Das Vorbild mit dem Schnauzebart - Günter Saalmann - E-Book

Das Vorbild mit dem Schnauzebart E-Book

Günter Saalmann

4,8

Beschreibung

Hermy hat seinen Vornamen nach dem alten Lehrer Hermann Duncker, den Hermys Großmutter in ihrer Jugend gut kannte, und der ihr selbst immer ein leuchtendes Vorbild war. Für sie müsste er, in Bronze gegossen, auf ewig auf einem hohen Denkmalssockel stehen. Und sie bearbeitet und ermahnt mit allerlei Geschichten und Sprüchen ihren Enkel ganz in Hermann Dunckers Sinne, und Hermy wird das allmählich zu viel. Er entzieht sich, wo immer er kann, ihren Erziehungsbemühungen, entdeckt einen unterirdischen Gang, wo er und seine Freunde sich zu einem Bund verschwören, der mit Schule und Großmutter wenig in Sinn hat. Es wird gefährlich - und doch zeigt sich, dass sich die jungen Leute auf ihre eigene Weise dem "Vorbild mit dem Schnauzebart" annähern. Und Hermy erfährt, wer sein Großvater war. LESEPROBE: Rückt ein Stück her zum Ofen, der Vater hat heute schon ein bisschen eingefeuert, und ich mag beim Erzählen nicht so schreien. Sieghard, du Unglücksrabe, stoß nicht an mit dem gebrochenen Flügel! Hermy, mein Herr Enkel, man bietet seiner Tamara den Stuhl an und nimmt selbst den Hocker! Ja, Kinder, ich weiß: Da geht's jemandem dreckig, da fühlt sich wer so recht verratzt, beschließt, hinfort der Welt zu trotzen - schon kommt eine Oma wie ich mit ihren Omasprüchlein: Putz dir die Nase, bis zur Hochzeit ist alles wieder gut, anderen Leuten ist es im Leben noch viel schlimmer ergangen. Und das klingt dann wie: Schämst du dich nicht, dass du noch so jung bist? Ja, ich weiß - so was kränkt und vergällt einem den ganzen schönen Schmerz. Aber ich lass nicht locker und erzähle euch jetzt die Geschichte, wie ich fast einmal deinen Vater, Hermy, mittendurch reißen musste. Nein, nicht quer - der Länge nach, Sieghard, wenn du es genau wissen möchtest. Aber alles hübsch der Reihe nach. Es war unter den Nazis, Herbst fünfunddreißig. Ich hatte mich längst an die Türschmierereien und Drohbriefe gewöhnt, die mir in bestimmten Abständen den Briefkasten verstopften, an diese linierten Fetzen, die nicht selten aus Schulheften herausgerissen waren: Hauze, hauze, hauze für die Schnauze, Hauze, hauze, hauze fürn Ballon.. So wie ich's spreche - mit z. Anfangs machte ich mir den grimmigen Spaß, diese Arbeiten zu korrigieren und den Absendern zuzustellen - ich kannte doch meine reizenden Schüler an der Klaue, auch wenn sie ihre Verse lieber nicht unterschrieben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 268

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (30 Bewertungen)
24
5
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Impressum

AUS DEM 25. KAPITEL DES ZWEITEN TEILS

Teil I Der Auftrag

1. KAPITEL z. B. Das Spritzenhaus

2. KAPITEL z. B. Kuchenränder

3. KAPITEL Merkwürdige Feier

4. KAPITEL: Klare für Klare

5. KAPITEL: Präludium für Anfänger

6. KAPITEL: Der Nagel im Pult

7. KAPITEL Der Auftrag

8. KAPITEL Gruß an die Polit-Oma

9. KAPITEL Heißer Draht

10.KAPITEL Streichholz und Holzauge

11. KAPITEL Die Legende

12. KAPITEL Die Extratour

13. KAPITEL Haussuchung im Schloss

14. KAPITEL Der Bärenarsch

15. KAPITEL Caruso

16. KAPITEL Ball mit Seele

17. KAPITEL Das Album

18.KAPITEL Sie kriegen ihn nie

19. KAPITEL Flüchtige Vorahnung

20. KAPITEL Arkos Post

21. KAPITEL Sieh an, dieser Sick!

22. KAPITEL Hürden und Hindernisse

23. KAPITEL Nachricht von Ha-De

24. KAPITEL Ein anonymer Anruf

25. KAPITEL Der Alte in der Kittelschürze

26. KAPITEL Erst mal Pause

Teil II Der Freundschaftsbund

1. KAPITEL Die Festung Jeremias

2. KAPITEL Drei Töpfe voll Nachrichten

3. KAPITEL Das Gerücht

4. KAPITEL Kopfwäsche

5. KAPITEL Das Gerücht meldet sich

6. KAPITEL Die Geheimtreppe

7. KAPITEL Der Brief aus Gursuf

8. KAPITEL Was ist Mut, was ist Wille?

9. KAPITEL Rob

10. KAPITEL Fahnenappell

11.KAPITEL Der Käfig

12.KAPITEL Kühne Pläne

13. KAPITEL Die Werbung

14. KAPITEL Man macht sich Sorgen

15. KAPITEL Das Bundesstatut

16. KAPITEL Der Kolben

17. KAPITEL Der Anfang vom Ende

18. KAPITEL Die Explosion

19. KAPITEL Ade!

20. KAPITEL Die Trommel

21. KAPITEL Das Attentat

22. KAPITEL Der Traum

23. KAPITEL Das neue Lied, das ganz neue Lied

24. KAPITEL Wechter

25. KAPITEL Stachelbeermarmelade

WAHRHEIT UND DICHTUNG

Günter Saalmann

E-Books von Günter Saalmann

Impressum

Günter Saalmann

Das Vorbild mit dem Schnauzebart

ISBN 978-3-86394-053-9 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1978 in DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN - DDR

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

AUS DEM 25. KAPITEL DES ZWEITEN TEILS

da ja sowieso immer welche zuerst beim Schluss nachlesen

Rückt ein Stück her zum Ofen, der Vater hat heute schon ein bisschen eingefeuert, und ich mag beim Erzählen nicht so schreien. Sieghard, du Unglücksrabe, stoß nicht an mit dem gebrochenen Flügel! Hermy, mein Herr Enkel, man bietet seiner Tamara den Stuhl an und nimmt selbst den Hocker!

Ja, Kinder, ich weiß: Da geht's jemandem dreckig, da fühlt sich wer so recht verratzt, beschließt, hinfort der Welt zu trotzen - schon kommt eine Oma wie ich mit ihren Omasprüchlein: Putz dir die Nase, bis zur Hochzeit ist alles wieder gut, anderen Leuten ist es im Leben noch viel schlimmer ergangen.

Und das klingt dann wie: Schämst du dich nicht, dass du noch so jung bist? Ja, ich weiß - so was kränkt und vergällt einem den ganzen schönen Schmerz.

Aber ich lass nicht locker und erzähle euch jetzt die Geschichte, wie ich fast einmal deinen Vater, Hermy, mittendurch reißen musste. Nein, nicht quer - der Länge nach, Sieghard, wenn du es genau wissen möchtest. Aber alles hübsch der Reihe nach.

Es war unter den Nazis, Herbst fünfunddreißig. Ich hatte mich längst an die Türschmierereien und Drohbriefe gewöhnt, die mir in bestimmten Abständen den Briefkasten verstopften, an diese linierten Fetzen, die nicht selten aus Schulheften herausgerissen waren:

Hauze, hauze, hauze für die Schnauze, Hauze, hauze, hauze fürn Ballon..

So wie ich's spreche - mit z.

Anfangs machte ich mir den grimmigen Spaß, diese Arbeiten zu korrigieren und den Absendern zuzustellen - ich kannte doch meine reizenden Schüler an der Klaue, auch wenn sie ihre Verse lieber nicht unterschrieben.

Doch endlich hatte ich alle Hoffnung auf- und alle Spargroschen ausgegeben und klopfte an der gläsernen COMPTOIRtür vom Puppenfabrikanten Liesetritt um irgendeine Büroarbeit an.

Der Herr Fabrikant ließ seinen Rollschrank zuschnappen: "Ich kann heutzutage die größten Nackenschläge haben, wenn ich unbelehrbare Rote bei mir einstelle, die man sogar aus dem Schulamt weggejagt hat. Büroarbeit? Ist nicht. Aber aus alter Freundschaft zu Ihrem Herrn Vater, Ihrer Frau Mutter, Gott hab sie beide selig ..." Er seufzte, schlenkerte einen Klecks Tinte aus seinem Goldfüller und schrieb mir eine Heimarbeit aus. Fortan durfte ich mit dem Küchenmesser Pappmachéreste zwischen frischgepressten Puppenfingern wegkratzen. Fürs Dutzend hatte ich sechzehn Stück zu liefern.

Nebenbei wusch ich Windeln, brachte meinem Sohn, deinem guten Vater, Hermy, das Laufen bei und sein erstes Liedchen.

Eines Tages nun fand ich im Briefkasten wieder einen Zettel ohne Unterschrift. Zuerst wollte ich ihn in den Ofen stecken, doch rechtzeitig sprangen mir zwei Buchstaben in die Augen:

Dein H. D. ist aus dem Zuchthaus entlassen. Triffst ihn zuzeiten im Schlosspark von Friedrichroda. Na also, der Führer ist gar nicht so!

Die maschinegeschriebenen Lettern tanzten mir vor den Augen.

H.D.!

Das konnte nur einer sein ... Der Name wurde in jener Zeit kaum geflüstert, geschweige denn voll ausgeschrieben ... H. D. in Friedrichroda. Das war von unserem Alleben eine Stunde Fahrt. Wenn der Brief nur nicht von einem Lockspitzel der Polizei abgefasst war und mich in eine Falle zog ... "Kontaktaufnahme zur illegalen Kommunistischen Partei Deutschlands" würde dann später in der Urteilsbegründung nachzulesen sein ... Aber ich musste ihn wenigstens sehen, meinen H. D., komme, was wolle!

Ich verwandelte mich. Ich bleichte mir das Haar mit einem Gurgelmittel, flocht mir blonde deutsche Zöpfe, rollte sie über den Ohren zu der beliebten preußischen Schneckenfrisur "Königin Luise" und kostümierte mich als Nazimaid zurecht. Treuherzig und unauffällig, Friedrichroda sollte ja von hochgestellten Sommerfrischlern aus der Reichshauptstadt wimmeln, die von den Strapazen des "Regierens" ausspannten ...

Dein Vater, Hermy, war damals drei Jahre alt. Ich setzte ihm ein Sonnenhütchen auf, nahm ihn straff an der Hand und kletterte mit ihm in die Thüringerwaldbahn.

Ihr kennt ja den Park vom Wandertag: herrliche alte Bäume, die riesenhafte Linde, Trauerbuchen, Lebensbäume. Im Herbst steigt von den Wegen der süße Herbstgeruch der Blätter.

Der Vater zog mich mit Gekreisch zu den dicksten Laubhaufen; Mami musste mit ihm da hindurchrascheln. Ich zeigte ihm Astern und bunte Steine und hielt die Augen offen.

Nazis in prallen braunen Uniformen stolzierten herum wie fette Fasanen; wer keine Gattin am Arm führte, beobachtete uns mit Wohlwollen. Weltkriegsoffiziere staksten daher, funkelten durch ihr Einglas über die Menge hinweg und grüßten einander zackig und knapp. Und allenthalben Herrn in dunklem Zivil mit schwarzgewichsten Hitlerbärtchen unter den Nasen.

Und in dieser Gesellschaft sollte mein H. D. anzutreffen sein?

Ihr denkt: Na, sie wird ihn schon getroffen haben, in Geschichten klappt's schließlich immer. Stimmt. Aber diese Art Geschichten lässt gern manches zwischendurch weg, sonst werden die Lesebücher zu dick.

Von jetzt an fuhren wir jeden Sonntag nach Friedrichroda. Woche um Woche wurden die Bäume nackter, leerten sich die Promenaden. Das Laub faulte. Der Winter kam, ein stilles Weihnachtsfest, ein Neujahr mit trüben Aussichten, ich färbte mir zum dritten Mal die Haare nach. Es begann zu tauen. Aber wir fuhren nach Friedrichroda.

Einmal war der Vater vorausgelaufen, er hatte im Pappschnee eine besonders breite und tiefe Fußspur entdeckt, versicherte eifrig, sie wäre vom Weihnachtsmann ... Die Stapfen verschwanden hinter einem Gesträuch abseits vom Wege. Ich folgte und bog vorsichtig die kahlen Zweige zur Seite: Da saß jemand auf einer vergessenen Sommerbank. Dem schenkte der Vater eben einen Schneeball.

Der Beschenkte zog sorgfältig die Strickhandschuhe von den Fingern und drückte den Ball zurecht. Dann fing er an, ihn vor seinen Füßen hin und her zu wälzen, wobei er dem Vater halblaut etwas erklärte. Während der Schneeball unter seinen Händen wuchs, hatte ich Zeit, genauer hinzusehen:

Ein eingebeulter Schlapphut, das Gesicht verbirgt sich hinter dem hochgeschlagenen Kragen des Lodenmantels. Wollene Ohrenschützer ... Ein Greis, wie es scheint, der den Schnee in seiner Bankecke notdürftig zur Seite geschoben hat und fünf Minuten verschnauft, auf seinen Stock gestützt.

Da blickte er hoch. Ein grauer, ausgefranster Schnauzebart hing ihm traurig bis zum Kinn, das dadurch aussah wie ohne Mund ...

War diese Aufmachung Maskerade wie meine Zopfschnecken? Alles wirkte zum Verzweifeln echt. Mir saß ein Kloß in der Kehle, als ich ihn so wiedersah, eingesunken und murmelnd, meinen alten Parteilehrer, meinen guten, meinen lieben, der mir einst tönend und dröhnend viele Strophen Kommunismus gepredigt hatte und um dessentwillen ich als Backfisch von daheim ausgebüxt war mit nichts im Rucksack als meiner Gitarre. Jahrelang hatte ich mir die Partei nicht anders als so vorgestellt: eine endlose Kolonne, ein Teil liest im Marschieren, ein Teil singt ... Grinse nicht, mein Herr Enkel, du kanntest H. D. nicht. Ich trat hinter den Sträuchern hervor.

Einen Lidschlag lang wurde sein Gesicht steinern. Doch dann schob er dIe Brille zurecht.

"Klare Creutzburg!", sagte er mit vom langen Schweigen belegten Stimmbändern, und ich sagte "Hermann Duncker!" und war auch heiser.

"Entschuldige", sagte er, "dieses Blond irritiert."

"Mami, der Opa baut mir einen Schneemann", ließ sich der Vater vernehmen.

"Nein" - ein flüchtiges Lächeln vertiefte die Augenfalten des "Opas", "bauen musst du ihn dir schon selber, ich hab dir ja eben gezeigt, wie!" Er wandte sich wieder an mich: "Schneemänner baun wir jetzt ... Wie ich sehe, hast du schon einen Sohn, Klare ..."

Ich setzte mich zu ihm in den Schnee und erzählte ihm von mir. Dann schwiegen wir zusammen.

"Schneemänner und Puppenhände ...", sagte er nach einer Weile dumpf. "Man ist schon froh, dass man lebt ... Mich hat die SA erwischt, ich habe in Spandau gesessen und in Brandenburg, es ist überall das gleiche: Hier erschlagen sie dich mit einem Stahlrohr, über das sie ein Stück Gartenschlauch ziehen, dort schnallen sie dich an die Dampfheizung und lassen dich wegtrocknen. Und wie lange wird der Frieden nach außen noch währen? Die Monopole rüsten ..."

"Wie bist du rausgekommen?", fiel ich ihm ins Wort.

"Ach Klare, welche Rolle spielt das. Meine Frau hat einen Polizeioffizier aufgestöbert, der früher mal halb und halb zu uns gehörte. Hat ihn unter Druck gesetzt. Vielleicht plagte ihn ein Rest von schlechtem Gewissen ...

Ist dir auch niemand gefolgt?", unterbrach er sich unvermittelt und wandte den Kopf nach links und rechts. An der Art, wie er die Lider zusammenkniff, merkte ich, wie schwach seine Augen geworden waren.

Weit und breit - keine Menschenseele, nur der Vater rollte schnaufend seinen Schneeballen über die weiße Fläche und hinterließ darin ein erdfarbenes Band von feuchtem Winterrasen.

Hermann Duncker stieß zornig die Luft durch die Nase aus. "Sie überwachen jeden Schritt. Ich stehe unter Polizeiaufsicht. Merk dir meine Adresse darum nur für den äußersten Fall: Friedrichroda, Gartenstraße 10. Manchmal wische ich dem Wachtmeister, meinem Wachhund, eins aus, lasse laut im Haus das Radio quäken und kraxle mühselig über den hinteren Balkon hinunter, um ein wenig Luft zu schnappen und meine alten Bäume zu besuchen. Ja, alt sind wir geworden, und nichts scheint in Deutschland übrigzubleiben ..."

Um ihn von seinen trüben Gedanken abzubringen, lenkte ich das Gespräch auf glücklichere Zeiten. "Weißt du noch, wie dich die Nosketruppen fangen wollten? Glaubten die Falle schon dicht, und dann war der Vogel doch ausgeflogen!"

"Ach Mädel. An den Flug erinnert mich mein Knie, sobald nur das Wetter umschlägt." Er brummte, aber seine Augenfältchen zogen sich tatsächlich zu einem Lächeln breit.

Mir kam ein Einfall. "Weißt du auch, dass dieses Knie sogar in Liedern besungen worden ist?" Ich winkte den Vater heran: "Sing mal schön unser Liedchen, der Opa freut sich!"

Na ja, der Vater hat artig gesungen, ohne einmal steckenzubleiben, mit hellem, glockenreinem Stimmchen. Dann trollte er sich wieder zu seiner wichtigen Arbeit.

Die Wirkung des Liedes war überwältigend.

Zuerst horcht mein Lehrer nur, wie man einem fernen Ton, einem Echo nachlauscht, mit seitwärts geneigtem Kopf. Eine Träne stiehlt sich unter dem Drahtrand seiner Brille hervor, rollt über die ungesund graue Wange, bleibt schließlich an einem Schnauzbartende hängen, zittert daran und fällt ... Das Zittern wird zu einem Zucken, und auf einmal bebt der Bart von einem unbändigen Lachanfall.

"Nein, das ist ...", schluchzt Hermann Duncker, "aber das ist ja von mir ..." Beinah Ton für Ton die Melodie, die ich seinerzeit aufgeschrieben hab, damit mein Herr Sohn mal wieder zur Geige greift, der faule Strick ..."

Er wischt sich ärgerlich über die Wange. "Und jetzt gibt es also einen Text darauf, und dein Sohn singt ihn, sieh mal an, mitten in diesem Winter ..."

Und dann kommt das Lachen noch mal, steckt mich an, wir glucksen beide herum wie gleichaltrige Schüler, die was Hübsches ausgefressen haben. Und wir erstarren gleichzeitig.

Dem Jungen ist seine Walze davongerollt, unaufhaltsam einen sanften Abhang hinab, unvermeidlich gegen zwei Stiefelgamaschen, die aufragen wie aus dem Schnee gewachsen.

Die Walze bricht auseinander.

Zuerst verzieht der Junge das Mäulchen zu einem weinerlichen Viereck, doch dann besinnt er sich anders, steckt den Handschuhdaumen in den Mund und staunt zu der blauen Uniform empor, zu dem lackglänzenden Tschako, auf dem der Reichsadler mit dem Hakenkreuz in der Schneesonne gleißt.

Der Polizist schaut abwechselnd auf das Kind hinab und zu uns herüber, die Hände auf dem Rücken.

"Mein Wachhund!" presst H. D. zwischen den Zähnen hervor. "Weiß der Kuckuck, wie er mich hier ausgeschnüffelt hat. Rühr dich nicht, senk den Kopf, damit sich ihm dein Gesicht nicht einprägt. Leb wohl, grüß den Jungen, er soll das Liedchen nicht vergessen!"

Damit erhob er sich, setzte seinen Stock fest in den Schnee, ging auf die Uniform zu, direkt daran vorbei, als wollte er, dass der "Wachhund" auch ja Witterung aufnähme ... Groß und breit schritt er hin, nur der Mantel hing ihm loser von den Schultern als früher.

Der Polizist aber rührte sich nicht vom Fleck. Er war ebenfalls groß und klobig und ein junger Mann. Wie konnte H. D. auch ahnen, dass dieser Uniformierte und ich uns gründlich kannten ... Wir blickten uns von ferne ins Gesicht. Der Mann nahm schließlich das Kind an der Hand und kam auf der dunklen Spur, die die Schneewalze aufgerissen hatte, auf mich zu, langsam, steifbeinig, wie über einen ausgerollten Läufer, von dem man fürchtet, dass er auf glattem Fußboden rutscht.

"Klare", fing er an, "da hast du deinen H. D. gehabt. Siehst du, der Führer ist gar nicht so. Ich denke, wir sind nun quitt. Soll ich jetzt dienstlich entscheiden oder als Mensch?"

Der Junge stand mit offenem Mund zwischen uns. Ich griff nach seiner freien Hand.

"Wir werden nie quitt sein, scher dich zu allen Teufeln, aber rühr das Kind nicht an!"

Er lief violett an, packte den Jungen noch fester.

Da hat es in mir einen furchtbaren Ruck gegeben. Nachher - ich weiß nur noch, dass ich gerannt bin, gestolpert, gehetzt, ein brüllendes Bündel an der Hand, den ganzen Weg zu Fuß ...

Wir kamen unbehelligt nach Hause. Ein Arzt aus der Nachbarschaft hat dem Jungen das Ärmchen eingerenkt. Ich saß Tag und Nacht am Krankenbett und wartete, dass es klingeln würde und sie mich abholen kämen, Ich habe auch später immer darauf gewartet. Das gebleichte Blond wuchs langsam aus meinem Haar heraus, aber das fiel nicht weiter auf - was nachwuchs, war schon von grauen Strähnen durchzogen.

Uns geschah nichts. Später hörte ich im Londoner Rundfunk, dass meinem Lehrer die Flucht aus Deutschland geglückt sei und dass er in Paris Widerstandskämpfer gegen Hitler um sich sammelte ...

Das war die Geschichte. Das Weitere wisst ihr ja, Kinder, habt es selbst herausgefunden. Der Polizist? Ja, Sieghard, Tamara: Erlasst mir für heute nähere Erklärungen. Sie sind auch nicht mehr wichtig seit der letzten Nacht.

Und du, Hermy, schraub den Ofen zu.

Teil I Der Auftrag

1. KAPITEL z. B. Das Spritzenhaus

Frühling! Über den Himmel rauschen zwei Flugzeuge, blitzende Nadeln in einem mit blauer Seide bespannten Stickrahmen, ziehen weiße Wollfäden über ihn hin, die vom Horizont her langsam auffransen.

Ein Wetterchen ist das!

"Der Wurzelzwerg saß auf dem Wurzelberg und aß Wurzelwerk", reimt Hermy. "Der Wurzelriese saß auf der Wurzelwiese und aß Wurzel ... Wurzel ..."

"Wurzelgemüse", hilft ihm sein Freund Sick aus.

"Haha!"

Die beiden Reiter könnten die Viertelmeile auf der Hauptstraße machen, angenehmer trabt sich's nirgends, man grüßt nach rechts und links, die Alten lassen Pinsel oder Besen sinken und nicken anerkennend: Verwegene Burschen, halten sich tadellos im Sattel, dieser Hermy, dieser Sieghard!

Sie könnten, wenn sie wollten, ein paar Lassowürfe zum besten geben, etwa über die tollwütigen Rachen der steinernen Löwen vor dem VEB Puppenfabrik "Kindertraum", vormals Liesetritt & Sohn.

Aber was wäre das schon.

Sie sitzen ab, werfen die Lassoleinen über die Sattelknäufe und geben Ihren braven Falben einen Schlag mit der flachen Hand auf die glänzenden Hinterbacken: Lauft, ihr wilden Mustangs! Grast in der Prärie! Für uns kommt etwas anderes dran.

Der Spritzenweg zum Beispiel, in neunundneunzig Jahren zugewachsen. Ein Trampelpfad führt noch zwischen Knallerbsensträuchern, Pulverholz und knorrigem Holunder hindurch, selbst für den kundigen Fuß kaum zu finden.

Schattenkühle umfängt die Beine, wo sie aus den eingelaufenen Jeans ragen. Junge BrennnesseIn, die sich noch eben friedlich in einem weggeworfenen Schulküchenlöffel spiegelten, schnappen nach den Knöcheln. Unter den Tritten federt die schwarze Erde.

Je weiter sie vordringen, desto deutlicher vermengt sich der saftgrüne Duft der Kräuter mit dem Holzgeruch des Spritzenhaustores, das bis zum Schloss in trockenem Gestrünk steckt.

Hinter diesem Tor setzte vor ungefähr hundertneunundneunzig Jahren der Ortsgendarm von Alleben die Landstreicher fest, damit sie ihm nicht etwa in einer Scheune übernachteten und dort Feuer schlugen. Einer, so weiß die Legende, hat einmal aus Rache versucht, die Feuerspritze anzuzünden. Aber es hat nur Qualm gegeben, halberstickt ist der Vagabund entkommen, keiner weiß wie und wohin ... Nach anderen Berichten (der Bäckersfrau) wurde er geräuchert und ziert als Mumie das Naturkundemuseum in Gotha. Das kann aber nicht stimmen.

Sie schleichen gebückt an der Längswand unter dem schief überstehenden, zahnlückigen Schindeldach entlang, bis zur Ecke, wo der Regen eine Rinne aus Kieseln in den Boden getropft hat.

"Scht!"

Dieses "Scht" stellt einen verhaltenen Pfiff vor, den Hermy, der größere, staksigere der beiden Pfadfinder, ausstößt, um die Lage zu peilen. Zu seiner Erbitterung wird er noch immer zum Tragen einer Zahnklammer gezwungen.

"Scht!"

Hermy steckt die Nase um die Ecke. Die Luft ist rein. Das Spritzenhaus kehrt geruhsam wie immer seine Rückfront dem Brühl zu, von wo sich hinter mannshohem Bretterzaun die Schrebergärten den Auenhang hinaufrekeln bis zur Bergstraße, die ganz, ganz oben zur Kirche und zum Kirchhof führt.

Das Fleckchen Welt zwischen Zaun und Spritzenhauswand ist der Treff.

Tamara fehlt. Aber sind wir kleine Kinder, dass wir einem Weiberrock nachjammern? Aus dem Alter sind wir heraus!

An der Wand zuunterst wackeln, mit Kreide gekrakelt, Wasserköpfe auf Knickbeinen. Fast verblichen. Das war noch Kindergarten. Sick, Sieghard, der kleinere Pfadfinder, der mit der Brille, setzt ein spitzes Eisen an: "Hier?"

"Zu weit unten. Da ist die Mauer zu dick."

In der nächsten Etage präsentieren Mondgesichter mit hörnchenförmigen Mündern schon Weinen oder Lachen. Je nach Bienchenstempel oder nicht. Sick sucht mit dem Eisen einen Riss im Putz: "Hier?"

"Noch höher!"

In Kopfhöhe: HERMY IST DOFF NEIN SICK NEIN TAMARA NEIN GUDRUN SCH. Die Inschrift ist noch gut lesbar. Nur an einigen Stellen haben Spuren irgendwelcher rostroter Ölfarbe das Einwaschen der Schulkreide verhindert. Dieses Rostrot bildet verschiedene unförmige Flecken an der Wand, auf denen die Kreide von jeher schlecht haftet.

"Hier?"

"Los!"

Aufgeregt beginnt das Eisen zu schaben. Es krietscht und kratscht in der Mörtelfuge, rutscht ab, nicht zum Anhören.

"Lass mich mal!"

Aber Sick arbeitet sich erst ein. Graugelb rieselt der Mörtel. Was werden wir hinter dieser Mauer zu sehen bekommen? Die Feuerspritze mit angekohlten Rädern? Man könnte die Messingteile blank putzen. Und dann in den Allbach damit!

Sick pumpt rechts, Hermy links, stoßweise schießt das Wasser in hohen Bögen auf die Schindeln über Frau Borowskis Dachstübchen - man muss ja nicht gleich was anzünden, bloß weil man eine Feuerspritze hat - Frau Borowski reckt den dünnen Hals aus dem Fenster und wundert sich, wieso es aus heiterem Himmel regnet. Ihr Anblick wäre Belohnung genug ...

Man kann natürlich auch gute Taten tun, Gartenpflänzlein bewässern vielleicht, aber da muss man gewöhnlich länger warten, bis jemand sich wundern kommt.

Krietsch, kratsch, die Fuge ist schon fingertief. Krietsch, krietsch ...

"Hör auf, so ekelhaft zu kratzen!"

"Da friert's dich, gell?"

"Lass mich selber ..."

Tamara hat es also wirklich nicht nötig gehabt zu erscheinen. Hermy übernimmt die Schicht. Ein herumliegender Ziegel ist Hammer, das Eisen wird angesetzt wie ein Meißel: pink, pink ..., es vibriert in der Hand. Zu diesem Ton lässt sich sogleich ein Lied singen:

"Klopf Steinchen, klopf Stein, komm, reih dich mit ein, dann kriegst du vom Adler 'n Klecks Marmeladler ..."

Sing leiser, Hermy! Sick, wo hast du deine Ohren? Hört ihr nicht das Knarren hinter euch? Zentimeter um Zentimeter hebt sich ein breites Brett vom Zaun, bewegt sich in geheimen Scharnieren, klappt hoch wie ein Truhendeckel ...

"Abhaun!"

Aber das Unheil hat sie schon beim Kragen.

Fritz Wechter, genannt der Kolben, ist der wunderlichste, grobschlächtigste alte Kerl von ganz Alleben. Schulhausmeister, Kinderfeind, Asternzüchter ... In seiner Jugend, sagt die Bäckersfrau, war er der Schrecken eines jeden "Stärksten Mannes der WeIt", der nur irgend auf den Jahrmärkten im gestreiften Trikot, mit rollendem Bizeps zum Ringkampf rief: Der Kolben legte sie alle aufs Kreuz und kassierte unter dem Johlen des Publikums die fünfundzwanzig Mark Siegesprämie ...

Hermy und Sick baumeln im Griff seiner knochigen Fäuste wie Hurvinek und Spejbel. Nur Humor kommt keiner auf.

"Pack ...", er haut ihre Stirnen gegeneinander, dass es knallt, als stießen wirklich hölzerne Puppenköpfe zusammen. "Hab ich euch erwischt ... Pack ..."

Der Griff löst sich.

Die alterstrüben Augen wirken in seinem vor Jähzorn violetten Gesicht irgendwie weiß, der weiße Blick aber, so scheint es Hermy, geht durch ihn hindurch bis an die Wand mit den Inschriften ... Der Kolben steht wie ein tönerner Golem, mit eingeknickten Knien, herabhängenden Armen, in seinem feuerglühenden Innern pfeift der Atem: "Ich gehe bis zu Wilhelm Pieck ... , beschwere mich beim Präsidenten ..."

Er vergisst manchmal, dass wir keinen Präsidenten, sondern einen Staatsrat haben. Sick hebt seine Brille auf. Stumm schleichen sie weg. An der Ecke schaut Hermy über die Schulter: Der Kolben steht noch immer reglos, starrt die Wand an.

"Er spinnt, das sagen alle", schnauft Sick aufgebracht und tippt sich an die Stirn: "Mann, das gibt ein Horn!"

Sie trotten die Straße hinunter. Hermy schweigt, in Gedanken versunken. Etwas geht von dem alten Mann aus, ähnlich dem Schrecken, den Hermy als kleiner Junge empfand, wenn er in seinem Gitterbett von der Schildkröte aus dem Schildkrötenbuch träumte ... , etwas Unerklärliches, Böses, das einen zugleich in Bann schlägt. Das Schildkrötenbuch haben die Eltern vor seinen Augen in den Ofen gesteckt, seitdem war Ruhe ... Was aber hat der Kolben mit alldem zu schaffen? Es gibt schon rätselhafte Sachen.

2. KAPITEL z. B. Kuchenränder

Die alte Schrift über dem Bäckerladen BROT- WEISS- und FEIN-BÄCKEREI von OSKAR GROTHE wurde mehrmals mit dem Namen des heutigen Inhabers übermalt, doch sie dringt immer wieder durch. Auf dem eisernen Fahrradständer vor dem Schaufenster sitzt Tamara und baumelt mit dem linken Bein. Als sie ihre Klassenkameraden kommen sieht, hält sie das Bein still und wirft mit unvergleichlicher Prinzessinnengebärde die seidenblonden Haare in den Nacken.

Der Zotteltrott der Ankömmlinge verwandelt sich nun unmerklich in ein nachlässiges Schlendern, wichtig dabei sind das Vorschieben einer Hüfte und das Wiegen der gebeugten Schultern.

Von einem Kaugummi in Sicks Mund war bisher nichts zu merken. Jetzt aber kaut er.

Tamara zieht ein hochmütiges Gesicht und wartet, bis die Herren zuerst grüßen.

"Hallo."

"-llo."

Die nachfolgende Aktion verläuft beinah planmäßig.

Man muss warten, bis keine Kundschaft im Laden ist. Die Verwandlung muss dann blitzschnell erfolgen. Sick: Brille ab, Haare zerzausen (nicht mehr nötig), Hände an den Wangen abwischen, damit täuschend das Bild von einem kleinen Dreckspatz, einem armen, armen Kinde entsteht. Und los.

Ba-Ie-bing ... bi-Ie-bang, ertönt melodisch die Ladenglocke.

Er muss sein Geld auf die Glasplatte legen (einen Groschen, einen Fünfer, vier Pfennige) und stotternd herausbringen: "Bitte schön ... für zwanzig Pfennig Kuchenränder ... oder Kuchen!"

Ba-le-bing ... bi-Ie-bang. Hermy tritt auf. Stellt sich an. Er trägt auf der Nase die ramponierte Brille seines Freundes.

Dass beide nun schlecht sehen, erleichtert das Theaterspiel. Während die gute Frau Bilebang dem "armen Kinde" mitleidig einen ordentlichen Berg Kuchenränder zusammenpackt, umhalsen die beiden Knaben einander, als hätten sie sich soeben wiedergetroffen, nach jahrelanger Trennung, mitten in der Fremde. Gerührt legt die Bäckersfrau noch ein Stück Quarkkuchen von gestern, dafür fast ohne Rand, obenauf: "Damit du deinem Freund was anbieten kannst!"

Nun muss aber der Freund ebenfalls ein paar Münzen herausfischen. "Bitte für zwanzig Pfennig Kuchenränder!"

Stummer Vorwurf muss aus zwei Paar Kinderaugen sprechen, wenn sie zögert, denn was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Frau Bilebang macht ein Gesicht, als bisse sie in ein Stück vom eigenen Johannisbeerkuchen, und fängt erneut an zu packen ...

Ba-le-bing ... In dem Moment, wo Sick den Laden verlässt, muss Tamara hereinkommen. Hermy zieht schon den Kopf zwischen die Schultern. Aber die Unverschämtheit wiederholt sich nicht. Frau Bilebang mustert ihn argwöhnisch: "Bist du nicht der ..."

Nichts wie raus. Bilebang.

Prinzessin Tamara ist die Sache im letzten Augenblick zu blöd vorgekommen, doch den Quarkkuchen nimmt sie huldvoll an.

Freihändig radelt Sicks großer Bruder Robert des Weges, gerade rechtzeitig, um den Löwenanteil der Beute zu verschlingen. Er zeigt sich erkenntlich. Knackt zur Feier des Tages eine neue Stange Bubblegum. Ein prima Bruder, sein Blauhemd steht ihm prächtig, überhaupt sieht er glänzend aus, schwarzhaarig wie ein Araber, nur leider noch ohne Schnurrbart und ein wenig pickelig am Kinn. Rob war einmal linker Flügelmann in einem Fanfarenzug.

Tamara sagt: "Los, wir müssen los!"

Rob verpasst seinem Bruder im Abfahren einen Rippentriller: "Heute lassen wir'n Ballon platzen!" und entschwindet mit scharfem Pedaltritt in Richtung Kulturhaus.

Wir sehen: Bis jetzt - ein ganz normaler Mainachmittag. Das Jahr kann niemand wissen, es muss genannt werden: 1974. Neunundzwanzig Jahre also nach der Zeitenwende, jenem Nullpunkt auf der Skala, nach der die Erwachsenen ihr Früher und ihr Heute berechnen.

Das Dorf heißt Alleben, es ist ein beliebiger Ort um Gotha herum, am Fuß des Thüringer Waldes malerisch gelegen, eines von diesen hundert Nottleben, Pferdingsleben, Tüttleben, Grabsleben, Molschleben, Illeben, Uelleben, Emleben, Siebleben, Kindleben ...

Wenn da steht: um Gotha herum, so ist das noch ungenau: Alleben gehört schon fast zur Stadt, und der Allbach, der sich durchs Dorf schlängelt, mündet in den Leinakanal.

Wie gesagt - ein ganz alltäglicher Tag, nichts Weltbewegendes ist geschehen, nichts, worüber die Kinder etwa, wenn sie einst Großmütter und Großväter sind, die Köpfe schütteln, in ihren Kaffeetassen rühren und sagen werden: "Wisst ihr noch, Kinder, damals am vierundzwanzigsten Mai?"

Oder muss man die Umbenennung der Hauptstraße als ein solches Ereignis werten?

Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Für 16 Uhr hat Herr Neumeister, Klassenlehrer der Sieben an der Alleber POS, die Chormitglieder seiner Klasse in den Saal des Kulturhauses "Zur Katze" bestellt, wo sie in einer kleinen Feierstunde anlässlich der Straßenumbenennung vor einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens sowie Arbeiterveteranen aus dem ganzen Kreis auftreten sollen.

3. KAPITEL Merkwürdige Feier

Der Chor atmet und wispert. Seit die Mädchen aus der Sieben nun einen Busen bekommen, passiert es gelegentlich, dass sie ihre Halstücher vergessen. So etwas sieht schrecklich uneinheitlich aus, und Fräulein Kleinschmidt, die Chorleiterin, hatte vor dem Auftritt schon einen Auftritt mit den Vergesslichen.

"Alles wird euch geboten in unserer Republik!", hat sie ausgerufen, empört und verzweifelt. "Und so dankt ihr es!"

Tamara Knispe kann ihre Blöße wenigstens hinter der Gitarre verbergen. Aber egal war ihr der Anpfiff nicht, Hermy vermag kaum hinzusehen, wenn sie so errötet, bis in die Ohrläppchen - die Haare hat sie zu einer blonden Zwiebel aufgesteckt.

Gudrun Schmeidel dagegen kullert ungeniert mit ihren glänzenden Knopfaugen, wiewohl auch ihre Vergesslichkeit unangenehm auffallen muss.

"Heute platzt der Ballon!", flüstert hinter Sick sein schöner Bruder Rob, Klasse neun, und bohrt ihm den Zeigefinger zwischen die Schulterblätter. SIe flüstern so unverschämt laut, dass alle Umstehenden das Gespräch gut verfolgen können, sogar Hermy am Klavier.

"Heute platzt der Ballon!"

Gerade heute?"

"Mach dir nicht in die Hosen, Kleiner, ich bin ja bei dir!" Der Zeigefinger bohrt. "Ich schenk dir die ganze Stange, please bitte!"

"Aber nimm die Pistole aus meinem Kreuz."

"Schwöre, dass du's machst. Und nachher gucken wir, wie sie guckt!"

Nichtsahnend, festen Schrittes ersteigt Fräulein Kleinschmidt das Podest. Festlicher Dederonglanz springt von ihrem straffgespannten Blusenrücken in die Augen der Anwesenden. Festlich funkelt ihr Falkenauge, es streicht noch einmal prüfend von Flanke zu Flanke über die Reihen des Chors hin, verweilt auf Sick, der nun endlich ruhig steht. Es ist, als ob vor einem Wetter noch einmal die Sonne durchs Gewölk blitzt: Windstille tritt ein.

Der Chor hält den Atem an. Vom Klavier tropft der Stimmton. Hmmm ... Waaa ...

Und!

"Wann wir schreiten Seit an Seit und die alten Lieder singen ..."

Wie ein staubiger Acker die ersten Regentropfen aufsaugt, so trinken die Ohren der alten Leute das Lied. Vertraut ist die Melodie, vertraut ist der Text, sogar von der zweiten und dritten Strophe. Der Wirt in der Gaststube schiebt verwundert das Schiebefenster zum Saal hoch.

"Birkengrün und Saatengrün ..."

Der Wirt winkt der Kellnerin: "Hör dir das an, Dorothea, das gibt's doch nicht!"

"Je oller, je doller!" bestätigt die Kellnerin mürrisch.

Der Wirt dreht bekümmert den Bierhahn nach oben. "Schlechtes Geschäft, wenn das Publikum schon vor dem Bier mitsingt!"

Nachdem der Beifall verrauscht ist, strebt ein Herr in geschlossenem Anzug zum Rednerpult. Wer ihn kennt, erkennt ihn nicht wieder: Das soll Neumi sein? Der vor einem halben Jahr noch mit Dorothea ging (da arbeitete sie noch im Konsum) und ihr zuliebe diesen Korken steigen ließ, diese Sache mit den Buchstabennudeln?

Durch ein Versehen waren im Konsum vier Kartons mit Buchstabennudeln zuviel abgeladen worden, die in dem etwas feuchten Lagerraum der Verkaufsstelle bestimmt muffig geworden wären. Neumi schaltete sich auf seine Art ein: Er behauptete in der Deutschstunde, unter den Buchstabennudeln gäbe es kein Y. Hermy widerspricht: Es gibt, er weiß es ganz genau ... In der Hofpause werden Wetten abgeschlossen, die ganze Schule, das Lehrerkollegium nimmt Anteil. Am nächsten Mittag gibt es in Alleben Buchstabennudelsuppe, Kraftbrühe mit Buchstabennudeln, Buchstabennudelsalate. Und alles fischt mit den Löffeln nach Beweisstücken, Neumi gibt sich zerknirscht, und Dorotheas Konsumchefin, Frau Rüdiger, gibt eine dringende Nachbestellung für Buchstabennudeln auf. ..

Dieser dunkelgraue Herr Lehrer, den man heute zur Festrede verknackt hat, soll Neumi sein.

"Liebe Anwesende! Wir haben uns heute hier zusammengefunden ... he-em ... zusammengefunden ..." (ärgerliches Räuspern) " ... um aus Anlass des hundertsten Geburtstages ..."

Nur langsam kommt die Rede in Gang.

Hermy aber, der Cowboy, Pfadfinder, Einbrecher und Kuchenschnorrer, dreht sich unterdessen peinlich berührt auf seinem Klavierschemel hin und her. In der ersten Sitzreihe nämlich, unter den Blumenstraußehrengästen, nickt ihm seine Oma Klare zum sechsten Male aufmunternd zu, und, da sie als einzige einen Hut aufhat, sieht es aus, als ob jedes Nicken bis in die hintersten Reihen verkündete: Seht ihr, Freunde, dieser begabte Enkel da am Flügel, das ist meiner, das ist Klare Creutzburg ihrer!

"... pflanzten bewaffnete Arbeiter und Soldaten, die den Krieg des Kaisers satt hatten, die rote Fahne auch auf dem Rathaus und dem Schloss Friedenstein auf. Unsere Kreisstadt Gotha wurde zum Zentrum der revolutionären ..." Herr Neumeister hat sich entschlossen, die Rede doch vom Blatt zu lesen, am Ende jedes Satzes hebt er den Blick ins Publikum, wo jedesmal die Veteranen zustimmend den Kopf senken. Als ob er fragen wollte: Stimmt's, Genossen?, und sie antworteten: Stimmt schon, komm zur Sache.

Der Wirt hinter dem Tresen fasst frischen Mut und dreht den Bierhahn wieder auf Bereitschaft.

"Eine trockene Festrede hältst du, Lehrer!"

Während Roberts Zeigefinger erneut das Kreuz seines Bruders anbohrt, während Klare Creutzburg ihrem großen ledernen Ramschbeutel, von dem sie sich nie trennt, ein geknifftes Heft entnimmt, fünf Linien zieht und gedankenverloren etwas aufzuzeichnen beginnt, während Hermy seine Beule befühlt: Verflucht, ist das eine hundertste Geburtsfeier - kommt die Rede zu einem Ende. Herr Neumeister klaubt errötend seine Zettel zusammen, Schweißperlen auf der Stirn.

Im Saal herrscht Räuspern.

Ein Chorlied soll den Abschluss bilden. Es beginnt schwungvoll mit kleinem Vorspiel vom Klavier.

Leider klemmt die C-Taste, aber dafür schlägt Tamaras Gitarre einen zuversichtlichen Rhythmus.

"Wer singt schon heute die Lieder von morgen? Wir, wir, wir, .."

Die großen Mädchen, die schon in Blau gehen, reißen begeistert Münder und Augen auf und schleudern die Haare. Und wie sie den Takt klatschen!

"Wer braucht sich um

seinen Weg nicht zu sorgen ..." (klatsch, klatsch, klatsch)

Da muss doch die Stimmung wieder steigen!

Fräulein Kleinschmidt kann ja nun beim Dirigieren schlecht auch noch kontrollieren, ob der Saal ordnungsgemäß mitklatscht. Ein Klappen vernimmt sie schon, aber ist das nicht das Klappern der Halblitergläser, womit der Wirt auf vornehme Art aufmerksam macht, dass nach der Veranstaltung ... ?

Ja, und nun passiert es.

Nein, kein Bierglas poltert zu Boden. Keinem wird übel, und man muss ihn hinausführen. Der Zwischenfall ist weit furchtbarer in seiner Peinlichkeit und kann leider nicht totgeschwiegen werden, weil alle ihn mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört haben: die Arbeiterveteranen aus der ganzen Gegend, darunter die Blumenstraußehrengäste in der ersten Reihe. Unter ihnen besonders die Persönlichkeit des öffentlichen Lebens - der Vertreter vom Kreis, Genosse Dr. Gründling, der besonders durch seinen langen Ledermantel mit den zwei Gürtelschnallen bekannt geworden ist. Und noch jemand hat alles miterlebt, ein unbekannter junger Mann mit einer Baskenmütze, der sich eifrig stenografische Notizen macht. ...

Fräulein Kleinschmidt hat gerade das letzte "Wir" abgewinkt, in tadelloser Haltung, mit Dirigentenschwung, da passiert es, man traut seinen gesunden Sinnen nicht:

Eine blassweiße Blase aus mindestens zwei Kugeln Bubblegum bläht sich zu Faustgröße, platzt in die Stille –

Blapp ...

Blap. Ein schrumpliges Häutchen hängt von der Unterlippe dieses schielenden Schülers in der ersten Chorreihe. Wie zerzaust und schmutzig er übrigens aussieht! Wer von den Ortsansässigen hier im Saal wird sich bei diesem Anblick nicht an andere, ältere Verfehlungen erinnern, zum Beispiel an die unerhörte Eisfahne, die dieser Sieghard Rüdiger bei der vorletzten Maidemonstration mitführte?

Mancher hat damals gelacht, nicht wahr, Kollege Neumeister? Wer dagegen erhob sofort, als erste, warnend die Stimme? Keine andere als Luise Kleinschmidt.

Soweit musste es kommen.

Aus der Gaststube tönt das dünne Quaken eines Betrunkenen. Im Saal atmet jemand hörbar aus.