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Ein 100-Millionen-Dollar-Coup mit nur einem Ziel – Amerika zu demütigen … Washington, D.C.: Hinter der polierten Fassade des Nationalarchivs, geschützt von meterdicken Wänden, lagert die größte Trophäe der Welt: die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Auf dieses Heiligtum Amerikas hat es ein Mann abgesehen, der sich selbst zum Erzfeind der freien Welt erklärt hat – und der nun ein finsteres Komplott ins Rollen bringt. Als die Geheimdienste Alarm schlagen, muss der aufstrebende CIA-Agent Scott Bradley alles zurücklassen, was ihm lieb und teuer ist – denn er ist der Mann, der das Dokument mit Abstand am besten kennt. Gemeinsam mit der israelischen Geheimagentin Hannah Kopec schmiedet er einen riskanten Plan, um das Herz der amerikanischen Welt zu verteidigen … »Archers Vorstellungskraft auf ihrem Höhepunkt … Ein unterhaltsamer, temporeicher Page-Turner.« Sunday Times »Was wäre wenn?« – Ein rasanter Polit-Thriller des Weltbestsellerautors über den größten Coup in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Fans von Ken Follett, James Patterson und Daniel Silva werden begeistert sein!
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Seitenzahl: 608
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Washington, D.C.: Hinter der polierten Fassade des Nationalarchivs, geschützt von meterdicken Wänden, lagert die größte Trophäe der Welt: die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Auf dieses Heiligtum der amerikanischen Welt hat es ein Mann abgesehen, der sich selbst zum Erzfeind der freien Welt erklärt hat – und der nun ein finsteres Komplott ins Rollen bringt. Als die Geheimdienste Alarm schlagen, muss der aufstrebende CIA-Agent Scott Bradley alles zurücklassen, was ihm lieb und teuer ist – denn er ist der Mann, der das Dokument am besten auf der ganzen Welt kennt. Gemeinsam mit der israelischen Geheimagentin Hannah Kopec schmiedet er einen riskanten Plan, um das Herz der amerikanischen Welt zu verteidigen …
Über den Autor:
Jeffrey Archer (geboren 1940 in London) ist ein britischer Bestsellerautor und gehört zu den erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Nach seinem Studium in Oxford schlug er eine bewegte unternehmerische und politische Karriere ein, die in einem Skandal endete. Nachdem er 2001 wegen Meineids inhaftiert wurde, wandte er sich voll und ganz der Schriftstellerei zu und hat seitdem zahlreiche internationale Bestseller geschrieben. Jeffrey Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in abwechselnd in London, Cambridge und auf Mallorca.
Bei dotbooks als eBook erhältlich sind seine hochkarätigen Anthologien »Der perfekte Dreh«, »Falsche Spuren«, »Ein echter Gentleman«, »Der gefälschte König« und »Verbrechen lohnt sich«. »Der perfekte Dreh« und »Falsche Spuren« sind auch als Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich.
Außerdem erscheinen bei dotbooks der Kurzroman »Das Evangelium nach Judas«.
Die Website des Autors: jeffreyarcher.com/
Der Autor bei Facebook: facebook.com/JeffreyArcherAuthor/
Der Autor auf Instagram: instagram.com/jeffrey_archer_author/
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eBook-Neuausgabe März 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1993 unter dem Originaltitel »Honour Among Thieves« bei HarperCollins Publishers, London.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1993 by Jeffrey Archer
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1994 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Digital Media Pro, Dan Thornberg
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)
ISBN 978-3-98952-442-2
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
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Jeffrey Archer
Die Stunde der Fälscher
Thriller
Aus dem Englischen von Lore Straßl
dotbooks.
Für Geoffrey und Babs
Die im Folgenden verwendete und im Anhang abgedruckte Übersetzung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die bereits am 9.Juli 1776 im Pennsylvanischen Staatsboten erschien, stammt von dem deutschen Auswanderer Henrich Miller (ehemals Möller). Sie ist hier entsprechend der authentischen Schreibweise wiedergegeben.
»Wenn es im Lauf menschlicher Begebenheiten ...«
New York, 15. Februar 1993
Antonio Cavalli musterte verstohlen den Araber, der seiner Meinung nach für einen Botschaftssekretär, zudem Stellvertreter des Botschafters, viel zu jung aussah.
»Einhundert Millionen Dollar«, sagte Cavalli. Er betonte jedes Wort langsam, beinahe andächtig.
Hamid Al Obaydi schob klickend eine Perle seiner Gebetsschnur über den sorgfältig manikürten Nagel seines Daumens. Dieses Klicken ging Cavalli allmählich auf die Nerven.
»Einhundert Millionen – einverstanden«, erwiderte der stellvertretende Botschafter in abgehacktem Englisch.
Cavalli nickte. Das Einzige, was ihn an der Sache störte, war, daß Ali Obaydi nicht einmal den Versuch machte zu handeln, obgleich diese Summe das Doppelte dessen war, womit der Amerikaner eigentlich gerechnet hatte. Cavalli hatte aus bitterer Erfahrung gelernt, niemandem zu trauen, der nicht feilschte. Es bedeutete für gewöhnlich, daß der andere von vornherein gar nicht zu zahlen beabsichtigte.
»Wenn der Preis also klar ist«, sagte er, »bleibt nur noch die Frage, wie und wann die Zahlungen erfolgen sollen.«
Der Botschaftssekretär klickte eine weitere Perle über den Daumennagel, dann nickte er.
»Zehn Millionen Dollar sofort in bar«, sagte Cavalli. »Die restlichen neunzig Millionen auf ein Schweizer Bankkonto, sobald der Vertrag erfüllt ist.«
»Aber was bekomme ich für meine ersten zehn Millionen?« fragte der stellvertretende Botschafter und fixierte den Mann, dessen Abstammung ebenso schwer zu verheimlichen war wie seine eigene.
»Nichts«, entgegnete Cavalli, obwohl er zugeben mußte, daß die Frage des Arabers durchaus berechtigt war. Schließlich hatte der Botschaftssekretär viel mehr zu verlieren als nur das Geld seiner Regierung, wenn Cavalli seinen Teil der Abmachung nicht erfüllte.
Al Obaydi klickte mit einer weiteren Perle. Er wußte, daß ihm kaum eine Wahl blieb – er hatte volle zwei Jahre gebraucht, diese Besprechung mit Antonio Cavalli überhaupt zustande zu bringen. Inzwischen war Präsident Clinton ins Weiße Haus eingezogen, und sein eigener Chef war nicht mehr gewillt, noch länger auf seine Rache zu warten. Wenn er nicht auf Cavallis Bedingungen einging, waren die Aussichten, einen anderen zu finden, der diesen Auftrag vor dem 4. Juli erledigen konnte, so groß wie die eines Roulettespielers, der seine letzten Chips auf Zahl setzt.
Cavalli blickte auf das riesige Porträt an der Wand hinter dem Schreibtisch des Botschaftssekretärs. Sein erster Kontakt mit Al Obaydi hatte nur wenige Tage nach dem Ende des Golfkriegs stattgefunden. Damals hatte der Amerikaner es abgelehnt, mit dem Araber zu verhandeln; denn wie die meisten war Cavalli davon ausgegangen, daß der Auftraggeber dieses Mannes den Zeitpunkt, an dem erste Vorgespräche zustande kommen konnten, gar nicht mehr erleben würde.
Im Lauf der Monate sah es dann jedoch ganz so aus, als würde Cavallis potentieller Klient länger auf der Bildfläche bleiben als Präsident Bush. Also wurde ein erstes Treffen im Büro des Botschaftssekretärs in der Neunundsiebzigsten Straße Ost vereinbart. Der Treffpunkt war für Cavallis Geschmack ein wenig zu exponiert, sprach jedoch für die Glaubwürdigkeit eines Geschäftspartners, der einhundert Millionen Dollar in ein so waghalsiges Unternehmen zu investieren bereit war.
»Wie möchten Sie die ersten zehn Millionen haben?« erkundigte sich Al Obaydi, als würde er einen Immobilienmakler nach der Anzahlung für ein Häuschen auf der weniger vornehmen Seite der Brooklyn Bridge fragen.
»Die gesamte Summe muß in gebrauchten, unmarkierten Hundertdollarscheinen bei einem unserer Bankiers in Newark, New Jersey, deponiert werden«, antwortete der Amerikaner. »Und, Mr. Obaydi«, fügte er hinzu, »ich brauche wohl nicht darauf hinzuweisen, daß wir über Möglichkeiten verfügen, mit denen sich feststellen läßt ...«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, daß wir unseren Teil der Abmachung nicht erfüllen«, unterbrach Al Obaydi ihn. »Diese Summe ist für uns nur ein Tropfen im Ozean. Meine Sorge ist, ob Sie in der Lage sein werden, Ihren Teil der Vereinbarung einzuhalten.«
»Sie hätten sich nicht so um dieses Treffen bemüht, wenn Sie bezweifeln würden, daß wir die Richtigen für diesen Job sind«, entgegnete Cavalli. »Aber kann ich mich darauf verlassen, daß Sie so kurzfristig eine so große Summe Bargeld aufbringen können?«
»Es dürfte Sie interessieren, Mr. Cavalli«, antwortete der stellvertretende Botschafter, »daß das Geld sich bereits in einem Safe im Keller des Gebäudes der Vereinten Nationen befindet. Niemand würde so viel Bargeld in der Stahlkammer einer derart bankrotten Organisation vermuten.«
Das Lächeln auf Al Obaydis Gesicht verriet, daß er sich über diesen Witz amüsierte, obgleich Cavalli keine Miene verzogen hatte.
»Die zehn Millionen werden bis morgen mittag auf Ihrer Bank sein«, fuhr Al Obaydi fort, als er sich vom Tisch erhob und damit andeutete, daß die Besprechung, soweit es ihn betraf, zu Ende war. Der Botschaftssekretär streckte die Hand aus, und sein Besucher schüttelte sie zögernd.
Cavalli warf noch einmal einen Blick auf das Porträt Saddam Husseins, drehte sich um und ging.
Als Scott Bradley den Saal betrat, herrschte erwartungsvolles Schweigen.
Er legte seine Notizen vor sich auf den Tisch und ließ den Blick durch den Hörsaal schweifen. Der Saal war bis auf den letzten Platz mit eifrigen jungen Studenten besetzt, die Kugelschreiber und Bleistifte über gelben Notizblöcken bereithielten.
»Ich bin Scott Bradley«, stellte der jüngste Professor der juristischen Fakultät sich vor, »und heute werden Sie meine erste von vierzehn Vorlesungen über Verfassungsrecht hören.« Vierundsiebzig Gesichter blickten zu dem hochgewachsenen, etwas verlottert aussehenden Mann hinunter, der offenbar nicht bemerkt hatte, daß sein oberster Hemdknopf fehlte, und der sich am Morgen anscheinend nicht hatte entscheiden können, auf welcher Seite er sein Haar scheiteln sollte.
»Ich möchte diese erste Vorlesung mit einer persönlichen Bemerkung beginnen«, sagte er. Einige der Kugelschreiber und Bleistifte wurden wieder niedergelegt. »Es gibt viele Gründe, in diesem Land Jurist zu werden«, fuhr er fort, »doch es gibt nur einen wesentlichen Grund, der Richtschnur für Sie sein sollte und der, was mich betrifft, ausschlaggebend ist. Er gilt für jeden Rechtsbereich, auf den Sie sich spezialisieren mögen, und er wurde nie besser ausgedrückt als in jener Erklärung, die 1776 einstimmig von den dreizehn Gründerstaaten der USA verabschiedet wurde:
›Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen, unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören‹ Dieser eine Satz unterscheidet Amerika von allen anderen Staaten der Erde.
In mancher Hinsicht hat unsere Nation sich seit 1776 beachtlich weiterentwickelt«, fuhr der Professor fort. Er hatte noch keinen Blick auf seine Notizen geworfen, als er nun auf und ab ging und an den Aufschlägen seiner abgetragenen Tweedjacke zupfte.
»...während in anderen Bereichen unsere Entwicklung eher rückläufig gewesen ist. Jeder von Ihnen in diesem Saal kann zur nächsten Generation von Gesetzgebern oder Gesetzesbrechern gehören ...« Er machte eine Pause und ließ den Blick über seine stummen Zuhörer schweifen. »Und Ihnen wurde die größte aller Gaben mitgegeben, die Ihnen hilft, diese Entscheidung zu treffen: ein hervorragender Verstand. Wenn meine Kollegen und ich Sie gelehrt haben, was sich an Wissen vermitteln läßt, steht es Ihnen offen, die verschiedensten juristischen Berufe zu ergreifen. Dann können Sie die Unabhängigkeitserklärung ignorieren, als wäre sie nicht mehr wert als das Pergament, auf dem sie geschrieben steht, veraltet und bedeutungslos in der heutigen Zeit. Oder«, fuhr er fort, »Sie können sich entscheiden, Gutes für die Gesellschaft zu tun, indem Sie für das Gesetz eintreten. Das ist der Weg, den bedeutende Anwälte einschlagen. Schlechte Anwälte – und das heißt keinesfalls dumme Anwälte – beugen das Gesetz so weit, daß sie nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt sind, es zu brechen. Jenen unter Ihnen, die diesen Weg einschlagen möchten, kann ich nur sagen, daß ich Ihnen nichts mehr zu vermitteln habe, weil Ihre Bildung abgeschlossen ist. Sie können natürlich meine Vorlesungen besuchen, doch es wird nur ein ›Besuch‹ bleiben.«
Es war so still im Saal, daß Scott aufblickte, um sich zu vergewissern, daß die Studenten sich nicht davongestohlen hatten. »Diese Worte stammen nicht von mir«, erklärte er, während er in die aufmerksamen Gesichter blickte, »sondern von Rektor Thomas W. Swann, der hier in den ersten siebenundzwanzig Jahren dieses Jahrhunderts seine Vorlesungen hielt. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, seine Philosophie an die neuen Studenten der juristischen Fakultät von Yale weiterzugeben.«
Der Professor schlug zum ersten Mal den Hefter auf, der vor ihm lag. »Logik«, begann er, »ist die Wissenschaft, sachliche und genaue Schlußfolgerungen zu ziehen. Nein, es ist nur gesunder Menschenverstand, höre ich Sie sagen. Nichts Ungewöhnliches, wie Voltaire geschrieben hat. Aber jene, die nach dem ›gesunden Menschenverstand‹ rufen, sind häufig dieselben, die zum Lernen zu faul sind.
Oliver Wendell Holmes schrieb einmal: ›Das Gesetz lebt nicht durch Logik, sondern durch Erfahrung.‹ ...«
Kugelschreiber und Bleistifte begannen über Papier zu huschen und hörten die nächsten fünfzig Minuten damit nicht mehr auf.
Als Scott Bradley am Ende seiner Vorlesung angelangt war, klappte er seinen Hefter zu und verließ rasch den Saal. Es war nicht seine Art, den stürmischen Applaus über sich ergehen zu lassen, mit dem seine Einführungsvorlesung seit zehn Jahren bedacht wurde.
Hannah Kopec galt von Anfang an als Außenseiterin und Einzelgängerin, wobei letzteres von ihren Vorgesetzten nicht selten als vorteilhaft erachtet wurde.
Man hatte Hannah gesagt, daß ihre Chancen, sich zu qualifizieren, gering waren; nun aber hatte sie den schwierigsten Teil bereits überstanden – die zwölf Monate der Grundausbildung. Obwohl sie, trotz ihrer Herkunft und ihrer persönlichen Vorgeschichte, noch nie jemanden getötet hatte – im Gegensatz zu sechs der letzten acht Bewerber –, hatten ›die da oben‹ nun kaum mehr Zweifel, daß sie dazu fähig wäre. Hannah hatte keine.
Als das Flugzeug vom Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv nach Heathrow startete, grübelte Hannah wieder einmal darüber nach, was ein fünfundzwanzig Jahre junges Fotomodell auf dem Gipfel seiner Karriere veranlaßt hatte, sich beim Institute for Intelligence and Special Tasks – besser als ›Mossad‹ bekannt – zu bewerben, obgleich sie die Wahl unter Dutzenden millionenschwerer Verehrer in allen Teilen der Welt gehabt hätte.
Neununddreißig Scud-Raketen hatten während des Golfkriegs die Städte Tel Aviv und Haifa getroffen. Dreizehn Menschen hatten dabei den Tod gefunden. Trotz Wut und Wehklagens hatte die israelische Regierung nach zähen politischen Verhandlungen des amerikanischen Vertreters, Außenminister James Baker, und seiner Zusage, daß die Alliierten das Problem aus der Welt schaffen würden, keine Vergeltungsmaßnahmen ergriffen. Doch der amerikanische Außenminister hatte sein Versprechen nicht gehalten. Aber, dachte Hannah, wie so oft, er hat ja auch nicht seine ganze Familie in einer Nacht verloren.
Noch am gleichen Tag, als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte Hannah sich beim Mossad beworben. Doch der israelische Geheimdienst hatte ihre Bewerbung zunächst nicht ernst genommen, in der Annahme, Hannah würde nach und nach erkennen, daß die Wunde heilte. In den nächsten zwei Wochen suchte Hannah das Gebäude Tag für Tag auf, bis man dort zu der Einsicht gelangte, daß die Wunde offen blieb und – was für den Mossad ausschlaggebend war – noch schwärte.
In der dritten Woche bekam Hannah die Erlaubnis, an einem Grundausbildungskurs teilzunehmen. Allerdings war man überzeugt, daß sie höchstens ein paar Tage durchhalten und dann in ihren Beruf als Model zurückkehren würde. Die Mossad-Leute irrten sich zum zweiten Mal. Rache war für Hannah Kopec eine viel stärkere Droge als Ehrgeiz. Während der nächsten zwölf Monate begann ihr Tag Stunden vor Sonnenaufgang und endete spät in der Nacht. Sie aß Dinge, vor denen sich sogar ein Landstreicher geekelt hätte, und vergaß, wie es war, auf einer Matratze zu schlafen. Ihre Ausbilder ließen nichts unversucht, sie kleinzukriegen, doch es gelang ihnen nicht. Anfangs hatten sie Hannah mit Glacéhandschuhen angefaßt, denn ihre schlanke, anmutige Figur und ihr hübsches Gesicht hatten sie getäuscht, bis einer der Ausbilder mit einem gebrochenen Bein für diesen Irrtum bezahlen mußte. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß in einem so zierlichen Körper so viel Kraft und Schnelligkeit stecken könnte. Daß Hannah einen scharfen Verstand besaß, war weniger überraschend; auch beim theoretischen Unterricht bestimmte sie das Tempo.
Aber da war sie in ihrem Element.
Für Hannah war es schon von klein auf selbstverständlich gewesen, daß sie mehrere Sprachen beherrschte. Sie war 1968 in Leningrad auf die Welt gekommen. Als ihr Vater vierzehn Jahre später starb, hatte ihre Mutter sofort einen Antrag auf Ausreisegenehmigung nach Israel gestellt. Der neue, liberale Wind, der über den Ostblock wehte, ließ diesen Wunsch schneller als erwartet in Erfüllung gehen.
Hannah und ihre Geschwister lebten nicht lange in einem Kibbuz. Ihre Mutter, eine noch sehr attraktive, lebenssprühende Frau, bekam mehrere Heiratsanträge, darunter einen von einem reichen Witwer. Sie gab ihm ihr Jawort.
Als Hannah, ihre Schwester Ruth und ihr Bruder David in das Haus im besten Viertel von Haifa zogen, änderte sich ihr ganzes Leben. Ihr neuer Stiefvater war über alle Maßen in Hannahs Mutter verliebt und verwöhnte sie alle, da er selbst nie Kinder gehabt hatte.
Nach dem Schulabschluß äußerte Hannah den Wunsch, an einer Universität in Amerika oder England Sprachen zu studieren. Mama riet ihr davon ab. Mit solch einer Figur, dem prachtvollen, langen schwarzen Haar und einem Aussehen, das Männern zwischen siebzehn und siebzig den Kopf verdrehte, sollte sie lieber Model werden. Hannah hatte gelacht und erklärt, daß sie mit ihrem Leben Besseres vorhatte.
Ein paar Wochen später schloß sie sich ihrer Familie zu einem Urlaub in Paris an. Ihre geplanten Abstecher nach Rom und London kamen nie zustande, denn sie erhielt so viele Einladungen, daß sie die gesamten drei Wochen nicht aus Paris herauskam. Am letzten Donnerstag ihres Urlaubs bot ihr die Mode-Rivoli-Agentur einen Vertrag an, den ihr auch noch so viele akademische Titel nicht verschafft hätten. Sie gab ihr Rückflugticket nach Tel Aviv ihrer Mutter und nahm in Paris ihren ersten Job als Model an. Während Hannah sich in der französischen Hauptstadt einlebte, wurde ihre Schwester Ruth auf ein Schweizer Internat geschickt, und David begann sein Studium an der London School of Economics.
Im Januar 1991 fanden die Kinder sich alle in Israel zum fünfzigsten Geburtstag ihrer Mutter ein. Ruth studierte inzwischen auf der Slade School of Art, David stand kurz vor seiner Promotion, und Hannah war wieder einmal auf der Titelseite von Elle zu bewundern.
Zu der Zeit zogen die Amerikaner an der kuwaitischen Grenze Truppen zusammen, und viele Israelis rechneten mit einer bewaffneten Auseinandersetzung. Hannahs Stiefvater war jedoch überzeugt, daß Israel nicht darin verwickelt würde. Und selbst wenn – ihr Haus befand sich am Nordrand von Haifa, und direkte Angriffe würden sich gegen das Stadtzentrum richten.
Eine Woche später, am Geburtstag ihrer Mutter, aßen und tranken sie alle ein wenig zu viel und schliefen danach ein bißchen zu fest. Als Hannah schließlich erwachte, war sie in einem Krankenhausbett festgegurtet. Erst Tage später teilte man ihr mit, daß ihre Mutter, ihr Bruder und ihre Schwester durch eine irakische Scud getötet worden waren und nur ihr Stiefvater überlebt hatte.
Während der vielen Wochen, die Hannah im Krankenhaus lag, plante sie ihre Rache. Ihr Stiefvater hoffte, daß sie weiter als Model arbeiten würde, als sie endlich entlassen wurde, versicherte ihr jedoch, daß er sie auch dann unterstützen würde, falls sie irgendwelche anderen Absichten hätte.
Hannah erklärte ihm, sie wolle zum Mossad.
Sie betrachtete es als Ironie, daß sie nun im gleichen Flugzeug saß, das ihr Bruder unter anderen Gegebenheiten vielleicht genommen hätte, um sein Studium in London zu beenden. Sie war eine von acht Agenten in Ausbildung, die in die britische Hauptstadt geschickt wurden, um einen Arabischkurs für Fortgeschrittene zu besuchen. In Tel Aviv hatte Hannah bereits ein Jahr lang Abendunterricht genommen. Ein weiteres halbes Jahr und die Iraker würden glauben, daß sie in Bagdad geboren war. Sie konnte bereits in arabisch denken, auch wenn sie nicht immer wie eine Araberin dachte.
Als die 757 durch die Wolkendecke gedrungen war, blickte Hannah durch das kleine Bullauge hinunter auf die Windungen der Themse. Während ihrer Zeit in Paris war sie häufig nach London geflogen, um an den Vormittagen in der Bond Street oder in Chelsea, an den Nachmittagen in Ascot oder Wimbledon, und an den Abenden im Barbican Termine wahrzunehmen. Diesmal konnte sie sich jedoch nicht darüber freuen, daß sie in die Stadt zurückkehrte, die ihr so vertraut war.
Jetzt war sie lediglich an einer obskuren Unterfakultät der Londoner Universität interessiert und an einem Reihenhaus an einem Ort namens Chalk Farm.
Auf dem Rückweg zu seinem Büro in der Wall Street begann Antonio Cavalli eingehender über Al Obaydi und die Art und Weise ihrer Begegnung nachzudenken. Aus der Akte über seinen neuen Klienten, die ihr Londoner Büro ihnen zugestellt hatte und die von seiner Sekretärin Debbie auf den neuesten Stand gebracht worden war, ersah er, daß der Botschaftssekretär zwar in Bagdad geboren, aber in England zur Schule gegangen war.
Als Cavalli sich zurücklehnte, die Augen schloß und sich an Al Obaydis abgehackte und schnelle Redeweise erinnerte, dachte er, daß sie gut zu einem britischen Offizier passen würde. Die Erklärung fand sich in Al Obaydis Akte in der Rubrik ›Ausbildung‹: The King’s School in Wimbledon, anschließend drei Jahre Jurastudium an der Universität London. Auch Al Obaydi hatte seine Dinners im Lincoln Inn eingenommen, was immer das besagen mochte.
Kaum war er nach Bagdad zurückgekehrt, hatte das Außenministerium Interesse an ihm gezeigt. Er hatte schnell Karriere gemacht, trotz Saddam Husseins Selbsternennung zum Präsidenten und der Tatsache, daß hauptsächlich Funktionäre der Baath-Partei höhere Posten bekamen, auch wenn sie alles andere als qualifiziert dafür waren.
Als Cavalli weiterblätterte, wurde offensichtlich, daß Al Obaydi sich ungewöhnlichen Umständen gut anpassen konnte. Das allerdings konnte auch Cavalli voll Stolz von sich selbst behaupten. Wie Al Obaydi hatte er Jura studiert, allerdings auf der Columbia-Universität in New York. Als die Examenskandidaten, wie es üblich war, ihre Bewerbungen bei führenden Anwaltsfirmen einreichten, kam Cavalli aufgrund seiner Bewertungen immer in engere Wahl – doch sobald den Kanzleien klar wurde, wer Cavallis Vater war, bat man ihn nicht einmal zu einem Einstellungsgespräch.
Nachdem er fünf Jahre lang vierzehn Stunden täglich in einer von Manhattans weniger renommierten Anwaltspraxen gearbeitet hatte, wurde dem jungen Cavalli klar, daß es mindestens zehn Jahre so weitergehen würde, bis er hoffen konnte, auch seinen Namen auf dem Briefkopf der Kanzlei zu sehen, und das, obwohl er die Tochter des Seniorsozius geheiratet hatte. Doch Tony Cavalli wollte keine zehn Jahre vergeuden. Also beschloß er, eine eigene Kanzlei aufzumachen und sich von seiner Frau scheiden zu lassen.
Im Januar 1982 wurde die Anwaltskanzlei Cavalli & Co. ins Firmenregister eingetragen. Zehn Jahre später, am 15. April 1992 wies sie einen Gewinn von 157 000 Dollar aus und bezahlte die veranlagte Steuer bis auf den letzten Cent. Was aus den Geschäftsbüchern allerdings nicht hervorging, war die Existenz einer Tochtergesellschaft, die ebenfalls 1982 gegründet, aber nicht eingetragen worden war: eine Firma, die in keinem Register stand und über die trotz ihrer steigenden Gewinne keine offiziellen Auskünfte eingeholt werden konnten. Diese Tochterfirma war nur einer kleinen Gruppe von Eingeweihten bekannt – unter dem Namen Skills. Sie war darauf spezialisiert, Probleme zu lösen, für die in den gelben Seiten niemand zu finden gewesen wäre.
Die Verbindungen seines Vaters und Tony Cavallis rastloser Ehrgeiz brachten dieser Tochterfirma rasch den Ruf ein, Probleme zu lösen, welche ihre anonymen Klienten zuvor für unlösbar gehalten hatten. Zu Cavallis letzten Aufträgen hatte die Wiederbeschaffung von Tonbändern mit Gesprächen zwischen Sinatra und Nancy Reagan gehört, die im Rolling Stone veröffentlicht werden sollten, und der Diebstahl eines Vermeer aus Irland für einen exzentrischen südamerikanischen Sammler. Diese erfolgreichen Unternehmungen wurden in Gegenwart potentieller Klienten diskret erwähnt.
Die Klienten wurden so sorgfältig ausgewählt, als würden sie sich für den New Yorker Jachtklub bewerben, denn wie Tonys Vater oft genug gesagt hatte: Es bedürfte nur eines einzigen Fehlers, und er würde den Rest seines Lebens in weit weniger erfreulicher Umgebung verbringen als in Haus Nr. 23 an der Fünfundsiebzigsten Straße Ost oder in ihrer Villa in Lyford Cay.
Im Lauf der letzten zehn Jahre hatte Tony ein kleines, aber weltumspannendes Netz von Mittelsmännern aufgebaut. Sie versorgten ihn mit Klienten, die bei etwas ausgefalleneren Vorhaben Hilfe brauchten. Sein libanesischer Agent hatte ihn mit dem Mann aus Bagdad bekanntgemacht, dessen Auftrag zweifelsohne in diese Kategorie fiel.
Als Tonys Vater zum ersten Mal in groben Zügen von der ›Operation Wüstenruhe‹ erfuhr, riet er seinem Sohn, ein Honorar von hundert Millionen Dollar zu verlangen, als Ausgleich dafür, daß ganz Washington die Möglichkeit haben würde, ihm bei seiner Arbeit auf die Finger zu sehen.
»Ein Fehler«, warnte sein alter Herr und benetzte die Lippen, »und du wirst mehr Schlagzeilen machen als die Wiederkehr von Elvis.«
Nachdem er den Hörsaal verlassen hatte, eilte Scott Bradley über den Friedhof an der Grove Street. Er hoffte, sein Apartment in der St. Ronan Street zu erreichen, bevor einer seiner studentischen Verfolger ihn ansprechen konnte. Er mochte sie alle – naja, fast alle – und war sicher, daß er im Lauf der Zeit den ernsthafteren unter ihnen gestatten würde, ihn des Abends zu begleiten, um sie dann zu einem Drink in seiner Wohnung einzuladen und bis tief in die Nacht mit ihnen zu diskutieren. Aber nicht vor ihrem dritten oder vierten Semester.
Scott erreichte das Treppenhaus, ehe auch nur einer der zukünftigen Anwälte ihn eingeholt hatte. Aber es wußten ja auch nur wenige, daß er als Schlußläufer der Mannschaft der Universität von Georgetown beim Staffellauf vierhundert Meter in 48,1 Sekunden geschafft hatte. Überzeugt, daß er nun außer Reichweite war, rannte Scott die Treppe hinauf und blieb erst stehen, als er sein Apartment im zweiten Stock erreicht hatte.
Er schob die unverschlossene Tür auf – er sperrte sie nie zu.
Es gab nichts in seiner Wohnung, das sich zu stehlen gelohnt hätte – nicht einmal der Fernseher funktionierte. Den einzigen Ordner, der verraten hätte, daß die Rechtswissenschaft nicht sein einziges Fachgebiet war, hatte er sorgfältig zwischen Steuerberater und Steuerbescheide auf dem Bücherregal versteckt. Es störte ihn nicht, daß sich überall Bücher stapelten oder daß er in den Staub auf dem Sideboard seinen Namen hätte schreiben können.
Scott schloß die Tür hinter sich und warf, wie immer, zuerst einen Blick auf das Bild seiner Mutter auf dem Sideboard. Er legte den Stoß Notizen, den er mitgebracht hatte, daneben und nahm die Post auf, die unter der Tür hervorschaute. Dann ließ er sich in einen alten Ledersessel auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers fallen und fragte sich, wie viele von diesen aufmerksamen Gesichtern seinen Vorlesungen in zwei Jahren noch folgen würden. Vierzig Prozent? Wäre nicht schlecht – aber dreißig Prozent waren wahrscheinlicher. Das würden jene sein, für die ein Vierzehnstundentag zur Regel wurde, nicht nur während der letzten Monate vor dem Examen. Und wie viele von denen würden letztlich den Maßstäben entsprechen, die der verstorbene Rektor Thomas W. Swann gesetzt hatte? Fünf Prozent, wenn er Glück hatte.
Der Professor des Verfassungsrechts wandte seine Aufmerksamkeit dem Bündel Post auf seinem Schoß zu. Ein Schreiben war von American Express – eine Rechnung mit den unvermeidlichen, unzähligen kostenlosen Angeboten, die ihn teuer zu stehen kommen würden, wenn er davon Gebrauch machte; eine Einladung der Universität Brown für die Charles-Evans- Hughes-Vorlesung über die Verfassung; ein Brief von Carol, die ihn erinnerte, daß sie schon geraume Weile nichts mehr von ihm gehört hatte; ein Rundschreiben von einer Börsenmaklerfirma, die ihm kein Vermögen versprach, aber ... und schließlich ein einfacher beiger Umschlag, in Virginia abgestempelt und mit einer Schreibmaschinenschrift, die er sofort erkannte.
Diesen Umschlag öffnete er als ersten und zog ein einzelnes Blatt mit seinen neuesten Anweisungen heraus.
Al Obaydi schritt durch den Plenarsaal der UNO-Vollversammlung und setzte sich auf einen Stuhl unmittelbar hinter seinen Vorgesetzten. Der irakische Delegierte hatte seinen Kopfhörer auf und tat so, als würde er interessiert dem Redner der brasilianischen Delegation lauschen. Al Obaydis Chef führte vertrauliche Gespräche gern im Saal der Vollversammlung, da er ihn für den einzigen Raum im UNO-Gebäude hielt, der nicht von der CIA abgehört werden konnte.
Al Obaydi wartete geduldig, bis der Altere einen der Kopfhörer zur Seite schob und sich leicht zurücklehnte.
»Sie haben sich mit unseren Bedingungen einverstanden erklärt«, murmelte Al Obaydi, als hätte er die Summe vorgeschlagen. Der Botschafter schob die Oberlippe vor. Seine Kollegen erkannten das als Zeichen, daß er nähere Einzelheiten hören wollte.
»Einhundert Millionen Dollar«, flüsterte Al Obaydi. »Zehn Millionen sofort. Die übrigen neunzig nach Erhalt der Ware.«
»Sofort?« erkundigte sich der Botschafter. »Was bedeutet ›so- fort‹?«
»Bis morgen mittag«, wisperte Al Obaydi.
»Zumindest hat Sayedi diese Möglichkeit vorausgesehen«, murmelte der Botschafter nachdenklich.
Al Obaydi bewunderte, wie sein Vorgesetzter es immer fertigbrachte, die Bezeichnung ›mein Gebieter‹ gleichermaßen ehrerbietig wie herablassend klingen zu lassen. »Ich muß eine Nachricht nach Bagdad senden, um dem Außenminister die Einzelheiten Ihres Erfolges mitzuteilen«, fügte der Botschafter lächelnd hinzu.
Al Obaydi hätte ebenfalls gelächelt, aber er wußte, daß der Botschafter auf keinen Fall mit dem Projekt in Zusammenhang gebracht werden wollte, während es sich noch im Anfangsstadium befand. Wenn er sich zum jetzigen Zeitpunkt von seinem jüngeren Kollegen distanzierte, konnte der UN-Delegierte sein Leben in New York ungestört weiterführen, bis er in drei Jahren in den Ruhestand trat. Mit dieser Taktik hatte er fast vierzehn Jahre Herrschaft des Saddam-Hussein-Regimes überlebt, während es vielen seiner Kollegen im diplomatischen Dienst nicht gelungen war, in den Genuß ihrer Pension zu kommen. Soviel er wußte, waren einer vor den Augen seiner Familie erschossen, zwei gehängt und mehrere andere für ›vermißt‹ erklärt worden, was immer letzteres auch bedeuten mochte.
Der irakische Botschafter lächelte höflich, als sein britischer Kollege an ihm vorbeiging, ohne das Lächeln zu erwidern.
»Snob«, murmelte der Botschafter.
Er zog den Kopfhörer wieder übers Ohr und gab seinem Untergebenen damit zu verstehen, daß er verabschiedet war.
Dann wandte er sich wieder den Problemen der Rettung des brasilianischen Regenwaldes zu, für die weitere hundert Millionen Dollar von der UNO locker gemacht werden sollten.
Was Sayedi herzlich wenig interessieren dürfte, dachte er.
Hannah hätte an der Tür des kleinen Reihenhauses angeklopft, doch diese wurde bereits geöffnet, noch ehe sie die beschädigte Gartentür am Ende des Weges geschlossen hatte. Eine dunkelhaarige Dame mit ein paar Kilo Übergewicht, einem etwas übertriebenem Make-up und einem strahlenden Lächeln kam ihr entgegen. Hannah schätzte, daß die Frau so alt war, wie ihre Mutter jetzt wäre.
»Willkommen in England, meine Liebe. Ich bin Ethel Rubin«, stellte die Frau sich überschwänglich vor. »Es tut mir leid, daß mein Mann nicht hier ist, um Sie zu begrüßen, aber er wird frühestens in einer Stunde aus seinem Amt fortkönnen.« Hannah wollte etwas sagen, als Ethel hinzufügte: »Aber kommen Sie erst mal herein. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer, und dann können Sie mir alles über Ihre Pläne erzählen.« Sie nahm eine der Reisetaschen und führte Hannah ins Haus. »Es muß schön sein, London zum ersten Mal zu sehen«, sagte sie, während sie die Treppe hinaufstiegen. »Es gibt so viel Aufregendes und Interessantes, was Sie in den sechs Monaten unternehmen können.«
Während die Worte nur so über Ethels Lippen sprudelten, wurde Hannah bewußt, daß die Frau nicht die leiseste Ahnung hatte, weshalb sie in London war.
Nachdem sie ausgepackt und geduscht hatte, gesellte Hannah sich zu ihrer Wirtin ins Wohnzimmer. Mrs. Rubin redete weiter wie ein Wasserfall und achtete kaum auf Hannahs sporadische Antworten.
»Wissen Sie, wo das nächste Fitneßcenter ist?« hatte Hannah gefragt.
»Mein Mann müßte jeden Moment heimkommen«, erwiderte Mrs. Rubin. Doch ehe sie den nächsten Satz herausbrachte, schwang die Haustür auf und ein Mann von etwa eins sechzig, mit dunklem, borstigem Haar und fast noch dunkleren Augen kam ins Zimmer gestürmt. Nachdem Peter Rubin sich vorgestellt und sich erkundigt hatte, ob ihr Flug gut verlaufen sei, verlor er keine Bemerkung in der Richtung, daß Hannah nach London gekommen sein könnte, um das Großstadtleben kennenzulernen. Hannah wurde rasch klar, daß Peter Rubin nur Fragen stellte, bei denen er mit einer wahrheitsgetreuen Antwort rechnen konnte. Hannah war zwar sicher, daß Mr. Rubin keine Einzelheiten ihrer Mission kannte, aber offenbar wußte er, daß sie nicht auf einer Pauschalreise nach London gekommen war, um Ferien zu machen.
Mrs. Rubin jedoch plauderte unentwegt, und es war weit nach Mitternacht, als Hannah schließlich todmüde ins Bett sank. Kaum berührte ihr Kopf das Kissen, schlief sie auch schon ein und erfuhr nicht mehr, daß Peter Rubin seiner Frau in der Küche klarzumachen versuchte, sie habe ihren zahlenden Gast in Zukunft in Ruhe zu lassen.
Der Botschaftschauffeur fuhr aus der UN-Privatgarage heraus und nach Westen durch den Lincoln-Tunnel unter dem Hudson in Richtung New Jersey. Eine Zeitlang blickte er regelmäßig in den Rückspiegel, ohne etwas zu sagen, und auch Al Obaydi schwieg. Sobald sie sich auf der Schnellstraße nach New Jersey befanden, erklärte er, daß ihnen niemand folgte.
»Gut«, war Al Obaydis knappe Antwort. Zum ersten Mal an diesem Tag konnte er sich ein wenig entspannen, und er malte sich aus, wie es wäre, wenn die zehn Millionen Dollar plötzlich ihm gehörten. Als sie kurz zuvor an einer Zweigstelle der Midlantic National Bank vorbeigekommen waren, hatte er sich zum x-ten Mal gefragt, warum er nicht einfach den Wagen anhielt und das Geld unter einem falschen Namen deponierte. Bis zum nächsten Morgen könnte er bereits die halbe Welt zwischen sich und New York gebracht haben. Das würde seinen Botschafter ins Schwitzen bringen. Und mit ein bißchen Glück war Saddam längst tot, bevor sie ihn erwischten. Wen würde es dann noch interessieren?
Al Obaydi glaubte nämlich keineswegs, daß der ungeheuerliche Plan seines hohen Gebieters durchführbar war. Er hatte gehofft, er könne Bagdad nach angemessener Zeit melden, daß niemand zu finden sei, der fähig und verläßlich genug für einen so kühnen Coup wäre. Und dann war der Libanese nach New York gekommen.
Für Al Obaydi gab es zwei Gründe, nicht einen Dollar des Geldes anzurühren, mit dem die Golftasche neben ihm auf dem Sitz vollgestopft war. Zum einen waren da seine Mutter und seine jüngere Schwester, die in relativem Wohlstand in Bagdad lebten. Falls das Geld plötzlich verschwand, würden sie verhaftet, vergewaltigt, gefoltert und gehängt – wegen Kollaboration mit einem Landesverräter. Nicht, daß Saddam je eine Ausrede brauchte, wenn er jemanden töten wollte, vor allem nicht bei jemandem, den er des Verrats verdächtigte.
Zum anderen hatte Al Obaydi – der sich fünfmal am Tag gen Osten auf die Knie warf und zu Allah flehte, Saddam endlich den Tod eines Verräters erleiden zu lassen – erkennen müssen, daß Gorbatschow, Thatcher und Bush viel größere Schwierigkeiten gehabt hatten, an der Macht zu bleiben, als der große Saye di.
Von dem Moment an, als der Botschafter ihm diesen Auftrag anvertraute, hatte Al Obaydi sich damit abgefunden, daß Saddam höchstwahrscheinlich einst friedlich in seinem Bett sterben würde, während seine eigenen Überlebenschancen – das Lieblingswort des Botschafters – gering waren. Und wenn das Geld übergeben war und Antonio Cavalli seinen Teil des Vertrags nicht erfüllte, würde es Al Obaydi sein, den man unter irgendeinem diplomatischen Vorwand nach Bagdad zurückrief, verhaftete, anklagte und aburteilte. Dann würden sich alle diese hehren Worte seines Professors an der Londoner Universität als Schall und Rauch erweisen.
Der Fahrer bog von der Schnellstraße in Richtung Newark-Mitte ab, und Al Obaydis Gedanken kehrten zur Bestimmung des Geldes zurück. Die Idee trug unverkennbar die Handschrift seines Gebieters. Sie war originell, erforderte Wagemut, Kühnheit, eiserne Nerven und mehr Glück als Verstand. Al Obaydi gab dem Plan nach wie vor höchstens eine Einprozentchance, überhaupt in die Startlöcher zu kommen – von einem Erfolg ganz zu schweigen. Aber wenn er es recht bedachte, hatten einige Leute im US-Außenministerium Saddam auch nur eine minimale Chance eingeräumt, die Operation Wüstensturm zu überleben. Und falls es dem großen Sayedi tatsächlich gelang, diesen Coup zu landen, würden die USA in aller Augen zum Gespött werden, und Saddams Platz in der arabischen Geschichte gleich neben Saladin wäre garantiert.
Obwohl Al Obaydi sich vergewissert hatte und genau wußte, wo sich das Haus befand, wies er den Fahrer an, zwei Blocks westlich davon anzuhalten. Ein Iraker, der direkt vor der Bank aus einer großen schwarzen Limousine stieg, würde Cavalli als Vorwand genügen, das Geld einzustecken und die Abmachung als null und nichtig zu betrachten. Als der Wagen angehalten hatte, kletterte Al Obaydi über die Golftasche auf den Bürgersteig. Er mußte zwar lediglich knapp zweihundert Meter zur Bank zurücklegen, doch dieses kurze Stück betrachtete er als kalkuliertes Risiko. Er schaute die Straße hinauf und hinunter. Erleichtert zog er die Golftasche aus dem Wagen und legte den Riemen über die Schulter.
Der Botschaftssekretär hatte das Gefühl, einen höchst seltsamen Anblick zu bieten, während er in einem maßgeschneiderten Anzug mit einer Golftasche den Martin Luther Drive entlangmarschierte.
Obwohl er keine zwei Minuten für die kurze Strecke benötigte, kam er schweißgebadet am Vordereingang der Bank an. Er stieg die abgetretenen Stufen hinauf und schritt durch die Drehtür. Zwei Bewaffnete empfingen ihn, die eher wie Sumo-Ringer als wie Bankangestellte aussahen. Der Besucher wurde rasch zu einem wartenden Fahrstuhl geleitet, dessen Tür sich schloß, kaum daß er eingetreten war, und die sich erst im Keller wieder öffnete. Als Al Obaydi ausstieg, sah er sich einem Mann gegenüber, der – falls das überhaupt möglich war – noch beeindruckender an Statur war als die beiden Bewaffneten, die ihn empfangen hatten. Der Hüne nickte und führte ihn zu einer Tür am Ende eines mit Läufern ausgelegten Ganges. Beim Näherkommen schwang die Tür auf, und Al Obaydi betrat einen Raum, in dem zwölf Männer erwartungsvoll um einen Tisch saßen. Obwohl sie dezent gekleidet waren und höflich schwiegen, sah nicht einer wie ein Schalterbeamter aus. Die Tür schloß sich hinter ihm, und er hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloß drehte. Der Gentleman am Kopf des Tisches erhob sich, um ihn zu begrüßen.
»Guten Morgen, Mr. Al Obaydi. Wir wurden informiert, daß Sie etwas für einen unserer Kunden zu deponieren haben.«
Der stellvertretende Botschafter nickte und händigte wortlos die Golftasche aus. Der Gentleman wirkte keineswegs überrascht. Er wußte aus Erfahrung, daß Wertsachen unter bestimmten Umständen in allen möglichen Gegenständen transportiert wurden, von Krokodilen bis zu Kondomen.
Was ihn allerdings überraschte, war das Gewicht der Tasche, als er sie auf den Tisch hob und den Inhalt auf die anderen elf Herren verteilte. Die Kassierer begannen rasch zu zählen und häuften ordentliche Bündel von je zehntausend Dollar vor sich auf. Niemand bot Al Obaydi einen Stuhl an; so blieb er die nächsten vierzig Minuten stehen, ohne irgendetwas anderes tun zu können, als zuzusehen, wie die Kassierer ihrer Arbeit nachgingen.
Als das gesamte Geld gebündelt war, prüfte der Hauptkassierer die Zahl der Bündel nach. Genau eintausend. Er lächelte, doch das Lächeln galt nicht Al Obaydi, sondern dem Geld. Dann erst blickte er auf, sah den Araber an, nickte knapp und bestätigte damit, daß der Mann aus Bagdad die Anzahlung korrekt geleistet hatte.
Danach gab man dem Botschaftssekretär die Tasche zurück, da sie nicht in der Abmachung inbegriffen war. Al Obaydi kam sich ein wenig lächerlich vor, als er sie sich über die Schulter schlang. Der Hauptkassierer drückte auf einen Knopf unter dem Tisch, und die Tür hinter ihm wurde aufgesperrt.
Einer der Bewaffneten, die Al Obaydi am Bankeingang empfangen hatten, wartete auf dem Kellergang, um ihn zum Parterre zurückzugeleiten. Als Al Obaydi auf die Straße trat, war sein Führer bereits verschwunden.
Mit einem gewaltigen Seufzer der Erleichterung spazierte Al Obaydi die zwei Blocks zu seinem wartenden Wagen zurück. Er gestattete sich ein zufriedenes Lächeln, weil er das Ganze auf so professionelle Weise über die Bühne gebracht hatte. Er war überzeugt, der Botschafter würde erfreut sein zu hören, daß alles glatt verlaufen war. Zweifellos würde er dafür sorgen, daß er den Löwenanteil der Lorbeeren erntete, wenn die Nachricht an Bagdad ging, daß ›Operation Wüstenruhe‹ angelaufen war.
Al Obaydi sackte auf dem Bürgersteig zusammen, ehe ihm bewußt wurde, was passiert war: Die Golftasche war ihm von der Schulter gerissen worden, bevor er reagieren konnte. Als er aufblickte, sah er zwei Jugendliche, von denen einer seine Beute an sich drückte, die Straße hinunterhetzen.
Der Botschaftssekretär hatte sich bereits gefragt, wie er sich der Tasche unauffällig entledigen könnte.
Tony Cavalli nahm am nächsten Morgen kurz nach sieben gemeinsam mit seinem Vater das Frühstück ein. Nach seiner Scheidung war er wieder in ihr Sandsteinhaus an der Ecke Park Avenue und Fünfundsiebzigste Straße gezogen. Seit er im Ruhestand war, verbrachte Tonys Vater die meiste Zeit damit, seinem lebenslangen Hobby nachzugehen: dem Sammeln von seltenen Büchern, Manuskripten und historischen Schriftstücken. Außerdem hatte er viele Stunden damit zugebracht, alles an seinen Sohn weiterzugeben, was er als Anwalt gelernt hatte, mit besonderem Augenmerk darauf, wie sich verhindern ließ, zu viele Jahre in einer der staatlichen Strafanstalten zu vergeuden.
Der Butler servierte Kaffee und Toast, während die beiden Männer Geschäftliches besprachen.
»Neun Millionen Dollar wurden auf siebenundvierzig Banken im ganzen Land verteilt«, erklärte Tony seinem Vater. »Eine Million habe ich auf ein Nummernkonto bei Franchard & Cie. in Genf auf den Namen Hamid Al Obaydi einzahlen lassen«, fügte er hinzu, während er sich Butter auf seinen Toast strich.
Der Vater lächelte, weil sein Sohn sich eines alten Tricks bediente, den er ihn vor vielen Jahren gelehrt hatte.
»Aber was wirst du Al Obaydi sagen, wenn er dich fragt, wie seine zehn Millionen verwendet werden?« erkundigte sich der inoffizielle Direktor von Skills.
Während der nächsten Stunden weihte Tony seinen Vater in alle Einzelheiten von Operation Wüstenruhe ein. Sein alter Herr unterbrach ihn nur hin und wieder mit Fragen oder Vorschlägen.
»Ist dem Schauspieler zu trauen?« erkundigte er sich, ehe er einen weiteren Schluck Kaffee nahm.
»Lloyd Adams schuldet uns noch etwas über dreißigtausend Dollar«, antwortete Tony. »Er hat in letzter Zeit nicht viele Angebote bekommen. Nur ein paar Aufträge für Werbespots.«
»Gut.« Cavallis Vater nickte. »Aber wie sieht es mit Rex Butterworth aus?«
»Er sitzt im Weißen Haus und wartet auf seine Anweisungen.«
Tonys Vater nickte. »Aber warum Columbus in Ohio?« wollte er wissen.
»Die chirurgischen Einrichtungen sind für unsere Zwecke ideal, und der Leiter der medizinischen Fakultät ist genau der richtige Mann. Wir haben Wanzen in seinem Büro und in allen Zimmern seines Hauses.«
»Und seine Tochter?«
»Wird rund um die Uhr observiert.«
Der Direktor benetzte sich die Lippen. »Also, wann drücken wir auf den Knopf?«
»Nächsten Dienstag, wenn der Papa in der Schule seiner Tochter eine programmatische Rede halten soll.«
Der Butler betrat das Zimmer und begann den Tisch abzuräumen.
»Und was ist mit Dollar Bill?« fragte Tony Cavallis Vater.
»Angelo ist bereits nach San Francisco unterwegs, um ihm die Sache schmackhaft zu machen. Wenn wir den Coup auf diese Art landen wollen, brauchen wir Dollar Bill. Er ist der Beste. Ich kenne niemanden, der ihm auch nur annähernd das Wasser reichen könnte«, fügte Tony hinzu.
»Solange er nüchtern ist«, gab der Direktor zu bedenken.
Der große, sportliche Herr stieg aus dem Flugzeug und begab sich zur Abfertigungshalle Inland des Washingtoner National Airport. Er reiste nur mit Handgepäck; darum brauchte er nicht an der Gepäckausgabe zu warten, wo ihn möglicherweise jemand erkennen würde. Nur einer sollte ihn erkennen – der Fahrer, der ihn abholte. Mit seinen eins dreiundachtzig, dem blonden, gekrausten Haar, den wie gemeißelt anmutenden Zügen, in hellblaue Jeans, cremefarbenes Hemd und dunkelblauen Blazer gekleidet, weckte er jedoch bei so manchen Frauen den Wunsch, mit ihm bekannt zu sein.
Die hintere Tür eines unauffälligen schwarzen Ford wurde für ihn geöffnet, kaum daß er durch die automatische Tür in die strahlende Vormittagssonne trat.
Er setzte sich wortlos auf den Rücksitz und schwieg auch während der fünfundzwanzigminütigen Fahrt, die ihn in die entgegengesetzte Richtung zur Hauptstadt brachte. Der dreiviertelstündige Flug verschaffte ihm immer die Gelegenheit, seine Gedanken zu sammeln und sich umzustellen. Zwölfmal im Jahr machte er diese Reise.
Das Ganze hatte begonnen, als Scott als Halbwüchsiger in seiner Heimatstadt Denver herausgefunden hatte, daß sein Vater gar kein geachteter Anwalt, sondern ein Winkeladvokat war, der immer eine Lücke im Gesetz finden konnte, wenn die Bezahlung stimmte. Seine Mutter hatte sich jahrelang bemüht, ihr einziges Kind vor der Wahrheit zu schützen, doch als ihr Mann verhaftet, unter Anklage gestellt und schließlich zu sieben Jahren verurteilt wurde, klang ihre gewohnte Erklärung, es könne sich nur um ein Mißverständnis handeln, nicht mehr überzeugend.
Sein Vater hielt es drei Jahre in der Strafanstalt durch, bevor er an einem Herzanfall starb, wie auf dem Totenschein stand, was jedoch die Würgemale an seinem Hals nicht erklärte. Wenige Wochen danach erlitt Scotts Mutter einen wirklichen Herzanfall, den sie nicht überlebte, während Scott mit seinem Jurastudium an der Georgetown-Universität am Ende seines dritten Jahres angelangt war. Noch während der Sarg seiner Mutter ins Grab gelassen und Erde darauf geschaufelt wurde, verließ er den Friedhof und erwähnte nie wieder seine Familie.
Als die Abschlußbewertungen bekanntgegeben wurden, erwies Scott Bradley sich als Bester seines Jahrgangs, und mehrere Universitäten sowie renommierte Anwaltskanzleien erkundigten sich nach seinen Zukunftsplänen. Zur Überraschung seiner Kommilitonen und Professoren bewarb Scott sich um eine unbedeutende Dozentur an der Universität Beirut. Er erklärte niemandem, warum er einen endgültigen Strich unter seine Vergangenheit ziehen wollte.
Bestürzt über das niedrige Bildungsniveau der Studenten an der Universität und gelangweilt vom gesellschaftlichen Leben begann Scott, die freie Zeit mit Kursen über alles Mögliche zu nutzen, von islamischen Religionen bis zur Geschichte des Nahen Ostens. Als die Universität ihm drei Jahre später den Lehrstuhl für amerikanisches Recht anbot, wurde ihm klar, daß es an der Zeit war, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren.
Der Leiter der juristischen Fakultät von Georgetown riet ihm in einem Brief, sich für einen zur Zeit vakanten Lehrstuhl in Yale zu bewerben. Scott schrieb gleich am nächsten Tag hin und packte sofort seine Koffer, als er die Antwort erhielt.
Wann immer die Frage nach seinen Eltern auftauchte, nachdem er seinen neuen Posten angetreten hatte, antwortete er automatisch: »Sie sind beide tot, und Geschwister habe ich keine.« Es gab einen bestimmten Typ Mädchen, der sich über diese Auskunft freute, da sie den Eindruck erweckte, Scott würde sich gern von ihnen bemuttern lassen. Mehrere von ihnen teilten denn auch sein Bett mit ihm, aber keines sein Leben.
Doch den Leuten, die ihn zwölfmal im Jahr zu sich riefen, verheimlichte er nichts. Sie konnten Täuschungen, gleich welcher Art, nicht dulden und waren außerordentlich argwöhnisch, was seine wirklichen Motive betraf, als ihnen die Straftaten seines Vaters zu Ohren kamen. Er sagte lediglich, daß er für die Ehrlosigkeit seines Vaters Wiedergutmachung leisten wolle, und weigerte sich, weiter auf dieses Thema einzugehen.
Anfangs glaubten sie ihm nicht. Nach einer Weile akzeptierten sie ihn, wie er war, doch es vergingen Jahre, ehe ihm die ersten geheimen Informationen anvertraut wurden. Erst als Scott mit Lösungen für Probleme im Nahen Osten aufwartete, die für den Computer zu kompliziert waren, erloschen die Zweifel an seinen Motiven. Clintons frisch vereidigter Regierungsmannschaft waren Scotts besondere Sachkenntnis und Erfahrungen höchst willkommen.
Zweimal war er bereits ins Außenministerium gerufen worden, um Warren Christopher zu beraten. Amüsiert hatte er verfolgt, wie der neue Außenminister in den Frühabendnachrichten eine Lösung vorschlug, die Scott ihm am Nachmittag unterbreitet hatte, um das Problem in den Griff zu bekommen, das sich durch Saddams Unterlaufung der Sanktionen ergeben hatte.
Der Wagen bog von der Bundesstraße 123 ab und hielt vor einem schweren Stahltor. Ein Wachmann kam, den Mitfahrer zu überprüfen. Obwohl die beiden Männer sich in den vergangenen neun Jahren regelmäßig immer wieder begegnet waren, ersuchte der Wachmann Scott um seinen Ausweis.
»Schön, Sie wieder mal zu sehen, Professor«, sagte er schließlich, ehe er ihm die Kennkarte zurückgab.
Der Wagen fuhr weiter zu einem unscheinbaren Bürogebäude. Der Fahrgast stieg aus und betrat das Haus durch ein Drehkreuz. Und wieder wurde sein Ausweis überprüft, ehe man ihn mit einem zackigen Gruß einließ. Er ging einen langen Korridor mit cremefarbenen Wänden hinunter bis zu einer Eichentür ohne Aufschrift, klopfte leise und trat ein, ohne auf das Herein zu warten.
Eine Sekretärin saß hinter einem Schreibtisch der Tür gegenüber. Sie blickte auf und lächelte. »Gehen Sie gleich hinein, Professor Bradley! Der stellvertretende Direktor erwartet Sie.«
Die Columbus-Mädchenschule in Columbus, Ohio, ist eine jener Lehranstalten, die gern ihre Disziplin und ihr hohes Leistungsniveau herausstellen, und zwar in dieser Reihenfolge. Die Direktorin erklärte den Eltern immer wieder aufs Neue, daß das zweite ohne das erste unmöglich sei.
Nach ihrer Meinung durfte nur unter wirklich außergewöhnlichen Umständen in Betracht gezogen werden, Schulregeln zu brechen. Das Gesuch, das sie soeben erhalten hatte, fiel in eine solche Kategorie.
An diesem Abend sollte T. Hamilton McKenzie, Vorstand der medizinischen Fakultät der Ohio State University, einer der größten Söhne, die Columbus hervorgebracht hatte, die Ansprache an die 1993er Abschlußklasse halten. Er hatte den Nobelpreis für seine Entwicklungen auf dem Gebiet der plastischen und wiederherstellenden Chirurgie erhalten. Über T. Hamilton McKenzies Operationen an Kriegsveteranen aus Vietnam und dem Golf war im ganzen Land berichtet worden, und es gab kaum eine Stadt, in der ihm nicht irgendjemand verdankte, daß er wieder ein normales Leben führen konnte. Einige mindere Sterbliche, die ihre Ausbildung unter dem Nobelpreisträger genossen hatten, benutzten ihre Fähigkeiten dazu, Damen ab einer gewissen Altersklasse schöner erscheinen zu lassen, als der Schöpfer es beabsichtigt hatte. Die Direktorin der Columbus-Mädchenschule war überzeugt, daß ihre Schülerinnen sich jedoch nur für die Arbeit interessieren würden, die T. Hamilton McKenzie für »unsere tapferen Kriegshelden«, wie sie es nannte, geleistet hatte.
Die Schulregel, die zu brechen die Direktorin zu diesem Anlaß gestattet hatte, betraf die Kleidung. Sie hatte zugestimmt, daß Sally McKenzie, die Sprecherin des Schülerbeirats und Kapitän der Lacrosse-Schulauswahlmannschaft, den Nachmittagsunterricht eine Stunde eher verlassen durfte, um angemessene Kleidung anzulegen, wenn sie ihren Vater zu seiner Ansprache am Abend begleitete. Schließlich hatte die Direktorin in der vergangenen Woche auch erfahren, daß Sally von einer nationalen Stiftung ein Stipendium für das Oberlin College erhalten hatte, um Chemie zu studieren.
Ein Mietwagenunternehmen war bemüht worden, Sally um sechzehn Uhr abzuholen. Dadurch würde sie eine Unterrichtsstunde versäumen, doch der Fahrer hatte zugesichert, Vater und Tochter um achtzehn Uhr an der Schule abzusetzen.
Als die Uhr an der Kapelle viermal schlug, blickte Sally von ihrem Pult auf. Die Lehrerin nickte, und Sally schob ihre Bücher in die Tasche. Sie verließ das Gebäude und ging die lange Einfahrt hinunter, dem Wagen entgegen, der sie abholen sollte. Als sie das alte schmiedeeiserne Eingangstor erreichte, bemerkte sie überrascht, daß das einzige wartende Auto eine Pullman-Limousine war. Ein Chauffeur in grauer Uniform mit Mütze stand an der Fahrertür. Sie wußte, daß ihr Vater nichts von einer solchen Extravaganz hielt und die Direktorin noch viel weniger.
Der Mann grüßte mit der Hand an der Mütze und erkundigte sich: »Miss McKenzie?«
»Ja«, antwortete Sally, leicht enttäuscht, daß ihre Schulkameradinnen wegen der langen gewundenen Einfahrt nichts sehen konnten.
Die hintere Tür wurde für sie geöffnet. Sally stieg ein und ließ sich in die luxuriöse Lederpolsterung sinken.
Der Chauffeur nahm auf dem Fahrersitz Platz, drückte auf einen Knopf, und die Scheibe, die Fahrer und Fahrgast trennte, glitt lautlos hoch, aber Sally hörte, wie die Verriegelung einrastete.
Nachdem sie einen Blick durch das getönte Seitenfenster geworfen hatte, hing sie ihren Gedanken nach und malte sich aus, daß dies ihr Lebensstil sein würde, wenn sie Columbus erst verlassen hatte.
Es dauerte eine Zeitlang, bis der Siebzehnjährigen bewußt wurde, daß der Wagen überhaupt nicht in die Richtung ihres Elternhauses fuhr.
Wäre das Problem eine Aufgabe in einem Lehrbuch gewesen, so hätte T. Hamilton McKenzie sofort gewußt, wie er vorgehen müßte. Doch als es wirklich geschah, warf er alle seine Prinzipien über Bord.
Hätte er einen der Psychiater an der Universität befragt, würde dieser ihm erklärt haben, daß viele heimliche Ängste, die er lange unterdrückt hatte, unter dem Druck dieser neuen Umstände an die Oberfläche drängten.
Daß er Sally, sein einziges Kind, vergötterte, war ebenso unübersehbar wie die Tatsache, daß seine Frau Joni ihm bereits seit vielen Jahren kaum noch etwas bedeutete. Doch die Entdeckung, daß er außerhalb des Operationssaals – seines eigenen kleinen Reichs – in Streßsituationen hilflos war, hätte er nie zugegeben.
T. Hamilton McKenzie war zuerst gereizt, dann aufgebracht und schließlich höchst verärgert, als seine Tochter an diesem Dienstag nachmittag nicht nach Hause kam. Sally war noch nie zu spät gekommen, jedenfalls dann nicht, wenn er etwas mit ihr vereinbart hatte. Die Fahrt von der Columbus-Schule hätte nicht länger als eine halbe Stunde dauern dürfen, nicht einmal im Stoßverkehr. Joni hätte Sally abgeholt, wenn ihr Friseurtermin nicht so spät gewesen wäre. »Julian konnte mich nicht eher zwischenschieben«, erklärte sie. Joni wartete mit allem bis zur letzten Minute und hatte auch diesmal erst kurz zuvor im Salon angerufen. Um sechzehn Uhr fünfzig rief T. Hamilton McKenzie in der Schule an, um sich zu erkundigen, ob es etwa eine unvorhergesehene Änderung gegeben habe.
Wir halten uns stets an unsere Abmachungen, hätte die Direktorin dem Nobelpreisträger gern geantwortet, beließ es jedoch bei der Bestätigung, daß Sally die Schule Punkt sechzehn Uhr verlassen und daß die Mietwagenfirma eine Stunde zuvor angerufen und versichert hatte, der Wagen werde pünktlich am Eingangstor warten.
Joni wiederholte immer wieder in ihrem Südstaatenakzent, der ihm einst so gut gefallen hatte: »Sie wird jeden Moment hier sein, wart’s ab. Auf unsre Sally ist Verlaß.«
Ein Mann, der am anderen Stadtende in seinem Hotelzimmer saß und jedes Wort mithörte, schenkte sich ein Bier ein.
Gegen siebzehn Uhr fing T. Hamilton McKenzie an, alle paar Sekunden aus dem Schlafzimmerfenster zu blicken, doch der Gartenweg zu ihrer Haustür blieb leer.
Er hatte gehofft, um siebzehn Uhr zwanzig aufbrechen zu können, denn in diesem Falle wäre nach seiner Ankunft in der Schule noch zehn oder fünfzehn Minuten Zeit. Falls seine Tochter nicht bald kam, mußte er ohne sie losfahren. Er erklärte seiner Frau, daß nichts ihn davon abhalten würde, um zwanzig nach fünf in sein Auto zu steigen.
Um siebzehn Uhr zwanzig legte T. Hamilton McKenzie die Notizen, die er sich für seine Ansprache gemacht hatte, auf das Dielentischchen und begann auf dem Gartenweg auf und ab zu marschieren und darauf zu warten, daß seine Frau und seine Tochter aus entgegengesetzten Richtungen auftauchen würden. Um fünf vor halb sechs war weder die eine noch die andere an seiner Seite, und von seiner berühmten Gelassenheit war nicht mehr viel zu spüren.
Joni hatte sich viel Zeit genommen, sich für diesen Anlaß passend anzuziehen, und war enttäuscht, daß ihr Mann es gar nicht zu bemerken schien, als sie in die Diele trat.
»Wir müssen ohne sie losfahren«, war alles, was er sagte. »Wenn Sally einmal Ärztin werden sollte, muß sie lernen, daß die Leute sterben, wenn man sie zu lange warten läßt.«
»Sollten wir nicht noch ein ganz kleines bißchen auf sie warten, Schatz?« fragte Joni.
»Nein!« brüllte er, und ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte er zur Garage. Joni sah die Notizen ihres Mannes auf dem Dielentischchen und steckte sie in ihre Handtasche, ehe sie die Haustür zuzog und den Schlüssel zweimal im Schloß drehte. Als sie die Straße erreichte, wartete ihr Mann bereits hinter dem Lenkrad und trommelte mit den Fingern auf den Schalthebel.
Schweigend fuhren sie zur Columbus-Mädchenschule. T. Hamilton McKenzie blickte in jeden Wagen, der Richtung Upper Arlington fuhr, um festzustellen, ob seine Tochter auf dem Rücksitz saß.
Ein kleines Begrüßungskomitee unter der Leitung der Direktorin erwartete die McKenzies an der Freitreppe der Schule. Die Direktorin ging dem berühmten Chirurgen entgegen, als er, gefolgt von seiner Frau, aus dem Wagen stieg. Die Augen der Direktorin wanderten über die beiden hinweg, auf der Suche nach Sally. Sie zog eine Braue hoch.
»Sally ist nicht nach Hause gekommen«, erklärte Dr. McKenzie.
»Sie wird bestimmt in ein paar Minuten hier sein, wenn sie nicht schon hier ist«, meinte seine Frau. Die Direktorin wußte, daß Sally nicht auf dem Schulanwesen war, hielt es jedoch für unhöflich, die Gemahlin des Ehrengastes zu verbessern, erst recht nicht, da sie eben einen Anruf von der Mietwagenfirma erhalten hatte, auf den sie sich noch keinen Reim machen konnte.
Um siebzehn Uhr sechsundvierzig betraten sie das Büro der Direktorin, wo eine junge Dame in Sallys Alter den Gästen trockenen Sherry und Orangensaft anbot. McKenzie erinnerte sich plötzlich, daß er vor lauter Aufregung seine Notizen auf dem Dielentischchen hatte liegen lassen. Er blickte auf die Uhr, mußte jedoch feststellen, daß nicht genügend Zeit blieb, seine Frau heimzuschicken, um die Unterlagen zu holen. Aber er hätte seine Vergeßlichkeit vor den Anwesenden ohnehin nicht gern zugegeben. Verdammt, dachte er. Halbwüchsige sind nie ein leichtes Publikum, und Mädchen sind immer am schwierigsten. Er bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen.
Um drei Minuten vor sechs schlug die Direktorin vor, sich auf den Weg in die Aula zu begeben, obwohl Sally immer noch nicht da war.
»Wir dürfen die Mädchen nicht warten lassen«, sagte sie. »Wir würden ihnen kein gutes Vorbild sein.«
In dem Augenblick, als sie das Büro verließen, nahm Joni die Notizen ihres Mannes aus ihrem Handtäschchen und reichte sie ihm. Zum ersten Mal seit sechzehn Uhr fünfzig wirkte er erleichtert.
Eine Minute vor sechs führte die Direktorin den Ehrengast auf die Bühne. Er beobachtete, wie die vierhundert Mädchen sich erhoben und applaudierten – »auf damenhafte Weise«, wie die Direktorin es genannt hätte.
Als der Applaus verklang, hob und senkte die Direktorin die Hände, um den Mädchen zu bedeuten, sich wieder zu setzen, was ihnen auch erstaunlich leise gelang. Dann trat sie an das Rednerpult und hielt, ohne schriftliche Notizen, eine Lobesrede auf T. Hamilton McKenzie, die gewiß selbst das Nobelpreiskomitee beeindruckt hätte. Sie sprach von Edward Zeir, dem Erfinder der modernen plastischen Chirurgie, von J. R. Wolte und Wilhelm Krause, und sie erinnerte ihre Schüler, daß T. Hamilton McKenzie die große Tradition dieser Männer fortsetzte, indem er diese noch junge Wissenschaft weiterentwickelte. Sie sagte jedoch kein Wort über Sally und ihre großartigen Leistungen in der Schule, obwohl das ursprünglich ihre Absicht gewesen war. Selbst die kürzliche Verleihung eines nationalen Stipendiums konnte eine Bestrafung bei der Verletzung von Schulregeln nicht verhüten.
Als die Direktorin an ihren Platz in der Mitte der Bühne zurückkehrte, trat T. Hamilton McKenzie zum Rednerpult. Er blickte auf seine Notizen, hüstelte und begann mit seiner Ansprache.
»Ich könnte mir vorstellen, daß viele von Ihnen, meine geschätzten Zuhörerinnen, der Meinung sind, plastische Chirurgie beschäftige sich hauptsächlich damit, Nasen zu verschönern und Doppelkinne sowie Tränensäcke zu entfernen. Ich kann Ihnen versichern, daß dies nicht plastische, sondern kosmetische Chirurgie ist. Plastische Chirurgie«, fuhr er fort – zur Enttäuschung der meisten seiner Zuhörerinnen, wie seine Frau vermutete –, »ist etwas anderes.« Dann sprach er vierzig Minuten lang von der Verpflanzung eigenen und tierischen Gewebes bei angeborenen und durch Verletzung entstandenen Entstellungen und bei Verbrennungen dritten Grades, ohne auch nur ein einziges Mal den Kopf zu heben.
Als er sich schließlich setzte, war der Applaus nicht ganz so laut wie bei der Begrüßung. T. Hamilton McKenzie nahm an, daß es wohl nicht »ladylike« gewesen wäre, hätten die Mädchen ihre Gefühle durch einen noch stärkeren Beifall zum Ausdruck gebracht.
Nachdem sie ins Büro der Direktorin zurückgekehrt waren, fragte Joni, ob Sally inzwischen von sich habe hören lassen.
»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete die Sekretärin, »aber vielleicht hat sie sich direkt in die Aula begeben.«
Während der Rede, von der Joni bereits mehrere hundert Versionen kannte, hatte sie den Blick immer wieder über jedes Gesicht im Saal wandern lassen; daher wußte sie, daß ihre Tochter nicht darunter gewesen war.
Auch jetzt wurde Sherry eingeschenkt, und nach einer angemessenen Weile erklärte T. Hamilton McKenzie, daß sie nun zusehen sollten, nach Hause zu kommen. Die Direktorin nickte und begleitete ihre Gäste zum Wagen. Sie dankte dem Chirurgen für die interessante und aufschlußreiche Rede und wartete auf den unteren Stufen der Freitreppe, bis der Wagen außer Sicht war.
»Ein solches Benehmen ist mir noch nie untergekommen«, sagte sie zu ihrer Sekretärin. »Sorgen Sie dafür, daß Miss McKenzie sich morgen vor der Andacht bei mir meldet. Ich möchte wissen, weshalb sie den Wagen abbestellt hat, den ich für sie angefordert hatte.«
Auch Scott Bradley hielt an diesem Abend eine Rede oder vielmehr eine Vorlesung, doch ihm hörten nur sechzehn Personen zu, von denen keiner unter fünfunddreißig und jeder ein höherer CIA-Agent war, dessen körperliche Verfassung sich mit jedem Profi-Footballspieler in Amerika messen konnte. Und als das Thema Logik zur Sprache kam, bezogen Scotts Ausführungen sich mehr auf deren praktische Anwendung als in seinen juristischen Vorlesungen in Yale vor den jüngeren Studenten.
Diese Männer waren allesamt an vorderster Front im Einsatz, in allen Winkeln der Erde. Professor Bradley forderte sie auf, jede Entscheidung, die sie unter Druck getroffen hatten, noch einmal in allen Einzelheiten zu überdenken und festzustellen, ob diese Entscheidungen zu dem ursprünglich erhofften Ergebnis geführt hatten.