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Pétur Gunnarsson

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Beschreibung

Übersetzt von Benedikt Grabinski. Pétur Gunnarsson erzählt eine isländische Kindheitsgeschichte, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in Reykjavík beginnt. Sie erzählt von Andri Haraldsson, der in einer Zeit von Brüchen aufwächst: Die amerikanische Kultur mit ihren Lockungen legt sich über die isländische. So lebt er in zwei Welten, die nicht recht zu einer werden wollen, wohl aber zu seiner. Sein Heranwachsen wird in einzelnen Miniaturen geschildert, von den ersten Wahrnehmungen bis zur ersten Liebe. Die Schulzeit in Reykjavík, Ferien auf dem Lande, der Tod des Großvaters und John F. Kennedys, erste Kinobesuche, erwachende Sexualität. Eingebettet sind diese Miniaturen in durchaus kritische Beschreibungen des weltpolitischen Geschehens wie des gesellschaftlichen Lebens. »›punkt punkt komma strich‹ ist ein Buch, das die moderne isländische Literatur maßgebend verändert hat – sowohl mit seinem Bild von der jungen Stadt Reykjavík wie auch mit seinem wunderbar ironisch leichtfüßigen Humor. Pétur Gunnarsson zeichnet ein Mosaik aus Miniaturen und erzählt gleichwohl eine klassische Geschichte. « Halldór Guðmundsson »Weniger was Gunnarsson erzählt, macht diesen Roman so faszinierend, inspirierend und hochamüsant, sondern viel mehr wie er es erzählt: Voller treffender Bilder und Vergleiche, und in kurzen, wahren Sätzen, die man sich übers Bett hängen möchte.« Antje Deistler, WDR

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Über das Buch Pétur Gunnarsson erzählt eine isländische Kindheitsgeschichte, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in Reykjavík beginnt. Sie erzählt von Andri Haraldsson, der in einer Zeit von Brüchen aufwächst: Die amerikanische Kultur mit ihren Lockungen legt sich über die isländische. So lebt er in zwei Welten, die nicht recht zu einer werden wollen, wohl aber zu seiner. Sein Heranwachsen wird in einzelnen Miniaturen geschildert, von den ersten Wahrnehmungen bis zur ersten Liebe. Die Schulzeit in Reykjavík, Ferien auf dem Lande, der Tod des Großvaters und John F. Kennedys, erste Kinobesuche, erwachende Sexualität. Eingebettet sind diese Miniaturen in durchaus kritische Beschreibungen des weltpolitischen Geschehens wie des gesellschaftlichen Lebens.

»›punkt punkt komma strich‹ ist ein Buch, das die moderne isländische Literatur maßgebend verändert hat – sowohl mit seinem Bild von der jungen Stadt Reykjavík wie auch mit seinem wunderbar ironisch leichtfüßigen Humor. Pétur Gunnarsson zeichnet ein Mosaik aus Miniaturen und erzählt gleichwohl eine klassische Geschichte.« Halldór Guðmundsson

»Weniger was Gunnarsson erzählt, macht diesen Roman so faszinierend, inspirierend und hochamüsant, sondern viel mehr wie er es erzählt: Voller treffender Bilder und Vergleiche, und in kurzen, wahren Sätzen, die man sich übers Bett hängen möchte.« Antje Deistler, WDR

Über den Autor Pétur Gunnarsson wurde 1947 in Reykjavík geboren. Nach einem Literatur- und Philosophiestudium in Frankreich etablierte er sich in Island als Schriftsteller und Übersetzer.

»punkt punkt komma strich« war sein erster Roman, er erschien 1976 und ist heute ein Klassiker der isländischen Literatur. Das Buch wurde 1981 von Þorsteinn Jónsson verfilmt. Der zweite und dritte Band der Tetralogie um Andri Haraldsson erscheinen in den nächsten Monaten bei CulturBooks als eBook und sind als Printversion im Weidle Verlag erhältlich. 

Gunnarsson übersetzte u. a. Marcel Proust, Gustave Flaubert,Georges Perec, Claude Lévi-Strauss,Peter Handke.Auf Deutsch erschien 2011 außerdem sein Buch über seine Heimatstadt, »Reykjavík« (Suhrkamp).

Pétur Gunnarsson

punkt punkt komma strich

Roman

Aus dem Isländischen von Benedikt Grabinski

ImpressumeBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014www.culturbooks.de Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg Tel. +4940 31108081, [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Die isländische Originalausgabe, »punktur punktur komma strik«, erschien zuerst 1976 bei Iðunn. Eine Neuausgabe erschien 2008 bei Forlagið. Deutsche Printausgabe: © Weidle Verlag 2011 Lektorat: Stefan Weidle Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel
II. Kapitel
III. Kapitel
IV. Kapitel
V. Kapitel
VI. Kapitel
VII. Kapitel
VIII. Kapitel
Zur Aussprache des Isländischen
Anmerkungen

I.

1 Das Schiff hatte kaum das Land geküßt, als der Matrose von Bord sprang, geradewegs in die Bäckerei lief und gleich darauf mit der Verkäuferin erschien, trotz des heftigen Einspruchs einer Frau um die Sechzig, die drohend die Fäuste hinter ihnen schüttelte, als sie um die Ecke verschwanden.

Er genoß es, das Knarren der Treppe wiederzuhören, die Frau zu spüren, wie sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel wühlte. Schaute sich im Zimmer um und fand allmählich sein Gleichgewicht. Verlor es wieder, als er sah, daß sein Bild vom Tisch verschwunden war.

»Fahrt ihr wieder nach Hamburg?« fragte die Frau, während sie das Bettzeug zusammenlegte.

»Sobald das Schiff klar ist.«

»Willst du Kaffee oder Tee?«

Der Mann ließ sich beides durch den Magen gehen, kam aber zu keinem Ergebnis.

»Kakao?« fügte die Frau hinzu.

»Ja, danke«, sagte der Mann und meinte Kaffee, aber die Frau ging in die Küche und machte Kakao. Er blieb im Mantel sitzen und ließ den Kopf hängen oder spähte im Zimmer umher, sprang auf und beugte sich zu einem Foto hinunter. Als die Frau hereinkam, richtete er sich auf, pfiff verlegen ein Liedchen, strich sich durch den Haarschopf und knöpfte seinen Mantel zu. Sie sah ihn forschend an, stellte das Tablett ab und bat ihn, sich zu bedienen. In seinem Gesicht lag etwas wie eine unerfüllte Lustlosigkeit, dann ging er über alltägliches Durchschnittsbenehmen hinaus, zog sie zu sich heran und küßte sie, während sie die Finger ihrer rechten Hand auf seinen Hinterkopf legte – ganz so, wie es in Filmen vor dem Zweiten Weltkrieg üblich war.

2 Ganz anders als in Kinofilmen war die Szene völlig kunstlos – der Mann mit einer Socke. Eine Kamera hätte sich nicht entscheiden können, ob sie ineinander verschmolzen oder sich voneinander abspalteten. Die Gardinen versuchten mit aller Kraft, das Licht im Zaum zu halten. Die Schallwellen kamen nicht mehr mit. Der heiße Kakao dampfte ziellos in die Luft.

Draußen auf der Straße war der Herbst gekommen – langsam ließ das Leben die Blätter aus seinem Griff, sie erröteten, schrumpften zusammen und machten sich auf den Weg Richtung Erde: gefingert, gefiedert, gelappt und gezahnt. Die Menschen trieben mit dem Strom der Straßen, ohne zu ahnen, was vor sich ging, die Zeitungsjungen riefen nicht: »Ein Mann und eine Frau lieben sich am hellichten Tage!«, sondern jene Nachrichten, die in Redaktionsstuben unten in der Stadt gemacht werden: »Frau beißt Hund!« Alle schienen sich mit Leichtigkeit in der Atmosphäre des Augenblicks zu bewegen. Als wäre nichts selbstverständlicher, trugen die Männer Hüte, Schirmmützen und Pomade, die Frauen Kostüme mit Handschuhen und Handtaschen, das Haar hochgesteckt. Die Zeit, die umsonst zu sein schien und sorglos – dreißig Jahre später war sie rar geworden und in Filme zurückgeholt, es kostete Millionen, um aus ihr Autos, Kleidung und Frisuren herauszupräparieren. Wie kann der Haferschleim von heute zur Feinkost von morgen werden? In zehn Jahren ist dieser Augenblick Teil einer Epoche: Man wählt Menschen, Frisuren und Schlager, um uns einen Hintergrund zu geben. Dennoch wissen wir, daß nie irgend etwas passiert ist, und selbst wenn alles passiert ist, ist es doch so weit weg oder nah, daß es scheint, als wäre es nie passiert. Als würde die Zeit nicht wirklich, bevor sie vorbei ist – als lebten die Menschen erst auf, wenn sie tot sind.

3 Als die Frau ins Bad gegangen war, streckte sich der Mann nach der Zeitung und blätterte in den Kinoseiten. Er war ganz überrascht, wie gut alles gelaufen war. Während der gesamten Fahrt hatte es auf ihm gelegen wie ein Elefant auf einer Mücke, war ihm gefolgt, wohin er auch ging, hatte nicht gezögert, ihn auf die Toilette zu begleiten. Manchmal lag er in der Koje, riß die Augen auf und sah es, preßte sie wieder zu und sah es immer noch. Ein dänisches Sprichwort vergleicht die Verlobungszeit mit einem Berg in der Ferne, das Eheleben mit dem Besteigen des Berges selbst: Anstelle des Bergblaus ist Geröll und Gestein getreten, mit der Aussicht auf andere Berge.

Die Frau sang durch die Nase, während sie sich wusch. Jeder Handgriff saß, zu jeder Bewegung gehörte ein bestimmtes Mienenspiel, als wäre das Gesicht die Schaltstelle der Körpermuskeln. Blitzschnell bürstete sie sich das kurze Haar und sah in den Spiegel.

Als der Mann ihre Schritte hörte, legte er die Zeitung eilig beiseite, wahrscheinlich von Filmen beeinflußt, die das Rauchen anpreisen.

Die Frau kroch unter die Decke, küßte den Mann und fragte:

»Was denkst du?«

Obwohl das eher eine Atemübung als eine Frage ist, nahm der Mann sie entgegen und schien nachzudenken.

»Gott, man wird mich feuern«, sagte die Frau gleichgültig.

»Was soll man schon denken?« dachte der Mann laut.

»Guðbjörg?« kicherte die Frau.

Der Mann ließ sich anstecken, sie erinnerten sich an das, was in der Bäckerei passiert war, zusammenhanglos und kichernd.

»Ásta«, sagte der Mann plötzlich, »wir heiraten.«

»Haraldur«, sagte sie protestierend.

»Ásta!« sagte er vorwurfsvoll.

»Du weißt doch, wie das läuft«, seufzte sie.

»Nein«, sagte er entschieden und begann Vínarbrauð in sich hineinzustopfen. »Wir fangen ein neues Leben an.«

Die Frau setzte sich auf und ließ den Kopf hängen.

»Ich weiß, ich war ein Mistkerl«, sagte er, um ihr entgegenzukommen. Sie schwiegen und wägten die Sätze ab, die sie gesprochen hatten.

»Wir sind so unterschiedlich, du willst immer bestimmen, ich ...«

»Müssen wir zurückschauen auf das, was war?« unterbrach er. Fuhr dann fort wie in einem Hörspiel:

»Vielleicht gibt es jemand anderen.«

»Ich will einfach nur ich selbst sein und auf eigenen Beinen stehen«, sagte die Frau, während sie sich ihre Unterhose anzog.

Er staunte, daß eine so kleine Hose Platz für so viel Fleisch bieten sollte.

»Ich sehe nicht, wieso das ein Problem sein soll.«

»Binna und ich wollen auf die Kunsthochschule«, sagte sie leise.

»Binna und Du? Wohin?«

»Nach Kopenhagen«, sagte die Frau und zwinkerte mit den Augen.

»Kopenhagen! Du weißt gar nicht, worauf du dich da einläßt, Ásta!«

Sie saß nicht länger still wie eine Statue, strich ihm durchs Haar und verwandelte gleichzeitig ihn in eine. In Gedanken griff er nach einem Strohhalm nach dem anderen, sank aber immer tiefer. Obwohl sie ihn beinahe schachmatt gesetzt hatte, begann sie auf Remis zu spielen. Ungefähr als sie ihre Dame opferte, hatten sie sich wieder hingelegt.

4 Haraldur saß am Küchentisch, schlürfte Kaffee und las die Stellenanzeigen: Im Krónan fehlten Kassierer.

»Sitz still«, bat Ásta und fing an, ihn zu zeichnen.

»Uns fehlen Radierer«, versprach er sich und fand, sie betonte seine Geheimratsecken zu sehr.

Ásta wollte ins Kino gehen, sie hatten sich anscheinend versöhnt. Sie zögerte dennoch nicht, ihn als Mistkerl zu bezeichnen. Jemand klopfte, Binna kam herein und war überrascht, Haraldur zu sehen. Sie war ihm offensichtlich schon einmal begegnet und konnte nicht verbergen, wie sehr es sie enttäuschte, ihn wiederzusehen. Haraldur stieß die Kaffeetasse um, als er sie begrüßte.

Wenn sie irgendein Anliegen gehabt hatte, so war dieses nun vergessen, sie sagte zwei, drei Sätze über dieses und jenes und ging. Es herrschte bedrücktes Schweigen. Ásta schaltete das Radio an: Django Reinhardt spielte Black and White. Mitten im Lied unterbrach der Sprecher die Sendung und sagte, der Weltkrieg sei ausgebrochen.

5 Tagein, tagaus bemühen sich die Leute, das Leben im rechten Maß zu halten, sich in ihrem Geschlechtstrieb nicht zu verausgaben, nicht auf dem Rasen zu laufen und die Hand beim Husten vor den Mund zu halten. Eines schönen Tages ist Krieg: Wo es vorher keinen Groschen gab, um Schaukel und Wippe zu kaufen, sprießen Panzer und Flugzeuge aus dem Boden. Städte, die Generationen zusammengeschustert haben, werden dem Erdboden gleichgemacht. Menschenleben in den Schmutz getrampelt. Millionen, die stets alltägliches Durchschnittsbenehmen gezeigt, gebetet und achtgegeben haben, sich nicht in die Politik einzumischen – nun werden sie mit ihren Wurzeln ausgerissen und zur Hölle geschaufelt.

Sogar auf Island wütete der Weltkrieg, in Zeitungen und Diskussionen. Eines Morgens wachten die Menschen in einem besetzten Land auf, gingen in die Stadt hinunter und glaubten, in einem Filmstudio zu sein. Bald war das allerdings zum Normalzustand geworden: Der Mensch lebt immer in Selbstverständlichkeiten.

Haraldur und Ásta machten mit Finnur und Rúna einen Ausflug. Der Geysir, der auf Briefmarken und Postkarten so majestätisch sprudelte, regte sich nicht, trotz der Seife, aber der Gullfoss schäumte auf seiner rasanten Reise das Land hinunter.

Im Ausland gibt es Kirchen, Burgen und Kanonen als Zeugen dessen, was sich ereignet hat. Auf Island gibt es keinen autorisierten Zeugen: Der Wind zählt nicht. Wie konnte diese Landschaft zum Schauplatz für Heldensagen werden? Die Grünstreifen können kaum ein Schaf nähren, Seehunde strecken ihre Köpfe aus dem Wasser wie Fragezeichen.

In Skálholt bewegte sich nichts außer der Wäsche auf der Leine; ein rotes Pferd schlief im Morast, die Moore schnieften. Dagegen lagen im Drosselwald die Kommunisten, und Brynjólfur Bjarnason hielt eine Rede im Wettstreit mit einer Drossel. Er sprach über den Krieg, der draußen in der Welt tobte, ganze Völker würden in die Kriegsstiefel getrieben, »weil Kriege und Krisen die Jahreszeiten des Kapitalismus sind«.

Finnur und Haraldur forderten sie auf mitzukommen. Auf dem Weg zu den Þingvellir stritten sie über Politik. Finnur war ein Nazi; Haraldur fand es besorgniserregend, daß die zivilisierte Welt untereinander kämpfte, anstatt sich vereint gegen die Russen zu wenden. Rúna sagte, ihr bedeute das nichts, sie sei immer mit dem letzten Redner einer Meinung. Ásta widersprach.

»Wie kannst du für diese Hunde Partei ergreifen?« fragte Haraldur wütend. »Schau dir Finnland an, schau dir Polen an!«

»Haben Arbeiter nicht das Recht, sich zu wehren?« fragte Ásta.

»Das sind nur Binnas Phrasen«, entgegnete Haraldur, »dein Vater ist Arbeiter, und trotzdem wählt er die Unabhängigkeitspartei.«

Ásta schaute aus dem Fenster und sah, wie der Frühlingstag im Sande verlief.

Die Þingvellir erinnerten an ein Theater, das wegen Sommerferien geschlossen ist.

6 Der Herbst ist die Zeit der Verse, und aus allen Richtungen drängten blökende Lastwagen herbei, voll beladen mit jenem Teil der Isländer, der als Vieh klassifiziert wird. Mit den Nasen voller Heidekraut und der Symphonie des Sommers in den Ohren, löste sich dieser auf dem Schlachthofplatz ein letztes Mal in Individuen auf – dann setzte ein unumkehrbarer Prozeß ein, begleitet von immer heftigerem Blutgestank, bis er zu Güteklassewurst, -lammfleisch, -schafsköpfen und -fellen im Freihafen geworden war.

Der Unterschied zwischen ihr und einem Schaf lag zum Beispiel darin, daß sie ihren Wollpullover ausziehen konnte, während das Schaf in seinem festsitzt. Ansonsten war sie ein träges Säugetier, das Kreuzworträtsel löste. Ein anderes Wort für Tinte mit drei Buchstaben? Sie legte die Zeitung beiseite, wischte einen eingebildeten Krümel weg und starrte in die karierte Decke. Vor einigen Stunden hatte sie Zigaretten geraucht und Lebenspläne skizziert. Nun existierte sie nicht mehr, ein anderer Mensch hatte begonnen, in all ihre Vorhaben hineinzuwachsen, ohne zu ahnen, welche Ereignisse ihm bevorstanden: Mochte das Innere des Mutterleibes auch ereignislos sein, draußen war doch ein Weltkrieg.

Überall ist Platz, um dies zu tun; um ein Kind großzuziehen, braucht es eine Kiste und Nahrung. Der Mensch ist das einzige Wesen im Biosystem, das dieses Problem noch nicht gelöst hat, sogar Insekten buddeln ein Loch und wohnen darin, instinktiv. Obwohl die Menschen alle im selben Boot sitzen, tun manche so, als besäßen sie die Ruder, und weigern sich, diese zu verleihen, es sei denn, sie bekommen den Fang. Der Rest kann froh sein, sich einen Körper leihen zu dürfen und einen Tag dazu.

7 Die Kinofilme schufen einen Mythos, in dem alles zusammenpaßte: Ein Mann im Trenchcoat mit hohem Kragen, Lederhandschuhen und dünnem Oberlippenbart. Die Frau in einem hellen Popelinemantel, das Haar in Locken den Rücken hinuntergewellt, die Lippen rot, der Blick verträumt, aber gleichzeitig voll kämpferischer Untergebenheit der weiblichen Natur. Der Erzählstrang entspann sich entlang der Umwege der Gefühle.

Nun war jeder Film ein Beitrag zum Krieg: Obwohl Bertrand ein Adelsmann war und Helen eine Kellnerin, hatte sie dennoch sein Leben gerettet und konnte auch hehre Gefühle haben. Die Zuschauer hatten die Hoffnung gehegt, die beiden könnten zueinanderfinden, bis die Nazis diese Hoffnung zunichte machten. Der Film endet, als die Platzanweiserin mit ihrer Taschenlampe den Saal entlangstolziert und anfängt, an den Türen herumzumachen, während Bertrand am Fallschirm über Deutschland schwebt und den Rädelsführer ausfindig zu machen versucht.

Draußen herrschte dichter Londonnebel wie im Film. Haraldur schwebte am Fallschirm, Ásta hingegen war kurz nach der Pause getötet worden und fühlte sich nun wie eine Kopie, nachdem sie Bertrand und Helen dabei zugesehen hatte, wie diese durchlebten, was sie für ihr und Haraldurs Privatleben hielt. Letzterer hatte seine Hand durch ein Loch in ihrer Manteltasche gesteckt und strich über die Kugel, in der sich ihr gemeinsames Kind kuschelte. Sie waren kein Mythos, der Lebensunterhalt bereitete ihnen mehr Sorgen als ihre Gefühle. Das Land hatte sich in einem Augenblick aus einem Wer-hat-ein-schöneres-Vaterland in Bargeld und einen Ankerplatz für Kriegsschiffe verwandelt. Haraldur verdiente abends mit Taxifahren ein bißchen nebenher. Siebzigtausend frauenlose Soldaten in einem Land, das etwa hunderttausend Leute zählte, und nichts anderes blieb einem Soldaten und einem Mädchen zu tun, als hinaus ins Blaue zu fahren und wieder zurück. Zuerst sträubte er sich, aber sie stiegen einfach ins nächste. Bevor er sich versah, fand er sich rauchend in der Heide, das Taxi schaukelte in der Parkbucht.

Ein schwarzes Auto sank aus dem Nebel, Finnur streckte seinen Kopf zum Fenster heraus.

»Wir haben euch gesucht.«

Als sie im Auto saßen, räusperte sich Finnur und sagte: »Mein Vater sitzt jetzt im Bankvorstand, wir haben eine Aktiengesellschaft gegründet, die im Auftrag der Armee arbeitet, ein Chefposten ist noch frei, hast du Interesse?«

»Ich habe gehört, man hat euch die Wohnung gekündigt«, sagte Rúna.

»Der Eigentümer will Dollar haben«, entgegnete Ásta.

»Du kriegst alles in Dollar«, sagte Finnur, »wir bekommen genau den gleichen Status wie der Ami.«

Ásta: »Wie ich es hasse, wenn Leute es sich im Krieg gemütlich machen wollen, ihn nur als Geldquelle sehen und davon profitieren, wenn er sich in die Länge zieht, am besten geht er gar nicht mehr zu Ende. Wenigstens sagen alle, er wäre bald vorbei.«

»Es kommt ein Krieg nach diesem Krieg«, sagte Finnur optimistisch, »der Mensch ist so unperfekt.«