Das Vermächtnis des Vaters - Jeffrey Archer - E-Book
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Das Vermächtnis des Vaters E-Book

Jeffrey Archer

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Beschreibung

Harry Clifton, aufgewachsen bei den Hafendocks in Bristol, und Giles Barrington, Nachkömmling einer großen Schifffahrt-Dynastie, verbindet seit ihrer Jugend eine tiefe Freundschaft. Aus der Enge des Arbeitermilieus hat Harry es auf eine Eliteschule geschafft und steht als junger Mann jetzt an der Seite seiner großen Liebe Emma, der Schwester von Giles. Mit dem Eintritt Englands in den Zweiten Weltkrieg 1939 werden die Schicksale beider Familien erschüttert. Giles gerät in Kriegsgefangenschaft und Harry verschlägt es von Bristol nach New York, wo er eines Mordes angeklagt und verhaftet wird. Emma, macht sich auf, um den Mann zu retten, den sie liebt ...

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DASBUCH

Harry Clifton, aufgewachsen bei den Hafendocks in Bristol, und Giles Barrington, Nachkömmling einer großen Schifffahrt-Dynastie, verbindet seit ihrer Jugend eine tiefe Freundschaft. Aus der Enge des Arbeitermilieus hat Harry es auf eine Eliteschule geschafft und steht als junger Mann jetzt an der Seite seiner großen Liebe Emma, der Schwester von Giles. Mit dem Eintritt Englands in den Zweiten Weltkrieg 1939 werden die Schicksale beider Familien erschüttert. Giles gerät in Kriegsgefangenschaft und Harry verschlägt es von Bristol nach New York, wo er eines Mordes angeklagt und verhaftet wird. Emma macht sich auf, um den Mann zu retten, den sie liebt …

DER AUTOR

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Er schlug eine bewegte Politiker-Karriere ein, die bis 2003 andauerte. Weltberühmt wurde Archer als Schriftsteller. Er verfasste zahlreiche Bestseller und zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Sein historisches Familienepos Die Clifton-Saga stürmte die englischen und amerikanischen Bestsellerlisten und begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheirat, hat zwei Söhne und lebt in London und Cambridge.

LIEFERBARE TITEL

Die Clifton-Saga:

Spiel der Zeit

LESEPROBE

JEFFREY ARCHER

DAS VERMÄCHTNIS

DES VATERS

ROMAN

Aus dem Englischen

von Martin Ruf

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe THE SINS OF THE FATHER

erschien 2012 bei Macmillan, London

Vollständige deutsche Erstausgabe 12/2015

Copyright © 2012 by Jeffrey Archer

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Thomas Brill

Umschlagillustration: Johannes Wiebel, punchdesign,

München, unter Verwendung von Motiven

von Chris Hyde, LehaKoK/shutterstock.com

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-12475-5

www.heyne.de

Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott,

der die Missetaten der Väter heimsucht

bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern.

2. Mose 20, 5

HARRY CLIFTON

1939 – 1941

1

»Mein Name ist Harry Clifton.«

»Klar. Und ich bin Babe Ruth«, sagte Detective Kolowski und zündete sich eine Zigarette an.

»Nein«, sagte Harry, »Sie verstehen nicht. Das alles ist ein schrecklicher Irrtum. Ich bin Harry Clifton, ein Engländer aus Bristol. Ich habe auf demselben Schiff gearbeitet wie Tom Bradshaw.«

»Heben Sie sich das für Ihren Anwalt auf«, sagte der Detective, atmete tief aus und füllte die kleine Zelle mit einer Rauchwolke.

»Ich habe keinen Anwalt«, protestierte Harry.

»Wenn ich Ihre Probleme hätte, mein Junge, dann dürfte mir die Tatsache, dass Sefton Jelks auf meiner Seite ist, so ziemlich wie meine einzige Hoffnung vorkommen.«

»Wer ist Sefton Jelks?«

»Mag sein, dass Sie noch nie vom schlauesten Anwalt New Yorks gehört haben«, sagte der Detective und stieß eine weitere Rauchwolke aus, »aber er hat morgen früh um neun Uhr einen Termin mit Ihnen, und Jelks verlässt sein Büro nur, wenn jemand im Voraus seine Rechnung bezahlt hat.«

»Aber …«, begann Harry, doch Kolowski schlug bereits mit der flachen Hand gegen die Zellentür.

»Wenn Jelks also morgen früh hier auftaucht«, fuhr Kolowski fort, indem er Harrys Einwurf ignorierte, »dann sollten Sie besser eine überzeugendere Geschichte auf Lager haben als die Behauptung, wir hätten den falschen Mann festgenommen. Sie haben dem Einwanderungsbeamten gesagt, dass Sie Tom Bradshaw sind, und wenn ihm das genügt hat, dann wird es auch dem Richter genügen.«

Die Zellentür schwang auf – aber erst nachdem der Detective eine weitere Rauchwolke ausgestoßen hatte, die Harry zum Husten brachte. Kolowski trat ohne ein weiteres Wort hinaus in den Korridor und schlug die Tür hinter sich zu. Harry legte sich auf die an der Wand befestigte Pritsche und ließ seinen Kopf auf das backsteinharte Kissen sinken. Er sah hinauf zur Decke und dachte darüber nach, wie es geschehen konnte, dass er in einer Polizeizelle am anderen Ende der Welt gelandet war und man ihn des Mordes anklagte.

Die Tür öffnete sich, lange bevor das Morgenlicht durch das vergitterte Fenster in die Zelle dringen konnte. Trotz der frühen Stunde war Harry hellwach. Ein Aufseher kam herein. In den Händen hielt er ein Tablett mit dem Frühstück, das die Heilsarmee nicht einmal einem Obdachlosen angeboten hätte. Sobald der Wärter das Tablett auf den kleinen Holztisch gestellt hatte, verließ er die Zelle ebenso wortlos, wie er sie betreten hatte.

Harry warf einen kurzen Blick auf das Essen und begann dann, auf und ab zu gehen. Mit jedem Schritt wuchs seine Hoffnung, dass sich die ganze Angelegenheit sehr schnell klären ließe, wenn er Mr. Jelks erst einmal erklärt hatte, warum er sich Tom Bradshaws Namen angeeignet hatte. Zweifellos bestünde die härteste Strafe darin, dass man ihn abschieben würde, und da er ohnehin die ganze Zeit vorgehabt hatte, wieder nach England zurückzukehren und der Marine beizutreten, passte das genau zu seinem ursprünglichen Plan.

Fünf Minuten vor neun saß Harry auf der Kante der Pritsche und wartete ungeduldig darauf, das Mr. Jelks erscheinen würde. Die massive Eisentür schwang jedoch erst zwölf Minuten nach neun auf. Harry sprang hoch, als ein Aufseher Platz machte, um einen großen, eleganten Mann mit silbergrauem Haar eintreten zu lassen. Der Mann, so schien es Harry, musste etwa im Alter seines Großvaters sein. Mr. Jelks trug einen zweireihigen, dunkelblauen Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte. Sein müder Blick deutete an, dass ihn wahrscheinlich nur noch wenig überraschen konnte.

»Guten Morgen«, sagte er und deutete ein Lächeln an. »Mein Name ist Sefton Jelks. Ich bin der Seniorpartner von Jelks, Myers & Abernathy, und meine Mandanten, Mr. und Mrs. Bradshaw, haben mich gebeten, Sie in der bevorstehenden Verhandlung zu vertreten.«

Harry bot Jelks den einzigen Stuhl in seiner Zelle an, als handle es sich bei dem Anwalt um einen alten Freund, der ihn auf eine Tasse Tee in seinen Räumen in Oxford besuchte. Er setzte sich wieder auf seine Pritsche und sah zu, wie der Anwalt seine Aktentasche öffnete, einen gelben Block herausnahm und ihn auf den Tisch legte.

Jelks zog einen Füllfederhalter aus der Innentasche seines Jacketts und sagte: »Vielleicht sollten wir damit anfangen, dass Sie mir sagen, wer Sie sind. Denn wir beide wissen, dass es sich bei Ihnen nicht um Lieutenant Bradshaw handelt.«

Falls Harrys Geschichte den Anwalt überraschte, so ließ er es sich nicht anmerken. Mit gesenktem Kopf machte er sich zahlreiche Notizen auf seinem Block, während Harry ihm erklärte, wie es dazu hatte kommen können, dass er die letzte Nacht im Gefängnis verbracht hatte. Als Harry fertig war, nahm er an, dass seine Probleme damit zweifellos gelöst waren, da er einen so erfahrenen Anwalt auf seiner Seite hatte. Das änderte sich jedoch, als er Jelks’ erste Frage hörte.

»Sie sagen, dass Sie Ihrer Mutter noch auf der Kansas Star einen Brief geschrieben haben, in dem Sie ihr erklären, warum Sie Tom Bradshaws Identität angenommen haben?«

»Das ist korrekt, Sir. Ich wollte meiner Mutter unnötiges Leid ersparen, doch gleichzeitig musste ich ihr begreiflich machen, warum ich eine so drastische Entscheidung getroffen hatte.«

»Ja, ich kann verstehen, wie Sie auf den Gedanken kommen konnten, dass ein Wechsel Ihrer Identität alle Ihre unmittelbaren Probleme lösen würde, und Ihnen gleichzeitig nicht bewusst war, dass Sie sich damit eine ganze Reihe noch viel größerer Schwierigkeiten einhandeln könnten«, sagte Jelks. Seine nächste Frage überraschte Harry sogar noch mehr. »Erinnern Sie sich noch an den Inhalt Ihres Briefes?«

»Ich hatte zuvor in meinem Kopf so lange an den Formulierungen gearbeitet, dass ich ihn fast wörtlich wiedergeben könnte.«

»Dann gestatten Sie mir, Ihr Gedächtnis auf die Probe zu stellen«, erwiderte Jelks, riss eine Seite aus seinem Block und schob sie zusammen mit seinem Füllfederhalter zu Harry hinüber.

Harry rief sich einen Moment lang den genauen Wortlaut in Erinnerung und schrieb den Brief dann noch einmal.

Liebste Mutter,

ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um dafür zu sorgen, dass Du diesen Brief erhältst, bevor irgendjemand Dir mitteilen wird, dass ich auf See gestorben sei.

Wie Du am Datum dieses Briefes erkennen kannst, bin ich nicht gestorben, als die Devonian am 4. September versenkt wurde. Vielmehr wurde ich von einem amerikanischen Schiff aus dem Meer gefischt und bin durchaus noch am Leben. Es hat sich für mich jedoch die Möglichkeit ergeben, die Identität eines anderen anzunehmen, und das habe ich auch getan in der Hoffnung, sowohl Dich als auch die Barringtons von vielen Problemen zu befreien, deren Grund ich, wie es scheint, ohne es zu wollen, über Jahre hinweg gewesen bin.

Du darfst jedoch niemals glauben, dass meine Liebe zu Emma geringer geworden wäre; ganz im Gegenteil. Aber ich denke nicht, dass ich von ihr verlangen darf, sie möge sich für den Rest ihres Lebens an die eitle Hoffnung klammern, dass ich irgendwann in der Lage sein könnte zu beweisen, dass Arthur Clifton und nicht Hugo Barrington mein Vater ist. Dadurch kann sie eine Zukunft mit einem anderen zumindest in Erwägung ziehen. Ich beneide diesen Mann.

Ich habe vor, schon bald wieder nach England zurückzukehren. Solltest Du irgendeine Nachricht von einem gewissen Tom Bradshaw erhalten, so stammt sie von mir.

Ich werde sofort wieder Kontakt zu Dir aufnehmen, sobald ich in England bin, doch bis dahin muss ich Dich bitten, mein Geheimnis ebenso treu zu bewahren, wie Du Dein eigenes so viele Jahre lang bewahrt hast.

Dein Dich liebender Sohn

Harry

Als Jelks den Brief zu Ende gelesen hatte, überraschte er Harry ein weiteres Mal. »Haben Sie den Brief selbst aufgegeben, Mr. Clifton?«, fragte er. »Oder haben Sie jemand anderem die Verantwortung dafür übertragen?«

Zum ersten Mal wurde Harry misstrauisch, und er beschloss, nicht zu erwähnen, dass er Dr. Wallace darum gebeten hatte, den Brief an seine Mutter zu schicken, wenn er in zwei Wochen wieder in Bristol sein würde. Er fürchtete, dass Jelks Dr. Wallace dazu überreden könnte, ihm den Brief auszuhändigen. Dann würde seine Mutter unmöglich wissen können, dass er noch am Leben war.

»Ich habe den Brief sofort nach dem Anlegen aufgegeben«, sagte er.

Der alte Anwalt nahm sich Zeit, bevor er darauf einging. »Haben Sie irgendeinen Beweis, dass Sie Harry Clifton und nicht Thomas Bradshaw sind?«

»Nein, Sir, das habe ich nicht«, erwiderte Harry, ohne zu zögern. Er war sich schmerzlich bewusst, dass niemand an Bord der Kansas Star einen Grund hatte zu glauben, dass er nicht Tom Bradshaw war. Und die einzigen Menschen, die seine Geschichte bestätigen konnten, lebten dreitausend Meilen entfernt auf der anderen Seite des Ozeans – Menschen, die in Kürze erfahren würden, dass man Harry Clifton auf hoher See bestattet hatte.

»Unter diesen Umständen kann ich Ihnen vielleicht helfen, Mr. Clifton. Vorausgesetzt, Sie haben immer noch die Absicht, dass Miss Emma Barrington Sie für tot halten soll. Sollten Sie das wünschen«, sagte Jelks mit einem unsicheren Lächeln, »dann kann ich Ihnen vielleicht eine Lösung für Ihr Problem in Aussicht stellen.«

»Eine Lösung?«, sagte Harry, der zum ersten Mal Hoffnung zu schöpfen schien.

»Aber nur dann, wenn Sie sich in der Lage sehen, auch weiterhin die Persona von Thomas Bradshaw beizubehalten.«

Harry schwieg.

»Das Büro des Bezirksstaatsanwalts hat zugegeben, dass sich die Mordanklage gegen Bradshaw allenfalls auf Indizien stützt, und der einzig wirklich bedeutende Anhaltspunkt besteht in der Tatsache, dass Bradshaw, am Tag nachdem der Mord begangen wurde, das Land verlassen hat. Weil sie sich im Klaren darüber sind, dass ihre Argumente ziemlich schwach aussehen, sind sie bereit, die Mordanklage fallen zu lassen, sofern Sie sich Ihrerseits in der Lage sehen, sich der Fahnenflucht schuldig zu bekennen, begangen während der Zeit bei den Streitkräften.«

»Aber warum sollte ich dem zustimmen?«, fragte Harry.

»Mir fallen drei gute Gründe ein«, erwiderte Jelks. »Erstens, wenn Sie das nicht tun, werden Sie wahrscheinlich sechs Jahre im Gefängnis verbringen, weil Sie unter falschen Angaben in die Vereinigten Staaten eingereist sind. Zweitens könnten Sie auf diese Weise Ihre Anonymität wahren, wodurch die Barringtons keinen Grund zur Vermutung hätten, dass Sie immer noch am Leben sind. Und drittens, die Bradshaws sind bereit, Ihnen zehntausend Dollar zu bezahlen, wenn Sie auch weiterhin die Rolle des Sohnes der Familie spielen.«

Harry begriff sofort, dass dies eine Gelegenheit war, seiner Mutter etwas zurückzugeben für all die Opfer, die sie über viele Jahre hinweg für ihn gebracht hatte. Eine so große Summe würde ihr Leben grundlegend ändern und es ihr ermöglichen, die enge, zweigeschossige Wohnung in der Still House Lane – zwei Zimmer oben, zwei Zimmer unten – ebenso hinter sich zu lassen wie das wöchentliche Anklopfen des Mannes, der die Miete einsammelte. Sie könnte sogar daran denken, ihre Stelle als Kellnerin im Grand Hotel aufzugeben und ein angenehmeres Leben zu führen, auch wenn Harry das für unwahrscheinlich hielt. Doch bevor er sich auf Jelks’ Plan einlassen wollte, hatte er selbst einige Fragen.

»Warum sollten die Bradshaws eine solche Täuschung wollen, wo sie doch wissen, dass ihr Sohn auf hoher See gestorben ist?«

»Mrs. Bradshaw möchte unbedingt, dass Thomas’ Name reingewaschen wird. Sie würde nie akzeptieren, dass einer ihrer Söhne den anderen umgebracht haben könnte.«

»Das ist es also, was man ihm vorwirft – dass er seinen Bruder getötet hat?«

»Ja, aber wie gesagt, es gibt nur Indizien, und sie alle sind ziemlich schwach. Vor Gericht hätten sie keinen Bestand, weshalb das Büro des Staatsanwalts auch bereit ist, die Anklage fallen zu lassen. Aber nur dann, wenn wir in der weniger schwerwiegenden Anklage der Desertion auf schuldig plädieren.«

»Und wie würde das Urteil aussehen, wenn ich mich darauf einlasse?«

»Der Staatsanwalt hat zugestimmt, dem Richter zu empfehlen, dass Sie zu einem Jahr verurteilt werden, also könnten Sie bei guter Führung nach sechs Monaten wieder freikommen. Eine ziemliche Verbesserung gegenüber den sechs Jahren, die Sie erwarten, wenn Sie weiter darauf bestehen, Harry Clifton zu sein.«

»Aber in dem Augenblick, in dem ich den Gerichtssaal betrete, wird es unweigerlich jemanden geben, dem auffällt, dass ich nicht Tom Bradshaw bin.«

»Unwahrscheinlich«, sagte Jelks. »Die Bradshaws stammen aus Seattle an der Westküste, und obwohl sie recht vermögend sind, besuchen sie New York nur selten. Thomas ist mit siebzehn zur Marine gegangen, und wie Sie zu Ihrem eigenen Schaden wissen, hat er in den letzten vier Jahren keinen Fuß mehr auf amerikanischen Boden gesetzt. Wenn Sie auf schuldig plädieren, werden Sie schon nach zwanzig Minuten wieder aus dem Gerichtssaal sein.«

»Aber sobald ich den Mund aufmache, wird jeder bemerken, dass ich kein Amerikaner bin.«

»Deshalb werden Sie Ihren Mund ja auch gar nicht erst aufmachen, Mr. Clifton.« Der weltgewandte Anwalt schien auf alles eine Antwort zu haben. Harry brachte den nächsten Einwand vor.

»In England erscheinen bei Mordprozessen immer jede Menge Journalisten, und vor dem Gerichtsgebäude bildet sich schon früh am Morgen eine lange Schlange, weil alle hoffen, einen Blick auf den Angeklagten werfen zu können.«

»Mr. Clifton, im Augenblick gibt es in New York vierzehn Mordprozesse, darunter der gegen den berüchtigten ›Scherenmörder‹. Ich bezweifle, dass auch nur ein Nachwuchsreporter Ihre Verhandlung zugewiesen bekommen hat.«

»Ich brauche ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken.«

Jelks sah auf die Uhr. »Wir müssen Punkt zwölf vor Richter Atkins erscheinen, also haben Sie etwas über eine Stunde Zeit, um zu einer Entscheidung zu kommen, Mr. Clifton.« Er rief nach einem Aufseher, damit die Zellentür geöffnet wurde. »Sollten Sie sich dazu entschließen, meine Dienste nicht in Anspruch zu nehmen, wünsche ich Ihnen Glück, denn dann werden wir uns nicht wiedersehen«, fügte er hinzu, bevor er die Zelle verließ.

Harry saß am Rand der Pritsche und dachte über Sefton Jelks’ Angebot nach. Obwohl er keinen Zweifel daran hatte, dass der silberhaarige Anwalt seine ganz eigenen Ziele verfolgte, klangen sechs Monate bei Weitem erträglicher als sechs Jahre. Und an wen hätte er sich schon wenden können, wenn nicht an diesen erfahrenen Mann? Harry hätte nur allzu gerne Sir Walter Barrington in dessen Büro aufgesucht und ihn um Rat gebeten.

Eine Stunde später trug Harry einen dunkelblauen Anzug, ein cremefarbenes Hemd, einen gestärkten Kragen und eine gestreifte Krawatte. So führte man ihn in Handschellen aus seiner Zelle in einen Gefangenentransporter, mit dem er in Begleitung bewaffneter Aufseher zum Gerichtsgebäude gefahren wurde.

»Niemand darf den Eindruck bekommen, dass Sie fähig wären, einen Mord zu begehen«, hatte Jelks betont, nachdem ein Schneider mit einem halben Dutzend Anzügen, mehreren Hemden und einer Auswahl an Krawatten in Harrys Zelle erschienen war.

»Das bin ich ja auch nicht«, hatte Harry ihn erinnert.

Harry sah Jelks auf dem Korridor wieder. Der Anwalt bedachte ihn mit derselben Andeutung eines Lächelns wie zuvor. Dann schob er sich durch die Schwingtüren, lief den Mittelgang des Gerichtssaals hinab und hielt nicht eher inne, bevor er die beiden freien Plätze am Tisch der Verteidigung erreicht hatte.

Sobald Harry sich gesetzt hatte, wurden ihm die Handschellen abgenommen, und er sah sich in dem fast völlig leeren Raum um. Jelks hatte recht gehabt. Nur wenige Besucher interessierten sich für den Fall, und von der Presse war offensichtlich niemand darunter. Für die meisten Zuschauer musste es wie irgendein beliebiger Mord im Familienkreis wirken, bei dem der Angeklagte wahrscheinlich freigesprochen werden würde: keine Kain-und-Abel-Überschriften, keine Aussicht auf den elektrischen Stuhl in Gerichtssaal Nummer vier.

Als das erste Klingeln ertönte, das die Mittagsstunde ankündigte, öffnete sich eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Saals, und Richter Atkins erschien. Langsam durchquerte er den Raum, ging die Stufen zum Podium hinauf und nahm hinter dem Richtertisch Platz. Dann nickte er in Richtung des Bezirksstaatsanwalts, als wüsste er genau, was dieser zu sagen hatte.

Ein junger Beamter erhob sich hinter dem Tisch der Staatsanwaltschaft und erklärte, dass man den Mordvorwurf fallen lassen und Thomas Bradshaw stattdessen der Desertion aus der US Navy anklagen würde. Der Richter nickte und wandte sich Mr. Jelks zu, welcher wie aufs Stichwort aufstand.

»Und wie plädiert Ihr Mandant in dieser zweiten Anklage, der Desertion?«

»Schuldig«, sagte Jelks. »Ich hoffe, Euer Ehren, dass Sie hinsichtlich dieses Vorwurfs gegenüber meinem Mandanten Milde walten lassen, denn ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, Sir, dass dies seine erste Straftat ist und er sich vor diesem für ihn völlig untypischen Ausrutscher nie etwas hat zuschulden kommen lassen.«

Richter Atkins’ Miene verdüsterte sich. »Mr. Jelks«, sagte er, »manche Menschen sind der Ansicht, die Tatsache, dass jemand sich von seinem Posten entfernt, während er sich eigentlich im Dienst für sein Land befindet, stelle ein genauso verabscheuungswürdiges Verbrechen dar wie Mord. Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, dass ein solches Verhalten Ihren Mandanten bis vor Kurzem noch vor ein Erschießungskommando gebracht hätte.«

Harry wurde fast übel, als er zu Jelks aufsah, der seinen Blick nicht vom Richter wandte.

»In Anbetracht dieses Umstands«, fuhr Atkins fort, »verurteile ich Lieutenant Thomas Bradshaw zu sechs Jahren Gefängnis.« Er ließ seinen Holzhammer niederkrachen und sagte: »Nächster Fall«, bevor Harry Gelegenheit hatte, dagegen zu protestieren.

»Sie haben mir gesagt …«, begann Harry, doch Jelks hatte seinem ehemaligen Mandanten bereits den Rücken zugedreht und ging davon. Harry wollte ihm gerade nacheilen, als zwei Aufseher seine Arme packten und dem verurteilten Kriminellen Handschellen anlegten, bevor sie mit ihm durch den Gerichtssaal auf eine Tür zugingen, die er zuvor nicht bemerkt hatte.

Harry drehte sich um und sah, wie Sefton Jelks einem Mann mittleren Alters die Hand gab, der ihm ganz offensichtlich zu seiner Arbeit gratulierte. Wo hatte Harry so ein Gesicht zuvor schon gesehen? Dann begriff er – es musste sich um Tom Bradshaws Vater handeln.

2

Ohne weitere Formalitäten wurde Harry zunächst durch einen langen, spärlich beleuchteten Korridor und dann durch eine unmarkierte Tür nach draußen in einen kargen Hof geführt.

In der Mitte des Hofes stand ein gelber Bus, der weder eine Nummer noch einen anderen Hinweis auf sein Ziel trug. Ein muskulöser Aufseher stand mit einem Gewehr in der Hand neben der Bustür und gab Harry mit einem Nicken zu verstehen, dass er einsteigen solle. Nur für den Fall, dass er auf andere Gedanken käme, halfen ihm dabei die beiden Wachleute, die ihn aus dem Gericht geleitet hatten.

Harry setzte sich und starrte düster aus dem Fenster, während nach und nach andere verurteilte Gefangene in den Bus geführt wurden. Einige hielten die Köpfe gesenkt, andere, die diesen Weg offensichtlich nicht zum ersten Mal hinter sich brachten, kamen fast munter dahergeschlendert. Er nahm an, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis der Bus losfuhr – gleichgültig, was auch immer das Ziel der Fahrt sein mochte. Doch kurz darauf sollte er seine erste, schmerzliche Lektion über das Leben eines Gefangenen lernen: Sobald man verurteilt wurde, hat es niemand mehr eilig.

Harry dachte darüber nach, einen der Wachleute zu fragen, wohin sie fahren würden, doch keiner von ihnen sah wie ein besonders hilfsbereiter Fremdenführer aus. Nervös drehte er sich um, als sich jemand auf den Sitz neben ihm fallen ließ. Er wollte seinen neuen Begleiter nicht anstarren, doch da dieser sich sofort vorstellte, musterte Harry ihn etwas genauer.

»Ich bin Pat Quinn«, verkündete er mit einem leichten irischen Akzent.

»Tom Bradshaw«, sagte Harry, der seinem neuen Bekannten die Hand geschüttelt hätte, wenn sie beide nicht mit Handschellen gefesselt gewesen wären.

Quinn sah nicht wie ein Krimineller aus. Seine Füße berührten kaum den Boden, und er konnte nicht größer als einen Meter fünfundfünfzig sein, während die meisten anderen Gefangenen im Bus entweder groß und muskelbepackt oder einfach nur groß und übergewichtig waren. Quinn wirkte, als könne ihn der kleinste Windstoß umwerfen. Sein dünnes rotes Haar zeigte die ersten grauen Strähnen, obwohl er keinen Tag älter als vierzig sein konnte.

»Das ist das erste Mal für dich?«, sagte Quinn. Es klang halb wie eine Frage und halb wie eine Feststellung.

»Ist das so offensichtlich?«, fragte Harry.

»Es steht dir ins Gesicht geschrieben.«

»Was steht mir ins Gesicht geschrieben?«

»Dass du keine Ahnung hast, was als Nächstes passieren wird.«

»Dann ist es für dich eindeutig nicht das erste Mal?«

»Es ist das elfte Mal, dass ich in diesem Bus sitze. Es könnte auch schon das zwölfte Mal sein.«

Harry lachte zum ersten Mal seit vielen Tagen.

»Weswegen bist du hier?«, fragte Quinn.

»Fahnenflucht. Strafwürdiges Verlassen«, erwiderte Harry, ohne auf irgendwelche Einzelheiten einzugehen.

»So etwas habe ich ja noch nie gehört«, sagte Quinn. »Ich habe drei Ehefrauen verlassen, aber deswegen haben sie mich kein einziges Mal in den Knast geworfen.«

»Ich habe keine Ehefrau verlassen«, sagte Harry, wobei er an Emma dachte. »Ich habe unerlaubt die Royal Navy verlassen – ich meine, die Marine.«

»Wie viel hast du dafür bekommen?«

»Sechs Jahre.«

Quinn pfiff durch die beiden Zähne, die er noch hatte. »Das klingt ziemlich hart. Wer war dein Richter?«

»Atkins«, erwiderte Harry in heftigem Ton.

»Arnie Atkins? Du hast den falschen Richter bekommen. Solltest du jemals wieder vor Gericht müssen, dann sorg dafür, dass du den richtigen Richter bekommst.«

»Ich wusste nicht, dass man sich seinen Richter aussuchen kann.«

»Das kann man auch nicht«, sagte Quinn, »aber es gibt gewisse Mittel und Wege, die Schlimmsten zu vermeiden.« Harry sah sich seinen Begleiter noch genauer an als zuvor, unterbrach ihn aber nicht. »Es gibt sieben Richter in dem für uns zuständigen Bezirk, und zweien davon musst du unter allen Umständen aus dem Weg gehen. Einer der beiden ist Arnie Atkins. Sein Humor ist knapp bemessen, seine Strafen umso großzügiger.«

»Aber wie hätte ich ihm aus dem Weg gehen können?«, fragte Harry.

»Atkins hat seit elf Jahren den Vorsitz in Gerichtssaal Nummer vier, also bekomme ich einen epileptischen Anfall, wenn man mich in diese Richtung führt. Einen Anfall, der so heftig ist, dass die Wachen mich zum Gerichtsarzt bringen.«

»Du bist Epileptiker?«

»Nein«, sagte Quinn. »Du hörst nicht zu.« Er klang fast empört, und Harry verstummte. »Wenn ich denen vorspiele, dass es mir wieder besser geht, haben sie meinen Fall längst einem anderen Richter übertragen.«

Harry lachte zum zweiten Mal. »Und damit kommst du durch?«

»Nicht immer. Aber wenn ich ein paar unerfahrene Wachen zugeteilt bekomme, habe ich eine echte Chance. Obwohl es immer schwieriger wird, ständig dieselbe Nummer durchzuziehen. Diesmal allerdings war das gar nicht nötig, denn sie haben mich direkt in Gerichtssaal Nummer zwei gebracht, und der ist das Reich von Richter Regan. Er ist Ire – genau wie ich, falls du das noch nicht bemerkt hast – und neigt dazu, einem Landsmann eine möglichst geringe Strafe zu geben.«

»Was hast du ausgefressen?«

»Ich bin Taschendieb«, verkündete Quinn, als sei er Architekt oder Arzt. »Ich habe mich im Sommer auf Pferderennen und im Winter auf Boxveranstaltungen spezialisiert. Es ist immer leichter, wenn meine Kunden stehen«, erklärte er. »Aber in letzter Zeit habe ich kaum noch Glück, weil zu viele Ordner mich längst kennen. Deswegen musste ich in der U-Bahn und auf Busbahnhöfen arbeiten, wo man nicht viel verdient und leichter geschnappt wird.«

Es gab noch so viele Fragen, die Harry seinem neuen Tutor stellen wollte, und wie ein begeisterter Studienanwärter konzentrierte er sich auf diejenigen, die ihm bei der Zulassungsprüfung helfen würden. Ansonsten war er froh, dass Quinn sich nicht nach seinem Akzent erkundigte.

»Weißt du, wohin wir fahren?«, wollte er wissen.

»Lavenham oder Pierpoint«, antwortete Quinn. »Es kommt ganz darauf an, ob wir den Highway bei Ausfahrt zwölf oder vierzehn verlassen.«

»Warst du schon mal in einem von beiden?«

»Ich war schon in beiden, und das mehrfach«, sagte Quinn in sachlichem Ton. »Und bevor du fragst: Gäbe es einen Touristenführer für Gefängnisse, bekäme Lavenham einen Stern, und Pierpoint würde dichtgemacht.«

»Warum erkundigen wir uns nicht einfach beim Aufseher, wo wir hinfahren?«, fragte Harry, der seiner bedrückenden Unsicherheit ein Ende machen wollte.

»Weil er uns anlügen würde. Nur um uns eins auszuwischen. Wenn es Lavenham wird, gibt es nur noch das Problem, in welchen Zellenblock du kommst. Da es für dich das erste Mal ist, werden sie dich wahrscheinlich in Block A stecken, wo das Leben bedeutend leichter ist. Alte Hasen wie mich schicken sie üblicherweise in Block D, wo es keinen unter dreißig gibt und niemand wegen eines Gewaltverbrechens einsitzt, was ideal für jeden ist, der nicht weiter auffallen und einfach nur seine Zeit runterreißen will. Du solltest versuchen, Block B und Block C zu vermeiden. Die sind voller Junkies und Psychos.«

»Was muss ich tun, damit ich auch sicher in Block A lande?«

»Sag dem Beamten am Empfang, dass du ein frommer Christ bist und weder rauchst noch trinkst.«

»Ich wusste gar nicht, dass man im Gefängnis Alkohol trinken darf«, sagte Harry.

»Das darf man auch nicht, du dämlicher Schwachkopf«, sagte Quinn. »Aber wenn du die nötigen Scheine aufbringen kannst«, fügte er hinzu und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, »dann verwandeln sich die Wachen plötzlich in Barkeeper. Nicht einmal die Prohibition hat sie bremsen können.«

»Was ist das Wichtigste, worum ich mich gleich an meinem ersten Tag kümmern muss?«

»Sorg dafür, dass du die richtige Arbeit bekommst.«

»Welche Wahl habe ich denn?«

»Putzen, Küche, Krankenstation, Wäsche, Bibliothek, Gartenarbeit und die Kapelle.«

»Was muss ich tun, damit ich in die Bibliothek komme?«

»Sag ihnen, dass du lesen kannst.«

»Und was wirst du ihnen sagen?«, fragte Harry.

»Dass ich eine Ausbildung zum Koch gemacht habe.«

»Das muss sehr interessant gewesen sein.«

»Du hast es immer noch nicht kapiert, nicht wahr?«, sagte Quinn. »Ich habe nie eine Ausbildung zum Koch gemacht, aber so stecken sie mich immer in die Küche, und das ist die beste Arbeit in jedem Gefängnis.«

»Wie das?«

»Man kommt schon vor dem Frühstück aus seiner Zelle raus, und man geht erst nach dem Abendessen wieder in sie zurück. Es ist warm, und man kann sich das beste Essen aussuchen. Ah, wir fahren nach Lavenham«, sagte Quinn, als der Bus den Highway über Ausfahrt zwölf verließ. »Das ist gut, denn so muss ich keine dummen Fragen über Pierpoint beantworten.«

»Gibt es noch etwas, das ich über Lavenham wissen müsste?«, fragte Harry, der sich von Quinns Sarkasmus nicht aus der Ruhe bringen ließ. Er vermutete ohnehin, dass der erfahrene Gefangene einen so willigen Schüler nur allzu gerne in seine Meisterklasse aufnahm – wenn man das so nennen konnte.

»Da gibt es noch so viel, dass ich dir gar nicht alles erzählen kann«, seufzte Quinn. »Bleib nur immer dicht bei mir, nachdem wir registriert worden sind.«

»Aber werden sie dich nicht automatisch in Block D schicken?«

»Nicht wenn Mr. Mason Dienst hat«, sagte Quinn ohne weitere Erklärung.

Harry gelang es, Quinn noch ein paar Fragen zu stellen, bevor der Bus schließlich am Gefängnis vorfuhr. Er hatte den Eindruck, bei Quinn im Laufe von wenigen Stunden mehr gelernt zu haben als bei einem Dutzend Tutorien in Oxford.

»Immer dicht bei mir bleiben«, wiederholte Quinn, als die mächtigen Tore aufschwangen. Langsam rollte der Bus weiter, bis er einen Streifen unkrautbewachsenes Ödland erreicht hatte, das bisher von der Arbeit eines Gärtners völlig unberührt geblieben war. Der Bus hielt vor einem riesigen Backsteingebäude, das mehrere Reihen kleiner, schmutziger Fenster aufwies; aus einigen von ihnen wurden sie angestarrt.

Harry beobachtete, wie ein Dutzend Wachen einen Korridor bildeten, der direkt zum Eingang des Gefängnisses führte. Zwei Männer mit Gewehren traten rechts und links neben die Bustür.

»In Zweierreihen rauskommen«, befahl einer der beiden in knurrigem Ton, »jeweils fünf Minuten Pause zwischen jedem Paar. Keiner rührt sich von der Stelle, bevor ich die entsprechende Anweisung gebe.«

Harry und Quinn saßen noch eine weitere Stunde im Bus. Als man ihnen schließlich die Handschellen abnahm und sie ins Freie traten, sah Harry zu den hohen, mit Stacheldraht gekrönten Mauern hinauf, die das gesamte Gefängnis umgaben. Er dachte, dass selbst der Weltrekordhalter im Stabhochsprung nicht in der Lage gewesen wäre, aus Lavenham zu fliehen.

Harry folgte Quinn in das Gebäude, wo sie vor einem Beamten stehen blieben, der hinter einem Tisch saß. Der Mann trug eine abgewetzte blaue Uniform, bei der nicht die Knöpfe, sondern der Stoff glänzte. Er wirkte, als hätte er bereits eine lebenslange Strafe hinter sich, während er die Namensliste auf seinem Klemmbrett durchsah. Er lächelte, als er erkannte, wer der nächste Gefangene war.

»Willkommen zurück, Quinn«, sagte er. »Du wirst feststellen, dass sich nicht viel geändert hat, seit du das letzte Mal hier warst.«

Quinn grinste. »Es tut gut, Sie zu sehen, Mr. Mason. Vielleicht könnten Sie einen der Pagen bitten, mein Gepäck in mein übliches Zimmer zu bringen.«

»Treib’s nicht auf die Spitze, Quinn«, erwiderte Mason, »sonst könnte ich noch in Versuchung kommen, dem neuen Arzt zu erzählen, dass du gar kein Epileptiker bist.«

»Aber Mr. Mason, ich habe ein medizinisches Attest, mit dem ich es beweisen kann.«

»Zweifellos aus derselben Quelle wie dein Abschlusszeugnis als Koch«, sagte Mason und wandte sich Harry zu. »Und wer sind Sie?«

»Das ist mein Kumpel Tom Bradshaw. Er raucht nicht, trinkt nicht, flucht nicht und spuckt nicht«, warf Quinn ein, bevor Harry antworten konnte.

»Willkommen in Lavenham, Bradshaw«, sagte Mason.

»Genau genommen Captain Bradshaw«, sagte Quinn.

»Ich war Lieutenant«, sagte Harry. »Ich war nie Captain.« Quinn wirkte enttäuscht von seinem Schützling.

»Zum ersten Mal hier?«, fragte Mason und sah sich Harry genauer an.

»Ja, Sir.«

»Ich bringe Sie in Block A unter. Nachdem Sie geduscht und Ihre Gefängniskleidung aus der Kleiderkammer entgegengenommen haben, wird Mr. Hessler Sie in Zelle Nummer drei-zwei-sieben führen.« Mason warf einen Blick auf sein Klemmbrett, bevor er sich an einen jungen Beamten wandte, der hinter ihm stand und an dessen rechter Hand ein Gummiknüppel baumelte.

»Irgendeine Chance, dass ich mich meinem Freund anschließe?«, fragte Quinn, sobald Harry auf der entsprechenden Stelle des Blattes unterschrieben hatte. »Schließlich braucht Lieutenant Bradshaw einen Flügelmann.«

»Du bist der Letzte, den er braucht«, sagte Mason. Harry wollte sich gerade zu Wort melden, als der Taschendieb sich vorbeugte, eine zusammengefaltete Dollarnote aus einer seiner Socken zog und sie blitzschnell in Masons oberster Uniformtasche verschwinden ließ. »Quinn wird ebenfalls in Zelle drei-zwei-sieben untergebracht«, sagte Mason zu dem jüngeren Beamten. Falls Hessler den kleinen Geldtransfer beobachtet hatte, so äußerte er sich nicht dazu. »Folgen Sie mir«, war alles, was er sagte.

Quinn eilte Harry hinterher, bevor Mason es sich anders überlegen konnte.

Die beiden neuen Gefangenen wurden durch einen langen Korridor aus grünen Backsteinen geführt, bis Hessler vor einer kleinen Dusche stehen blieb. Dort waren zwei schmale, von benutzten Handtüchern bedeckte Holzbänke an der Wand angebracht.

»Ausziehen«, sagte Hessler. »Und duschen.«

Langsam zog Harry seinen perfekt sitzenden Anzug, sein elegantes, cremefarbenes Hemd, den steifen Kragen und die gestreifte Krawatte aus, welche er nach Ansicht von Mr. Jelks unbedingt hatte tragen sollen, um Eindruck auf den Richter zu machen. Das Problem war nur, dass er sich den falschen Richter ausgesucht hatte.

Quinn stand bereits unter der Dusche, als Harry noch damit beschäftigt war, seine Schnürsenkel zu lösen. Quinn hatte den Hahn aufgedreht, und gleichsam widerwillig tröpfelte ein wenig Wasser auf seinen bereits kahl werdenden Kopf. Dann griff er nach einem kleinen Stück Seife, das auf dem Boden lag, und begann, sich zu waschen. Harry trat unter das kalte Wasser der einzigen anderen Dusche, und einen Augenblick später reichte Quinn ihm das, was von der Seife noch übrig war.

»Erinnere mich daran, dass ich mit der Geschäftsführung über den Service sprechen will«, sagte Quinn, als er nach einem feuchten Handtuch griff, das nicht viel größer als ein Geschirrtuch war, und versuchte sich abzutrocknen.

Bevor Harry sich noch ganz eingeseift hatte, sagte Hessler, indem er kaum die Lippen voneinander löste: »Ziehen Sie sich an und folgen Sie mir.«

Wieder folgte Hessler mit schnellen Schritten dem langen Korridor, wobei ein halb angezogener, noch immer nasser Harry ihm hinterhereilte. Sie blieben erst stehen, als sie eine Tür mit der Aufschrift »Lager« erreicht hatten. Hessler klopfte heftig dagegen, und einen Augenblick später wurde sie geöffnet. Vor den dreien stand ein Beamter, der in seinem Leben schon alles gesehen zu haben schien. Er stützte die Ellbogen auf eine Theke und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Als er Quinn erkannte, lächelte er.

»Ich bin nicht sicher, ob deine letzte Garnitur schon aus der Wäscherei zurück ist, Quinn«, sagte er.

»Dann brauche ich wohl von allem ein neues Exemplar, Mr. Newbold«, erwiderte Quinn, beugte sich vor und zog etwas aus seiner anderen Socke, das ebenfalls sogleich wieder verschwand. »Meine Ansprüche sind bescheiden«, fügte er hinzu. »Eine Decke, zwei Baumwollleintücher, ein Kissen, ein Kissenbezug …« Der Beamte zog jeden der genannten Artikel aus den Regalen hinter sich und stapelte sie ordentlich auf der Theke. »… zwei Hemden, drei Paar Socken, sechs Hosen, zwei Handtücher, eine Schale, ein Teller, Messer, Gabel und Löffel, ein Rasiermesser, eine Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta – Colgate, wenn’s geht.«

Niemand kommentierte die Tatsache, dass Quinns Stapel immer größer wurde. »Darf es sonst noch etwas sein?«, fragte der Beamte schließlich, als sei Quinn ein geschätzter Kunde, von dem er sich wünschte, dass er wiederkäme.

»Ja. Mein Freund Lieutenant Bradshaw braucht dasselbe, und da er ein Offizier und ein Gentleman ist, sollten Sie dafür sorgen, dass er nur das Beste bekommt.«

Zu Harrys Überraschung begann Newbold, einen zweiten Stapel zu errichten, wobei er jeden Gegenstand sorgfältig auszuwählen schien – und all das nur wegen des Gefangenen, der sich im Bus neben ihn gesetzt hatte.

»Folgen Sie mir«, sagte Hessler, nachdem Newbold seinen Auftrag ausgeführt hatte. Harry und Pat griffen nach ihren Kleiderstapeln und eilten den Korridor entlang. Jetzt gab es mehrere Unterbrechungen auf ihrem Weg, denn immer wieder stießen sie auf weitere Beamte, die eine Gittertür vor ihnen auf- und hinter ihnen wieder zuschließen mussten, während sie sich den Zellen näherten. Als sie schließlich ihren Gebäudeflügel erreicht hatten, wurden sie vom Lärm von eintausend Gefangenen begrüßt.

Quinn sagte: »Ich sehe, dass wir im obersten Stockwerk untergebracht wurden, Mr. Hessler, aber ich möchte trotzdem auf den Aufzug verzichten, da mir ein bisschen Bewegung nur guttun kann.« Der Beamte ignorierte ihn und ging mit zügigen Schritten an den grölenden Gefangenen vorbei.

»Hast du nicht behauptet, dass das ein ruhiger Trakt ist?«, fragte Harry.

»Offensichtlich gehört Mr. Hessler nicht zu den allerbeliebtesten Beamten«, flüsterte Quinn, als sie Zelle 327 erreicht hatten. Hessler entriegelte die schwere Stahltür und zog sie auf, damit der neue und der alte Gefangene die Zelle betreten konnten, die während der nächsten sechs Jahre Harrys Zuhause bilden sollte.

Harry hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Er sah sich in der Zelle um und bemerkte, dass an der Innenseite der Tür kein Griff angebracht war. Zwei Kojen, eine über der anderen, ein Waschbecken aus Edelstahl, das an der Wand befestigt war, ein Holztisch, ebenfalls an der Wand befestigt, und ein Holzstuhl. Schließlich blieb sein Blick an einer Metallschale hängen, die unter der unteren Koje stand.

»Du bekommst das obere Bett«, sagte Quinn, indem er Harry aus dessen Gedanken riss. »Du bist schließlich das erste Mal hier. Wenn ich vor dir rauskomme, ziehst du nach unten um, und dein neuer Zellenkumpel liegt oben. Gefängnisetikette«, erklärte er.

Harry trat vor die beiden Kojen und machte sorgfältig sein Bett. Dann kletterte er hinauf, legte sich hin und ließ seinen Kopf auf das dünne, harte Kissen sinken. Er war sich schmerzlich bewusst, dass es einige Zeit dauern würde, bis er in der Lage wäre, eine Nacht lang durchzuschlafen. »Kann ich dir noch eine Frage stellen?«, sagte er zu Quinn.

»Ja, aber dann solltest du nicht mehr reden, bis das Licht morgen früh wieder angemacht wird.« Harry dachte an Fisher, der in seiner ersten Nacht in St. Bede’s fast dieselben Worte benutzt hatte.

»Mir ist klar, dass du es geschafft hast, jede Menge Bargeld hier hereinzuschmuggeln, aber warum haben die Wachen es nicht einfach konfisziert, sobald du aus dem Bus gestiegen bist?«

»Wenn sie das tun würden«, antwortete Quinn, »würde kein Gefangener jemals wieder irgendwelches Geld mitbringen, und das ganze System würde zusammenbrechen.«

3

Harry lag im oberen Bett und starrte zur Decke mit dem dünnen weißen Anstrich hinauf, die er berühren konnte, wenn er die Finger ausstreckte. Die Matratze war uneben und das Kissen so hart, dass er immer nur wenige Minuten am Stück schlafen konnte.

Er dachte an Sefton Jelks und daran, wie leicht es dem alten Anwalt gefallen war, ihn zu täuschen. Er konnte geradezu hören, wie Tom Bradshaws Vater zu Sefton Jelks sagte: »Sorgen Sie dafür, dass die Mordanklage gegen meinen Sohn fallen gelassen wird. Das ist das Einzige, was mich interessiert.« Harry versuchte, nicht an die nächsten sechs Jahre zu denken, die Mr. Bradshaw nicht interessierten. Waren sie die zehntausend Dollar wert?

Er schob die Überlegungen zu seinem Anwalt beiseite und dachte an Emma. Er vermisste sie so sehr. Er wollte ihr schreiben, um ihr mitzuteilen, dass er noch am Leben war, doch er wusste, dass er das nicht tun konnte. Er fragte sich, was sie an einem Herbsttag wie diesem in Oxford wohl tun würde. Welche Fortschritte machte sie mit ihrem Studium im ersten Jahr? Gab es einen anderen Mann, der sie umwarb?

Und was war mit ihrem Bruder Giles, seinem besten Freund? Hatte Giles jetzt, da sich Britannien im Krieg befand, Oxford verlassen und sich freiwillig gemeldet, um gegen die Deutschen zu kämpfen? Harry betete darum, dass Giles noch am Leben war, sollte er das tatsächlich getan haben. Voller Wut darüber, dass er in diesem Krieg nicht das tun konnte, was er sich vorgenommen hatte, schlug Harry mit der Faust seitlich gegen sein Bett. Quinn schwieg; er nahm wohl an, dass Harry unter der besonderen Bedrückung litt, die die erste Nacht in einem Gefängnis für die meisten Betroffenen mit sich brachte.

Und was war mit Hugo Barrington? Hatte ihn irgendjemand gesehen seit seinem Verschwinden an jenem Tag, an dem Harry seine Tochter hätte heiraten sollen? Würde er die Gunst der anderen wiedergewinnen, sobald alle davon ausgingen, dass Harry tot war? Er versuchte, nicht mehr an Barrington zu denken, denn er konnte die Möglichkeit, dass dieser Mann sein Vater war, noch immer nicht akzeptieren.

Als sich seine Gedanken seiner Mutter zuwandten, musste Harry lächeln. Er hoffte, sie würde die zehntausend Dollar gut zu nutzen wissen; Jelks hatte versprochen, ihr das Geld sofort zu schicken, nachdem Harry sich bereit erklärt hatte, Tom Bradshaws Identität zu übernehmen. Da sie dann über zweitausend Pfund auf der Bank hätte, hoffte Harry, sie würde ihre Arbeit als Kellnerin im Grand Hotel aufgeben und sich das kleine Haus auf dem Land kaufen, von dem sie schon so lange sprach. Das war das einzig Gute, das diese Scharade mit sich bringen würde.

Und was war mit Sir Walter Barrington, der ihn immer wie seinen eigenen Enkel behandelt hatte? Wenn Hugo Harrys Vater sein sollte, dann war Sir Walter ja tatsächlich sein Großvater. Wenn es sich so verhielt, würde Harry das Barrington-Vermögen und den Familientitel erben und zu gegebener Zeit Sir Harry Barrington werden. Aber Harry wollte nicht nur, dass sein Freund Giles, Hugo Barringtons ehelicher Sohn, den Titel erbte, sondern – wichtiger noch – er wollte unbedingt beweisen, dass Arthur Clifton sein wirklicher Vater war. So bliebe ihm immer noch eine kleine Chance, seine geliebte Emma zu heiraten. Harry versuchte, nicht daran zu denken, wo er die nächsten sechs Jahre verbringen würde.

Um sieben Uhr morgens erklang eine Sirene, um jene Gefangenen aufzuwecken, die schon so lange hier waren, dass es ihnen inzwischen gelang, in den Nächten Schlaf zu finden. »Man ist nicht im Gefängnis, während man schläft«, waren die letzten Worte, die Quinn gemurmelt hatte, bevor er in einen tiefen Schlummer gefallen war, den gleich darauf ein lautes Schnarchen begleiten sollte. Harry machte das nichts aus. Von seinem Onkel Stan war er ganz andere Dinge gewohnt, was das Schnarchen anging.

Im Laufe der langen, schlaflosen Nacht hatte Harry mehrere Entschlüsse gefasst. Um die abstumpfende Grausamkeit von so viel verschwendeter Zeit besser zu überstehen, würde Tom Bradshaw ein Mustergefangener sein; so konnte er darauf hoffen, dass sich seine Strafe wegen guter Führung verkürzte. Er würde sich eine Stelle in der Bibliothek besorgen und über all das Tagebuch führen, was er hinter Gittern erlebte und was vor seiner Verurteilung geschehen war. Er würde sich fit halten, damit er bei seiner Entlassung sofort in der Lage wäre, sich freiwillig zu melden, sollte der Krieg in Europa bis dahin noch nicht beendet sein.

Als Harry aus dem oberen Bett kletterte, war Quinn bereits angezogen.

»Was nun?«, fragte Harry, wobei er sich anhörte wie ein kleiner Junge an seinem ersten Schultag.

»Frühstück«, antwortete Quinn. »Zieh dich an, hol deinen Teller und deinen Becher, und sorg dafür, dass du bereit bist, wenn der Schließer die Tür aufmacht. Es gibt ein paar Aufseher, die sich einen Spaß daraus machen, einem die Tür ins Gesicht zu knallen, wenn man auch nur ein paar Sekunden zu spät dran ist.« Harry zog seine Hose an. »Und es wäre besser, wenn du auf dem Weg in die Kantine kein Wort sprichst«, fügte Quinn hinzu. »Du würdest nur auffallen, und das sehen die älteren Gefangenen gar nicht gern. Genau genommen solltest du mit überhaupt niemandem sprechen, den du nicht kennst, wenn du nicht mindestens schon ein Jahr hier bist.«

Harry hätte gerne gelacht, aber er war sich nicht sicher, ob Quinn das als Witz gemeint hatte. Er hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, und dann schwang die Zellentür auf. Quinn schoss nach draußen wie ein Windhund aus seiner Startvorrichtung, und der Mitbewohner seiner Zelle folgte ihm in nur einem Schritt Entfernung. Sie traten in eine Reihe stummer Gefangener, die sich den Treppenabsatz vor den offenen Zellentüren entlangschoben und dann einer Wendeltreppe bis ins Erdgeschoss folgten, wo sie auf die anderen Gefangenen stießen, die unterwegs zum Frühstück waren.

Lange bevor die Männer die Kantine erreicht hatten, kam die Reihe zum Stehen. Harry sah den Männern zu, die in kurzen weißen Kitteln hinter einer Reihe von Warmhalteplatten standen und das Essen servierten. Ein Aufseher, der einen langen weißen Mantel trug und einen Gummiknüppel in der Hand hielt, ließ sie nicht aus den Augen und achtete genau darauf, dass niemand eine Extraportion bekam.

»Schön, Sie wiederzusehen, Mr. Siddell«, sagte Pat leise zu dem Aufseher, als sie die Spitze der Reihe erreicht hatten. Die beiden Männer gaben sich die Hand wie alte Freunde. Diesmal konnte Harry nicht erkennen, dass ein Geldschein den Besitzer wechselte, doch ein knappes Nicken von Mr. Siddell deutete an, dass die beiden irgendeinen Handel abgeschlossen hatten. Quinn ging weiter, während auf seinem Blechteller ein Spiegelei mit festem Eigelb, mehrere Kartoffeln, die eher schwarz als gelb aussahen, und zwei Scheiben altbackenes Brot landeten. Harry holte ihn ein, als dessen Becher gerade bis zur Hälfte mit Kaffee gefüllt wurde. Die Gefangenen in der Essensausgabe sahen Harry verwirrt an, der jedem einzelnen von ihnen dankte, als befände er sich zum Tee auf einem Fest seiner Pfarrei.

»Verdammt«, sagte er, als der letzte Gefangene ihm Kaffee anbot, »ich habe meinen Becher in der Zelle gelassen.«

Der Gefangene füllte Quinns Becher bis zum Rand. »Vergiss ihn das nächste Mal nicht«, sagte der Mann, mit dem Harry die Zelle teilte.

»Keine Unterhaltungen beim Anstehen!«, schrie Hessler und ließ seinen Gummiknüppel in seine behandschuhte Hand klatschen. Quinn führte Harry an das Ende eines langen Tisches und setzte sich auf die Bank ihm gegenüber. Harry war so hungrig, dass er jeden Krümel auf seinem Teller verschlang, einschließlich des schmierigsten Eies, das er jemals gegessen hatte. Er überlegte sogar, ob er den Teller ablecken sollte, doch dann dachte er an Giles und an einen anderen ersten Tag.

Nachdem Harry und Pat ihr Fünf-Minuten-Frühstück beendet hatten, wurden sie über die Wendeltreppe ins oberste Stockwerk zurückgeführt. Sobald die Zellentür hinter ihnen zugefallen war, spülte Quinn seinen Teller und seinen Becher und stellte sie ordentlich unter sein Bett. »Wenn man über Jahre hinweg in einer Zelle von anderthalb mal zweieinhalb Metern lebt, lernt man, jeden Zentimeter zu nutzen«, erklärte er. Harry folgte seinem Beispiel, wobei er sich fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis er seinerseits Quinn etwas beibringen könnte.

»Was passiert als Nächstes?«, fragte Harry.

»Arbeitszuteilung«, antwortete Quinn. »Ich werde zu Siddell in die Küche gehen, aber wir müssen noch einiges dafür tun, damit du in die Bibliothek kommst. Alles hängt davon ab, welcher Beamte Dienst hat. Das Problem ist nur, dass mir so langsam das Geld ausgeht.« Quinn hatte kaum zu Ende gesprochen, als die Tür erneut geöffnet wurde und Hesslers Silhouette vor ihnen erschien. Der Aufseher ließ erneut seinen Gummiknüppel klatschen.

»Quinn«, sagte er, »melde dich in der Küche, und zwar sofort. Bradshaw, du gehst auf Station neun und schließt dich der Putzkolonne an, die in diesem Trakt arbeitet.«

»Ich hatte gehofft, in der Bibliothek arbeiten zu können, Mr. …«

»Es ist mir scheißegal, was du gehofft hast, Bradshaw«, sagte Hessler. »Ich bin der Beamte, der für diesen Trakt zuständig ist, und ich mache die Regeln hier. Wie jeder andere Gefangene auch kannst du dienstags, donnerstags und sonntags zwischen sechs und sieben in die Bibliothek gehen. Ist das deutlich genug für dich?« Harry nickte. »Du bist kein Offizier mehr, Bradshaw, sondern nur noch ein Gefangener wie jeder andere hier. Und du solltest besser keinen Gedanken daran verschwenden, dass du mich bestechen könntest«, fügte er hinzu, bevor er zur nächsten Zelle weiterging.

»Hessler ist wirklich einer der wenigen Beamten, die man nicht bestechen kann«, flüsterte Quinn. »Unsere einzige Hoffnung ist jetzt Mr. Swanson, der Gefängnisdirektor. Denk immer daran, dass er sich für eine Art Intellektuellen hält, was wahrscheinlich bedeutet, dass er es schafft, einen zusammenhängenden Satz niederzuschreiben. Und er ist ein fundamentalistischer Baptist. Hallelujah!«

»Wann werde ich die Möglichkeit haben, mit ihm zu sprechen?«, fragte Harry.

»Das kann jederzeit passieren. Aber vergiss bloß nicht, ihm zu sagen, dass du in der Bibliothek arbeiten willst, denn er gewährt jedem neuen Gefangenen nur fünf Minuten.«

Harry ließ sich auf den Holzstuhl sinken und legte den Kopf in die Hände. Wenn die zehntausend Dollar nicht gewesen wären, die Jelks versprochen hatte, seiner Mutter zu schicken, hätte Harry die fünf Minuten genutzt, um dem Gefängnisdirektor zu berichten, wie es wirklich dazu gekommen war, dass er sich jetzt in Lavenham befand.

»Bis dahin werde ich tun, was ich kann, um dich in der Küche unterzubringen«, fuhr Quinn fort. »Das ist zwar nicht das, was du dir erhofft hast, aber es ist immer noch besser, als mit der Putzkolonne loszuziehen.«

»Danke«, sagte Harry. Quinn eilte davon in Richtung Küche. Er kannte den Weg. Harry ging zur Treppe, die ins Erdgeschoss führte, und machte sich auf die Suche nach Station neun.

Zwölf Männer, die allesamt zum ersten Mal im Gefängnis waren, standen beieinander und warteten auf Anweisungen. Eigeninitiative war in Lavenham nicht gerne gesehen; sie roch nach Rebellion oder ließ vielleicht sogar darauf schließen, dass der Gefangene intelligenter sein könnte als die Beamten.

»Nehmt einen Eimer, füllt ihn mit Wasser, und holt euch einen Mopp«, sagte Hessler. Er lächelte Harry zu, als er dessen Namen auf einem weiteren Klemmbrett abhakte. »Du bist als Letzter hier unten angekommen, Bradshaw. Ich denke, du wirst dich diesen Monat um das Scheißhaus kümmern.«

»Aber ich war doch gar nicht der Letzte«, protestierte Harry.

»Ich denke schon«, sagte Hessler, der unablässig weiterlächelte.

Harry füllte seinen Eimer mit kaltem Wasser und nahm sich einen Mopp. Man musste ihm nicht sagen, in welche Richtung er zu gehen hatte, denn er konnte die Latrinen aus einem Dutzend Schritten Entfernung riechen. Er musste bereits würgen, bevor er den großen, quadratischen Raum mit den Löchern im Boden überhaupt betreten hatte. Er hielt sich die Nase zu, doch auch so blieb ihm nichts anderes übrig, als immer wieder nach draußen zu gehen, um nach Luft zu schnappen. Einige Schritte entfernt stand Hessler lachend daneben.

»Du wirst dich dran gewöhnen, Bradshaw«, sagte er. »Mit der Zeit.«

Harry bereute, dass er ein so üppiges Frühstück gegessen hatte; innerhalb von wenigen Minuten hatte er alles wieder von sich gegeben. Etwa eine Stunde später hörte er, wie ein anderer Beamter mit bellender Stimme seinen Namen rief. »Bradshaw!«

Weiß wie ein Laken, wankte Harry aus den Latrinen. »Hier«, sagte er.

»Der Direktor möchte dich sehen. Auf geht’s.«

Mit jedem neuen Schritt konnte Harry tiefer durchatmen, und als sie das Büro des Direktors erreicht hatten, fühlte er sich fast wieder wie ein Mensch.

»Du wartest hier, bis man dich ruft«, sagte der Beamte.

Harry setzte sich auf einen freien Stuhl zwischen zwei anderen Gefangenen, die sich sogleich abwandten. Er konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Während die neuen Gefangenen nacheinander in das Büro des Direktors gingen und wieder herauskamen, versuchte er, seine Gedanken zu ordnen. Quinn hatte recht. Die meisten Gespräche dauerten nur etwa fünf Minuten; einige waren sogar noch kürzer. Harry konnte es sich nicht leisten, auch nur eine Sekunde der Zeit zu verschwenden, die man ihm gewähren würde.

»Bradshaw«, sagte der Beamte und öffnete die Tür. Er trat beiseite, als Harry in das Büro des Direktors ging. Harry beschloss, Mr. Swanson nicht zu nahe zu kommen, und hielt sich mehrere Schritte von dessen lederüberzogenem Schreibtisch entfernt. Obwohl der Direktor saß, konnte Harry erkennen, dass sein Gegenüber nicht in der Lage war, den mittleren Knopf seines Sakkos zu schließen. Sein Haar war schwarz gefärbt, wodurch er jünger aussehen sollte; in Wahrheit jedoch wirkte er damit höchstens ein wenig lächerlich. Was hatte Brutus über Caesars Eitelkeit gesagt? »Schmückt seine Stirn mit Kränzen, und rühmt ihn wie einen Gott, das wird sein Untergang sein.«

Swanson öffnete Bradshaws Akte, musterte sie kurz und sah dann zu Harry auf.

»Wie ich sehe, hat man Ihnen sechs Jahre wegen Desertion gegeben. So etwas habe ich noch nie erlebt«, gab er zu.

»Ja, Sir«, sagte Harry, der keinen Augenblick seiner kostbaren Zeit verschwenden wollte.

»Machen Sie sich nicht die Mühe, mir zu sagen, dass Sie unschuldig sind«, fuhr Swanson fort, »denn das ist nur einer unter tausend, also stehen die Chancen gegen Sie.« Harry musste lächeln. »Aber wenn Sie sauber bleiben« – Harry dachte an die Latrinen – »und keinen Ärger machen, dann sehe ich keinen Grund, warum Sie wirklich die ganzen sechs Jahre absitzen sollten.«

»Danke, Sir.«

»Haben Sie irgendwelche besonderen Interessen?«, fragte Swanson, der so wirkte, als habe er seinerseits keinerlei Interesse daran, etwas darüber zu hören.

»Lesen, Kunstbetrachtung und Choralgesang, Sir.«

Der Direktor sah Harry ungläubig an. Offensichtlich war er nicht sicher, ob der Gefangene sich mit dieser Antwort über ihn lustig machen wollte. Er deutete auf einen Vers, der in Form einer Stickerei an der Wand hinter seinem Schreibtisch hing, und fragte: »Können Sie mir sagen, wie es weitergeht?«

Harry las die Worte: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Voll stummer Dankbarkeit dachte er an Miss Eleanor E. Monday und die Stunden, die er bei der Chorprobe verbracht hatte. »Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn. Psalm einhunderteinundzwanzig.«

Der Direktor lächelte. »Sagen Sie mir, Bradshaw, wer sind Ihre Lieblingsautoren?«

»Shakespeare, Dickens, Austen, Trollope und Thomas Hardy.«

»Ist keiner unserer Landsleute gut genug?«

Harry hätte am liebsten laut geflucht über einen so groben Patzer. Er sah hinüber zum halbvollen Bücherregal des Direktors. »Aber natürlich«, sagte er. »Ich finde, dass sich F. Scott Fitzgerald, Hemingway und O. Henry vor niemandem verstecken müssen, und ich glaube, dass Steinbeck der beste moderne amerikanische Schriftsteller ist.« Er hoffte, dass er den Namen richtig ausgesprochen hatte. Er musste unbedingt dafür sorgen, dass er Von Mäusen und Menschen gelesen hatte, wenn er dem Direktor das nächste Mal begegnen würde.

Wieder erschien ein Lächeln um Swansons Lippen. »Welche Arbeit hat Mr. Hessler Ihnen zugeteilt?«

»Ich bin im Reinigungstrupp, obwohl ich gerne in der Bibliothek arbeiten würde, Sir.«

»Das würden Sie?«, sagte der Direktor. »Nun, dann werde ich schauen müssen, ob es eine freie Stelle gibt.« Er notierte sich etwas auf dem Block, der vor ihm lag.

»Danke, Sir.«

»Wenn es eine solche Stelle gibt, wird man Ihnen das im Laufe des Tages mitteilen«, sagte der Direktor und schloss die Akte.

»Danke, Sir«, wiederholte Harry und verließ rasch das Büro, denn ihm war bewusst, dass er mehr als die vorgesehenen fünf Minuten beim Direktor gewesen war.

Sobald er wieder auf dem Korridor stand, begleitete ihn der diensthabende Beamte zurück in seinen Trakt. Dankbar bemerkte Harry, dass Hessler nirgendwo zu sehen war und die anderen Mitglieder der Putzkolonne in den zweiten Stock vorgerückt waren, als er sich ihnen wieder anschloss.

Lange bevor die Sirene die Gefangenen zum Mittagessen rief, war Harry erschöpft. Er trat in die Schlange vor den Warmhalteplatten und sah, dass Quinn bereits seinen Posten hinter der Essensausgabe bezogen hatte und seine Mitgefangenen bediente. Eine große Portion Kartoffeln und ein Stück viel zu lange gekochtes Fleisch wurden auf Harrys Teller geklatscht. Er setzte sich alleine an einen langen Tisch, stocherte jedoch nur in seinem Essen herum. Denn er fürchtete, dass Hessler am Nachmittag wieder auftauchen würde, um ihn zurück in die Latrinen zu schicken. In diesem Fall bliebe sein Essen dann ebenfalls dort.

Hessler hatte keinen Dienst, als Harry sich wieder zur Arbeit meldete, und der neue Beamte schickte einen anderen Gefangenen zum Latrinenreinigen. So verbrachte Harry den Nachmittag damit, Korridore zu wischen und Mülleimer zu leeren. Sein einziger Gedanke galt der Frage, ob der Direktor die Anweisung gegeben hatte, ihn zur Arbeit in der Bibliothek einzuteilen. Sollte das nicht der Fall sein, musste Harry auf eine Stelle in der Küche hoffen.

Als Quinn nach dem Abendessen in ihre gemeinsame Zelle zurückkehrte, verriet seine Miene unmissverständlich, dass sich Harry seinem Freund nicht würde anschließen können.

»Es gab nur noch einen einzigen Platz für einen Spülgehilfen.«

»Ich nehme ihn«, sagte Harry.

»Aber als Mr. Siddell deinen Namen erwähnte, hat Hessler sein Veto eingelegt. Er meinte, du müsstest mindestens drei Monate lang Dienst in der Putzkolonne machen, bevor er einen Wechsel in die Küche überhaupt in Erwägung ziehen würde.«

»Was ist nur los mit diesem Mann?«, fragte Harry verzweifelt.

»Angeblich hat er sich als Marineoffizier beworben, aber die Zulassungsprüfung nicht geschafft, weshalb er sich mit einer Stelle im Gefängnis begnügen musste. Darum muss Lieutenant Bradshaw jetzt die Konsequenzen tragen.«

HIER ENDET DIE LESEPROBE

Die große Clifton-Saga von Jeffrey Archer

Spiel der Zeit (Band 1)

Das Vermächtnis des Vaters (Band 2)

Erbe und Schicksal (Band 3)

Im Schatten unserer Wünsche (Band 4)

Die Wege der Macht (Band 5)

»Wenn es einen Nobelpreis für das

Erzählen großer Geschichten gäbe –

Jeffrey Archer wäre er sicher!«

DAILY TELEGRAPH

Weitere Infos unter Jeffrey Archer – Clifton-Saga

oder auf der Verlagsseite www.heyne.de