entsetzlich.« Rebekka mischte sich ein.

Ihre Gesichtszüge verrieten, dass sie die Schwester Ludwigs war. Sie wirkte ängstlich und aufgeregt. Ihre Augen flackerten.

»Es ist entschieden«, bemerkte Gertrud sehr ruhig. »Auch sehne ich mich nicht nach Montevideo, überhaupt nach Amerika nicht. Wenn Amerika der große Schmelztiegel ist, wohin schmelzt er die Menschen? Mein Gesicht blickt nach Osten ...«

Onkel Alex wandte den Kopf zu ihr hin. Wie eigenartig Gertrud wieder redete. Die buschigen Augenbrauen hochgezogen, erklärte er streng: »Jedenfalls ist Montevideo jetzt ein besserer Ort für uns als Berlin.«

»Wie kannst du so was sagen, Gertrud.« Die Tante zeterte. »Im Osten sind die Bolschewiken, die Slawen und Asiaten. Da könnte man doch auch nicht leben.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, Gertrud, ich verstehe dich nicht. Gönnst du uns vielleicht nicht, dass wir hier wegkommen?«

Rebekka schien ihre Taktlosigkeit erst zu bemerken, als sich ein peinliches Schweigen ausbreitete.

Der Abschied von den Birkensteins war bei aller Herzlichkeit doch reserviert. Gertrud hatte das Gefühl, nicht die Verwandten stünden am Beginn einer langen Reise, sondern sie selbst. Nicht jene entfernten sich aus einer gewohnten Welt, sondern sie selbst trat den Weg ins Unbekannte an.

Den Weg einer Einsamen.

Einsamkeit, das war dieses Dröhnen in den Ohren, das von Stille herzurühren schien. Aber es kam auch aus dem Schrittgeräusch vieler Menschen. Aus dem nächtlichen Kreischen der Straßenbahn. Aus dem fernen Hundebellen. Aus dem Gedudel des Radios, das zu ihr herüberklang. Aus der Broschüre, die auf ihrem Tisch lag; »Dichtung und Glaube« hieß sie und feierte das »läuternde Feuer des Krieges«. Das Dröhnen kam aus Dünkel und Unduldsamkeit, die Deutschland schon lange beherrschten. Aus jeder Äußerung einer gleichgeschalteten Geisteswelt. Aus der hohlen, öligen Stimme des kleinen Dr. Goebbels, der den Instinkt gegen den Intellekt, das Rülpsen gegen das Denken aufrief, den Kreuzzug für eine Religion predigte, dessen Gott Hitler hieß. Wie wenig eigentlich mussten sie ihrer Sache sicher sein, wenn sie immer nur vom Glauben an den Führer stammelten.

Aber das Gesetz, das dem Fanatismus innewohnte, hatte zum Krieg geführt, und der Krieg fanatisierte Treibende und Getriebene immer mehr.

Warum nur fiel es ihnen so leicht zu siegen.

Mit vermehrter Wucht fiel die Einsamkeit auf sie an einem Tag, an dem jeder Gäste und Grüße erwartet. Ihr Dezembergeburtstag, der Abschluss ihres sechsundvierzigsten Jahres, verlief ohne Verwandte, weil fast keine mehr da waren, und ohne ihre neuen Bekannten, weil diese das Datum nicht kannten. Was sollten ihr auch die Malerin, der Privatgelehrte, die Ägyptologin, mit denen sie sich gelegentlich traf, um sich hebräischer Dichtung und Sitte zu erinnern. Die Gettoisierung in Judenhäusem hatte sie zusammengeführt, ohne dass sie einander sehr nahegekommen wären. Diese Menschen empfanden sich als deutsch bis ins Mark. Wenn sie andererseits von der jüdischen Seele sprachen, die sich im Religiösen auslebe und zu Besonderem berufen sei, so zehrten sie von denselben geistigen Wurzeln wie ihre gnadenlosen Feinde.

Eine Klage Davids, ausgedrückt in Luthers kräftiger Sprache, kam ihr in den Sinn: »Denn ich bin zu Leiden gemacht, und mein Schmerz ist immer vor mir.« War das alles: Schmerz, Schweigen, Gottvertrauen? Hatte der Mensch nicht vor das Leiden und neben das Leiden und in das Leiden das Widerstehen zu setzen? War das nicht sein eigentlicher menschlicher Beruf? Beruf, hörte sie höhnen, Beruf, die Dichtung hat keinen Beruf, sie ist aus sich und für sich. Nein, ihr Diener trüben Instinktes, öden Selbstgenusses und kalter Berechnung, die Dichtung dient dem Leben, wird von ihm berufen und ist sein Mund. Der Mund auch der Stummen und der furchtbaren anklagenden Stille, der Mund des unsagbaren Leidens, das umschlägt in den Schrei nach Überwindung. Auch die Psalmen Davids waren von der Art; das war ihre Größe und das war ihr Leben.

An einem der nächsten Abende im Dezember 1940 klingelte es an der Wohnungstür. Ein leiser, eindringlicher Klang. Gertrud öffnete erstaunt und ein wenig besorgt. Vor ihr stand Dora L., eine weitläufige Verwandte, die sie fast ein Jahr lang nicht gesehen hatte.

»Guten Abend, Dora.«

»Den Jungen hab ich nicht mitgebracht.« Doras hellgraue Augen blickten forschend aus dem Schal, den sie sich um den Kopf geschlungen hatte.

Gertrud wusste, dass der Mann der kleinen, beweglichen Frau, ein jüdischer Gelehrter, wegen »hochverräterischer Tätigkeit« zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Sie nahm die Besucherin an der Hand und zog sie in das kleine Hinterzimmer.

»Was ist los?«

»Ich hab meinen Mann gesprochen. Du weißt ja, Bernhard ist im Zuchthaus Brandenburg. Es gibt immer mehr Hinrichtungen.«

»Ist er in Gefahr?«

»Ich weiß nicht.«

»Und du?«

»Manche Nächte schlaf ich nicht bei meinen Eltern, lass nur den Jungen da.«

»Bist du heute deshalb hier?«

»Vielleicht«

»Du kannst bei uns übernachten.«

Gertrud lehnte sich zurück. Seit Dora in der Wohnung war, erschienen ihr die eigenen Nöte gering. Die Qualen der Einsamkeit waren gelöscht angesichts der Notwendigkeit zu reagieren.

Eine Weile schwiegen beide.