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Umberto, Schüler einer sechsten Klasse in einer typisch sächsischen DDR-Schule, hat keinen Ranzen, keine Hefte, aber ein, zwei Bücher, die er vor seiner Mutter versteckt, um sie vor dem Verfeuern zu bewahren. Vor Lehrern und Mitschülern, die von ihm sagen, dass er stinkt, spielt er den Clown, um auf sich aufmerksam zu machen und Zuwendung zu finden. Er stellt schließlich alles an, dass auch die staatliche Jugendhilfe sich seiner annimmt. Seine Flucht "nach Afrika" endet schließlich dort, wo er längst hin will: In einem Kinderheim, und das ist nicht das Schlechteste, was einem wie ihm passieren kann. LESEPROBE: Bekanntschaft mit dem nackten Helden. Umberto beweist seine zwanglose Haltung zu schulischen Pflichten und erfährt bitteres Unrecht. Ein Kumpel von besonderer Sorte. Da hockt er in der Wanne, Umberto Medock, ein nackter Mensch-Anfänger, kratzt sich einen Schorf vom Knie, wundert sich, dass er im Sitzen Querfalten im Bauch hat, und erklärt einer nassen Herbstfliege, die er im Deckel vom Badeshampoo gondeln lässt: »'ne Badewanne. Wanne, Klobecken, Gasboiler, alles neu. Gestern waren sie vom Kreis hier, verstehst du, die Frau Jugendhilfe, und die Monteure haben die Rohre gelegt.« Er blinzelt sich den klebrigen Schlaf aus den Augen. Seine Unterlider sind von Fältchen geknifft, die dem Jungengesicht einen listigen, übermüdeten Ausdruck verleihen, wie man sie sonst bei Kindern nicht sieht. Insgesamt jedoch - kein übler Anblick, dieser Umberto Medock. Jetzt leert er mit entschlossenem Daumendruck die Shampooflasche bis zum Grund und beginnt mit dem Küchensieb Schaum zu schlagen. Gewaltig ist die Wirkung: Erst quillt die Wanne über, dann fliegen die Schaumfetzen, weiß, weiß, weiß, setzen sich auf die Windeln, die zum Trocken hängen, auf die Wand. Umberto glitscht aus dem Wasser, öffnet das Fenster und schaufelt mit dem Sieb das weiße Zeug hinaus in den Oktoberregen. Durch die Frongasse kommen zwei geblümte Kinderschirme angequirlt. Unter dem einen blitzt ein signalgelber Anorak: Aleksandra Krautwein, die Neue in der 6c, der Klasse, die auch Umberto besucht. Hihi. Besucht. Fein ausgedrückt. Der andere Schirm gehört dem wundergottbraven, gescheiten, pünktlichen Raul Fiebig. Die zwei sind bereits dicke Tinte, sie haben ihre Ranzen aneinandergeknotet und tragen sie am Riemen zwischen sich.
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Seitenzahl: 227
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Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Günter Saalmann
E-Books von Günter Saalmann
Günter Saalmann
Umberto
ISBN 978-3-86394-052-2 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1987 bei DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN – DDR
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Bekanntschaft mit dem nackten Helden. Umberto beweist seine zwanglose Haltung zu schulischen Pflichten und erfährt bitteres Unrecht. Ein Kumpel von besonderer Sorte.
Da hockt er in der Wanne, Umberto Medock, ein nackter Mensch-Anfänger, kratzt sich einen Schorf vom Knie, wundert sich, dass er im Sitzen Querfalten im Bauch hat, und erklärt einer nassen Herbstfliege, die er im Deckel vom Badeshampoo gondeln lässt: »'ne Badewanne. Wanne, Klobecken, Gasboiler, alles neu. Gestern waren sie vom Kreis hier, verstehst du, die Frau Jugendhilfe, und die Monteure haben die Rohre gelegt.«
Er blinzelt sich den klebrigen Schlaf aus den Augen. Seine Unterlider sind von Fältchen geknifft, die dem Jungengesicht einen listigen, übermüdeten Ausdruck verleihen, wie man sie sonst bei Kindern nicht sieht. Insgesamt jedoch - kein übler Anblick, dieser Umberto Medock.
Jetzt leert er mit entschlossenem Daumendruck die Shampooflasche bis zum Grund und beginnt mit dem Küchensieb Schaum zu schlagen. Gewaltig ist die Wirkung: Erst quillt die Wanne über, dann fliegen die Schaumfetzen, weiß, weiß, weiß, setzen sich auf die Windeln, die zum Trocken hängen, auf die Wand.
Umberto glitscht aus dem Wasser, öffnet das Fenster und schaufelt mit dem Sieb das weiße Zeug hinaus in den Oktoberregen.
Durch die Frongasse kommen zwei geblümte Kinderschirme angequirlt. Unter dem einen blitzt ein signalgelber Anorak: Aleksandra Krautwein, die Neue in der 6c, der Klasse, die auch Umberto besucht. Hihi. Besucht. Fein ausgedrückt.
Der andere Schirm gehört dem wundergottbraven, gescheiten, pünktlichen Raul Fiebig. Die zwei sind bereits dicke Tinte, sie haben ihre Ranzen aneinandergeknotet und tragen sie am Riemen zwischen sich.
Eine Ladung Schaum segelt hinunter, landet auch richtig auf Aleksandras Schirm, leider unbemerkt. Zwei Paar bunte Gummistiefel verlieren sich im rauschenden, hupenden, brummenden Gewühl des Marktes.
Umberto besitzt keine Gummistiefel für solches Mistwetter, er wird sich Zeit lassen mit dem Schulweg.
Seelenruhig steigt er in seine Sachen. In der Turnhose klafft ein Dreieck. Na und, kommen die langen Hosen drüber. Den etwas ausgeweiteten Pullover stopft er in den Bund, so sitzt alles fest und kann nicht rutschen.
Endlich verstaut er den Familienwecker in seiner Anoraktasche und kracht die Wohnungstür hinter sich zu. Sollen Ilona und das Baby gefälligst jetzt aufwachen.
Unten im Hausflur steigt er über Farbeimer und ausrangierte Heizkörper. Die Imbissstube ZUM IGEL wird renoviert.
Durchgeregnet steht er dann in der Klassenzimmertür. Eben ist die Leistungskontrolle vorüber: Aleksandra stakst zurück zu ihrem Platz, hochrot im Gesicht.
»Noch gerade Drei«, sagt Frau Lehrerin Krautwein zu ihrer Tochter und wendet sich dem Nachzügler zu: »Na, Umberto, mal wieder der verflixte Wecker?«
Umberto zerrt den Wecker aus der Tasche. Ehrliche Entrüstung malt sich auf seinen Zügen: Darf man ihn zu allem Unglück hier verspotten?
Die Lehrerin forscht in seinem Gesicht. Sie kann in den weit aufgerissenen, rot geriebenen Augen keine Spur von Scheinheiligkeit entdecken. Zögernd glättet sich die steile Falte auf ihrer noch jungen Stirn. Und Umberto macht einen Schritt und hebt ihr den Wecker ans Ohr. Ob sie aus der Nähe seinen angenehmen Fichten-Badegeruch schnuppern kann? Er sieht ihre Nasenflügel zittern.
Die Klasse lauscht: Kein Weckerticken ist zu hören, soviel ist amtlich.
»Junge, überleg doch mal«, sagt die Pädagogin. »Soll es wieder Einträge und Verwarnungen regnen, wie in den ersten Wochen unserer Bekanntschaft?«
»Ja«, spricht Umberto, heiser vor Hoffnung, »es wäre vielleicht besser.« Dabei blitzt er streng den Wecker an. Gleich muss sie sein Schülertagebuch verlangen, und er muss antworten, dass es verloren ging. Ein großes Traritrara wird losgehen, und sie wird sich eine Viertelstunde bloß mit ihm abgeben, mit ihm ganz allein.
»Na, häng deinen Anorak hinaus und nimm Platz.«
Er rennt noch einmal auf den Gang zu seinem Garderobenhaken. Den Wecker zieht er ein bisschen auf, auch das Läutwerk, und zwängt ihn zurück in die Anoraktasche.
Frau Krautwein aber wickelt soeben aus Zeitungspapier eine Topfpflanze. Die blüht über und über blaulila, jede Blüte hat in der Mitte ein leuchtendgelbes Sternchen. »Schade«, meint sie, zur Klasse gewendet, »jammerschade, dass auf Umberto so wenig Verlass ist. Da wird er wohl unser afrikanisches Veilchen sterben lassen, wenn er die Pflege übernimmt, wie er gestern versprach.«
»Ich mach's schon«, knurrt Umberto. »Ist es wirklich aus Afrika?« Er nimmt die Pflanze und trägt sie behutsam aufs Fensterbrett neben seinem Platz. Wenn hier einer was von Afrika versteht, dann er.
»Es muss aber regelmäßig gegossen werden und zwar früh, vor dem Unterricht«, sagt Frau Krautwein und beginnt mit dem heutigen Thema. Wovon handelt es? Natürlich nicht von Afrika, sondern von nördlichen Ländern, irgendwelchen Forden oder Fjorden. Umberto kennt das alles schon, denn er hat die Klasse sechs schon einmal abgesessen. Bloß, da hatte er noch nicht bei Frau Krautwein. Die ist ja ganz neu an der Comeniusschule Walda.
Umberto beobachtet die silberne Halskette an der schwarzen Pulloverbrust der Lehrerin, der Anhänger hat die Form einer kleinen Spinne.
Seine nass geregneten Hosen kleben wie Lappen an den Knien. Er streckt die Beine von sich und zupft den Stoff von der Haut. Selbst in Frau Krautweins Erzählung geht es kalt zu, Eisberge schieben Schutt und Geröll bis in die DDR. Er bibbert. Das Gebibber überträgt sich auf den Tisch, den er mit Aleksandra teilt. Die guckt für einen Moment herüber und zieht vernehmlich Luft durch die Nase. Dann kritzelt sie einen Zettel und schiebt ihn nach hinten, zu ihrem Raul.
Was sie an dem Blässling findet. Um ihr Geschreibsel zu lesen, setzt er die Brille ab und eine andere auf. Ein Junge mit zwei Brillen, lachhaft. Hinter den dicken Gläsern kullern seine Augen dicht an den Buchstaben hin und her wie hellblaue Murmeln.
»Umberto, schau nach vorn!« unterbricht Frau Krautwein ihre Rede.
»Hier ist was los, eh« nölt der Angesprochene der Form halber und heftet den Blick auf ihre Nase. Ein Kumpel von ihm, der schon alles über Frauen drauf hat, hat ihm mal erklärt: »Guck den Weibern auf die Nase, dann weißt du Bescheid, auch wenn sie'n Winterpelz anhaben: Wie die Nase, so die Brust ...«
Frau Krautweins Nase ist groß und schön geschwungen.
Umberto kann sich nicht konzentrieren. Jetzt wieder bildet er sich den Geruch heißer Gulaschsuppe ein, faserige Fleischstücke, Gewürzkörner, die weich zwischen den Zähnen zerplatzen.
Als es klingelt, verkündet Frau Krautwein für morgen Besuch: ein oder zwei Kollegen der Patenbrigade, die Männer von der Stadtwirtschaft.
»Pionierhalstücher umbinden?« fragt Petra Bieliger.
*
»Hm. Ja, natürlich. So, und nun hinüber ins Russischzimmer. Umberto bleibt noch einen Moment.«
Frau Krautwein schließt hinter dem letzten Schüler die Tür.
»Eine ernste Sache, Umberto.«
»Aber unser Wecker...«
»Ich meine etwas anderes, Junge.«
»Hä...?«
»Umberto. Als ich diesen September nach Walda kam und die Klasse übernahm, in der ja auch du neu warst, wollte keiner dein Banknachbar sein. Du entsinnst dich, warum.«
»Hä?«
»Ich habe schließlich meine Tochter neben dich gesetzt. Möchtest du, dass auch Aleksandra wieder von dir weg will?«
Aleksandra will also von ihm weg. »Sie will zu ihrem Raul«, sagt er mit fremder Stimme.
»Bis jetzt noch nicht. Aber wenn - verstehen könnte ich es. Mein Gott, ich muss es dir unverblümt sagen: Du riechst wie drei Kneipen … Nein, antworte jetzt nicht. Du betrittst die Klasse und die Luft wird streng.«
Vom Nicht-Blinzeln füllen sich Umbertos Augen mit Wasser.
»Ich rieche nach Fichten ..., nach Fichten ...«
Sie nähert ihm zweifelnd ihre Nase. »Merkwürdig. Wie bringst du diese Mischung zuwege? Und wie blass du immer bist. Überleg doch mal: Ein Schüler der Sechs und raucht wie ein Stammtisch.«
»Ich rauch nicht«, schreit er. Denn er raucht wirklich fast nie. Sie will ihm die Hand auf die Schulter legen, er schüttelt sie ab. »Sie stinken selber, stinken tun Sie ...«
Er sieht, wie sie erschrickt. Aber ihre Stimme bleibt leise: »Ruhig, Umberto Medock. Du läufst jetzt nach Hause, wäschst dich von Kopf bis Fuß und ziehst vor allem frische Sachen an. Und wenn du bei Fräulein Thierbach zu spät kommst - ich verantworte es.«
Sie macht auf dem Absatz kehrt. Ihre Tritte vermischen sich draußen mit dem Pausenkrach.
Der Junge hockt krumm. Wie gemein sie ist, wie gemein. Seine Nase gleitet die verfilzte Wolle des Pulloverärmels hoch. Der riecht wie immer. Der Badeduft ist verflogen.
Ein Heizungsrohr klickt metallisch, es klingt wie Hohngekicher. Das Rohr wurde erst kürzlich neu gelegt, das Loch ist noch nicht einmal mit Zement zugeschmiert: Man kann bis in den Keller gucken.
Umberto nimmt Frau Krautweins neue, afrikanische Pflanze, rupft die blaulila Blüten ab und stopft diese, von Rachsucht erfüllt, in das Loch.
Bitteres Unrecht wurde ihm angetan.
Er huscht hinaus auf den Korridor und quetscht sich in die Nische zwischen Ölsockel und Lehrmittelschrank. Schwadronierend ziehen die Klassen an ihm vorüber in ihre Zimmer. Am anderen Ende des Ganges schließt der alte Mathe-Hampel die Tür der 7c hinter sich.
Umberto denkt nicht daran, heim zu rennen. Und in Russisch - da wird er nicht stören, bei Fräulein Thierbach ist er ja so gut wie entschuldigt. Er wird in diesem Winkel stehen, womöglich für immer. Irgendwann werden sie sein Gerippe entdecken.
Finster nagt er an seinem Fingernagel. Fräulein Thierbachs »Mama u telewisora« ist bis hierher zu hören, und in der 7c hallt einmal kurz Hampels Brüllstimme auf. Dann wieder scheint die alte Schule ihren Betrieb zu unterbrechen und nach dem Jungen in der Schranknische zu lauschen.
So steht er viele Minuten. Und beginnt sich schon zu langweilen, aber da vernimmt er ein neues Geräusch. Erst ein Türquietschen, dann, nach einer kleinen Pause, ein Witschen und Rascheln. Er gleitet in die Hocke. Bewährte afrikanische Kriegslist: In Kniehöhe vermutet der Feind kein Späherauge.
Vor der 7c, vom Treppenfenster schräg beleuchtet, bewegt sich eine Gestalt. Umberto erkennt den Sperlingskopf, die spitze Nase. Drops Dropmann, er wurde vom Mathelehrer wieder mal vor die Tür gesetzt, obwohl das verboten ist. Schon will Umberto sich bemerkbar machen, da erstarrt er vor Erstaunen: Drop's Rechte stößt vor, verschwindet in der Tasche eines Kleidungsstücks. Schon wiederholt sich der Vorgang bei der Jacke, die daneben hängt. Bei den nassen Parkas am dritten, vierten, fünften, sechsten Haken.
Drop's Nasenspitze ruckt sichernd gangauf. Er zögert, als ahnte er einen Beobachter. Umberto hält den Atem an. Ein Taschendieb also ist Drops, sein Kumpel aus der früheren Klasse.
Die Diebspfote wird wieder in Tätigkeit gesetzt, sie untersucht bereits das siebente, das achte Kleidungsstück. Bald muss sie bei Umbertos blauem Anorak anlangen, dem mit den orangefarbenen Streifen am Ärmel. Zweifellos muss Drops den wiedererkennen und die Finger davon lassen. Kumpel bleibt Kumpel.
Richtig. Drop's Finger überspringen Umbertos Eigentum und fahren stattdessen in Aleksandras gelben Anorak, den vornehmen, gesteppten. Zusammen mit zwei Taschentüchern fällt ein Geldstück zu Boden, rollt, taumelt, tanzt klingelnd im Kreis.
Umberto springt vor, setzt den Fuß drauf.
»Ha-a ...« Drop's Mund klafft vor Schreck, ein Bein hebt sich blitzschnell zur Flucht, da erkennt er sein Gegenüber.
»Wat kriecht du hier rum«, lispelt er erleichtert und nicht einmal leise.
»Hast meine Klamotte gleich erkannt«, sagt Umberto.
»Hehe. Nicht tu erben.«
Umberto hebt das Geldstück unter seinem Schuh auf. Fünf Mark.
»Das nicht, Drops.«
»Läuft du nicht rund, Mann?«
Umberto steckt die Münze in Aleksandras Tasche zurück. Er weiß selbst nicht, warum er das tut. Leider berührt er unbeabsichtigt den eigenen Anorak. Der Wecker schrillt los.
Drops rennt.
Reine Nervensache, Umberto rennt ihm nach, Richtung Treppe. Hinter ihnen klappt eine Tür. Tempo!
Die Portalflügel sind verschlossen, sie müssen durch den Keller, sprinten zur Kohlenhoftür hinaus. Erst in der Schulgasse fallen sie in ruhigen Trab.
In der Bahnhofsstraße schlenzen sie gemütlich wie zwei, denen es gut geht. In einem Hausflur zählen sie die Beute: An Geld neunundzwanzig Mark, vierundachtzig Pfennig. Umberto erhält den Pfennigbetrag, einen Stielkamm und einen Haufen Bonbons fürs Maulhalten. Drops spendiert noch ein Eis, was Umberto hochanständig findet, denn der Spendierer spart eigentlich auf ein Moped.
Ihre Freundschaft währt übrigens schon seit frühen Kindertagen. Sie begann, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass der lispelnde, schmächtige Dropmann sich vor Zungenwurst ekelt: Er malte sich wohl aus, wie vor ihm schon die Kuh die Zunge in ihrem speicheltriefenden Mund gehabt hatte. Eines Tages beschlossen einige Stärkere, Drops zu »heilen«. Sie kauften ein Viertel von der besagten Wurst, fesselten den Zitternden an einen Pfahl, zwangen ihm die Kiefer auseinander … Im letzten Moment sprang Umberto dazwischen, verschlang die Wurst bis auf den Zipfel. Aus dem einfältigen Drops ist ein rabiater Bursche geworden.
Umberto aber verabschiedet sich für heute. Das Eis brennt im leeren Magen. Zu Haus wird er sich ein Spiegelei braten oder irgendwas.
Umberto verteidigt die Familienehre, trifft den schwarzen Läufer und stört seine Mutter bei ihrer vormittäglichen Lieblingsbeschäftigung.
Die alten, hochgiebeligen Häuser am Markt prangen in neuen Farben. Auch eine Stück Frongasse erhält ein zufriedenes Gesicht. Die Ziergitter vor den Fenstern der Imbissstube Zum Igel glänzen von schwarzem Nitrolack. Ein langer Typ in bekleckertem Kittel steht auf einem Sims und bepinselt die eisernen Lanzenspitzen mit Goldbronze. Er grinst Umberto entgegen, indem er den einen Mundwinkel nach oben zieht: »Wirst oben erwartet vom schwarzen Läufer«, berichtet er brühwarm, »der ist gerade erst vom Gepäckmarsch zurück, mit dem Baby in der Tasche. War volle anderthalb Stunden auf der Tour diesmal, fast so lange, wie ich hier streiche. Wohnt er eigentlich fest bei euch?«
»Geh mir nicht auf die Ketten«, knurrt Umberto.
»Rührt er noch manchmal deine Mutter an?«
»Lässt du mich mal pinseln?« fragt Umberto harmlos.
Schon im Herunterspringen angelt der Lange nach seinen Zigaretten. Umberto stößt die Pinselhaare tief in die Farbbüchse und fährt ihm mit dem Gold mitten in sein Grinsen.
»Er rührt sie noch an, Sauhund!«
Der Lange versucht nicht, Umberto zu erwischen. Er ist, wie Drops, ein alter Kumpel, seines Zeichens Geschirrabräumer im Igel, wenn dort der normale Betrieb läuft, Christian Tscheschiak, schlicht Abräumer genannt. Und er ist hinter Umbertos Schwester Karla her. Von ihm lernte Umberto mancherlei, zum Bespiel den geheimen Zusammenhang zwischen weiblicher Nase und Brust.
*
Das Treppenhaus riecht nach Farbe und Scheuerwasser. Im ersten Stock hockt auf den Stufen mit hochgezogenen Knien ein weiterer Bekannter: Octaviano. Der schwarze Läufer, wie Abräumer ihn eben nannte und wie ihn viele Waldaer nennen.
»Na, wie geht's?« erkundigen sie sich gleichzeitig.
»Wie stets«, lautet die gemeinsame Antwort. Ein alter Spaß zwischen ihnen.
Aber Octavianos Blick, an anderen Tagen schwarz funkelnd, bleibt heute trüb. Nur die maisfarbenen Zahnreihen blitzen flüchtig auf. Neben ihm, in einer blauen Reisetasche mit dem Aufdruck INTERFLUG, wirft das Baby Bianca quengelnd den Kopf hin und her.
»Warum kommst du nicht rein?«, fragt Umberto.
»Ich komm nie mehr rein, Camarada«, spricht Octaviano nach längerem Schweigen. Die Männerstimme ist hoch und kehlig.
»So was sagst du öfter, Octaviano.«
Warum hängt der Mann neuerdings so oft durch? Selten bricht die alte Fröhlichkeit aus ihm hervor. Ob er Heimweh hat?
»Du kommst schon wieder, Octaviano, schon wegen Bianca.«
Octaviano wischt mit dem bloßen Daumen die Heulschmiere von den Wangen seiner Tochter. Biancas Haut ist viel heller als seine. Aber wenn sich in einer Schreipause ihre Augenschlitze auftun, sieht man Pupillen, die wie seine sind. Schwarze Sonnen in silbrigem Weiß.
»Warum fegt ihr nicht sauber? Warum lasst ihr keine Luft rein?«, grollt Octaviano. »Ich marschiere mit Bianca über die Landstraßen. Was kann ich weiter machen?«
»Aber die Windeln waschen wir, immerhin. Außerdem haben wir die neue Wanne«, argumentiert Umberto. Er möchte, dass Octaviano wiederkommt, denn er hat ihn gern und ist stolz auf seinen afrikanischen Camarada.
Reinweg närrisch führt sich Octaviano heute auf. Packt plötzlich Bianca aus der Tasche, aus ihrem Strampelanzug, schleudert angeekelt das Wäschestück beiseite, das einen stechenden Geruch verbreitet. Sich selbst streift er sein baumwollenes T-Shirt über den Kopf, so eins mit aufgedruckter Kämpferfaust, und hüllt die nackte Bianca hinein.
»Wirst frieren, Octaviano.«
»Nicht lange«, versetzt der brikettschwarze Mann, und Umberto hört einen hoffnungsvollen Klang in seiner kehligen Stimme.
»Nimm«, befiehlt Octaviano und drückt ihm Bianca in den Arm. Steht auf und steigt langsam treppab, ein dünnes Halskettchen umschließt seinen überlangen Hals auf den frierenden, schräg abfallenden Schultern.
Umberto hockt allein, wiegt das Bündel Geschrei unter dem Stück Stoff, das Octavianos guten Geruch ausströmt. Er legt Bianca in die Tasche zurück. Sie schreit wie am Spieß.
Typisch Octaviano. Mal so, mal so. Heute Abend oder morgen Abend wird es ihn wieder hertreiben. Und in der Frühe wird er seine Tochter einpacken, mit ihr losmarschieren, weit hinaus auf die Dörfer, wird ihr in seinem einschläfernden Singsang von seiner Heimat vorschwatzen, vom Land Pa-isch, damit sie nicht schreit. Der schwarze Läufer.
Bis jetzt ist er noch immer zurückgekommen, er hat den Medockschen Wohnungsschlüssel, nämlich Umbertos.
An der Etagentür fehlt der Drehknauf. Eigentlich also benötigt jedes Familienmitglied einen eigenen Schlüssel, um sie zu öffnen. Aber für Umberto ist eine zugeschnappte Tür keine Hürde.
Das erste Mal musste er die Glasscheibe eindrücken, damit er von innen aufklinken konnte. Eigenhändig hat er die Scheibe ersetzt, indem er ein Stück Schranktür gegennagelte. Das Stück Schranktür war zu kurz, oben klaffte ein Spalt. Und gerade das erwies sich als äußerst praktisch.
Umberto nimmt ein bereitliegendes Wäscheholz, zieht sich zu dem Spalt hinauf, muss ein bisschen fummeln, bis das Holz innen die Klinke findet. Gleich darauf steht er im Korridor.
Der Fernsehton läuft. Die Wohnung ist verqualmt wie der IGEL bei Hochbetrieb. Umberto lässt sich auf den Fußboden nieder und zerrt die feuchte Hose von den Beinen. Schnuppert: Ein nasser Dackel riecht ähnlich.
Bianca hat sich beruhigt.
Im Kühlschrank findet er Eier, schlägt vier davon in den Milchtopf. Auf dem Gasherd liegen keine Streichhölzer, er beschließt, das Schlafzimmer zu betreten.
Ilona sitzt im Bett, raucht und starrt durch den leeren Türrahmen hinüber ins Wohnzimmer, wo der Fernseher steht. Umberto setzt vorsichtig die INTERFLUG-Tasche samt Inhalt in den Kinderwagen. Schnappt sich Ilonas Handtasche vom Nachttisch, kramt Streichhölzer heraus.
»Wieso bist du schon aus der Sch-hule?«
Ihr üblicher Nörgelton, dieses kränkliche Weimern, bei dem die Stimme vor Heiserkeit ins Flüstern abschnappt. Umberto hasst diesen Ton.
»Geschwänzt«, erklärt er patzig.
»Wie oft hab ich dir ges-hagt... Mach mal lauter.«
»Hä?«
»Na den Fernseh, Doofmann.«
Nicht, dass sie auf die Nachrichten besonders scharf ist, aber sie findet den Sprecher gut.
»Gehst ja selber nicht auf Arbeit«, sagt er streitsüchtig.
»Zu was hab ich Babyjahr?«
Doch diese Erklärung kommt ihr wohl selber ein wenig dürftig vor, deshalb bewegt sie die runden Schultern unter dem Männerschlafanzug, verzieht das Gesicht zur Leidensmiene:
»Außerdem bin ich krank, hab wieder diese Spontanose im Kreuz...«
Umberto dreht den Fernseher aus. Augenblicklich meldet sich das Baby. Vielleicht schert sich Ilona endlich aus dem Nest.
Er schlurft absichtlich geräuschvoll in die Küche, setzt die Eier auf die zischelnde Gasflamme. Gerade will er sich ans Ausspülen der Milchflaschen machen, da rasselt draußen die Drehklingel.
Ein Elternbesuch, der mit Feuer beginnt und mit Wasser endet. Ilona wird aktiv oder Enge Familienbande.
Wer könnte da klingeln? Die dicke Karla? Die Schwester kommt manchmal über Mittag aus dem Betrieb, um nach dem Rechten zu sehen. Aber Karla hat selbst einen Schlüssel.
Octaviano? Der klingelt auch nicht.
Umberto schleicht geduckt wie ein Buschkrieger zur Korridortür und späht durch ein winziges Loch in der vorgenagelten Platte. Da bewegt sich etwas Schwarzes … Schwarze Pullovermaschen, ein Kettenanhänger mit Spinnenbeinen. Und die Klingel rasselt erneut. Auf Zehenspitzen zieht sich der Krieger von der Tür zurück.
Aus dem Schlafzimmer krächzt Ilona: »Wer?«
»Pst!«
»Wer es ist, will ich w-hissen.«
»Die neue Lehrerin.«
»Angestellt hast du nichts?«
»Wie kann ich, wenn ich schwänz.«
»Dann soll sie klingeln.«
Zu spät. Umberto kann lediglich noch die Schlafzimmertür ranziehen, die Besucherin steht schon im Korridor. Sie sieht den Jungen nicht sofort, ihre Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.
»Bin auf keinen Fall zu Hause«, krächzt Ilona aus ihrem Bett, und ein gewaltiges Sprungfedernächzen ist zu hören.
Umberto macht eine unwillkürliche Bewegung, und Frau Krautwein schließt mit einer erschrockenen Geste den Mantel über ihrer Silberspinne.
»Entschuldigung, wenn ich hier so eindringe«, sagt sie. »Aber die Tür war nicht eingeklinkt.«
»Hier ist was los, eh.«
»Junge, habt ihr einen Qualm.«
»Gibt Schlimmeres«, knurrt Umberto. Eine saublöde Lage: Die Tür schließt nur manchmal, er vergaß, sie zuzuknallen. Hat die Frau nun Ilonas Gekrächz mit angehört oder nicht? Der Fernseher läuft zwar wieder in voller Lautstärke, aber … immerhin … Außerdem steht er hier mit kaputter Turnhose, durch den Triangel kann er eine nackte Hinternhälfte fühlen. Rückwärts bewegt er sich in Richtung Küche.
Frau Krautwein muss husten. »Und wo finde ich sie, deine Mutter? Die auf keinen Fall zu Hause ist?«
»Bestimmt auf Arbeit«, lügt er verzweifelt, ohne vor Aufregung den Spott in ihrer Frag zu bemerken.
»Hm. Aber die Imbissstube wird doch renoviert!«
Mist, die Arbeitsstelle weiß sie aus dem Klassenbuch.
»Oder sie ist mit Bianca beim Doktor«, schwafelt er.
Prompt ertönt Babyweinen. Frau Krautwein aber stößt ihn plötzlich zur Seite und ist mit drei Schritten in der Küche. Die Eier! Sie reißt den schwarzgebrannten Milchtopf von der Flamme. Ein unterdrückter Schmerzenslaut, sie schlenkert die Finger. Aus dem Topf brodelt blauer Gestank.
»Fenster auf!«
Umberto gehorcht. »Meine Mutter liegt im Bett, hat Spontanose im Kreuz,« gesteht er. Für einen Augenblick tut ihm die Lehrerin leid. Wie sie den schmerzenden Finger zwischen die Lippen genommen hat, einen Moment nur, wie bei einem Mädchen sah das aus. Er möchte die fremde Hand ergreifen, ein bisschen pusten.
Aber sie wickelt schon ihr Taschentuch um den Finger. Auf ihrer Stirn steht die Ärgerfalte: »Was hattest du heute an den Schüleranoraks zu schaffen?«
»Hä?«
»Ich hörte einen Wecker klirren. Ein Wecker? denk ich und schaue aus dem Lehrerzimmer. Und sehe jemanden davon wetzen, Richtung Treppe.«
»Vielleicht fehlen Ihrer Aleksandra fünf Mark?« Schlagartig ist er wieder feindselig gestimmt und auf der Hut, und da die Frau nicht gleich antwortet, trumpft er auf: »Aus der rechten Tasche, was?«
Die Gelegenheit zur Verständigung ist verpasst, und zu dem Ärger auf Frau Krautweins Gesicht gesellt sich Überraschung: »Aleksandras rechte Tasche? Was redest du da … was für fünf Mark?«
Umberto spürt unklar, dass er einen Fehler begangen hat, und wechselt geschwind das Thema: »Ich sollte doch nach Hause, mich umziehen, wie Sie`s verlangt…« Er stutzt.
Den Einkaufsbeutel, der die ganze Zeit am Arm der Besucherin hing, hat er glatt übersehen. Diesem Beutel entnimmt sie nun seinen Anorak. Den blauen Stoff beult der Wecker.
»Umberto! Und bei diesem Regen läufst du im bloßen Pullover los? Du hattest es wirklich ungewöhnlich eilig, wie?«
Er wendet das Kleidungsstück hin und her.
»Ich war`s jedenfalls nicht«, murrt er.
»Hör gut zu, Umberto Medock: Morgen früh haben wir Besuch in der Schule. Ich hoffe in deinem Interesse, dass du uns die Ehre erweist. Pünktlich.«
»Ach so«, versetzt Umberto ein wenig erleichtert, »die Paten von der Stadtwirtschaft.«
Zu weiteren Erklärungen in dieser Sache kommt es nicht. Die Besucherin hat Ilona nicht bemerkt, die schon geraume Zeit in der Küchentür lehnt. Frau Krautwein fährt herum, als sie das heisere Flüstern hört: »Das müssen Sie schon mir überlassen, Frau, wenn ich meinen Sohn in der Sch-hule sende!«
»Guten Tag, Frau Medock.«
»Ich kann Ihnen wegen Hausfriedensbruch anklagen. Sie haben das Babi geweckt.« Ilona sagt Babi mit langem a.
»Ich habe womöglich einen Wohnungsbrand verhindert«, antwortet die Lehrerin mit Schärfe, ohne sich für ihr Eindringen zu rechtfertigen. Sie deutet mit ihrem umwickelten Finger auf das schwarze Etwas, das einmal Medocks Milchtopf war.
»Sie sind von der Feuerwehr?« Ilona hat die Stimme erhoben. Sie verfügt über dreierlei Stimmlagen: das übliche, verhasste Weimern und Flüstern, dann, lauter, ein heiseres Krächzen, sicheres Zeichen beginnender Gemütswallung, und schließlich für Hochform, für große Auftritte, eine volle, klingende Stimme, vor der das Geschirr auf den Stühlen zittert. Wie jetzt.
Ihre sonst so schläfrigen Augen blitzen blau. Umberto macht den Nacken steif in freudiger Erwartung - ja, es gibt Krach. Oje, wenn Ilona endlich mal in Fahrt kommt! Was für ein Anblick, welch ein Spektakel, wenn sie voll loslegt … Es durchflutet einen heiß, wie nach einer guten, ehrlichen Dresche, die sie ihm früher manchmal verpasste.
Wie eine Löwin kann sie sein, die ihr Junges schützt, Ilona, Ilona, alles dreht sich um ihn, Umberto, traritrara!
Die Leute von ganz Walda müssten sie jetzt sehen! Auf ihrem Morgenmantel schimmern Silbermonde durch grünes Palmengeflecht, den Seidenstoff spannen prall ihre breiten, schönen Schultern, auf denen strohgelbe Haarspitzen sich aufspreizen, wie elektrisch geladen … Kämpferisch wippt auf dem einen Lederpantoffel eine blaue Bommel.
Frau Krautwein wirkt richtig mickrig. Auf ihren dunkelroten Wangen sträubt sich ein hauchfeiner Härchenpelz wie auf einem Pfirsich.
»Das ist ein offizieller Elternbesuch, Frau Medock«, sagt sie recht leise, »und ich habe es bereits mehrfach vergeblich versucht.«
Umberto ist überzeugt, dass sie Respekt vor Ilona hat. Er dagegen, an der Seite seiner Löwenmutter, fühlt sich stark und geborgen.
»Sie behauptet, ich stinke«, schürt er.
Wie erwartet, wippt die Schuhbommel drohender.
»Interessant«, krächzt Ilona und wendet sich dabei direkt an ihn. »Vielleicht behauptet sie auch, wir hätten kein Fichtennadel?«
Frau Krautwein hebt abwehrend die Hände. »Gewiss, gewiss, haben Sie. Deswegen komme ich nicht. Allerdings…«
»Allerdings???«
»Lassen wir das. Aber Ihr Junge versäumt fast regelmäßig die erste Stunde. Kommt, geht, wie es ihm beliebt. Von Hausaufgaben will ich nicht anfangen, er hat ja nicht einmal eine Schultasche.«
Das letzte überhört Ilona schlau. Ihr wachsender Zorn muss anscheinend erst mit dem anderen Schimpf fertig werden, der ihrem Sohne angetan wurde. Sie zieht ihn hurtig zu sich ran und schnuppert absichtlich geräuschvoll an seinem Scheitel: Man soll sehen, wie gründlich sie als Mütter alles persönlich überprüft, selbst noch die unglaublichste Anschuldigung.
»So, also er riecht, sagen Sie. Und das vor der ganzen Klasse.«
Vor der ganzen Klasse hat Frau Krauwein es nun nicht gesagt, und Umberto bemerkt durchaus die kleine Ungerechtigkeit. Aber kommt es jetzt drauf an? Er ist berauscht vom Glück dieser Minute - Ilona tut was, ergreift sein Partei, kämpft, traritrara … Wenn auch alles nur Theater ist, sie spielt es für ihn, ihren Jungen … Seine Nase wird platt gedrückt an ihrer weichen Schulter. Da ist der Duft von irgendeinem Blumenspray, angenehm und irgendwie friedlich.
Ilona ist zurzeit alles andere als friedlich. In ihrer Umarmung zieht und schiebt sie den stolpernden Sohn aus der unaufgeräumten Küche hinüber ins neue Bad. Hier erst gewinnt sie endgültig die Oberhand, ihre Stimme hallt mächtig, ohne Spur von Heiserkeit: »Vielleicht haben wir keine Wanne? Kontrollieren Sie: Sie kommen doch nur zum Rumschnüffeln! Bemühen Sie Ihnen herüber! Zweitausend Mark hat sie gekostet, zweitau-send Mark!« Bei jeder Silbe klatscht ihre kleine rosa Hand gegen die untadelige Glätte der Wanne.
Frau Krautwein ist notgedrungen ins Bad gefolgt, verblüfft, verlegen und so verwirrt, dass sie sich bückt und mit der unversehrten Hand ebenfalls die Wanne berührt, die so teuer gewesen sein soll.
Umberto schnauft vor Entzücken. Zweitausend Mark - was für ein glänzender Witz. Er weiß zwar nicht, wie viel eine Badewanne kostet, aber auf jeden Fall hat nicht Ilona sie bezahlt, sondern die Stadt Walda oder irgendeine Kreisstelle, die halt für das Verschenken von Badewannen oder Waschmaschinen zuständig ist, ist ja auch egal, und wenn's die Frau Jugendhilfe privat war …
Mit ungeahnter Behändigkeit kurbelt Ilona einen Wasserhahn auf. Im Weimerton: »Was sagen Sie dazu! Ich bin eine einfache Frau, eine einfache werkt-hätige Frau, aber ich kauf für meinen Kindern F-hichtennadel!«
Gleich, jubelt Umberto innerlich, gleich platzt sie! Er sieht Ilona die Shampooflasche schütteln …
»Die dürfte leer sein«, bemerkt ihre Gegnerin, die inzwischen ihre Fassung wieder fand. Aber sie lässt sich von dem neuerlichen Flüster- und Weimerton täuschen, meint, die kriegerische Ilona sei auf dem Rückzug. »Überlegen Sie doch, Frau Medock, welchen Einfluss auf …
»Haaa! Einfluss!« kreischt Ilona auf. »Welchen Einfluss lernt er denn bei dir?? Schule schwänzen, was, du magere Schlampe, dir mach ich ´n Einlauf, hier Feuerwehr spielen …«
Den Duschknopf hat sie blitzschnell gedrückt, die Dusche prallt aus dem Schlauch, verfängt sich erst noch in den Windeln über der Wanne, dann trifft der Guss.
Umberto kann nicht sehen, was weiter ist, er steht recht ungünstig zwischen den beiden Frauen, so dass die Nässe zuerst ihm selbst in Gesicht klatscht. Er steht, den Ellenbogen vor dem Gesicht.
Die Wohnungstür fällt ins Schloss.
Von seinem Pullover trieft es auf seine nackten Beine, er patscht durch Wasserlachen zur Tür, zieht sich hinaus zu dem Spalt: Frau Krautwein steht draußen und wischt an sich herum. Ihre Frisur trieft wie seine eigene, der Scheitel ist am Ansatz schon ein bisschen grau.
Er könnte ihr auf den Kopf spucken, aber er lässt es bleiben. Einen Geschlagenen bespuckt man nicht, das tut kein afrikanischer Krieger, sagt Octaviano.
Aleksandras häusliche Schulpflichten. Umberto findet in ihr eine Fürsprecherin.