Spiel der Zeit - Jeffrey Archer - E-Book
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Spiel der Zeit E-Book

Jeffrey Archer

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Beschreibung

Die Schicksale zweier Familien. Eine verborgene Wahrheit. Das Ringen um Freundschaft und Liebe.

England um 1930: Der junge Harry Clifton wächst an den Hafendocks von Bristol heran, seine Mutter Maisie muss sich mit harter Arbeit durchschlagen. Um den Tod von Harrys Vater, der angeblich im Krieg gefallen ist, rankt sich ein Geheimnis. Harrys Leben nimmt eine Wendung, als er das Stipendium für eine Eliteschule erhält. Er tritt ein in die Welt der Reichen und lernt Giles Barrington sowie dessen Schwester Emma kennen, Erben einer Schifffahrts- Dynastie. Harry verliebt sich in Emma, ohne zu ahnen, dass die Schicksale ihrer Familien auf tragische Weise miteinander verknüpft sind ...

»Spiel der Zeit« ist der erste Band von Jeffrey Archers großem historischen Familienepos »Die Clifton-Saga« ...

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Seitenzahl: 607

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DAS BUCH

England, um 1930: Der junge Harry Clifton wächst an den Hafendocks von Bristol heran, seine Mutter Maisie muss sich mit sich mit harter Arbeit durchschlagen. Um den Tod von Harrys Vater, der angeblich im Krieg gefallen ist, rankt sich ein Geheimnis. Harrys Leben nimmt eine Wendung, als er das Stipendium für eine Eliteschule erhält. Er tritt ein in die Welt der Reichen und lernt Giles Barrington sowie dessen Schwester Emma kennen, Erben einer Schifffahrtdynastie. Harry verliebt sich in Emma, ohne zu ahnen, dass die Schicksale ihrer Familien auf tragische Weise miteinander verknüpft sind ...

DER AUTOR

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Er schlug eine bewegte Politiker-Karriere ein, die bis 2003 andauerte. Weltberühmt wurde Archer als Schriftsteller. Er verfasste zahlreiche Bestseller und zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Sein historisches Familienepos Die Clifton-Saga stürmte die englischen und amerikanischen Bestsellerlisten und begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheirat, hat zwei Söhne und lebt in London und Cambridge.

LESEPROBE

JEFFREY ARCHER

SPIEL

DER ZEIT

ROMAN

Aus dem Englischen

von Martin Ruf

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe ONLY TIME WILL TELL

erschien 2011 bei Macmillan, London

Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2015

Copyright © 2011 by Jeffrey Archer

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Thomas Brill

Umschlagillustration: Johannes Wiebel/punchdesign,

München, unter Verwendung von Motiven von shutterstock,

photocase und Richard Jenkins Photography

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-16278-8

www.heyne.de

ALAN QUILTER

1927 – 1998

MAISIE CLIFTON

1919

Vorspiel

Ich hätte diese Geschichte niemals aufgeschrieben, wenn ich nicht schwanger geworden wäre. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich hatte schon seit Längerem die Absicht, meine Jungfräulichkeit auf dem Ausflug nach Weston-super-Mare zu verlieren, allerdings nicht unbedingt an diesen Mann.

Arthur Clifton war, genau wie ich, in der Still House Lane geboren worden; wir waren sogar in dieselbe Schule, die Merrywood Elementary, gegangen. Doch weil ich zwei Jahre jünger war als er, hatte er damals nicht einmal gewusst, dass es mich gab. Alle Mädchen in meiner Klasse waren verrückt nach ihm, und das lag nicht nur daran, dass er der Kapitän der Fußballmannschaft der Schule war.

Obwohl Arthur während unserer Schulzeit nie irgendein Interesse an mir gezeigt hatte, sollte sich das sehr rasch ändern, als er von der Westfront zurückkam. Wahrscheinlich war ihm nicht einmal klar, wen er vor sich hatte, als er mich an jenem Samstagabend zu einer Tanzveranstaltung im Palais einlud. Aber, um ehrlich zu sein, auch ich hatte zweimal hinsehen müssen, bevor ich ihn wiedererkannte, denn er hatte sich einen bleistiftdünnen Schnurrbart wachsen lassen und trug das Haar mit Pomade zurückgekämmt wie Ronald Colman. An jenem Abend sah er kein anderes Mädchen an, und nachdem wir den letzten Walzer getanzt hatten, wusste ich, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er mich bitten würde, ihn zu heiraten.

Während wir nach Hause gingen, hielt Arthur meine Hand, und als wir die Tür zu meinem Haus erreicht hatten, versuchte er, mich zu küssen. Ich wandte mich ab. Schließlich hatte mich Reverend Watts oft genug ermahnt, dass ich mir meine Unberührtheit bis zum Tag meiner Hochzeit bewahren solle, und Miss Monday, unsere Chorleiterin, hatte mich davor gewarnt, dass Männer nur das Eine wollen und schnell das Interesse verloren, sobald sie es bekamen. Ich habe mich oft gefragt, ob Miss Monday aus Erfahrung sprach.

Am folgenden Samstag lud mich Arthur ins Kino ein, wo wir uns Gebrochene Blüten mit Lillian Gish ansahen, und obwohl ich ihm erlaubte, mir seinen Arm um die Schulter zu legen, ließ ich es immer noch nicht zu, dass er mich küsste. Er machte kein Theater deswegen. In Wahrheit war er nämlich eher schüchtern.

Am Samstag darauf erlaubte ich ihm, mich zu küssen, doch als er versuchte, eine Hand in meine Bluse zu schieben, drückte ich ihn weg. Genau genommen ließ ich das erst zu, nachdem er mir einen Heiratsantrag gemacht und einen Ring gekauft und Reverend Watts in der Kirche zum zweiten Mal das Aufgebot verlesen hatte.

Mein Bruder Stan sagte zu mir, ich sei die letzte bekannte Jungfrau auf unserer Seite des Avon, obwohl ich vermute, dass die meisten seiner Eroberungen nur in seinem Kopf stattfanden. Trotzdem kam ich zu dem Schluss, dass die Zeit gekommen war, und welche Gelegenheit konnte für mich und den Mann, den ich in wenigen Wochen heiraten würde, günstiger sein als der Ausflug seiner Firma nach Weston-super-Mare?

Doch kaum dass Arthur und Stan die Ausflugskutsche verlassen hatten, machten sie sich auch schon auf den Weg in den nächsten Pub. Da ich den ganzen zurückliegenden Monat damit verbracht hatte, diesen Augenblick zu planen, war ich wie eine gute Pfadfinderin auf alles vorbereitet, als ich aus der Kutsche stieg.

Ich ging auf den Pier zu und hatte von allem die Nase so ziemlich voll, als ich bemerkte, dass mir jemand folgte. Ich drehte mich um und war überrascht, als ich erkannte, um wen es sich handelte. Er holte mich ein und fragte mich, ob ich alleine unterwegs sei.

»Ja«, sagte ich und dachte daran, dass Arthur inzwischen wohl bei seinem dritten Pint sein musste.

Als mir der Mann eine Hand auf den Hintern legte, hätte ich ihn ohrfeigen müssen, doch aus mehreren Gründen tat ich das nicht. Zunächst einmal hielt ich es für einen Vorteil, mit jemandem zu schlafen, den ich wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Und ich muss zugeben, dass ich mich von seinem Annäherungsversuch geschmeichelt fühlte.

Arthur und Stan dürften bei ihrem achten Pint gewesen sein, als der Mann in einer direkt am Meer gelegenen Pension ein Zimmer für uns buchte. Dort schien es einen besonderen Tarif für Besucher zu geben, die nicht die Absicht hatten, über Nacht zu bleiben. Der Mann begann mich zu küssen, bevor wir den ersten Treppenabsatz erreicht hatten, und sobald die Schlafzimmertür hinter uns geschlossen war, fing er unverzüglich damit an, mir die Bluse aufzuknöpfen. Offensichtlich war es nicht das erste Mal für ihn. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich nicht das erste Mädchen war, mit dem er bei einem Betriebsausflug schlief. Wie hätte er sonst etwas über den besonderen Tarif in der Pension wissen können?

Ehrlich gesagt hatte ich nicht erwartet, dass alles so schnell vorbei sein würde. Nachdem er von mir gestiegen war, verschwand ich im Bad, während er auf der Bettkante saß und sich eine Zigarette anzündete. Vielleicht ist es beim zweiten Mal besser, dachte ich. Doch als ich wieder ins Zimmer kam, war er verschwunden. Ich muss zugeben, dass ich enttäuscht war.

Vielleicht hätte ich wegen meiner Untreue größere Schuldgefühle gehabt, wenn Arthur sich während der Rückfahrt nach Bristol nicht auf mich erbrochen hätte.

Am Tag darauf erzählte ich meiner Mutter, was geschehen war, ohne den Namen des Mannes zu verraten. Schließlich war sie ihm noch nie begegnet, und es war auch nicht damit zu rechnen, dass dies jemals geschehen würde. Mum sagte mir, ich solle mit niemandem darüber sprechen, denn sie hatte nicht vor, die Hochzeit abzusagen, und selbst wenn ich schwanger sein sollte, würde das niemand mitbekommen, denn Arthur und ich wären längst verheiratet, bevor irgendjemand mir meinen Zustand ansehen würde.

HARRY CLIFTON

1920 – 1933

1

Alle haben mir immer gesagt, dass mein Vater im Krieg gestorben ist.

Jedes Mal, wenn ich meine Mutter nach seinem Tod fragte, meinte sie nur, dass er im Royal Gloucestershire Regiment gedient hatte und wenige Tage vor der Unterzeichnung des Waffenstillstands an der Westfront gefallen war. Großmutter nannte meinen Vater einen tapferen Mann, und einmal, als wir alleine im Haus waren, zeigte sie mir seine Orden. Mein Großvater äußerte sich kaum zu irgendeinem Thema, aber weil er stocktaub war, hatte er meine Frage vielleicht nicht einmal gehört.

Der einzige andere Mann, an den ich mich aus jener Zeit erinnern kann, ist mein Onkel Stan, der beim Frühstück am Kopfende des Tisches saß. Wenn er am Morgen das Haus verließ, folgte ich ihm oft zum Hafen, wo er arbeitete. Jeder Tag, den ich bei den Docks verbrachte, war ein Abenteuer. Frachtschiffe kamen aus fernen Ländern, um hier ihre Waren zu löschen: Reis, Zucker, Bananen, Jute und viele andere Dinge, von denen ich noch nie gehört hatte. Sobald einer der Laderäume geleert war, beluden ihn die Hafenarbeiter mit Salz, Äpfeln, Eisenblechen und sogar Kohle. (Letztere mochte ich am wenigsten, denn dann sah man mir an, was ich, zum Ärger meiner Mutter, den ganzen Tag über getrieben hatte.) Danach brachen die Schiffe wieder zu ihren fremden Zielen auf. Ich wollte meinem Onkel Stan immer beim Entladen helfen, gleichgültig, welches Schiff am Morgen anlegte, doch er lachte nur und sagte: »Alles zu seiner Zeit, mein Junge.« Für mich konnte das nicht früh genug sein, doch plötzlich kam mir ohne Vorwarnung die Schule in die Quere.

Mit sechs Jahren kam ich auf die Merrywood Elementary, was ich für reine Zeitverschwendung hielt. Welchen Sinn konnte eine Schule schon haben, wenn ich die Gelegenheit hatte, alles, was ich wissen musste, im Hafen zu lernen? Nach meinem ersten Tag wäre ich nicht noch einmal hingegangen, wenn mich meine Mutter nicht bis an den Schuleingang geschleppt hätte, von wo sie mich um vier Uhr nachmittags wieder abholte.

Mir war nicht klar, dass Mum andere Zukunftspläne für mich hatte, in denen Onkel Stan und der Hafen keine Rolle spielten.

Jedes Mal, wenn Mum mich am Morgen abgesetzt hatte, blieb ich auf dem Schulhof, bis sie außer Sichtweite war. Danach schlich ich mich wieder zum Hafen. Ich achtete darauf, immer rechtzeitig zurück zu sein, wenn mich meine Mutter am Nachmittag wieder von der Schule abholte. Auf dem Heimweg erzählte ich ihr alles, was ich tagsüber in der Klasse getan hatte. Ich war gut darin, Geschichten zu erfinden, aber es dauerte nicht lange, bis sie herausfand, dass alle Ereignisse, die ich zu berichten hatte, nichts anderes waren als eben Geschichten.

Ein oder zwei andere Jungen aus meiner Schule trieben sich ebenfalls im Hafen herum, aber ich hielt mich von ihnen fern. Sie waren älter und größer als ich, und sie verprügelten mich, wenn ich ihnen über den Weg lief. Außerdem musste ich vor Mr. Haskins, dem Vorarbeiter, auf der Hut sein, denn wenn er mich dabei ertappte, wie ich im Hafen »herumlungerte« (wie sein Lieblingswort lautete), versetzte er mir regelmäßig einen Tritt in den Hintern und drohte: »Wenn ich dich noch einmal beim Herumlungern erwische, mein Junge, dann melde ich das deinem Rektor.«

Manchmal glaubte Haskins, mich oft genug gesehen zu haben, weshalb er mich tatsächlich bei meinem Rektor anschwärzte, der mich mit einem Lederriemen durchprügelte, bevor er mich in den Unterricht zurückschickte. Mr. Holcombe, mein Klassenlehrer, machte nie Meldung, wenn ich in seinem Unterricht fehlte, doch er hatte ohnehin ein weiches Herz. Wenn meine Mutter herausfand, dass ich geschwänzt hatte, gelang es ihr nie, ihre Verärgerung zu verbergen, und sie strich mir den Halfpenny, den ich pro Woche als Taschengeld bekam. Doch obwohl ich gelegentlich einen Schlag von einem der älteren Jungen einstecken musste, der Rektor mich mit dem Lederriemen durchprügelte und mir das Taschengeld gestrichen wurde, schaffte ich es einfach nicht, den Verlockungen des Hafens zu widerstehen.

Während der Zeit, die ich im Hafen »herumlungerte«, fand ich bei den Docks nur einen echten Freund. Sein Name war Old Jack Tar. Mr. Tar wohnte in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon am Ende der Arbeiterwerkstätten. Onkel Stan wollte nicht, dass ich mich mit Old Jack einließ, denn dieser, so sagte er, sei ein dummer, schmutziger, alter Landstreicher. Für mich sah er jedoch nicht schmutzig aus – ganz sicher nicht so schmutzig wie Stan. Und es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, dass er auch nicht dumm war.

Nach dem Mittagessen mit Onkel Stan, das für mich aus einem Bissen von seinem Marmite-Sandwich, dem Apfelgehäuse, das er selbst nicht wollte, und einem Schluck Bier bestand, ging ich zurück in die Schule, um rechtzeitig zum Fußballspiel zu kommen; es gab keinen anderen Grund für mich, dort zu erscheinen. Schließlich würde ich nach der Schule Kapitän von Bristol City werden oder ein Schiff bauen, mit dem man überall auf der Welt herumkäme. Wenn Mr. Holcombe den Mund hielt und der Vorarbeiter mich nicht dem Rektor meldete, konnte ich den ganzen Tag über verschwinden, ohne dass das jemandem auffiel. Meine Mutter bekam nichts davon mit, sofern ich den Kohlefrachtern aus dem Weg ging und jeden Nachmittag um vier am Schultor stand.

Jeden zweiten Samstag nahm Onkel Stan mich mit, um Bristol City im Ashton Gate spielen zu sehen. Am Sonntagmorgen karrte Mum mich in die Holy Nativity Church, wogegen ich noch kein Mittel gefunden hatte. Jedes Mal, nachdem Reverend Watts den Segen gespendet hatte, rannte ich den ganzen Weg zurück bis zum Freigelände, wo ich mit anderen Jungen Fußball spielte, bis es Zeit wurde, zum Abendessen nach Hause zu gehen.

Als ich sieben wurde, war jedem, der etwas von Fußball verstand, klar, dass ich es niemals in die Schulmannschaft schaffen würde, ganz zu schweigen davon, dass ich Kapitän von Bristol City werden könnte. Doch in jener Zeit entdeckte ich, dass Gott mir eine kleine Gabe geschenkt hatte, und die steckte nicht in meinen Beinen.

Zunächst einmal war mir nie aufgefallen, dass alle, die neben mir am Sonntagmorgen in der Kirche saßen, zu singen aufhörten, wenn ich den Mund aufmachte. Ich hätte nie darüber nachgedacht, wenn Mum nicht vorgeschlagen hätte, dass ich in den Chor gehen solle. Ich stieß ein wütendes Gelächter aus. Schließlich wusste jeder, dass der Chor nur etwas für Mädchen und Schwächlinge war. Ich hätte die Idee rundweg abgelehnt, wenn Reverend Watts mir nicht gesagt hätte, dass Chorknaben bei Begräbnissen einen Penny und bei Hochzeiten sogar zwei Pence bekamen: meine erste Erfahrung mit Bestechung. Doch nachdem ich widerwillig einem Vorsingen zugestimmt hatte, beschloss der Teufel, mir ein Hindernis in den Weg zu legen, und zwar in Gestalt von Miss Eleanor E. Monday.

Ich wäre Miss Monday nie begegnet, wenn sie nicht die Chorleiterin der Holy Nativity gewesen wäre. Obwohl sie gerade mal einen Meter sechzig groß war und aussah, als könne ein Windstoß sie davonwehen, versuchte niemand, sich ihr gegenüber irgendwelche Freiheiten herauszunehmen. Ich hege den Verdacht, dass sogar der Teufel vor Miss Monday Angst gehabt hätte, denn auf Reverend Watts traf das zweifellos zu.

Ich war, wie gesagt, bereit, mich auf ein Vorsingen einzulassen, doch erst nachdem Mum mir das Taschengeld für einen ganzen Monat im Voraus gegeben hatte. Am folgenden Sonntag stand ich mit anderen Jungen in einer Reihe und wartete darauf, aufgerufen zu werden.

»Du wirst immer pünktlich zu den Chorproben kommen«, erklärte Miss Monday, indem sie mich mit ihren Luchsaugen fixierte. Ich starrte trotzig zurück. »Du wirst reden, wenn man dich anspricht.« Irgendwie gelang es mir, den Mund zu halten. »Und du wirst dich während des gesamten Gottesdienstes konzentrieren.« Ich nickte widerwillig. Und dann, Gott segne sie, zeigte sie mir einen Ausweg. »Aber vor allem«, verkündete sie und legte dabei die Hände auf ihre Hüften, »wirst du in zwölf Wochen eine Lese- und Schreibprüfung bestehen, damit ich sicher sein kann, dass du in der Lage bist, einen neuen Choral oder einen unvertrauten Psalm zu erarbeiten.«

Es war mir nur recht, wenn ich schon an der ersten Hürde scheiterte. Doch wie ich noch herausfinden sollte, gab Miss Eleanor E. Monday nicht so leicht auf.

»Welches Stück möchtest du singen, mein Kind?«, fragte sie, als ich an der Reihe war.

»Ich habe keins ausgesucht«, teilte ich ihr mit.

Sie öffnete ein Buch mit Kirchenliedern, reichte es mir und setzte sich ans Klavier. Ich lächelte bei dem Gedanken, dass ich es immer noch zur zweiten Hälfte unseres Fußballspiels am Sonntagmorgen schaffen könnte. Sie begann eine Melodie zu spielen, die ich kannte, und als ich sah, dass meine Mutter mich von der ersten Kirchenbank aus anstarrte, beschloss ich, die Sache am besten hinter mich zu bringen, wenn ihr so viel daran lag.

»Alle Dinge hell und schön, alle Wesen groß und klein. Alle Dinge weise und auch wunderbar …« Lange bevor ich bei »sie alle Gott geschaffen hat« ankam, war ein Lächeln auf Miss Mondays Gesicht erschienen.

»Wie heißt du, mein Kind?«, fragte sie.

»Harry Clifton, Miss.«

»Harry Clifton, du wirst montags, mittwochs und freitags Punkt sechs Uhr zur Chorprobe erscheinen.« Dann wandte sie sich an den Jungen, der hinter mir stand, und sagte: »Der Nächste!«

Ich versprach meiner Mum, dass ich zur ersten Chorprobe pünktlich sein würde, obwohl ich wusste, dass es meine letzte wäre, denn Miss Monday würde schon bald herausfinden, dass ich weder lesen noch schreiben konnte. Und es wäre auch tatsächlich meine letzte Probe geworden, wäre nicht jedem, der mich hörte, vollkommen klar gewesen, dass meine Singstimme in eine ganz andere Klasse gehörte als die Stimmen der übrigen Jungen im Chor. Alle verstummten, sobald ich den Mund aufmachte, und die bewundernden, ja ehrfürchtigen Blicke, die ich verzweifelt auf dem Fußballfeld gesucht hatte, fand ich in der Kirche. Miss Monday tat, als bemerke sie es nicht.

Nachdem sie uns weggeschickt hatte, ging ich nicht nach Hause, sondern rannte den ganzen Weg bis zum Hafen, um Mr. Tar zu fragen, was ich tun sollte, da ich nicht lesen oder schreiben konnte. Ich hörte mir den Rat des alten Mannes sorgfältig an, und am nächsten Tag ging ich zurück in die Schule und nahm wieder meinen Platz in Mr. Holcombes Klasse ein. Der Lehrer konnte seine Überraschung nicht verbergen, als er mich in der ersten Reihe sitzen sah, und er war sogar noch überraschter darüber, dass ich dem Unterricht an diesem Morgen zum ersten Mal aufmerksam folgte.

Mr. Holcombe begann damit, dass er mir das Alphabet beibrachte, und innerhalb weniger Tage konnte ich alle sechsundzwanzig Buchstaben schreiben, wenn auch nicht immer in der richtigen Reihenfolge. An den Nachmittagen, wenn ich wieder zu Hause war, hätte mir meine Mum sicher geholfen, doch wie alle anderen Mitglieder unserer Familie konnte sie weder lesen noch schreiben.

Onkel Stan schaffte es gerade noch, irgendwie seinen Namen hinzukritzeln, und obwohl er den Unterschied zwischen einer Schachtel Will’s Star und einer Schachtel Wild Woodbines kannte, bin ich mir ziemlich sicher, dass er nicht in der Lage war, die Etiketten zu lesen. Trotz seines wenig hilfreichen Gemurres begann ich, das Alphabet auf jeden Fetzen Papier zu schreiben, der mir in die Finger kam. Onkel Stan schien nicht aufzufallen, dass das in Streifen gerissene Zeitungspapier auf der Toilette von da an ständig von zusätzlichen Buchstaben bedeckt war.

Nachdem ich das Alphabet gemeistert hatte, brachte mir Mr. Holcombe einige einfache Wörter bei: »Hof«, »Eis«, »Mum« und »Dad«. Bei dieser Gelegenheit fragte ich ihn zum ersten Mal nach meinem Vater, weil ich hoffte, er könne mir etwas über ihn erzählen. Schließlich schien er einfach alles zu wissen. Doch er war offensichtlich verwirrt darüber, dass ich so wenig über meinen eigenen Vater wusste. Eine Woche später schrieb ich mein erstes Wort mit vier Buchstaben an die Tafel, »Buch«; kurz darauf eines mit fünf, »Katze«; und schließlich eines mit sechs, »Schule«. Am Ende des Monats konnte ich meinen ersten Satz schreiben: »Der schnelle braune Fuchs springt über den faulen Hund – The quick brown fox jumps over the lazy dog.« Mr. Holcombe machte mich darauf aufmerksam, dass dieser Satz alle Buchstaben des Alphabets enthielt. Ich prüfte es nach, und es stimmte.

Als das Schuljahr zu Ende ging, konnte ich »Chor«, »Psalm« und sogar »Hymne« buchstabieren, obwohl Mr. Holcombe mich oft daran erinnern musste, beim Sprechen das »h« nicht zu verschlucken. Doch wegen der Schulferien sah ich ihn in den Wochen darauf nicht mehr, und ich begann mir Sorgen zu machen, ob ich Miss Mondays schwierige Prüfung ohne Mr. Holcombes Hilfe bestehen würde – und das hätte durchaus der Fall sein können, wenn nicht Old Jack an seine Stelle getreten wäre.

Ich kam eine halbe Stunde zu früh zur Probe an jenem Freitagabend, an dem ich meine zweite Prüfung bestehen musste, um auch weiterhin dem Chor anzugehören. Stumm saß ich auf meinem Platz und hoffte, dass Miss Monday jemand anderen aufrufen würde, bevor ich an der Reihe wäre.

Die erste Prüfung hatte ich bereits bestanden, und zwar mit fliegenden Fahnen, wie Miss Monday das nannte. Wir alle hatten das Vaterunser aufsagen müssen. Das war kein Problem für mich, denn solange ich zurückdenken kann, kniete meine Mum jeden Abend neben meinem Bett und wiederholte die vertrauten Worte, bevor sie mich zudeckte. Doch Miss Mondays nächste Prüfung sollte sich als weitaus anspruchsvoller erweisen.

Diesmal – es war am Ende unseres zweiten Monats – sollten wir vor dem Rest des Chores einen Psalm laut vorlesen. Ich entschied mich für Psalm 121, den ich ebenfalls auswendig kannte, denn ich hatte ihn schon oft gesungen: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn. Ich konnte nur hoffen, dass der Herr mir tatsächlich zu Hilfe kam. Obwohl es mir gelang, das Buch mit den Psalmen an der richtigen Stelle aufzuschlagen, denn inzwischen konnte ich auch von eins bis einhundert zählen, fürchtete ich, Miss Monday könnte herausfinden, dass ich nicht in der Lage war, den Versen Zeile für Zeile zu folgen. Falls sie mich durchschaute, verlor sie kein Wort darüber, denn ich blieb einen weiteren Monat im Chor, während zwei andere Missetäter – Miss Mondays Ausdruck, ich wusste nicht, was er bedeutete, bis ich Mr. Holcombe am folgenden Tag danach fragte – wieder zurück auf ihre Plätze in den Reihen der Gemeinde geschickt wurden.

Als es Zeit wurde, die dritte und letzte Prüfung abzulegen, war ich vorbereitet. Miss Monday forderte diejenigen von uns, die bis dahin noch übrig geblieben waren, auf, die Zehn Gebote in der richtigen Reihenfolge aufzuschreiben, ohne dabei im Buch Exodus nachzusehen.

Die Chorleiterin sah darüber hinweg, dass ich Diebstahl vor Mord aufführte, »Ehebruch« nicht buchstabieren konnte und offensichtlich keine Ahnung davon hatte, was das Wort bedeutete. Erst nachdem zwei andere Missetäter wegen kleinerer Vergehen umstandslos aus dem Chor gewiesen wurden, begann ich zu begreifen, wie außerordentlich meine Stimme wohl sein musste.

Am ersten Adventsonntag verkündete Miss Monday, dass sie drei neue Soprane – oder »kleine Engel«, wie Reverend Watts uns gerne nannte – für den Chor ausgewählt hatte. Alle Übrigen waren wegen unverzeihlicher Sünden abgelehnt worden: Sie hatten sich während der Predigt unterhalten, Bonbons gelutscht oder waren, wie dies bei zwei Jungen geschah, dabei erwischt worden, wie sie während des Nunc dimittis mit Kastanien gespielt hatten.

Am folgenden Sonntag bestand meine Kleidung aus einem langen blauen Talar mit weißem Kräuselkragen. Ich allein erhielt die Erlaubnis, ein Bronzemedaillon der Heiligen Jungfrau um den Hals zu tragen, als Zeichen dafür, dass ich als Solosopran ausgewählt worden war. Ich hätte das Medaillon gerne auf dem Nachhauseweg und sogar in der Schule am nächsten Morgen anbehalten, um vor den übrigen Jungen anzugeben, doch Miss Monday nahm es nach jedem Gottesdienst wieder an sich.

An den Sonntagen lebte ich in einer anderen Welt, doch ich fürchtete, dass dieser berauschende Zustand nicht bis in alle Ewigkeit andauern würde.

2

Immer wenn Onkel Stan am Morgen aufstand, gelang es ihm irgendwie, das ganze Haus zu wecken. Niemand beschwerte sich, denn er war der Ernährer der Familie und zweifellos billiger und zuverlässiger als ein Wecker.

Das erste Geräusch, das Harry hörte, war die Schlafzimmertür, die zugeschlagen wurde. Danach folgten das knirschende Holz des Treppenabsatzes und die schweren Schritte, die den Onkel die Treppe hinab und ins Freie führten. Dann fiel eine weitere Tür ins Schloss, wenn Stan in der Toilette verschwand. Falls dann noch irgendjemand schlief, erinnerte ihn das Rauschen der Spülung, wenn Onkel Stan an der Kette zog, sowie weiteres zweimaliges Türenknallen vor seiner Rückkehr ins Schlafzimmer daran, dass Stan sein Frühstück erwartete, sobald er in die Küche kommen würde. Er wusch und rasierte sich nur am Samstagabend, bevor er ins Palais oder ins Odeon ging. Er badete viermal im Jahr, jeweils am Quartalstag. Niemand konnte Stan vorwerfen, er würde sein schwer verdientes Geld für Seife verschwenden.

Maisie, Harrys Mutter, stand als Nächste auf. Nur wenige Augenblicke nach dem ersten Türenknallen sprang sie aus dem Bett. Wenn Stan von der Toilette zurückkäme, würde seine Schale Porridge bereits auf dem Herd stehen. Üblicherweise kam Harrys Großmutter kurz darauf zu ihrer Tochter in die Küche, noch bevor Stan seinen Platz am Kopfende des Tisches eingenommen hatte. Harry musste innerhalb von fünf Minuten nach dem ersten Türenknallen unten sein, wenn er noch etwas vom Frühstück abbekommen wollte. Sein Großvater war der Letzte, der in der Küche erschien. Er war so taub, dass er es manchmal schaffte, trotz Stans frühmorgendlichem Ritual weiterzuschlafen. Nie gab es Abweichungen bei den üblichen Abläufen im Haushalt der Cliftons. Wenn man nur eine einzige Außentoilette, ein einziges Waschbecken und ein einziges Handtuch hat, wird Ordnung zu einer schieren Notwendigkeit.

Zu dem Zeitpunkt, an dem Harry sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, bereitete seine Mutter in der Küche das Frühstück vor: zwei dicke, mit Schweineschmalz bestrichene Scheiben Brot für Stan sowie, für den Rest der Familie, vier dünne Scheiben, welche sie allesamt toastete, sofern noch genügend Kohle in dem Sack übrig war, der jeden Montag an die Haustür geliefert wurde. Sobald Stan mit seinem Porridge fertig war, durfte Harry die Schale auslecken.

Immer stand ein großer, brauner Teetopf auf dem Herd. Mithilfe eines versilberten viktorianischen Teesiebs, welches sie von ihrer Mutter geerbt hatte, goss Harrys Großmutter den Tee in eine Reihe ganz verschiedener Becher. Während die anderen Familienmitglieder ihren Becher ungesüßten Tees genossen – Zucker gab es nur bei besonderen Anlässen und an Feiertagen –, machte Stan seine erste Flasche Bier auf, die er üblicherweise in einem Zug leertrank. Dann stand er vom Tisch auf, stieß ein lautes Rülpsen aus und griff nach seiner Lunchbox, die Harrys Großmutter in der Zwischenzeit vorbereitet hatte: zwei Marmite-Sandwiches, eine Wurst, ein Apfel, zwei weitere Flaschen Bier und ein Päckchen mit fünf Sargnägeln. Kaum dass Stan in Richtung Hafen aufgebrochen war, begannen die anderen, sich zu unterhalten.

Großmutter wollte immer wissen, wer den Teesalon, in dem ihre Tochter als Kellnerin arbeitete, besucht hatte; was die Gäste aßen, was sie trugen und wo sie saßen; dazu alle Einzelheiten über die Mahlzeiten, die auf einem Herd gekocht worden waren, welcher in einem Raum mit elektrischem Licht stand, sodass nirgendwo Kerzenwachs herabtropfen konnte. Und natürlich interessierten sie besonders die Gäste, die manchmal drei Pence Trinkgeld gaben, die Maisie mit dem Koch teilen musste.

Für Maisie war es wichtiger zu erfahren, was Harry am Tag zuvor in der Schule getan hatte. Er musste ihr täglich darüber Bericht erstatten. Großmutter schien das nicht zu interessieren, was daran liegen mochte, dass sie selbst nie eine Schule besucht hatte. Und einen Teesalon genauso wenig.

Harrys Großvater gab nur selten irgendwelche Kommentare ab, denn nachdem er vier Jahre lang den ganzen Tag mit dem Be- und Entladen eines Artilleriegeschützes zugebracht hatte, war er so taub, dass er sich darauf beschränken musste, die Lippen der anderen zu lesen und gelegentlich zu nicken. Ein Außenstehender konnte deshalb den Eindruck bekommen, er sei dumm – was nicht der Fall war, wie die übrigen Familienmitglieder aus eigener, teuer bezahlter Erfahrung wussten.

Nur an den Wochenenden gab es gewisse Änderungen in den morgendlichen Gewohnheiten der Familie. An den Samstagen folgte Harry seinem Onkel aus der Küche und blieb ständig einen Schritt hinter ihm, wenn er zum Hafen ging. Am Sonntag begleitete Harrys Mum den Jungen zur Holy Nativity Church, wo sie sich von ihrer Bank in der dritten Reihe aus im Ruhm des Solosoprans des Kirchenchors sonnte.

Heute jedoch war Samstag. Auf ihrem zwanzigminütigen Weg zu den Docks machte Harry nur dann den Mund auf, wenn sein Onkel ihn zuerst ansprach. Sofern Stan sich überhaupt auf eine Unterhaltung einließ, ging es dabei jedes Mal um genau dasselbe Thema wie am Samstag zuvor.

»Wann wirst du die Schule verlassen und eine ordentliche Arbeit aufnehmen, Kleiner?«, war immer die erste Salve, die Stan abfeuerte.

»Ich darf nicht abgehen, bevor ich vierzehn bin«, erinnerte ihn Harry. »Das ist das Gesetz.«

»Ein verdammt dämliches Gesetz, wenn du mich fragst. Als ich es gut sein ließ mit der Schule und angefangen habe, im Hafen zu arbeiten, war ich zwölf«, pflegte Stan jedes Mal zu verkünden, als hätte Harry noch nie von dieser tiefgründigen Erfahrung gehört. Harry machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, denn er wusste bereits, wie der nächste Satz seines Onkels lauten würde. »Und was noch wichtiger ist: Noch vor meinem siebzehnten Geburtstag habe ich mich Kitcheners Armee angeschlossen.«

»Erzähl mir vom Krieg, Onkel Stan«, sagte Harry, denn er wusste, dass dieses Thema seinen Onkel für die nächsten paar Hundert Meter beschäftigen würde.

»Ich und dein Dad sind am selben Tag in das Royal Gloucestershire Regiment eingetreten«, antwortete Stan und führte die Hand an seine Stoffmütze, als salutiere er vor einer fernen Erinnerung. »Nach zwölf Wochen Grundausbildung in der Kaserne von Taunton wurden wir nach Wipers verschifft, um gegen die Boches zu kämpfen. Nachdem wir angekommen waren, verbrachten wir die meiste Zeit zusammengepfercht in einem rattenverseuchten Schützengraben, wo uns irgendein hochnäsiger Offizier erklärte, dass wir auf ein Hornsignal hin nach draußen klettern sollten, um feuernd und mit aufgepflanztem Bajonett auf die feindlichen Stellungen vorzurücken.« Danach entstand wie immer eine lange Pause, bevor Stan hinzufügte: »Ich war einer von denen, die Glück hatten. Ich kam unverletzt nach Blighty zurück, ohne den kleinsten Kratzer.« Harry hätte den nächsten Satz seines Onkels vorhersagen können, doch er schwieg auch weiterhin. »Du weißt einfach nicht, wie viel Glück du hast, mein Junge. Ich habe zwei Brüder verloren, deinen Onkel Ray und deinen Onkel Bert. Und dein Vater hat nicht nur einen Bruder, sondern auch seinen eigenen Vater verloren, deinen anderen Großvater, den du nie kennengelernt hast. Ein feiner Mann, der ein Pint Bier schneller leeren konnte als jeder Hafenarbeiter, dem ich je begegnet bin.«

Wenn Stan nach unten geblickt hätte, hätte er erkannt, dass der Junge seine Worte stumm mitsprach, doch heute fügte Onkel Stan zu Harrys Überraschung einen Satz hinzu, den er noch nie zuvor gesagt hatte. »Und dein Dad würde heute noch leben, wenn das Management nur auf mich gehört hätte.«

Harry war plötzlich ganz aufmerksam. Der Tod seines Vaters war ein Thema, über das nur im Flüsterton gesprochen und das dann sehr schnell wieder verworfen wurde. Auch Onkel Stan sprach jetzt plötzlich nicht mehr weiter, als fürchtete er, schon zu weit gegangen zu sein. Vielleicht nächste Woche, dachte Harry, schloss zu ihm auf und hielt mit ihm Schritt, als seien sie zwei Soldaten auf dem Exerzierplatz.

»Gegen wen spielt City heute eigentlich?«, fragte Stan, womit das Gespräch wieder seinen gewohnten Verlauf nahm.

»Charlton Athletic«, erwiderte Harry.

»Das ist ein total unfähiger Haufen.«

»In der letzten Saison haben sie uns vernichtend geschlagen«, erinnerte Harry seinen Onkel.

»Nichts als verdammtes Glück, wenn du mich fragst«, sagte Stan und machte danach seinen Mund nicht mehr auf. Als sie den Hafeneingang erreicht hatten, schob Stan seine Karte in die Stechuhr, bevor er zur Werkstatt ging, in der er zusammen mit seinen Kollegen arbeitete. Keiner von ihnen konnte es sich erlauben, auch nur eine Minute zu spät zu kommen. Die Arbeitslosigkeit hatte einen neuen Höchststand erreicht, und viele junge Männer standen vor den Toren und warteten nur darauf, an ihre Stelle zu treten.

Inzwischen folgte Harry seinem Onkel nicht mehr, denn er wusste, wenn Mr. Haskins ihn dabei erwischte, wie er sich bei den Werkstätten der Arbeiter herumtrieb, würde er von ihm eins hinter die Ohren bekommen. Und dazu einen Tritt in den Hintern von seinem Onkel, weil er den Vorarbeiter verärgert hatte. Deshalb ging er in die andere Richtung.

Harrys erste Anlaufstelle an jedem Samstagmorgen war Old Jack Tar, der in einem Eisenbahnwaggon am anderen Ende des Hafens lebte. Harry hatte Stan nie von seinen regelmäßigen Besuchen erzählt, denn sein Onkel hatte ihm eingeschärft, dass er sich unbedingt von dem alten Mann fernhalten solle.

»Wahrscheinlich hat er schon seit Jahren kein Bad mehr genommen«, sagte ausgerechnet ein Mann, der sich nicht öfter als einmal im Vierteljahr wusch – und das auch nur, wenn Harrys Mutter sich über den Geruch beklagte.

Doch schon vor langer Zeit war Harrys Neugier stärker gewesen, und eines Morgens war er auf allen vieren an den Waggon herangeschlichen, hatte sich hochgedrückt und durch das Fenster gespäht. Der alte Mann saß in einem Erste-Klasse-Abteil und las ein Buch.

Old Jack drehte sich zur Seite, sah Harry direkt ins Gesicht und sagte: »Komm rein, Junge.« Harry sprang nach unten und hörte nicht mehr auf zu rennen, bis er zu Hause war.

Am folgenden Samstag kroch Harry wieder den Waggon hinauf und sah hinein. Old Jack schien tief zu schlafen, doch dann hörte Harry, wie er sagte: »Warum kommst du nicht rein, mein Junge? Ich werde dich schon nicht beißen.«

Harry umschloss den schweren Messinggriff mit seiner Hand und zog die Waggontür versuchsweise auf, doch er trat nicht ein. Er starrte einfach nur den Mann an, der vor ihm in der Mitte des Abteils saß. Es war schwer zu sagen, wie alt er war, denn ein gepflegter, grau melierter Bart bedeckte sein Gesicht, sodass er aussah wie der Matrose auf einem Päckchen Players Please. Er schaute Harry jedoch mit einer Wärme in den Augen an, die Onkel Stan noch nie hatte erkennen lassen.

Harry nahm all seinen Mut zusammen und fragte: »Sind Sie Old Jack Tar?«

»So werde ich genannt«, erwiderte der alte Mann.

»Und hier leben Sie?«, fuhr Harry fort, indem er sich im Waggon umsah, bis sein Blick an einem Stapel alter Zeitungen hängen blieb, der auf der Bank gegenüber lag.

»Ja«, erwiderte der Mann. »Das ist seit zwanzig Jahren mein Zuhause. Warum schließt du nicht die Tür und setzt dich, mein Junge?«

Harry dachte über das Angebot nach, bevor er nach draußen sprang und wieder wegrannte.

Am Samstag darauf schloss Harry die Tür, ließ den Griff jedoch nicht los, um sofort davonschießen zu können, sollte der alte Mann auch nur die allerkleinste Bewegung machen. Sie starrten einander eine Zeit lang an, bis Old Jack schließlich fragte: »Wie heißt du?«

»Harry.«

»Und wo gehst du zur Schule?«

»Ich gehe nicht zur Schule.«

»Was hast du dann im Leben vor, junger Mann?«

»Zusammen mit meinem Onkel im Hafen arbeiten, natürlich«, antwortete Harry.

»Und warum möchtest du das?«, fragte der alte Mann.

»Warum nicht?« Jetzt wurde Harry wütend. »Meinen Sie etwa, ich bin nicht gut genug dazu?«

»Du bist viel zu gut«, erwiderte Old Jack. »Als ich in deinem Alter war«, fuhr er fort, »wollte ich unbedingt in die Armee, und nichts, was mein alter Herr sagte, konnte mich davon abbringen.« Die ganze nächste Stunde lang stand Harry an der Tür und hörte fasziniert zu, wie Old Jack Tar von den Docks, von Bristol und von Ländern jenseits des Meeres erzählte, von denen er im Erdkundeunterricht nie etwas erfahren hätte.

Am nächsten Samstag – und an so vielen Samstagen, dass er sich später gar nicht mehr an alle erinnern konnte – besuchte Harry Old Jack Tar. Doch nie erzählte er seinem Onkel oder seiner Mutter davon, denn er hatte Angst davor, dass sie ihm verbieten würden, sich mit seinem ersten wahren Freund zu treffen.

Als Harry an jenem Morgen an die Tür des Eisenbahnwaggons klopfte, hatte Old Jack Tar ihn offensichtlich schon erwartet, denn auf der Bank ihm gegenüber lag wie üblich ein Cox’s Orange Pippin. Harry griff danach, nahm einen Bissen und setzte sich.

»Danke, Mr. Tar«, sagte Harry, während er sich einige Tropfen Saft vom Kinn wischte. Er fragte nie, woher die Äpfel kamen, denn das trug zu dem Geheimnis bei, das diesen großartigen Mann umgab.

Er war so ganz anders als Onkel Stan, der das wenige, was er wusste, ständig wiederholte, wohingegen Old Jack Harry jede Woche mit neuen Wörtern, neuen Erfahrungen und sogar neuen Welten bekannt machte. Er fragte sich oft, warum Mr. Tar kein Lehrer war, denn sein Freund schien sogar mehr zu wissen als Miss Monday und fast so viel wie Mr. Holcombe. Harry war überzeugt, dass Mr. Holcombe alles wusste, denn er kannte die Antwort auf jede Frage, die Harry ihm stellte. Jetzt lächelte Old Jack ihn an, aber er sagte kein Wort, bevor Harry seinen Apfel gegessen und das Gehäuse aus dem Fenster geworfen hatte.

»Was hast du diese Woche in der Schule gelernt, das du eine Woche zuvor noch nicht wusstest?«, fragte der alte Mann.

»Mr. Holcombe hat mir erzählt, dass es andere Länder jenseits der Meere gibt, die zum Britischen Empire gehören und die von unserem König regiert werden.«

»Da hat er völlig recht«, sagte Old Jack. »Kannst du mir eines dieser Länder nennen?«

»Australien. Kanada. Indien.« Er zögerte. »Und Amerika.«

»Nein, Amerika nicht«, sagte Old Jack. »Früher war das so, doch heute nicht mehr, wofür ein schwacher Premierminister und ein kranker König verantwortlich sind.«

»Wer war damals König? Und wer war Premierminister?«, wollte Harry wütend wissen.

»König Georg III. saß 1776 auf dem Thron«, sagte Old Jack. »Doch um fair zu sein, er war ein kranker Mann. Aber sein Premierminister, Lord North, ignorierte einfach, was in den Kolonien vor sich ging, und schließlich erhoben sich Männer und Frauen von unserem eigenen Blut gegen uns und griffen zu den Waffen.«

»Aber wir haben sie doch besiegt?«, sagte Harry.

»Nein, das haben wir nicht«, sagte Old Jack. »Sie hatten nicht nur das Recht auf ihrer Seite – auch wenn das kein Prärequisit für einen Sieg ist … »

»Was ist ein Prärequisit?«

»Eine notwendige Vorbedingung«, sagte Old Jack und fuhr nach seiner Erklärung fort, als wäre er nie unterbrochen worden. »Sondern sie wurden auch von einem brillanten General angeführt.«

»Wie hieß er?«

»George Washington.«

»Sie haben mir letzte Woche gesagt, dass Washington die Hauptstadt von Amerika ist. Wurde er nach der Stadt benannt?«

»Nein, die Stadt wurde nach ihm benannt. Sie wurde mitten in einem Marschland errichtet, das Columbia heißt und durch das der Potomac fließt.«

»Hat man Bristol auch nach einem Mann benannt?«

»Nein.« Old Jack kicherte. Amüsiert bemerkte er, wie rasch Harrys neugieriger Geist von einem Thema zum anderen springen konnte. »Bristol hieß ursprünglich Brigstowe, was ›Ort einer Brücke‹ bedeutet.«

»Und wann wurde es zu Bristol?«

»Die Historiker sind sich uneins«, sagte Old Jack. »Bristol Castle jedenfalls wurde 1109 von Robert of Gloucester errichtet, als sich ihm die Gelegenheit bot, den Wollhandel mit den Iren aufzunehmen. Dadurch hat sich die Stadt zu einem Handelshafen entwickelt, und seither war sie seit vielen Hundert Jahren ein Zentrum des Schiffbaus. Sie wuchs sogar noch rascher, als es 1914 notwendig wurde, die Marine stark auszuweiten.«

»Mein Dad hat im Großen Krieg gekämpft«, sagte Harry voller Stolz. »Sie auch?«

Zum ersten Mal zögerte Old Jack, bevor er eine von Harrys Fragen beantwortete. Er saß einfach nur da, ohne ein Wort zu sagen. »Es tut mir leid, Mr. Tar«, sagte Harry. »Das geht mich nichts an.«

»Nein, nein«, erwiderte Old Jack. »Es ist nur so, dass mir schon seit einigen Jahren niemand mehr diese Frage gestellt hat.« Ohne noch etwas hinzuzufügen, öffnete er die Hand, in der ein Sixpencestück lag.

Harry nahm die kleine Silbermünze und biss hinein, denn das machte sein Onkel immer so. »Danke«, sagte er und steckte die Münze ein.

»Kauf dir eine Portion Fish und Chips im Hafencafé, aber sag deinem Onkel nichts davon, denn er würde dich nur fragen, woher du das Geld hast.«

Genau genommen hatte Harry seinem Onkel noch nie etwas über Old Jack erzählt. Einmal hatte er gehört, wie Stan zu seiner Mum sagte: »Dieser Irre gehört in eine Klapsmühle.« Er hatte Miss Monday gefragt, was eine Klapsmühle sei, denn er hatte den Ausdruck nicht in seinem Wörterbuch finden können. Als sie es ihm erklärte, begriff er zum ersten Mal, wie dumm sein Onkel Stan sein musste.

»Nicht unbedingt dumm«, erläuterte Miss Monday, »sondern einfach nur unwissend und deshalb voller Vorurteile.« Und sie fügte hinzu: »Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass du noch viele solche Menschen in deinem Leben kennenlernen wirst, Harry, und einige davon in bedeutend höheren Positionen als dein Onkel.«

3

Maisie wartete, bis die Wohnungstür geräuschvoll ins Schloss gefallen war und sie sicher sein konnte, dass Stan sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, bevor sie verkündete: »Man hat mir eine Arbeit als Kellnerin im Royal Hotel angeboten.«

Keiner der um den Tisch Sitzenden reagierte, denn es galt als ausgemacht, dass die Gespräche beim Frühstück einem genau festgelegten Muster folgten und niemand mit irgendwelchen Überraschungen konfrontiert würde. Harry hatte Dutzende Fragen, die er seiner Mutter stellen wollte, doch er wartete darauf, dass seine Großmutter zuerst das Wort ergriff. Aber diese beschränkte sich darauf, sich eine weitere Tasse Tee einzuschenken, als hätte sie ihre Tochter überhaupt nicht gehört.

»Würde irgendjemand bitte etwas dazu bemerken«, sagte Maisie.

»Mir war gar nicht klar, dass du eine neue Arbeit suchst«, brachte Harry schließlich vor.

»Das habe ich auch gar nicht«, sagte Maisie. »Doch letzte Woche kam ein gewisser Mr. Frampton, der Manager des Royal, ins Tilly’s, um einen Kaffee zu trinken. Er schaute immer öfter vorbei, und schließlich bot er mir diese Arbeit an.«

»Ich hatte den Eindruck, dass du im Teesalon glücklich bist«, bequemte sich Harrys Großmutter schließlich zu einem Kommentar. »Schließlich zahlt Miss Tilly ganz gut, und deine Stunden liegen günstig.«

»Ich bin glücklich«, sagte Harrys Mum, »doch Mr. Frampton hat mir fünf Pfund pro Woche und die Hälfte der Trinkgelder angeboten. Ich könnte alles in allem jeden Freitag sechs Pfund nach Hause bringen.«

Grandma saß mit offenem Mund da.

»Musst du auch am Abend arbeiten?«, fragte Harry, nachdem er Stans Porridge-Schale ausgeleckt hatte.

»Nein«, sagte Maisie und zerzauste das Haar ihres Sohnes. »Und was noch besser ist: Alle zwei Wochen bekomme ich einen Tag frei.«

»Sind deine Kleider auch fein genug für ein so nobles Hotel wie das Royal?«, fragte Großmutter.

»Ich bekomme eine Uniform, und dazu jeden Morgen eine frische weiße Schürze. Das Hotel hat sogar eine eigene Wäscherei.«

»Daran zweifle ich nicht«, sagte Großmutter, »aber es gibt ein ganz anderes Problem, und mit dem müssen wir alle erst noch lernen umzugehen.«

»Und welches Problem wäre das, Mum?«, fragte Maisie.

»Du könntest am Ende mehr verdienen als Stan, und das wird ihm nicht gefallen. Das wird ihm überhaupt nicht gefallen.«

»Dann wird er es sein, der lernen muss, damit umzugehen, nicht wahr?«, sagte Großvater, der zum ersten Mal seit Wochen eine Meinung äußerte.

Das zusätzliche Geld erwies sich als außerordentlich hilfreich, besonders nach dem, was in der Holy Nativity geschehen war. Maisie hatte nach dem Gottesdienst gerade die Kirche verlassen wollen, als Miss Monday zielstrebig durch den Mittelgang auf sie zukam.

»Kann ich mich in einer vertraulichen Angelegenheit mit Ihnen unterhalten, Mrs. Clifton?«, fragte sie, bevor sie sich umdrehte und zurück in Richtung Sakristei ging. Maisie eilte ihr hinterher wie ein Kind dem Rattenfänger von Hameln. Sie befürchtete das Schlimmste. Was hatte Harry jetzt nur wieder angestellt?

Maisie folgte der Chorleiterin in die Sakristei und spürte, wie ihr die Beine wegzusacken drohten, als sie Reverend Watts, Mr. Holcombe und einen anderen Herrn in dem kleinen Raum stehen sah. Als Miss Monday leise die Tür hinter ihr schloss, begann Maisie unkontrollierbar zu zittern.

Reverend Watts legte ihr einen Arm um die Schulter. »Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, meine Liebe«, versicherte er ihr. »Im Gegenteil. Ich hoffe, Sie werden uns sogleich als Überbringer wunderbarer Nachrichten betrachten«, fügte er hinzu und bot ihr einen Stuhl an. Maisie setzte sich, aber sie konnte nicht aufhören zu zittern.

Nachdem alle Platz genommen hatten, führte Miss Monday das Gespräch fort. »Wir wollten uns mit Ihnen über Harry unterhalten, Mrs. Clifton«, begann sie. Maisie kniff die Lippen zusammen. Was konnte der Junge nur getan haben, damit drei so wichtige Menschen zusammengekommen waren?

»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden«, fuhr die Chorleiterin fort. »Der Musiklehrer von St. Bede’s ist auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob Harry es in Erwägung ziehen würde, sich um eines der Chorstipendien zu bewerben.«

»Aber er ist doch ganz glücklich in der Holy Nativity«, sagte Maisie. »Wo liegt diese Kirche eigentlich? Ich habe noch nie von einer Kirche namens St. Bede’s Church gehört.«

»St. Bede’s ist keine Kirche«, sagte Miss Monday. »Es ist eine Chorschule, deren Chorknaben in der St. Mary Redcliffe singen, welche von Queen Elizabeth in einer berühmten Bemerkung als die schönste und gottesfürchtigste im ganzen Land beschrieben wurde.«

»Also würde er seine Schule und seine Kirche verlassen müssen?«, fragte Maisie ungläubig.

»Versuchen Sie, es als eine Gelegenheit anzusehen, die sein ganzes Leben verändern kann, Mrs. Clifton«, sagte Mr. Holcombe, der sich zum ersten Mal zu Wort meldete.

»Aber müsste er sich dann nicht mit piekfeinen, klugen Jungen abgeben?«

»Ich bezweifle, dass es in St. Bede’s viele Kinder gibt, die klüger sind als Harry«, sagte Mr. Holcombe. »Er ist der aufgeweckteste Junge, den ich je unterrichtet habe. Obwohl es ein paar unserer Kinder gelegentlich auf eine Grammar School schaffen, hat keiner unserer Schüler jemals die Chance bekommen, das St. Bede’s zu besuchen.«

»Da gibt es noch etwas, das Sie wissen müssen, bevor Sie sich entscheiden«, sagte Reverend Watts. Jetzt sah Maisie sogar noch besorgter aus. »Harry würde während der Unterrichtsmonate von zu Hause fortgehen müssen, denn das St. Bede’s ist ein Internat.«

»Dann kommt das nicht infrage«, sagte Maisie. »Das können wir uns nicht leisten.«

»Das sollte kein Problem sein«, erwiderte Miss Monday. »Wenn Harry ein Stipendium angeboten bekommt, verzichtet die Schule nicht nur auf sämtliche Gebühren, sie stellt ihm sogar für persönliche Aufwendungen zehn Pfund pro Schuljahr zur Verfügung.«

»Aber ist das nicht eine Schule, in der die Väter Anzug und Krawatte tragen und die Mütter nicht arbeiten?«, fragte Maisie.

»Es ist noch schlimmer«, sagte Miss Monday, indem sie versuchte, der Unterhaltung eine leichtere Wendung zu geben. »Die Lehrer tragen lange schwarze Roben und Doktorhüte.«

»Allerdings«, warf Reverend Watts ein, »würde Harry dort wenigstens nicht mehr mit dem Lederriemen geschlagen. Im St. Bede’s sind sie viel kultivierter. Dort benutzen sie Rohrstöcke.«

Nur Maisie konnte nicht darüber lachen. »Warum sollte er überhaupt von zu Hause weggehen wollen?«, fragte sie. »Inzwischen hat er sich in der Merrywood Elementary gut eingelebt, und er wird seine Position als Solist im Chor der Holy Nativity wohl kaum so leicht aufgeben.«

»Ich muss gestehen, dass es für mich ein noch größerer Verlust wäre«, sagte Miss Monday. »Aber ich bin mir sicher, dass es dem Herrn nicht gefallen würde, wenn ich wegen meiner eigenen selbstsüchtigen Wünsche einem so begabten Kind im Weg stehe«, fügte sie leise hinzu.

»Auch wenn ich zustimme«, sagte Maisie und spielte ihre letzte Karte aus, »bedeutet das noch lange nicht, dass auch Harry einverstanden ist.«

»Ich habe letzte Woche mit dem Jungen gesprochen«, gestand Mr. Holcombe. »Natürlich ist er unsicher angesichts einer so großen Herausforderung, doch wenn ich mich richtig erinnere, lauteten seine genauen Worte: ›Ich würde gerne gehen, Sir, aber nur wenn Sie meinen, dass ich gut genug bin.‹ Allerdings«, fuhr er fort, bevor Maisie etwas dazu bemerken konnte, »hat er ebenso deutlich gemacht, dass er über diese Möglichkeit nicht einmal nachdenken würde, sollte seine Mutter nicht vorher zustimmen.«

Bei dem Gedanken, die Zulassungsprüfung abzulegen, war Harry zugleich eingeschüchtert und aufgeregt; er hatte ebenso große Angst davor, zu versagen und so viele Menschen zu enttäuschen, wie davor, die Prüfung zu bestehen und von zu Hause fortgehen zu müssen.

Während der folgenden Monate versäumte er keine einzige Unterrichtsstunde, und jeden Abend, wenn er nach Hause kam, ging er sofort ins Schlafzimmer, das er mit Onkel Stan teilte, wo er bei Kerzenlicht während all jener Stunden lernte, deren Existenz nie von besonderer Bedeutung für ihn gewesen war. Einige Male fand Maisie ihren Sohn sogar von Büchern umgeben schlafend auf dem Boden.

Wie zuvor besuchte er jeden Samstagmorgen Old Jack, der eine Menge über St. Bede’s zu wissen schien und Harry in so vielen anderen Dingen Unterricht gab, dass man fast glauben konnte, er wisse, an welchem Punkt Mr. Holcombe die jeweilige Schulstunde beendet hatte.

Zu Stans großem Ärger begleitete Harry seinen Onkel am Samstagnachmittag nicht mehr ins Ashton Gate, um Bristol City spielen zu sehen; stattdessen ging er noch einmal in die Merrywood Elementary, wo Mr. Holcombe ihm zusätzliche Stunden gab. Erst viele Jahre später sollte Harry herausfinden, dass auch Mr. Holcombe darauf verzichtete, seine Lieblingsmannschaft zu unterstützen: Er besuchte die Spiele der Robins nicht mehr, nur um Harry zu unterrichten.

Als die Prüfung näher kam, wurde Harrys Angst vor einem Versagen größer als diejenige vor einem möglichen Erfolg.

Am entscheidenden Tag begleitete Mr. Holcombe seinen Starschüler in die Colston Hall, wo die zweistündige Prüfung stattfinden sollte. Am Eingang des Gebäudes verabschiedete er sich mit den Worten: »Vergiss nicht, jede Frage zweimal zu lesen, bevor du den Stift auch nur in die Hand nimmst.« Diesen Rat hatte er während der letzten Woche schon mehrmals wiederholt. Harry lächelte nervös. Dann gab er Mr. Holcombe die Hand, als seien sie alte Freunde.

Er betrat den Prüfungssaal, wo etwa sechzig andere Jungen in kleinen Gruppen herumstanden und sich unterhielten. Es war offensichtlich, dass viele von ihnen schon länger miteinander befreundet waren, während Harry überhaupt niemanden kannte. Trotzdem unterbrachen einige von ihnen ihre Gespräche und sahen ihm nach, während er durch den Saal nach vorne ging und versuchte, eine zuversichtliche Miene aufzusetzen.

»Abbott, Barrington, Cabot, Clifton, Deakins, Fry…«

Harry setzte sich auf seinen Platz in der ersten Reihe, und nur wenige Augenblicke bevor es zehn Uhr schlug, rauschten mehrere Lehrer in langen schwarzen Talaren und Doktorhüten in den Saal und platzierten die Prüfungsbögen vor jedem Kandidaten auf dem Tisch.

»Gentlemen«, sagte ein Lehrer, der ganz vorne im Saal stand und sich an der Verteilung der Prüfungsaufgaben nicht beteiligt hatte, »ich bin Mr. Frobisher. Ich führe die Aufsicht in dieser Prüfung. Sie haben zwei Stunden, um einhundert Fragen zu beantworten. Viel Glück.«

Die Uhr, die Harry nicht sehen konnte, schlug zehn. Überall um ihn herum sanken Federn in Tintenfässer und begannen, hektisch über das Papier zu kratzen. Doch Harry verschränkte nur die Arme und beugte sich über seinen Tisch, um jede Frage sorgfältig zu lesen. Er gehörte zu den Letzten, die nach ihrer Feder griffen.

Harry konnte nicht wissen, dass Mr. Holcombe draußen auf dem Bürgersteig auf und ab ging und viel nervöser war als sein Schüler. Oder dass seine Mutter alle paar Minuten einen Blick auf die Uhr im Foyer des Royal Hotel warf, während sie den Gästen den Morgenkaffee servierte. Oder dass Miss Monday in stummem Gebet vor dem Altar der Holy Nativity kniete.

Nur wenige Augenblicke nachdem es zwölf geschlagen hatte, wurden die Prüfungsbögen eingesammelt, und die Jungen erhielten die Erlaubnis, den Saal zu verlassen. Einige lachten, andere runzelten die Stirn, und wieder andere wirkten nachdenklich.

Als Mr. Holcombes Blick zum ersten Mal wieder auf Harry fiel, sank ihm das Herz. »War es so schlimm?«, fragte er.

Harry antwortete erst, als er sicher sein konnte, dass kein anderer Junge ihn hören würde. »Es war überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte«, sagte er.

»Wie meinst du das?«, fragte Mr. Holcombe beklommen.

»Die Fragen waren viel zu leicht«, erwiderte Harry.

Mr. Holcombe wusste, dass er in seinem ganzen Leben noch nie ein größeres Kompliment bekommen hatte.

»Zwei Anzüge, Madam, grau. Ein Blazer, marineblau. Fünf Hemden, weiß. Fünf steife Krägen, weiß. Sechs Paar wadenlange Socken, grau. Sechs Garnituren Unterwäsche, weiß. Und eine St.-Bede’s-Schulkrawatte.« Der Verkäufer hakte die Liste sorgfältig ab. »Ich denke, das wäre alles. Oh nein, der Junge braucht auch noch eine Schulmütze.« Er griff unter die Ladentheke, öffnete eine Schublade und zog eine schwarz-rot gemusterte Mütze heraus, die er Harry auf den Kopf setzte. »Passt perfekt«, erklärte er. Maisie lächelte ihren Sohn voller Stolz an. Harry sah von Kopf bis Fuß wie ein richtiger St.-Bede’s-Junge aus. »Das macht dann drei Pfund, zehn Shilling und sechs Pence, Madam.«

Maisie versuchte, ihre Bestürzung zu verbergen. »Kann man eines dieser Stücke auch aus zweiter Hand kaufen?«, flüsterte sie.

»Nein, Madam. Das ist kein Laden für gebrauchte Kleidung«, sagte der Verkäufer, der bereits zum Schluss gekommen war, dass er dieser Kundin nicht anbieten würde, im Geschäft ein eigenes Konto einzurichten.

Maisie öffnete ihr Portemonnaie, reichte dem Angestellten vier Ein-Pfund-Noten und wartete auf das Wechselgeld. Sie war erleichtert darüber, dass St. Bede’s die Summe für persönliche Aufwendungen für das erste Schuljahr bereits ausbezahlt hatte, besonders weil sie noch zwei Paar schwarze Lederschuhe mit Schnürsenkeln, zwei Paar weiße Sportschuhe mit Schnürsenkeln und ein paar Hausschuhe, die Harry im Schlafsaal tragen würde, kaufen musste.

Der Verkäufer räusperte sich. »Der Junge wird auch noch zwei Pyjamas und einen Morgenmantel brauchen.«

»Ja, natürlich«, sagte Maisie in der Hoffnung, dass sie angesichts der zu erwartenden Kosten genügend Geld bei sich hatte.

»Und darf ich Sie so verstehen, dass der Junge ein Chorstipendiat ist?«, fragte der Verkäufer und warf erneut einen genauen Blick auf seine Liste.

»Ja, das ist er«, erwiderte Maisie stolz.

»Dann braucht er auch noch einen Talar, rot, zwei Chorhemden, weiß, und ein St.-Bede’s-Medaillon.« Maisie wäre am liebsten aus dem Geschäft gerannt. »Diese Dinge werden ihm bei der ersten Chorprobe von der Schule zur Verfügung gestellt«, erklärte der Verkäufer, bevor er Maisie das Wechselgeld reichte. »Benötigen Sie sonst noch etwas, Madam?«

»Nein, danke«, sagte Harry, der nach den beiden Taschen griff, seine Mutter bei der Hand nahm und sie rasch aus der Luxusschneiderei T. C. Marsh führte.

Harry verbrachte den Samstagmorgen, bevor er sich in St. Bede’s würde vorstellen müssen, gemeinsam mit Old Jack.

»Bist du nervös, weil du auf eine neue Schule gehst?«, fragte Old Jack.

»Nein, überhaupt nicht«, sagte Harry nachdrücklich. »Ich habe schreckliche Angst«, gab er zu.

Old Jack lächelte. »Das geht allen Frischlingen so. So wird man dich übrigens nennen. Du solltest versuchen, dir das Ganze wie ein Abenteuer in einer neuen Welt vorzustellen, wo jeder dem anderen gleichgestellt ist.«

»Aber sobald sie hören, wie ich etwas sage, wird ihnen klar sein, dass ich nicht so bin wie sie.«

»Mag sein. Aber sobald sie hören, wie du singst, wird ihnen klar sein, dass sie nicht so sind wie du.«

»Die meisten von ihnen werden aus reichen Familien kommen, wo sie ihre eigenen Diener haben.«

»Das wird nur für die Dümmsten unter ihnen ein Trost sein«, sagte Old Jack.

»Und einige werden Brüder haben, die auf dieselbe Schule gehen. Und sogar Väter und Großväter, die vor ihnen dort waren.«

»Dein Vater war ein feiner Mann«, sagte Old Jack, »und keiner von den anderen wird eine bessere Mutter haben, das kann ich dir versichern.«

»Sie kannten meinen Vater?«, sagte Harry, dem es nicht gelang, seine Überraschung zu verbergen.

»Zu behaupten, dass ich ihn kannte, wäre eine Übertreibung«, antwortete Old Jack. »Aber ich habe aus der Ferne ein Auge auf ihn geworfen, wie das bei vielen anderen der Fall war, die im Hafen gearbeitet haben. Er war ein anständiger, mutiger, gottesfürchtiger Mann.«

»Aber wissen Sie auch, wie er gestorben ist?«, fragte Harry und sah Old Jack tief in die Augen, voller Hoffnung, dass er endlich eine ehrliche Antwort auf die Frage bekommen würde, die ihm schon so lange schwer zu schaffen machte.

»Was haben sie dir erzählt?«, erkundigte sich Old Jack vorsichtig.

»Dass er im Großen Krieg gestorben ist. Aber ich wurde 1920 geboren, und sogar ich weiß, dass das nicht möglich sein kann.«

Old Jack antwortete nicht sofort. Harry saß gebannt auf der Kante seiner Bank.

»Es stimmt, er wurde im Krieg schwer verwundet, aber du hast recht, das war nicht die Ursache seines Todes.«

»Aber wie ist er dann gestorben?«, wollte Harry wissen.

»Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen«, erwiderte Old Jack. »Aber damals machten so viele Gerüchte die Runde, dass ich nicht wusste, was ich glauben soll. Es gibt jedoch mehrere Männer – und ganz besonders drei –, die zweifellos die Wahrheit über die Ereignisse in jener Nacht kennen.«

»Mein Onkel Stan muss einer von ihnen sein«, sagte Harry. »Aber wer sind die anderen beiden?«

Old Jack zögerte, bevor er antwortete. »Phil Haskins und Mr. Hugo.«

»Mr. Haskins? Der Vorarbeiter?«, sagte Harry. »Der würde mir nicht mal einen guten Tag wünschen. Und wer ist Mr. Hugo?«

»Hugo Barrington, der Sohn von Sir Walter Barrington.«

»Ist das die Familie, der die Schifffahrtslinie gehört?«

»Die und keine andere«, erwiderte Old Jack, der zu fürchten schien, dass er schon zu viel gesagt hatte.

»Und sind das ebenso anständige, mutige und gottesfürchtige Männer?«

»Sir Walter ist einer der feinsten Menschen, die ich je kennengelernt habe.«

»Aber was ist mit seinem Sohn, Mr. Hugo?«

»Der ist nicht aus demselben Holz geschnitzt, fürchte ich«, sagte Old Jack, ohne das genauer zu erklären.

HIER ENDET DIE LESEPROBE

DIE CLIFTONS

DIE BARRINGTONS

Die große Clifton-Saga von Jeffrey Archer

Spiel der Zeit (Band 1)

Das Vermächtnis des Vaters (Band 2)

Erbe und Schicksal (Band 3)

»Wenn es einen Nobelpreis für das

Erzählen großer Geschichten gäbe –

Jeffrey Archer wäre er sicher!«

DAILY TELEGRAPH

Weitere Infos unter Jeffrey Archer – Clifton-Saga

oder auf der Verlagsseite www.heyne.de