Das vierte Buch über Andri - Pétur Gunnarsson - E-Book

Das vierte Buch über Andri E-Book

Pétur Gunnarsson

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Beschreibung

Übersetzt von Benedikt Grabinski. Über das Buch: Andri Haraldsson taucht in den frühen 1970er Jahren in einer Kommune der legendären Freistadt Christiania bei Kopenhagen auf. Er tut, was man damals so tat: Nimmt LSD (und begegnet einem Engel), diskutiert über Mao Tse-tung und Trotzki, sieht Filme von Jean-Luc Godard etc. Eine Freundin hat er auch, Bylgja, mit der er nach Reykjavík zurückkehrt. Dort wird er bald Vater. Um die Familie zu ernähren, geht er als Lehrer in die Provinz, wird jedoch alsbald wegen Rauschgiftbesitzes aus dem Schuldienst entlassen. Fortan führt Bylgja die Geschäfte und er den Haushalt. Der Schlussband der grandiosen Tetralogie über das Leben und Wirken von Andri Haraldsson bietet alles andere als einen festen Schluss, denn der Andri dieses Romans ist nicht durchgehend der der anderen. Es ist ein Spiel im Spiel: Der »neue« Andri ist offenbar sogar der, der die ersten drei Bücher geschrieben hat. So kann man Das vierte Buch über Andri genauso gut als das erste lesen, als den ersten Band eines der großen Klassiker der isländischen Literatur des späten 20. Jahrhunderts. »Die Andri-Tetralogie markiert eine literarische Zeitenwende. Die Romane fanden in Island Zuspruch, der erste Band wurde erfolgreich verfilmt. Mit Gunnarsson trat die Generation der nach 1944, nach der Proklamation der Unabhängigkeit Geborenen auf den Plan. Das Schaf war jetzt nicht mehr das Mass aller Dinge, stattdessen wurde die Stadt literarisches Thema.« Aldo Keel, NZZ

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Seitenzahl: 161

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Über das Buch

Andri Haraldsson taucht in den frühen 1970er Jahren in einer Kommune der legendären Freistadt Christiania bei Kopenhagen auf. Er tut, was man damals so tat: Nimmt LSD (und begegnet einem Engel), diskutiert über Mao Tse-tung und Trotzki, sieht Filme von Jean-Luc Godard etc. Eine Freundin hat er auch, Bylgja, mit der er nach Reykjavík zurückkehrt. Dort wird er bald Vater. Um die Familie zu ernähren, geht er als Lehrer in die Provinz, wird jedoch alsbald wegen Rauschgiftbesitzes aus dem Schuldienst entlassen. Fortan führt Bylgja die Geschäfte und er den Haushalt.

Der Schlussband der grandiosen Tetralogie über das Leben und Wirken von Andri Haraldsson bietet alles andere als einen festen Schluss, denn der Andri dieses Romans ist nicht durchgehend der der anderen. Es ist ein Spiel im Spiel: Der »neue« Andri ist offenbar sogar der, der die ersten drei Bücher geschrieben hat. So kann man »Das vierte Buch über Andri« genauso gut als das erste lesen, als den ersten Band eines der großen Klassiker der isländischen Literatur des späten 20. Jahrhunderts.

»Die Andri-Tetralogie markiert eine literarische Zeitenwende. Die Romane fanden in Island Zuspruch, der erste Band wurde erfolgreich verfilmt. Mit Gunnarsson trat die Generation der nach 1944, nach der Proklamation der Unabhängigkeit Geborenen auf den Plan. Das Schaf war jetzt nicht mehr das Mass aller Dinge, stattdessen wurde die Stadt literarisches Thema.«

Aldo Keel, NZZ

Über den Autor

Pétur Gunnarsson wurde 1947 in Reykjavík geboren. Nach einem Literatur- und Philosophiestudium in Frankreich etablierte er sich in Island als Schriftsteller und Übersetzer und gilt heute als Klassiker der isländischen Literatur. Die ersten drei Bände der Tetralogie um Andri Haraldsson sind ebenfalls bei CulturBooks als eBook und als Printversion im Weidle Verlag erhältlich.

Gunnarsson übersetzte u. a. Marcel Proust, Gustave Flaubert, Georges Perec, Claude Lévi-Strauss, Peter Handke. Auf Deutsch erschien 2011 außerdem sein Buch über seine Heimatstadt, »Reykjavík« (Suhrkamp).

Pétur Gunnarsson

Das vierte Buch über Andri

Roman

Aus dem Isländischen von Benedikt Grabinski

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

www.culturbooks.de

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Originalausgabe, »Sagan Öll«, erschien zuerst 1985 bei Punktar.

Pétur Gunnarsson hat den Text für die deutsche Ausgabe neu bearbeitet.

Deutsche Printausgabe: © Weidle Verlag 2014

Lektorat: Stefan Weidle

Korrektur: Kim Keller, Angelika Singer

eBook-Cover: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 1.12.2014

ISBN: 978-3-944818-68-9

Inhaltsverzeichnis

Teil I
Teil II
Teil III

In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben. Apostelgeschichte 2,17

I

1 Das Wohnzimmer der Kommune füllte sich rasch mit Menschen. Die Diskussionsthemen flogen durch den Raum, während man sich auf flachen Kissen und Polstern niederließ. Das neue Mädchen überlegte, ob man an der Uni nicht Mystik studieren und eine Abschlußprüfung in Tarot und Astrologie ablegen könne. Solla sagte, sie wolle ihr Psychologiestudium an den Nagel hängen und irgendwo auf dem Land Lehrerin werden. Man könne genausogut dort durchdrehen.

»So verrückt, an diesen Unis rumzuhängen«, lachte Svanur. »Es ist doch alles hier!« Er deutete auf seine Schläfe.

»Es geht nur darum, diesen Punkt zu erreichen.«

»Was genau machst du eigentlich?« fragte die Neue.

»Ich reise«, antwortete Svanur. Zwischen 20 und 30 Trips hatte er unternommen oder »eingeworfen«, wie er es nannte, konnte die Geschichte der Erde in groben Zügen nachzeichnen und lange Reden über Gott, die Sonne, Hitler halten – alles Einsichten, die er auf seinen Trips erworben hatte, folglich nannte er sich gerne »Reisender«.

»Gut, aber was studierst du?«

»Sprachwissenschaft«, antwortete Svanur.

Es war natürlich kaum traditionelle Sprachwissenschaft, die Svanur betrieb. Nach der planmäßigen Entregelung aller Sinne sah er ein System in allem. Ihm war die Offenbarung zuteil geworden, daß der Kern der Dinge zum Vorschein kommt, wenn die Sprache umgestülpt wird. Nun war er damit befaßt, Worte umzudrehen: Leben wurde Nebel, Koma Amok, Lage egal ...

»Anna«, dachte Svanur laut. »Du bist rückwärts genau gleich.«

Ebenso durcheinander wie die Gesprächs- gingen die übrigen Stoffe: Kaffee, Tabak, Stockfisch, Hasch.

Einem unergründlichen Naturgesetz zufolge gesellten sich stets neue Leute hinzu. Einmal kamen Isländer, die in Kopenhagen auf den Spuren ihrer Landsleute gewandelt waren und das Museum Árnasafn besucht hatten. Dort baten sie mit stockendem Atem darum, die Handschriften sehen zu dürfen. Aber das einzige, was sie zu sehen bekamen, war der Abscheu in der Miene des Museumsleiters und Professors Jón Helgason, während er in alle Richtungen deutend dozierte: »Dort auf diesem Schreibtisch steht eine sogenannte Schreibmaschine. Was ihr da an der Wand seht, wird Bücherregal genannt ...«

»Er hat sie nicht alle beisammen«, sagte die Frau entrüstet.

Ihr mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden sitzender Reisebegleiter lachte und klopfte sich auf die Schenkel. Die Umsitzenden musterten die beiden, als kämen sie von einem anderen Planeten. Die Frau mit Haarlack und Handtasche. So befremdend, den Mann im Anzug auf dem Boden sitzen zu sehen. Die engen Hosenbeine schoben sich hoch und legten die Waden zur Hälfte bloß. Er zog einen Flachmann heraus und bat darum, ihn herumgehen zu lassen, was sie taten, als handelte es sich um ein Fläschchen Lebertran: Mit zwei Fingern wurde er umgehend zum Nebenmann weitergereicht. Der Mann war Journalist und suchte nach Möglichkeiten einer Zusammenarbeit für eine Sendung über junge Leute, die nach Kopenhagen kommen und neue Erfahrungen sammeln, Rauschgift ausprobieren und an alternativen Wohnprojekten teilnehmen. Er stellte sich ein Hörspiel vor, möglicherweise auch in Form eines Gesprächs mit den jungen Leuten.

Andri entgegnete, an einem solchen Vorhaben nicht interessiert zu sein, erstens sei er nur Gast hier, und zweitens gebe es keinen Unterschied zwischen Brennivín und Haschisch, bestenfalls einen graduellen. Außerdem ginge es ihm gegen den Strich, eine Radiosendung zu machen, die ein bestimmtes Sendedatum hätte. Die Festlegung des Programms in von vornherein klar begrenzte Einheiten stehe im Widerspruch zum Leben und demzufolge der lebendigen Kunst.

Svanur: »Wir müßten das Radio einen ganzen Abend lang mit anderen zusammen gestalten dürfen.«

»Der Senderat würde das nie zulassen«, entgegnete der Mann entschieden.

»Natürlich nicht, das Radio ist ein Werkzeug der Bourgeoisie«, sagte Andri.

»Bei uns dürfen sogar die Kommunisten ihre Botschaft verkünden – würdet ihr mich und andere liberal Gesinnte ans Mikro lassen?« fragte der Journalist und lachte leise.

»Die Bourgeoisie kommt nicht ohne Arbeiterklasse aus«, konterte Andri. »Dagegen wird die Arbeiterklasse erst dann gedeihen, wenn es ihr gelungen ist, sich von der Bourgeoisie zu befreien.«

»Ich bin gegen Gewalt«, sagte der Liberale. »Wenn eine neue Gesellschaft auch nur ein einziges Menschenleben kostet, dann bin ich dagegen.«

Bei dieser Bemerkung konnten sie nur lächeln. Wie wenn ein Kind ein unbedarftes, aber faszinierendes Weltbild aufblitzen läßt.

»Die bürgerliche Gesellschaft wurde durch blutige Umstürze errichtet«, wiederholte Andri, »aufrechterhalten wird sie mit Kriegen und Ausbeutung in der ganzen Welt.

Demokratie ist nur ein Lied, das gepfiffen wird, solange es dem Kapitalismus gutgeht. Sobald es Schwierigkeiten gibt, wird die Platte umgedreht, und eine Blaskapelle spielt Militärmärsche.«

»Kinder, wart ihr nicht schon furchtbar lange nicht mehr zu Hause?« fragte die Frau.

Der Journalist deutete auf die Lederjacke mit Fransen, die Svanur trug, und sagte, um Annäherung bemüht, Davy Crockett habe auch so eine Jacke gehabt.

Svanur wies ihn aufbrausend zurecht, wie bürgerlich es sei, die Kleidung der Ureinwohner Amerikas mit diesem besagten imperialistischen Kümmerling in Verbindung zu bringen.

»Ob er so viel imperialistischer ist als die Zigarre, die du da rauchst?« fragte die Frau.

»Die Zigarre verschärft die Gegensätze in der proletarischen Atmosphäre, in der ich mich bewege«, antwortete Svanur, ganz in seinem Element: dem Zerpflücken von Worten und Aufdecken ihres ideologischen Hintergrunds. Das war auf nüchternen Magen zuviel für die Gäste, die sich zum Essen verabschiedeten.

Eiríkur und Magga kamen aus dem revolutionären Alltag herein, die Arme voller Flugblätter. Sie hatten sich gerade das Rote Frauenbataillon angeschaut, den ersten chinesischen Film, den die Bewohner der westlichen Welt seit der Kulturrevolution zu sehen bekamen. Eiríkur dachte nicht daran, sich auf eines der Kissen zu setzen, sondern holte zwei Stühle aus der Küche. Er hatte einen Herrenschnitt wie ein Schuljunge. Was aber immer noch nichts im Vergleich zu Magga war, die einen bis über die Knie reichenden Rock trug und, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen: einen Büstenhalter!

Folglich lag es nahe zu fragen, worin der Unterschied zwischen ihnen und Spießern bestehe. Die Antwort stand in der Mao-Bibel: »Der wahre Revolutionär bewegt sich im Volke wie ein Fisch im Wasser.«

»Fandet ihr den Film nicht wunderbar karg?« fragte Solla. »Nur ein Handschlag, wo bei uns Liebesszenen kommen.«

»Menschen, die die Revolution vollzogen haben, schmelzen nicht vor der Leinwand dahin«, sagte Eiríkur. »Sie schmelzen Stahl.«

»Genau. Und warum müssen Linke immer mit langen Haaren und Bart rumlaufen und kiffen?« fragte Magga.

»Eine kranke Gesellschaft bringt zunächst kranke Aufrührer hervor«, zitierte Andri Jean-Luc Godard.

»Was gibt es Neues von Doddi?« fragte Eiríkur, um nichts entgegnen zu müssen. Solla gab ihm die letzte Postkarte.

Nachdem er sie gelesen hatte, wanderte sie von einem zum anderen weiter. Aufgegeben war sie in Goa. Alle blickten tief in die Karte hinein, auf der Suche nach Antworten. Aber es wurden nicht mehr als zwei Worte, in Großbuchstaben:

HARE KRISCHNA

»Ein eindeutiges Zeichen von Disziplinlosigkeit«, sagte Eiríkur. »Es sah aus, als würde er sich zu einem kraftvollen Marxismus aufraffen, und dann landet er bei Mystik und Buddhismus.«

»Muß man den Satz des alten Mannes, daß der Klassenkampf die Triebfeder der Geschichte sei, nicht modifizieren? ›Klassenkampf und Cannabis‹ käme der Sache näher«, warf Bylgja ein.

Svanur sagte, er wolle alle Drogen nehmen, die man kriegen könne. Sich nichts entgehen lassen.

»Bei vielen habe ich den Verdacht, daß sie einfach nur krank vor Gier sind«, sagte Bylgja. »Diese Suche nach der ›höchsten Stufe‹ der Lehre des Kommunismus, dem Ultrakurs, der keine Kompromisse zuläßt, vollkommen dogmatisch und engstirnig. Ist das nicht dieselbe Neigung wie die, immer das neueste Auto zu besitzen?«

Andri wandte ein, so redeten nur Kleinbürger.

»Mein Vater ist Arbeiter«, lachte Bylgja. »Dein Vater ist der Großhändler.«

»Meine Mutter ist Arbeiterin«, fügte Andri schleunigst hinzu.

»Was sagt das schon. Alle Frauen sind Arbeiterinnen, sobald ihr Mann sie verläßt«, blaffte Bylgja, schob ihr Strickzeug in einen Beutel, erhob sich und erklärte, sie gehe ins Frauenhaus. Plakate standen waagerecht in der Luft, als sie die Tür zuknallte.

»Woman is the nigger of the world«, trällerte Solla.

»Habt ihr gelesen, wie Fromm in Analytische Sozialpsychologieund Gesellschaftstheorie Marcuse fertigmacht?« fragte Andri und trat so einen Hahnenkampf los. Die Mädchen rotteten sich in der Küche zusammen, die Jungen fühlten den Puls der Weltpolitik.

Während sie diskutierten, machte sich das Gefühl breit, die Welt würde sich wandeln, das Gefühl, sie würden die Welt mit ihren Worten verändern. Deshalb hörte niemand dem anderen zu, sondern alle kämpften darum, die Welt neu zu erschaffen, jeder nach seinem Ebenbild.

2 Es war eine weiche Landung. Nie zuvor hatte er sich so gelöst gefühlt, so unabhängig. Es schien, als wären alle Nebensächlichkeiten weggewischt worden und nur die Hauptsache blieb zurück: »Du bist du.« Mit Hilfe des Trips hatte er es geschafft, sich von seinem Selbst, das ihm täglich die Sicht versperrte, zu befreien. Wie ein Astronaut, der das Gravitationsfeld der Erde hinter sich gelassen hat und die wirklichen Ausmaße begreift, in denen sich der Planet zwischen Sternen und Monden hindurchbewegt. Er hatte sich selbst vollständig zurückerobert. Nun konnte er dem Blick seiner Vorbilder standhalten, die alle nur auf ihrer festen Bahn kreisten, wie Jupiter, Venus und Marx.

Gleich nachdem er gelandet war, lief er zu Bylgja, um die Erkenntnisse seiner Reise mit ihr zu teilen. Er spürte, daß die Unstimmigkeit des Vortages zwischen ihnen beiden tatsächlich daher rührte, wie nahe sie sich waren. Das ganze vergangene Jahr waren sie Tag und Nacht zusammengewesen. Sie waren eins geworden. Aber als sie ihre Freunde wiedersahen, erlebten sie sich erneut als zwei und den Verdruß, der damit einherging.

Anna, die tags zuvor angekommen war, saß völlig hingerissen seifenblasenpustend da. Sie wirbelte ganze Sonnensysteme in den Raum und verfolgte den Entwicklungsprozeß jeder einzelnen Welt, bis sie schließlich zerplatzte. Svanur war ganz darauf konzentriert, Flaschen aufzureihen, wobei er eine so innige Verbindung zur Materie herstellte, daß das Glas an den Nahtstellen ineinander zu verschmelzen schien und ein Flaschenturm entstand, zylindrisch und schief wie jener in Pisa.

In der Küche mixte man den Völkercocktail und sagte das Vaterunser auf, um den anderen einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die eigene Sprache klang. Solla kam durcheinander und fing dreimal wieder an.

»It’s much longer than the Swedish«, sagte das schwedische Mädchen beunruhigt. Sie trug eine Uniformmütze mit Hammer und Sichel und den Profilen der bedeutendsten Revolutionäre über dem Schirm.

Die Freie Stadt Christiania bestand aus verlassenen Armeekasernen, die von ein paar Hundert Hippies erobert worden waren. Die isländische Völkerschaft hielt einen Flügel des Sitzes der Kompaniechefs besetzt. Einige machten nur kurz Urlaub von den Strapazen zu Hause, so wie die älteren Generationen in Kur gingen. Andere wollten Wurzeln schlagen, Nahrungsmittel anbauen, Lederwaren produzieren und im angrenzenden Staate Dänemark verkaufen.

Andri stand auf und ging hinaus in die Kühle des Morgens. Draußen war keine Menschenseele. Nur Hunde und Katzen, die im Abfall schnüffelten, ohne sich ihrer Teilhabe an einem alternativen Wohnprojekt bewußt zu sein. Am Eingang traf er auf einen wohlwollenden Bürger mit Aktentasche. Dieser sprach ihn mit einem »Guten Tag« an und berichtete, er habe in den Zeitungen von der Freien Hippiestadt Christiania gelesen und sich prompt auf den Weg gemacht, um sie mit eigenen Augen zu sehen. Begeistert erzählte er, kurz nach 1920 an den ersten Zeltreisen teilgenommen zu haben.

»Wo wohnst du?« fragte der Mann.

»Ich wohne in Innenland«, sagte Andri.

»Innenland, aha«, sagte der Mann. »Wohnt es sich da gut?«

»Das Volkseinkommen ist unermeßlich und wird ohne Abzüge zu gleichen Teilen auf alle Einwohner verteilt«, antwortete Andri.

»Wo ist Innenland?« fragte der Mann.

»Innenland ist im Inneren«, entgegnete Andri.

Ganz offensichtlich hatte er die Prüfung bestanden. Der Mann und Andri verschmolzen in einem Handschlag. Da Andri ein wenig fester zudrückte, traten kleine Knoten auf den Schulterblättern des Mannes hervor. Als Andri noch ein weiteres Mal zudrückte, sprangen Flügel auf dem Rücken des Mannes auf, und er flog mit Hut und Tasche davon.

Die Kopfsteinpflasterstraßen sendeten das Absatzklappern der Jahrhunderte. Hinter der sichtbaren Stadt schlummerte die frühere Hauptstadt Islands. Wo genau, wußte er nicht, folglich war alles überall: das Haus, in dem der Unabhängigkeitsheld Baldvín Einarsson verbrannte, die Treppe, welche der Volksdichter Jónas Hallgrímsson hinunterstürzte, und die Kanäle, an welchen sich die isländischen Studenten betranken.

Nicht genug damit, daß ein Tag tausend Jahre währen wollte. Jeder Schritt war ein Kontinent. Von Zeit zu Zeit mußte sich Andri an eine Hauswand drücken, damit das

Beamtenbataillon vorbeiziehen konnte. Eine Flutwelle nach der anderen schwappte aus den Schlünden der Busse. Die tausendfüßige Büromaschine marschierte über Bürgersteige und Straßen, in Schaufenstern einen Blick auf ihr Spiegelbild erhaschend. Jeder einzelne ein Häftling in seinem Gesichtskäfig. Die Augen zwei Kanarienvögel, immer denselben kurzen Sprung vollführend – ohne zu bemerken, daß der Käfig offenstand. Es schien schließlich einfacher, das Leben so in Grenzen und Schranken zu halten, als im eigenen Seelentheater zu sitzen, in welchem die Lappalientrennwände eingerissen worden waren und ein Palast zum Vorschein kam – der Alltagspalast.

3 Das Frauenhaus in der Røddinggade war rosa angestrichen und mit Spruchbändern voller Schlachtgesänge wie FREIE ABTREIBUNG! behängt. Frauen saßen im Kreis auf Kissen und zimmerten einen Hühnerstall aus Worten. Streng genommen durften sich Männer hier nicht aufhalten, aber mit dem von weither gekommenen Schützling Bylgjas wurde eine Ausnahme gemacht. Hier drehte sich alles um Kvinde kend din krop. Den Körper der Frau. Der eine Art Kolonie war, welche das Patriarchat jahrhundertelang besetzt, definiert und dominiert hatte. Nun erklärte dieses Land seine Unabhängigkeit, nun waren seine Ressourcen für die Einheimischen selbst da. Dabei wurde so manches Recht wirksam, das sich Männer gar nicht vorstellen konnten, wodurch sich die Frau aber beglückend eigenständig machen konnte. Für alles Weitere stellten Samenbanken bereitwillig jene Kleinigkeit zur Verfügung, die der Mann dazugibt. Um den Rest kümmerte sich die Frau allein.

Hatte es nicht Symbolcharakter, daß einer der höchsten männlichen Götter der Zeit, John Lennon, zu einer Art Anhängsel wurde, wenn er sich in Embryonalstellung an seine Yoko Ono schmiegte? Gemeinsam schmetterten sie »Woman is the nigger of the world«, das vom Plattenspieler auf dem Bierkastenturm tönte.

Natürlich hätte er die Augen schließen und sich vor stellen können, er befände sich in Tausendundeiner Nacht. Aber es war aussichtslos. Um genau zu sein, war die Sexualität dem Zeitgeist geopfert worden. Jeans hatten Rock und Nylonstrümpfen den Garaus gemacht. Schlabbrige Wollpullover knöpften sich den Oberkörper vor. Mit Seife gewaschene Gesichter. Alles, was mit dem Ego zu tun hatte, war nur hinderlich. In Utopia China wurde ein ganzes Volk um seine Sexualität geprellt und der Trieb in militärische Eroberungen, Große Sprünge und das Eindringen in die Zukunft umgewandelt.

4 Anfang Sommer kündigten sie ihre Wohnung an ihrem französischen Studienort. Aber anstatt zurück nach Island zu gehen, beschlossen sie nach einem Kassensturz, bei welchem sie die Kosten für einen Heimflug von dem unsicheren Sommerlohn abzogen, sich auf die Beine zu machen. Immer der Nase nach, oder eher dem Daumen. Per Anhalter. Sie hatten sich ein Zweimannzelt gekauft und wollten nun ein ruhiges Plätzchen hinter den sieben Bergen finden, um zu zelten und zu lesen. Ihr Weg führte sie nach Italien, von Ort zu Ort und Stadt zu Stadt, je nachdem, wie der Wind stand und die Autos fuhren.

In der Ferne war Andri zu sehen. Wie eine Schnecke mit ihrem Haus auf dem Rücken. Das Zelt war auf den Rucksack geschnürt, der Schlafsack darunter. Darin war das Erbe des Abendlandes im Taschenbuchformat, vermischt mit Kochutensilien.

Kleine Ortschaften läßt man schnell hinter sich, sie haben nur eine geringe Anziehungskraft. Dieselbe Straße führt hinein und hinaus. Hingegen braucht man oft einen ganzen Tag, um eine Großstadt zu bewältigen.

Bylgja schnitt und bestrich Brote, während Andri die Angel nach Autos auswarf. Als sich Andri zum Essen setzte, löste Bylgja ihn beim Ködern ab. Nahezu umgehend hatte ein riesiger LKW angebissen, gab aber wieder Gas, als sich herausstellte, daß die Sache einen Haken hatte.

»Du wärst schon einmal um die Erde, wenn du allein wärst.«

»Oder unter derselben«, entgegnete Bylgja.

»Wie ist das, eine Frau zu sein, ich meine, ein Mann hat einen Traum, und den erfüllt ihm die Frau. Wohin sie auch kommt, öffnen sich Tür und Tor. Sie muß nur mit den Hüften wackeln, und die Eisenbahn macht eine Vollbremsung.«

»Wie gefiele es dir, wenn niemand in dir das sähe, was du bist?« fragte Bylgja. »Du wärst vielleicht Doktor der Philosophie oder Architekt, aber alles, was du von der Hälfte der Menschheit zu hören bekämest, wäre: ›Wahnsinn, hast du eine heiße Nase, darf ich dir in der Nase bohren?‹«

»Na ja«, machte Andri. »Diese Frauensachen sind vielleicht vorübergehend aus der Mode, aber wenn es darauf ankommt, stützen sich Frauen immer noch auf die Sexkrücke.«

Ihr Zank fand ein unerwartetes Ende, als ein Auto stoppte und der Fahrer fragte, ob sie per Anhalter unterwegs seien.