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Zwölf meisterhafte Erzählungen des Sensationsautors voll atemberaubender Enthüllungen und stilistischem Glanz: »Wenn es einen Nobelpreis fürs Geschichtenerzählen gäbe, würde Archer ihn gewinnen«, urteilt der Daily Telegraph. Ein Manager hat einen todsicheren Plan, wie er seine Frau umbringt – mit unerwarteten Konsequenzen. Eine Immobilienmaklerin lernt einen notorischen Betrüger kennen – es ist die Liebe ihres Lebens. Ein eifersüchtiger Verbrecher hat das perfekte Alibi für den Mord an seiner Gattin und ihrem Liebhaber: Zur Tatzeit saß er im Knast … Untrüglicher Charme, eiskalte Intrigen und die Tücken des Herzens: Jeffrey Archer erforscht in seinen brillanten Erzählungen, zu was Menschen auf der Suche nach Macht, Leidenschaft und Anerkennung fähig sind – immerhin ist Liebe das wohl älteste Mordmotiv der Welt ...
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Seitenzahl: 323
Über dieses Buch:
Ein Manager hat einen todsicheren Plan, wie er seine Frau umbringt – mit unerwarteten Konsequenzen. Eine Immobilienmaklerin lernt einen notorischen Betrüger kennen – es ist die Liebe ihres Lebens. Ein eifersüchtiger Verbrecher hat das perfekte Alibi für den Mord an seiner Gattin und ihrem Liebhaber: Zur Tatzeit saß er im Knast …
Untrüglicher Charme, eiskalte Intrigen und die Tücken des Herzens: Jeffrey Archer erforscht in seinen brillanten Erzählungen, zu was Menschen auf der Suche nach Macht, Leidenschaft und Anerkennung fähig sind – immerhin ist Liebe das wohl älteste Mordmotiv der Welt ...
Über den Autor:
Jeffrey Archer (geboren 1940 in London) ist ein britischer Bestsellerautor und gehört zu den erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Nach seinem Studium in Oxford schlug er eine bewegte unternehmerische und politische Karriere ein, die in einem Skandal endete. Nachdem er 2001 wegen Meineids inhaftiert wurde, wandte er sich voll und ganz der Schriftstellerei zu und hat seitdem zahlreiche internationale Bestseller geschrieben. Jeffrey Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in abwechselnd in London, Cambridge und auf Mallorca.
Bei dotbooks als eBook erhältlich sind seine hochkarätigen Anthologien »Der perfekte Dreh«, »Falsche Spuren«, »Ein echter Gentleman«, »Der gefälschte König« und »Verbrechen lohnt sich«. »Der perfekte Dreh« und »Falsche Spuren« sind auch als Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich.
Außerdem erscheinen bei dotbooks der Thriller »Die Stunde der Fälscher« und der Kurzroman »Das Evangelium nach Judas«.
Die Website des Autors: www.jeffreyarcher.com/
Der Autor bei Facebook: www.facebook.com/JeffreyArcherAuthor/
Der Autor auf Instagram: www.instagram.com/jeffrey_archer_author/
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eBook-Ausgabe November 2024
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »Cat O’Nine Tales And Other Stories« bei Macmillan, London.
Copyright © der englischen Originalausgabe Jeffrey Archer 2006
Copyright © der deutschen Erstausgabe S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2008
Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/ana, Sebastián Hernández
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-98952-440-8
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Jeffrey Archer
Der gefälschte König
Stories
Aus dem Englischen von Tatjana Kruse
dotbooks.
Für Elizabeth
Während meiner zweijährigen Haftzeit in fünf verschiedenen Gefängnissen hörte ich mehrere Geschichten, die nicht zu den alltäglichen Aufzeichnungen eines Gefängnistagebuches passten.
Obwohl alle neun Geschichten ausgeschmückt wurden, basiert jede einzelne auf Fakten. Und bei allen bis auf einer hat mich der betroffene Häftling gebeten, seine wahre Identität nicht preiszugeben.
Drei der Geschichten in diesem Band entsprechen ebenfalls der Wahrheit, aber ich bin erst auf sie gestoßen, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde: »Eine griechische Tragödie« spielt in Athen, »Die Weisheit Salomos« spielt in London und meine Lieblingsgeschichte »Im Auge des Betrachters« spielt in Rom.
Der ehrenwerte Richter Gray nahm die beiden Beschuldigten auf der Anklagebank in Augenschein. Chris und Sue Haskins hatten sich schuldig bekannt, Eigentum der Post geraubt zu haben, insgesamt 250 000 Pfund. Außerdem hatten sie vier Pässe gefälscht.
Mr. und Mrs. Haskins schienen gleich alt zu sein, was kaum überraschte, da sie bereits vor über vierzig Jahren gemeinsam die Schulbank gedrückt hatten. Man wäre auf der Straße an ihnen vorbeigelaufen, ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Chris war ungefähr 1 Meter 73 groß, sein dunkles, lockiges Haar wurde langsam grau, und er wog mindestens sechs Kilo zu viel. Er hielt sich aufrecht auf der Anklagebank, und obwohl sein Anzug abgetragen war, war sein Hemd sauber und die gestreifte Krawatte ließ vermuten, dass er einem Club angehörte. Seine schwarzen Schuhe sahen aus, als würden sie jeden Morgen auf Hochglanz poliert. An seiner Seite stand seine Ehefrau Sue. Ihr adrettes Kleid mit dem Blumenmuster und die vernünftigen Laufschuhe deuteten auf eine organisierte und ordentliche Frau hin, aber andererseits trugen sie beide Kleidung, die sie normalerweise in die Kirche anziehen würden. Schließlich hielten sie das Gesetz für nichts anderes als den erweiterten Arm des Allmächtigen.
Der ehrenwerte Richter Gray wandte seine Aufmerksamkeit dem Anwalt von Mr. und Mrs. Haskins zu, einem jungen Mann, der eher aufgrund finanzieller Erwägungen als aufgrund von Erfahrung ausgewählt worden war.
»Zweifellos wünschen Sie mildernde Umstände anzuführen, Mr. Rodgers«, lieferte der Richter hilfreich das Stichwort.
»Ja, Mylord«, räumte der frischgebackene Anwalt ein und erhob sich von seinem Stuhl. Er hätte Seiner Lordschaft gern erklärt, dass dies erst sein zweiter Fall war, aber er hatte das Gefühl, Seine Lordschaft würde das wohl eher nicht als mildernden Umstand gelten lassen.
Der ehrenwerte Richter Gray lehnte sich zurück und bereitete sich auf die übliche Rede vor, dass nämlich der arme Mr. Haskins von einem gnadenlosen Stiefvater Nacht für Nacht verprügelt und Mrs. Haskins von einem bösen Onkel in einem für Eindrücke höchst empfänglichen Alter vergewaltigt worden war, aber nein, Mr. Rodgers versicherte dem Gericht, dass das Ehepaar Haskins aus glücklichen, geregelten Familienverhältnissen stammte und gemeinsam die Schule besucht hatte. Ihr einziges Kind Tracey, eine Absolventin der Universität von Bristol, arbeitete derzeit als Immobilienmaklerin in Ashford. Eine vorbildliche Familie.
Mr. Rodgers sah auf seine Notizen, bevor er ausführte, wie das Ehepaar Haskins an diesem Morgen auf der Anklagebank gelandet war. Der ehrenwerte Richter Gray fand sich von ihrer Geschichte zunehmend fasziniert, und als der Anwalt seinen Platz wieder einnahm, hatte der Richter das Gefühl, etwas mehr Zeit zu benötigen, um über das Strafmaß zu befinden. Er wies die beiden Angeklagten an, sich am folgenden Montag um zehn Uhr vormittags erneut vor ihm einzufinden. Bis dahin wollte er zu einer Entscheidung gelangt sein.
Mr. Rodgers erhob sich ein zweites Mal.
»Sie hoffen zweifellos, dass ich Ihre Mandanten auf Kaution freilasse, Mr. Rodgers?«, erkundigte sich der Richter und hob eine Augenbraue. Und bevor der überraschte junge Anwalt etwas erwidern konnte, erklärte der ehrenwerte Richter Gray: »Kaution gewährt.«
Jasper Gray erzählte seiner Frau beim Mittagessen am Sonntag von der misslichen Lage, in der sich Mr. und Mrs. Haskins befanden. Lange bevor der Richter seinen Lammrücken verspeist hatte, unterbreitete ihm Vanessa Gray bereits ihre Meinung.
»Verurteile die beiden zu je einer Stunde Gemeinschaftsdienst und dann verfüge, dass die Post die ursprüngliche Investition in voller Höhe zurückzuerstatten hat«, erklärte sie und offenbarte einen gesunden Menschenverstand, der den männlichen Vertretern der Spezies nicht immer gegeben ist. Um dem Richter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss man sagen, dass er die Auffassung seiner Frau teilte, obwohl er ihr auch sagte, dass er damit niemals durchkommen würde.
»Warum nicht?«, wollte sie wissen.
»Wegen der vier Pässe.«
Der ehrenwerte Richter Gray war nicht überrascht, als er um zehn Uhr am folgenden Morgen Mr. und Mrs. Haskins pflichtschuldigst auf der Anklagebank sitzen sah. Schließlich waren sie keine Kriminellen.
Der Richter hob den Kopf, sah zu den beiden hinunter und versuchte, streng auszusehen. »Sie haben sich schuldig bekannt, eine Postfiliale beraubt und vier Pässe gefälscht zu haben.« Er machte sich nicht die Mühe, Adjektive wie böse, abscheulich oder gar verachtenswert einzustreuen, da er das im vorliegenden Fall nicht für angemessen hielt. »Sie lassen mir daher keine andere Wahl«, fuhr er fort, »ich muss Sie ins Gefängnis schicken.« Der Richter wandte seine Aufmerksamkeit Chris Haskins zu. »Sie waren zweifellos der Anstifter dieses Verbrechens und eingedenk dessen verurteile ich Sie zu drei Jahren Haft.« Chris Haskins war unfähig, seine Überraschung zu verbergen: sein Anwalt hatte ihn gewarnt, von mindestens fünf Jahren auszugehen. Chris musste sich bremsen, um nicht »Danke schön, Mylord!« zu rufen.
Dann sah der Richter zu Mrs. Haskins. »Ich gehe davon aus, dass Ihr Anteil an dieser Verschwörung wahrscheinlich nichts weiter als ein Akt der Loyalität gegenüber Ihrem Ehemann war. Dennoch sind Sie sich des Unterschieds zwischen richtig und falsch sehr wohl bewusst. Ich verurteile Sie daher zu einem Jahr Gefängnis.«
»Mylord«, protestierte Chris Haskins.
Zum ersten Mal runzelte der ehrenwerte Richter Gray die Stirn. Er war es nicht gewöhnt, dass man ihn unterbrach, wenn er ein Urteil verkündete. »Mr. Haskins, wenn Sie beabsichtigen, gegen mein Urteil Berufung einlegen zu wollen ...«
»Ganz sicher nicht, Mylord«, rief Chris Haskins und unterbrach den Richter damit zum zweiten Mal. »Ich habe mich nur gefragt, ob Sie mir erlauben würden, die Strafe für meine Frau abzusitzen.«
Der ehrenwerte Richter Gray war von diesem Ansinnen dermaßen verblüfft, dass ihm keine passende Antwort auf diese Bitte einfiel, die noch nie zuvor an ihn gerichtet worden war. Er schlug mit dem Hammer auf, erhob sich und verließ überstürzt den Gerichtssaal. Ein Gerichtsdiener rief noch eiligst: »Erheben Sie sich.«
Chris und Sue begegneten sich zum ersten Mal auf dem Pausenhof der örtlichen Grundschule in Cleethorpes, einer Küstenstadt an der Ostküste Englands. Chris stand in der Schlange für seine 0,2 Liter Milch an – Regierungsvorschrift für alle Schulkinder unter 16. Sue war die Milchbeauftragte. Ihre Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass jeder seine korrekte Zuweisung erhielt. Als sie Chris die kleine Flasche reichte, schenkte keiner der beiden dem anderen einen zweiten Blick. Sue besuchte die Klasse über Chris, darum begegneten sie sich tagsüber nur selten, außer wenn Chris in der Milchschlange anstand. Am Ende des Jahres bestand Sue die Abschlussprüfung und bekam einen Platz am örtlichen Gymnasium. Chris wurde zum neuen Milchbeauftragten ernannt. Im folgenden September legte auch er erfolgreich die Abschlussprüfung ab und kam wie Sue auf das Gymnasium von Cleethorpes.
Während ihrer Zeit am Gymnasium schenkten sie sich weiterhin keine Beachtung, bis Sue zur Schulsprecherin wurde. Danach konnte Chris gar nicht anders, als sie zu bemerken, weil sie am Ende jeder Morgenversammlung die Ankündigungen des Tages vorlas. Das Adjektiv, das am häufigsten genannt wurde, wenn Sues Name in einem Gespräch fiel, war herrschsüchtig (seltsam, wie häufig Frauen in Autoritätspositionen als herrschsüchtig abgestempelt wurden, während man einem Mann in derselben Position Führungsqualitäten zusprach).
Als Sue am Endes des Schuljahres abging, vergaß Chris sie wieder. Er trat nicht in ihre illustren Fußstapfen und wurde nicht Schulsprecher, obwohl er ein – nach seinen Maßstäben – erfolgreiches, wenn auch ereignisloses Jahr hinter sich brachte. Er spielte für die zweite Auswahl der Kricketmannschaft, wurde Fünfter im Querfeldeinlauf gegen die Auswahl des Gymnasiums von Grimsby und schlug sich in seinen Abschlußprüfungen so durchschnittlich, dass er weder in der einen noch in der anderen Richtung erwähnt wurde.
Kaum hatte Chris die Schule verlassen, erhielt er ein Schreiben vom Verteidigungsministerium, das ihn anwies, sich bei seinem örtlichen Rekrutierungsbüro zu melden, um seinen Wehrdienst anzutreten – eine zweijährige Zwangszeit für alle Jungen ab 18 Jahren, in der sie sich den Streitkräften zur Verfügung stellen mussten. Chris konnte sich nur entscheiden, ob es die Royal Army, die Royal Navy oder die Royal Air Force werden sollte.
Er entschied sich für die RAF und fragte sich sogar einen flüchtigen Augenblick lang, wie es sein würde, Kampfpilot zu werden. Sobald Chris die medizinische Untersuchung hinter sich gebracht und alle notwendigen Formulare im örtlichen Rekrutierungsbüro ausgefüllt hatte, reichte ihm der diensthabende Sergeant eine Bahnfahrkarte zu einem Ort namens Mablethorpe. Er sollte sich bis acht Uhr am Ersten des Folgemonats dort im Wachhaus melden.
Chris verbrachte die folgenden zwölf Wochen damit, das Basistraining zu durchlaufen, zusammen mit 120 weiteren Rekruten. Rasch entdeckte er, dass nur ein Anwärter von Tausend für eine Ausbildung zum Piloten ausgewählt wurde. Chris war nicht dieser Eine von Tausend. Am Ende der zwölf Wochen stellte man ihn vor die Wahl, in der Kantine, in der Offiziersmesse, im Lager des Quartiermeisters oder bei der Flugüberwachung zu arbeiten. Er entschied sich für die Flugüberwachung und erhielt den Job im Lager.
Als er sich am folgenden Montag zum Dienst meldete, traf er erneut auf Sue – oder um genauer zu sein, auf Corporal Sue Smart. Sie stand wie immer am Kopf der Schlange, dieses Mal teilte sie Arbeitsanweisungen aus. Chris erkannte sie nicht sofort, gekleidet in ihrer schicken, blauen Uniform, die Haare beinahe gänzlich unter einem Käppi versteckt. Jedenfalls bewunderte er gerade ihre gut geformten Beine, als sie sagte: »Haskins, melden Sie sich im Lager des Quartiermeisters.« Chris hob den Kopf. Es war eine Stimme, die er nie vergessen würde.
»Sue?«, fragte er zögernd. Corporal Smart sah von ihrem Klemmbrett auf und starrte den Rekruten an, der es wagte, sie mit Vornamen anzusprechen. Sie erkannte das Gesicht wieder, konnte es aber nicht zuordnen.
»Chris Haskins«, erlaubte er sich zu sagen.
»Ach ja, Haskins.« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr: »Melden Sie sich bei Sergeant Travis im Lager. Er weist Sie in Ihre Pflichten ein.«
»Jawohl, Corporal«, erwiderte Chris und verschwand rasch in Richtung des Lagers der Quartiermeisterei. Im Davongehen fiel Chris nicht auf, dass Sue ihm einen zweiten Blick schenkte.
Chris traf Corporal Smart erst bei seinem Wochenendfreigang wieder. Er entdeckte sie am anderen Ende des Großraumwagens auf seiner Heimreise nach Cleethorpes. Er machte keinen Versuch, sich zu ihr zu setzen, und tat so, als bemerke er sie gar nicht. Allerdings musste er feststellen, dass er von Zeit zu Zeit aufsah und ihre schlanke Gestalt bewunderte – er konnte sich nicht erinnern, dass sie so hübsch gewesen war.
Als der Zug in den Bahnhof von Cleethorpes einfuhr, entdeckte Chris seine Mutter, die sich mit einer anderen Frau unterhielt. Er wusste sofort, wer die Frau sein musste – dieselben roten Haare, dieselbe gute Figur, dieselbe ...
»Hallo Chris«, begrüßte ihn Mrs. Smart, als er sich zu seiner Mutter auf den Bahnsteig stellte. »War Sue mit dir im Zug?«
»Ist mir nicht aufgefallen«, sagte Chris, während Sue auf sie zukam.
»Ich denke, ihr werdet euch jetzt oft zu sehen bekommen, wo ihr doch beide im selben Militärlager seid«, meinte die Mutter von Chris.
»Nein, eigentlich nicht.« Sue versuchte, desinteressiert zu klingen.
»Tja, wir müssen jetzt los«, sagte Mrs. Haskins. »Ich muss Chris und seinem Dad das Abendessen machen, bevor sie sich hinsetzen und Fußball schauen«, erklärte sie.
»Erinnerst du dich an ihn?«, fragte Mrs. Smart, während Chris und seine Mutter zum Ausgang gingen.
»An Rotznase Haskins?« Sue zögerte. »Kann ich nicht behaupten.«
»Oh, so sehr magst du ihn also?« Sues Mutter lächelte.
Als Chris am Sonntagabend in den Zug stieg, saß Sue bereits auf ihrem Platz am Ende des Großraumwagens. Chris wollte an ihr vorbeilaufen und sich im nächsten Wagen einen Platz suchen, als er sie sagen hörte: »Hallo, Chris. Hattest du ein schönes Wochenende?«
»Nicht übel, Corporal.« Chris blieb stehen und sah zu ihr hinunter. »Grimsby hat Lincoln drei zu eins geschlagen. Und ich hatte ganz vergessen, wie gut die Fish-and-Chips in Cleethorpes schmecken, im Vergleich zum Lager.«
Sue lächelte. »Setz dich doch zu mir«, sagte sie und klopfte auf den Platz neben sich. »Und ich glaube, es ist in Ordnung, wenn du mich außerhalb des Lagers Sue nennst.«
Auf der Rückreise nach Mablethorpe bestritt Sue einen Großteil des Gespräches, zum Teil, weil Chris von ihr so hingerissen war – konnte das wirklich dasselbe knochige, kleine Mädchen sein, das jeden Morgen die Milch ausgegeben hatte? –, und zum Teil, weil ihm klar wurde, dass die Glücksblase platzen würde, sobald sie ihren Fuß wieder ins Lager setzten. Unteroffiziere fraternisierten sich nicht mit den niederen Rängen.
Die beiden trennten sich an der Pforte zum Lager und gingen getrennte Wege. Chris kehrte zu seinen Baracken zurück, während Sue sich zu den Unterkünften der Unteroffiziere begab. Als Chris in seine Wellblechhütte trat, wo die anderen Wehrpflichtigen bereits eingetroffen waren, prahlte einer von ihnen gerade mit einer weiblichen Angehörigen der RAF, die er flachgelegt hatte. Er ging graphisch ins Detail und beschrieb, wie die Unterhosen der weiblichen RAF-Mitglieder aussahen. »Ein dunkler Blauton mit Elastikband«, versicherte er den faszinierten Zuhörern. Chris lag auf seinem Bett und blendete diese unwahrscheinliche Geschichte aus. Seine Gedanken kehrten zu Sue zurück. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bevor er sie wiedersah.
Nicht so lange, wie er befürchtet hatte, denn als Chris am folgenden Tag in die Kantine ging, entdeckte er Sue, die in einer Ecke mit einer Gruppe Frauen aus dem Flugüberwachungsteam saß. Er wäre gern an ihren Tisch geschlendert und hätte sie wie David Niven lässig zu einer Verabredung gebeten. Es lief ein Doris-Day-Film im Odeon, der ihr sicher gefallen würde. Aber lieber wäre er über ein Minenfeld gelaufen, als sie bei ihrem Gespräch zu unterbrechen, während seine Kumpels zusahen.
Chris wählte ein Essen von der Theke – eine Schüssel Gemüsesuppe, Würstchen und Fritten und ein Stück Kuchen – und trug sein Tablett zu einem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite des Saales, wo er sich zu den anderen Wehrpflichtigen setzte. Er aß gerade seinen Kuchen und diskutierte währenddessen die Chancen von Grimsby gegen Blackpool, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er drehte sich um und sah Sue, die zu ihm hinunterlächelte. Alle am Tisch hörten auf zu reden. Chris lief knallrot an.
»Hast du Samstagabend schon etwas vor?«, fragte Sue. Das Rot vertiefte sich. Er schüttelte den Kopf. »Ich würde mir gern Calamity Jane anschauen.« Sie hielt inne. »Hast du Lust mitzukommen?« Chris nickte. »Wartest du um sechs vor dem Tor auf mich?« Ein weiteres Nicken. Sue lächelte. »Bis dann.« Chris drehte sich an den Tisch zurück und sah, wie seine Freunde ihn ehrfurchtsvoll anstarrten.
An den Film konnte sich Chris nicht erinnern, weil er einen Großteil der Zeit versuchte, genug Mut zu fassen, um seinen Arm um Sues Schulter zu legen. Er brachte es nicht einmal dann fertig, als Howard Keel Doris Day küsste. Doch als sie das Kino verlassen hatten und zu dem wartenden Bus schlenderten, nahm Sue ihn an der Hand.
»Was machst du, wenn du den Wehrdienst hinter dir hast?«, fragte Sue im letzten Bus zurück ins Lager.
»Ich nehme an, ich werde Busfahrer wie mein Dad«, sagte Chris. »Und du?«
»Wenn ich meine drei Jahre hinter mir habe, muss ich mich entscheiden, ob ich Offizier werden und eine Karriere in der RAF anstreben will.«
»Ich hoffe, du kommst nach Cleethorpes zurück und arbeitest dort«, platzte es aus Chris heraus.
Chris und Sue Haskins heirateten ein Jahr später in der St.-Aidan-Kirche.
Nach der Hochzeit machten sich Braut und Bräutigam in einem geliehenen Auto auf den Weg nach Newhaven und dann weiter an die Südküste von Portugal, wo sie ihre Flitterwochen verbringen wollten. Nach nur wenigen Tagen an der Algarve ging ihnen das Geld aus. Chris fuhr mit Sue nach Cleethorpes zurück, schwor sich aber, dass sie nach Albufeira zurückkehren würden, sobald sie es sich leisten konnten.
Chris und Sue begannen ihr Eheleben damit, dass sie eine Drei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss einer Doppelhaushälfte an der Jubilee Road mieteten. Den beiden Milchbeauftragten gelang es nicht, ihre Zufriedenheit vor denen zu verbergen, mit denen sie in Kontakt kamen.
Chris fuhr wie sein Vater Bus und wurde Schaffner bei der Green Line Municipal Coach Company, während Sue als Trainee zu einer örtlichen Versicherungsgesellschaft ging. Ein Jahr später brachte Sue Tracey zur Welt und gab ihren Beruf auf, um die Tochter großzuziehen. Das spornte Chris an, noch schwerer zu arbeiten und eine Beförderung anzustreben. Gelegentlich von Sue angestachelt, studierte Chris für die Beförderungsprüfung seiner Firma. Vier Jahre später wurde Chris zum Inspektor ernannt. Im Haushalt der Haskins’ stand alles zum Besten.
Als Tracey ihren Vater davon in Kenntnis setzte, dass sie zu Weihnachten ein Pony wollte, musste er darauf hinweisen, dass sie keinen Garten hatten. Chris schloss einen Kompromiss und schenkte Tracey zu ihrem siebten Geburtstag einen Labradorwelpen, den sie Corp nannten. Familie Haskins war wunschlos glücklich, und das hätte das Ende dieser Geschichte sein können, wenn Chris nicht entlassen worden wäre. Doch so geschah es.
Die Green Line Municipal Coach Company wurde von der Hull Carriage Bus Company übernommen. Durch den Zusammenschluss dieser beiden Unternehmen war ein Arbeitsplatzabbau unumgänglich und Chris gehörte zu denjenigen, denen ein Abfindungspaket angeboten wurde. Die einzige Alternative, die die neue Geschäftsführung anzubieten hatte, war die, Chris wieder als Schaffner einzustellen. Chris rümpfte über dieses Angebot nur die Nase. Er war zuversichtlich, eine neue Stelle zu finden, und stimmte daher einer Abfindung zu.
Nicht lange, und die Abfindung war aufgebraucht. Trotz Ted Heaths Versprechen einer schönen, neuen Welt fand Chris rasch heraus, dass eine alternative Arbeitsstelle in Cleethorpes nicht so leicht zu finden war. Sue beklagte sich nie, und da Tracey mittlerweile zur Schule ging, nahm sie eine Teilzeitstelle bei Parsons an, einem örtlichen Fish-and-Chip-Imbiss. Das brachte nicht nur jede Woche einen Gehaltsscheck ein, gelegentlich aufgebessert durch ein Trinkgeld, sondern erlaubte es Chris auch, jeden Mittag einen großen Teller Kabeljau mit Pommes zu genießen.
Chris versuchte weiterhin, Arbeit zu finden. Jeden Morgen, außer an Freitagen, ging er zum Arbeitsamt. Freitags reihte er sich in eine lange Schlange ein und wartete darauf, sein mageres Arbeitslosengeld einzustreichen. Nach zwölf Monaten gescheiterter Bewerbungsgespräche und Tut-uns-leid-Sie-scheinen-nicht-die-notwendigen-Qualifikationen-zu-besitzen war Chris besorgt genug, um ernsthaft darüber nachzudenken, doch zu seinem alten Job als Schaffner zurückzukehren. Sue versicherte ihm, dass es nicht lange dauern würde, bevor man ihn wieder zum Inspektor beförderte.
In der Zwischenzeit übernahm Sue mehr Verantwortung in dem Imbiss, und ein Jahr später wurde sie stellvertretende Geschäftsführerin. Wieder einmal hätte die Geschichte hier ihr natürliches Ende finden können, nur dass dieses Mal Sue gekündigt wurde.
Sue warnte Chris bei einem Fischmittagessen, dass Mr. und Mrs. Parsons über einen vorzeitigen Ruhestand nachdachten und planten, den Imbiss zum Verkauf anzubieten.
»Wie viel wollen sie dafür haben?«
»Ich hörte, wie Mr. Parsons von fünftausend Pfund sprach.«
»Dann wollen wir hoffen, dass die neuen Besitzer eine gute Sache erkennen, wenn sie sie sehen«, meinte Chris und spießte noch eine Fritte auf.
»Die neuen Besitzer werden höchstwahrscheinlich ihr eigenes Personal mitbringen. Vergiss nicht, was mit dir geschah, als das Busunternehmen aufgekauft wurde.«
Chris kam ins Grübeln.
Um 8 Uhr 30 am folgenden Morgen verließ Sue das Haus und brachte Tracey zur Schule, bevor sie dann zur Arbeit ging. Sobald die beiden aufgebrochen waren, machten sich Chris und Corp auf ihre Morgenrunde. Der Hund war überrascht, als sein Herrchen nicht wie üblich zum Strand ging, wo er wie sonst immer in den Wellen herumtoben konnte, sondern stattdessen in die entgegengesetzte Richtung marschierte, in Richtung Innenstadt. Getreulich trottete Corp ihm hinterher und wurde schließlich an ein Geländer vor der Midland Bank in der High Street gebunden.
Der Geschäftsführer der Bank vermochte seine Überraschung nicht zu verbergen, als Mr. Haskins um ein Gespräch bat; er wolle über ein geschäftliches Unterfangen reden. Rasch prüfte der Geschäftsführer das gemeinsame Konto von Mr. und Mrs. Haskins und stellte fest, dass sie ein Guthaben in Höhe von 17 Pfund und 12 Schillingen besaßen. Erfreut nahm er zur Kenntnis, dass sie noch nie ihr Konto überzogen hatten, obwohl Mr. Haskins seit über einem Jahr arbeitslos war.
Der Geschäftsführer der Bank lauschte mitfühlend dem Vorschlag seines Kunden, schüttelte jedoch traurig den Kopf, noch bevor Chris zum Ende seiner eingeübten Präsentation kam.
»Die Bank kann ein solches Risiko nicht eingehen«, teilte er Chris mit. »Zumindest nicht, solange Sie nur so wenig Sicherheiten bieten können. Ihnen gehört ja nicht einmal das Haus, in dem Sie wohnen.« Chris dankte ihm, schüttelte ihm die Hand und schritt absolut unverzagt von dannen.
Er überquerte die High Street, band Corp an ein anderes Geländer und betrat die Martins Bank. Chris musste ziemlich lange warten, bevor ihn der Geschäftsführer empfangen konnte. Er traf auf dieselbe Reaktion, aber zumindest empfahl dieser Geschäftsführer, dass Chris sich an Britannia Finance wenden sollte, ein neues Unternehmen, wie er erklärte, das sich darauf spezialisiert hatte, kleine Firmengründungen zu finanzieren. Chris dankte ihm, verließ die Bank, band Corp los und joggte zur Jubilee Road zurück, wo er nur wenige Augenblicke vor Sue eintraf, die mit seinem Mittagessen nach Hause kam: Kabeljau und Pommes frites.
Nach dem Mittagessen verließ Chris das Haus und ging zur nächstgelegenen Telefonzelle. Er warf vier Penny ein und drückte Taste A. Das Gespräch dauerte weniger als eine Minute. Er kehrte nach Hause zurück, erzählte Sue aber nicht, mit wem er für den Folgetag einen Termin vereinbart hatte.
Am nächsten Morgen wartete Chris, bis Sue Tracey zur Schule brachte, bevor er nach oben in ihr Schlafzimmer eilte. Er zog Jeans und Pulli aus und ersetzte beides durch den Anzug, den er zu seiner Hochzeit getragen hatte, dazu ein cremefarbenes Hemd, das er nur sonntags in die Kirche trug, und eine Krawatte, die ihm seine Schwiegermutter zu Weihnachten geschenkt hatte und von der er geglaubt hatte, er würde sie niemals umbinden. Dann polierte er seine Schuhe, bis sogar sein alter Ausbilder mit ihnen zufrieden gewesen wäre. Chris betrachtete sich prüfend im Spiegel und hoffte, er sehe wie der potenzielle Geschäftsführer eines neuen Unternehmens aus. Er ließ den Hund in den Garten und ging in die Stadt.
Chris kam fünfzehn Minuten zu früh für sein Gespräch mit einem Mr. Tremaine aus der Darlehensabteilung von Britannia Finance. Man bat ihn, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Chris nahm ein Exemplar der Financial Times zur Hand, das erste Mal in seinem Leben. Er konnte die Sportseiten nicht finden. Fünfzehn Minuten später führte ihn eine Sekretärin in das Büro von Mr. Tremaine.
Der Darlehensmann lauschte aufmerksam dem ehrgeizigen Vorhaben von Chris und erkundigte sich dann ebenso wie die beiden Bankdirektoren: »Welche Sicherheiten haben Sie zu bieten?«
»Keine«, erwiderte Chris treuherzig. »Nur die Tatsache, dass meine Frau und ich in jeder wachen Minute arbeiten werden und dass Sue das Geschäft bereits in- und auswendig kennt.« Chris erwartete, nun die zahlreichen Gründe zu hören zu bekommen, warum Britannia Finance auf seine Bitte nicht eingehen konnte.
Stattdessen fragte Mr. Tremaine: »Was hält Ihre Frau von dieser Unternehmung? Schließlich stellt sie die Hälfte unserer Investition dar.«
»Ich habe noch nicht mit ihr darüber gesprochen«, platzte es aus Chris heraus.
»Dann schlage ich vor, dass Sie das schleunigst nachholen«, sagte Mr. Tremaine, »denn bevor wir darüber nachdenken, ob wir in Mr. und Mrs. Haskins investieren, müssen wir Mrs. Haskins treffen, um herauszufinden, ob sie auch nur halb so gut ist, wie Sie behaupten.«
An diesem Abend erzählte Chris seiner Frau beim Essen von der Neuigkeit. Sue war sprachlos. Ein Problem, auf das Chris in der Vergangenheit nicht oft gestoßen war.
Sobald Mr. Tremaine Mrs. Haskins getroffen hatte, mussten sie nur noch zahllose Formblätter ausfüllen, dann gewährte ihnen Britannia Finance ein Darlehen von 5000 Pfund. Einen Monat später zogen Mr. und Mrs. Haskins von ihrer Drei-Zimmer-Wohnung in der Jubilee Road über einen Fish-and-Chip-Imbiss in der Beach Street.
Chris und Sue verbrachten den ersten Sonntag damit, den Namen PARSONS vom Eingang des Ladens abzukratzen und HASKINS: Unter neuer Leitung aufzumalen. Sue machte sich rasch daran, Chris beizubringen, wie man die richtigen Bestandteile mischte, um den besten Eierkuchenteig zum Frittieren zu bekommen. Wenn es gar so einfach wäre, rief sie ihm ständig in Erinnerung, dann würde sich nicht vor dem einen Imbiss eine lange Schlange bilden, während sein Konkurrent nur wenige Meter die Straße entlang leer blieb. Es dauerte Wochen, bevor Chris garantieren konnte, dass seine Chips immer knusprig und nicht hart oder schlimmer noch matschig wurden. Während er der Geschäftsführer nach außen wurde, den Fisch einwickelte und Salz und Essig austeilte, nahm Sue hinter der Kasse Platz und sammelte das Geld ein. Am Abend brachte Sue immer die Bücher auf den neuesten Stand, aber sie kam erst zu Chris in die kleine Einliegerwohnung nach oben, wenn der Imbiss makellos sauber war und man sein Gesicht in der Theke spiegeln konnte.
Sue war immer die Letzte, die den Laden verließ, dafür war Chris der Erste, der am Morgen aufstand. Er war schon um vier Uhr auf den Beinen, zog einen alten Trainingsanzug an und eilte mit Corp zum Hafen. Zwei Stunden später kehrte er zurück. Dann hatte er die besten Stücke Kabeljau, Seehecht, Rochen und Scholle ausgewählt, nur Momente, nachdem die Fischkutter mit ihrem Morgenfang angelegt hatten.
Obwohl es in Cleethorpes mehrere Fish-and-Chip-Imbisse gab, dauerte es nicht lange, bis sich vor dem Haskins eine Schlange bildete, manchmal noch bevor Sue das Geschlossen-Schild umdrehte, um den ersten Kunden einzulassen. Die Schlange riss zwischen elf und 15 Uhr und zwischen 17 und 21 Uhr nicht ab, dann wurde das Schild neuerlich umgedreht – aber erst, wenn auch der letzte Kunde bedient worden war.
Am Ende des ersten Jahres hatten die Haskins einen Gewinn von etwas über 900 Pfund erzielt. Je länger die Schlangen wurden, desto mehr verringerten sich ihre Schulden bei Britannia Finance, und so waren sie in der Lage, das Darlehen schon acht Monate vor Ablauf des Fünf-Jahres-Vertrages in voller Höhe zuzüglich Zinsen abzuzahlen.
In den darauffolgenden zehn Jahren wuchs der Ruf des Haskins, zu Lande und zu See, was dazu führte, dass Chris eingeladen wurde, den Rotariern von Cleethorpes beizutreten. Sue wurde stellvertretende Leiterin der Mütterliga.
An ihrem zwanzigsten Hochzeitstag kehrten Sue und Chris zu ihren zweiten Flitterwochen nach Portugal zurück. Sie residierten zwei Wochen lang in einem Vier-Sterne-Hotel, und dieses Mal mussten sie nicht vorzeitig nach Hause fahren. In den darauffolgenden Jahren fuhren Mr. und Mrs. Haskins jeden Sommer nach Albufeira. So waren sie eben, Chris und Sue Haskins – Gewohnheitstiere.
Tracey legte das Abitur am Gymnasium von Cleethorpes ab und studierte anschließend Betriebswirtschaft an der Universität von Bristol. Der einzig traurige Moment im Leben der Haskins war der Tod von Corp. Aber immerhin war er schon 14 Jahre alt.
Chris genehmigte sich einen Drink mit einigen Rotarier-Kollegen, als Dave Quenton, der Manager der angesehensten Postfiliale der Stadt, ihm erzählte, er wolle in den Lake District ziehen und plane, sein Geschäft zu verkaufen.
Dieses Mal besprach Chris seine Idee mit seiner Frau. Sue war wieder einmal perplex, und als sie sich erholt hatte, verlangte sie Antworten auf einige Fragen, bevor sie sich damit einverstanden erklärte, erneut Britannia Finance aufzusuchen.
»Wie hoch sind Ihre Einlagen bei der Midland Bank?«, erkundigte sich Mr. Tremaine, der vor kurzem zum Leiter der Darlehensabteilung ernannt worden war.
Sue sah in ihren Ordner. »37 408 Pfund«, erwiderte sie.
»Und welchen Wert messen Sie Ihrem Fish-and-Chip-Imbiss bei?«, lautete seine nächste Frage.
»Wir bekommen Angebote von 100 000 Pfund«, meinte Sue zuversichtlich.
»Und auf wie viel wird die Postfiliale geschätzt, eingedenk der Tatsache, dass sie sich an einer so hochwertigen Stelle befindet?«
»Mr. Quenton sagt, die Postfiliale sei 270 000 wert, aber er hat mir versichert, dass er mit 250 000 einverstanden ist, wenn man einen geeigneten Kandidaten findet.«
»Dann fehlen Ihnen also etwas über 100 000 Pfund«, rechnete der Finanzanalytiker aus, ohne in einen Ordner blicken zu müssen. Er legte eine kurze Pause ein. »Wie hoch war der Umsatz der Postfiliale im letzten Jahr?«
»230 000 Pfund«, erwiderte Sue.
»Gewinn?«
Erneut musste Sue ihre Zahlen prüfen. »26400, nicht miteingerechnet der zusätzliche Bonus einer geräumigen Wohnung, deren Hypotheken und Steuern durch die Einkommenssteuerrückzahlung abgedeckt sind.« Sie schwieg kurz. »Und dieses Mal gehört uns das Haus.«
»Wenn unsere Buchhalter diese Zahlen bestätigen«, sagte Mr. Tremaine, »und Sie den Fish-and-Chip-Imbiss für 100 000 Pfund verkaufen können, dann scheint mir das in der Tat eine gesunde Investition, aber ...« Die beiden möglichen Kunden wirkten besorgt. »Es gibt immer ein ›Aber‹, wenn es darum geht, Geld zu verleihen. Das Darlehen unterliegt natürlich der Voraussetzung, dass die Postfiliale ihren Status der Kategorie A beibehält. Eigentum in diesem Viertel wird derzeit mit 20 000 Pfund gehandelt, darum liegt der echte Wert der Postfiliale nur in ihrer Geschäftstätigkeit und auch nur, ich wiederhole, nur dann, wenn sie weiterhin den Status der Kategorie A beibehält.«
»Sie besitzt seit 30 Jahren einen Kategorie-A-Status«, entgegnete Chris. »Warum sollte sich das in Zukunft ändern?«
»Wenn ich die Zukunft voraussagen könnte, Mr. Haskins«, erwiderte der Finanzanalytiker, »dann würde ich niemals eine schlechte Investition tätigen, aber da ich das nicht kann, muss ich gelegentlich ein Risiko eingehen. Britannia investiert in Menschen, und diesbezüglich müssen Sie mir nichts beweisen.« Er lächelte. »Wir würden wie bei unserer ersten Investition erwarten, dass das Darlehen in vierteljährlichen Raten über einen Zeitraum von fünf Jahren abbezahlt wird. Da es um eine so große Summe geht, möchten wir das Grundstück belasten.«
»Zu welchem Prozentsatz?«, verlangte Chris zu wissen.
»Achteinhalb Prozent, mit zusätzlichen Strafgebühren, sollten die Raten nicht pünktlich bezahlt werden.«
»Wir müssen Ihr Angebot sorgfältig überdenken«, erklärte Sue. »Wir lassen es Sie wissen, sobald wir zu einer Entscheidung gelangt sind.«
Mr. Tremaine unterdrückte ein Lächeln.
»Was sollte das mit dem Kategorie-A-Status?«, fragte Sue, als sie zügig zur Küste schritten, in der Hoffnung, noch rechtzeitig vor dem ersten Kunden zu öffnen.
»Bei der Kategorie A ist der größte Gewinn zu erzielen«, erklärte Chris. »Sparkonten, Renten, postalische Geldüberweisungen, Straßenbenutzungsgebühren und sogar Aktien garantieren einen satten Gewinn. Ohne sie muss man sich mit den Rundfunkgebühren, Briefmarken und Stromrechnungen beschränken und hat vielleicht noch ein wenig Extraeinkommen, wenn sie einem erlauben, nebenher einen Laden zu führen. Wenn das alles wäre, was Mr. Quenton zu bieten hätte, dann wären wir besser dran, weiter bei dem Fish-and-Chip-Imbiss zu bleiben.«
»Besteht denn ein Risiko, dass wir unseren Status der Kategorie A verlieren?«, wollte Sue wissen.
»Überhaupt nicht«, sagte Chris. »Das hat mir der Regionalleiter versichert und der ist ebenfalls Rotarier. Er hat mir erzählt, dass diese Frage im Hauptsitz nie auch nur angesprochen wurde, und du kannst ziemlich sicher sein, dass Britannia das prüft, bevor man sich dort von 100 000 Pfund trennt.«
»Dann findest du also immer noch, dass wir das durchziehen sollten?«
»Mit einigen Verbesserungen bezüglich der Konditionen«, meinte Chris.
»Als da wären?«
»Tja, zum einen hege ich keinerlei Zweifel, dass sich Mr. Tremaine auf acht Prozent herunterhandeln lässt, wo die Banken an der High Street angefangen haben, ebenfalls in Geschäftsgründungen zu investieren. Und vergiss nicht, dieses Mal hat er ein Grundstück als Sicherheit.«
Die Haskins verkauften ihren Fish-and-Chip-Imbiss für 112 000 Pfund und konnten weitere 38 000 Pfund von ihrem Girokonto abheben. Britannia stockte das mit einem Darlehen über 100 000 Pfund zu acht Prozent auf. Daraufhin wurde ein Scheck über 250 000 Pfund dem Hauptsitz der Post in London zugestellt.
»Das müssen wir feiern«, erklärte Chris.
»An was dachtest du?«, wollte Sue wissen. »Wir haben nämlich kein Geld mehr, das wir ausgeben könnten.«
»Lass uns nach Ashford fahren und das Wochenende bei unserer Tochter verbringen ...« Er schwieg. »Und auf dem Rückweg...«
»Und auf dem Rückweg?«, wiederholte Sue.
»Machen wir einen Abstecher in das Tierheim von Battersea.«
Einen Monat später zogen Mr. und Mrs. Haskins und Stamps – wieder ein Labrador, dieses Mal ein schwarzer – von ihrem Fish-and-Chip-Imbiss in der Beach Street in eine Postfiliale der Kategorie A am Victoria Crescent.
Chris und Sue kehrten rasch zu Arbeitszeiten zurück, die sie nicht mehr kannten, seit sie damals ihren Fish-and-Chip-Imbiss eröffnet hatten. In den kommenden fünf Jahren versagten sie sich alle kleinen Extras, sogar Urlaub, obwohl sie oft über eine weitere Reise nach Portugal nachdachten. Aber das musste warten, bis sie ihre vierteljährlichen Abzahlungen an Britannia abgeleistet hatten. Chris erfüllte weiterhin seine Pflichten bei den Rotariern, und Sue wurde Vorsitzende des Cleethorpes-Zweiges der Mütterliga. Tracey wurde zur Leiterin der Baulanderschließung ernannt und Stamps fraß mehr als sie drei zusammen.
Im vierten Jahr gewannen Mr. und Mrs. Haskins die Auszeichnung ›Postfiliale des Jahres‹, und neun Monate später zahlten sie die letzte Rate an Britannia.
Der Vorstand von Britannia lud Chris und Sue ein, im Royal Hotel die Tatsache zu feiern, dass ihnen nun die Postfiliale gehörte, ohne dass sie noch irgendjemand einen Penny schuldeten.
»Wir müssen immer noch unsere ursprüngliche Investition hereinholen«, rief Chris ihnen in Erinnerung. »Das sind ja bloß 250 000 Pfund.«
»Wenn Sie so weitermachen«, meinte der Vorstandsvorsitzende von Britannia, »brauchen Sie nur weitere fünf Jahre, um dieses Ziel zu erreichen, und dann sitzen Sie auf einem Geschäft, das über eine Million wert ist.«
»Heißt das, dass ich jetzt Millionär bin?«, fragte Chris.
»Nein, das heißt es nicht«, warf Sue ein. »Auf unserem Girokonto befinden sich gerade mal etwas über 10 000 Pfund. Du bist ein Zehntausendär.«
Der Vorstandsvorsitzende lachte und forderte die Vorstandsmitglieder auf, ihre Gläser auf Chris und Sue Haskins zu erheben.
»Meine Spione haben mir zugeflüstert, dass Sie wahrscheinlich der nächste Präsident der örtlichen Rotarier werden«, fügte der Vorstandsvorsitzende noch hinzu.
»Bis dahin fließt noch viel Wasser den Fluss hinunter«, sagte Chris und senkte sein Glas, »und es geschieht sicher nicht, bevor Sue ihren Sitz im Bezirksvorstand der Mütterliga eingenommen hat. Seien Sie also nicht überrascht, wenn Sue am Ende gar die landesweite Präsidentin wird«, fügte er mit beträchtlichem Stolz hinzu.
»Und was planen Sie als Nächstes?«, wollte der Vorstandsvorsitzende wissen.
»Wir machen einen Monat Urlaub in Portugal«, erwiderte Chris ohne zu zögern. »Nach fünf Jahren, in denen wir uns mit dem Strand von Cleethorpes und mit Fish-and-Chips begnügen mussten, haben wir uns das wohl verdient.«
Auch das wäre ein zufriedenstellendes Ende dieser Geschichte gewesen, hätte nicht erneut die Bürokratie zugeschlagen: dieses Mal in Form eines Briefes an Mr. und Mrs. Hoskins vom Finanzvorstand der Post. Der Brief wartete auf dem Fußabstreifer auf sie, als sie von Albufeira zurückkehrten.
Die Post, Hauptbüro148 Old Street, London EC1V9 HQ
Sehr geehrte Frau Hoskins,
sehr geehrter Herr Hoskins,
die Post ist derzeit dabei, ihr Grundstücksportfolio neu zu bewerten, und aus diesem Grund wird es diverse Veränderungen im Status einiger älterer Filialen geben.
Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass der Vorstand zu seinem großen Bedauern die Entscheidung getroffen hat, im Stadtgebiet Cleethorpes nicht länger zwei Filialen mit dem Status der Kategorie A zu führen. Die neue Filiale in der High Street bleibt weiterhin eine Filiale der Kategorie A, Victoria Crescent wird jedoch auf die Kategorie B zurückgestuft. Damit Sie die notwendigen Anpassungen vornehmen können, werden wir die erforderlichen Veränderungen erst im neuen Jahr greifen lassen.
Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit.
Mit freundlichen GrüßenunleserlichFinanzdirektor
»Heißt es das, was ich glaube, dass es heißt?«, fragte Sue, nachdem sie den Brief ein zweites Mal gelesen hatte.
»Einfach ausgedrückt, mein Schatz«, sagte Chris, »können wir nie damit rechnen, unsere ursprüngliche Investition von 250 000 Pfund wieder hereinzuholen, selbst wenn wir den Rest unseres Lebens arbeiten.«
»Dann müssen wir die Filiale verkaufen.«
»Wer kauft sie schon zu diesem Preis, sobald herauskommt, dass sie nicht länger den Status der Kategorie A besitzt«, wollte Chris wissen.
»Der Mann von Britannia hat uns versichert, wenn wir die Schulden abbezahlt haben, ist sie eine Million wert.«