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Kindergeschichten für (Groß-)Eltern nennt Günter Saalmann seine Geschichtensammlung. Lesen wir, was unsere Kinder lesen? Wissen wir, wie unsere Kinder leben? Kleine und große Begebenheiten, Fabelhaftes und Tatsächliches, Satire und Humor findet sich in diesen Texten des bekannten Kinder- und Jugendbuchautors. Ein Buch zum Schmunzeln und Lachen, zum Nachdenken und zum Nach- und Vorlesen für Eltern, Großeltern und solche, die es werden wollen. INHALT: Tiefsinniges Vorwort Märchen von den Badewannenstöpseln Dienstvermerk mit Anlage Die Posis Deutscher Umlaut Du sitzt und liest Die rote gelbe Blume Die Kapitänswette Einmal nur Die Dusche Die Reise Torstens Halstuch Fabel-Fabel Das Märchen Die Gans im Fuchspelz Stärker als mein Nachbar Georg Landau Die Zwillinge Gedicht im Zeitgeist Milena und der Staubsauger Geschichte von den Mausefallen Ein nachahmenswertes Beispiel Drei Kameraden Der Löwe beim Friseur Chinesische Löwen Heikos Schnürsenkel Weihnachts-Sonett Das Kind mit den Feuerzeugen Die Wachtelstimme Der theoretische Kongress Maus Micky Müller Brief an das Patentamt in München Elsa und der Ritter Lo Heng Rin Zerstörenfrieder Die Wippe Die Räuberburg Die Schlagzeile Frühjahrshochwasser
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Seitenzahl: 150
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Impressum
Tiefsinniges Vorwort
Märchen von den Badewannenstöpseln
Dienstvermerk mit Anlage
Die Posis
Deutscher Umlaut
Du sitzt und liest
Die rote gelbe Blume
Die Kapitänswette
Einmal nur
Die Dusche
Die Reise
Torstens Halstuch
Fabel-Fabel
Das Märchen
Die Gans im Fuchspelz
Stärker als mein Nachbar
Georg Landau
Die Zwillinge
Gedicht im Zeitgeist
Milena und der Staubsauger
Geschichte von den Mausefallen
Ein nachahmenswertes Beispiel
Drei Kameraden
Der Löwe beim Friseur
Chinesische Löwen
Heikos Schnürsenkel
Weihnachts-Sonett
Das Kind mit den Feuerzeugen
Die Wachtelstimme
Der theoretische Kongress
Maus Micky Müller
Brief an das Patentamt in München
Elsa und der Ritter Lo Heng Rin
Zerstörenfrieder
Die Wippe
Die Räuberburg
Die Schlagzeile
Frühjahrshochwasser
Günter Saalmann
E-Books von Günter Saalmann
Günter Saalmann
Stärker als mein Nachbar
Kindergeschichten für (Groß)Eltern
ISBN 978-3-86394-058-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1996 beim Chemnitzer Verlag
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Man erklärt mir, meine Jugendbücher seien "sehr anspruchsvoll" und macht dazu ein bedenkliches Gesicht. Kein Jugendlicher verstünde Satire, Hintersinn, Gleichnishaftes, Anspielung auf... Geschenkt. Ich könnte mit Theodor Storm antworten: "Wenn du für die Jugend schreiben willst, so darfst du nicht für die Jugend schreiben." Und mit Rabindranath Tagores früher Leseerinnerung fortfahren: "... und sowohl das, was wir verstanden, wie das, was wir noch nicht verstanden, wirkte in uns weiter."
Aber anstatt mich zu rechtfertigen, nenne ich die folgenden Geschichten einfach: Kindergeschichten für (Groß)Eltern. Fertig. Ich überreiche mir dieses Bändchen übrigens selbst. Nächstens, zum 60.
Die Prosatexte stammen aus mehr als einem Jahrzehnt, sind zum kleinen Teil hier und da schon einmal veröffentlicht, jetzt behutsam redigiert; Fabelhaftes findet sich neben wahrer Begebenheit. Am Anfang stehen natürlich die älteren Geschichten, deren Tonfall ungelernten deutschen Bundesbürgern vertraut vorkommen dürfte. Für manchen könnte spannend sein, was wir früher mal lustig fanden, und worüber wir heute nicht lachen können. Ich habe im Übrigen aber dann nicht streng chronologisch geordnet, sondern nach dem Prinzip des geeigneten Übergangs. Manchmal allerdings lässt sich der nicht herstellen, dann steht Gereimtes dazwischen, als "Puffer". (Dazu und für Werbung ist es heutzutage noch gut.) Mag ansonsten die Reihenfolge einmal mehr zum Beweis dienen, wie man Geschichten doch aufeinander folgen lassen kann, die unvereinbar sind wie Feuer und Wasser... Sehen Sie, da hätten Sie so eine Anspielung.
Chemnitz, 29. Juni 1995
Es lebte ein gastfreundlicher Sultan, zu dem kamen Besucher aus aller Welt von den feinsten Gestaden, aus den staubigsten Wüsten, aber auch aus der Umgebung der lieblichen Hauptstadt.
Für die Gäste gab es im Sultanspalast vierzig Gemächer, alle aufs schönste eingerichtet mit Betten aus echtem Holz, mit Wärmflaschen für den Winter, mit weißen Badewannen. Und auf jedem Badewannenrand lag ein passender Badewannenstöpsel, ganz, wie es sich gehört.
Nun geschah es, dass ein solcher Stöpsel abhanden kam, einfach, weil er unter die Wanne rollte.
Abends will der Gast, staubbedeckt vom Wüstenritt, ein Bad nehmen. Er wundert sich: Kein Stöpsel! Er pocht an die Tür des Nachbarn, die unverschlossen ist. (Im Sultanspalast gab es keine verschließbaren Türen, die hätten als Geste des Misstrauens gegolten, und das wäre unvereinbar gewesen mit der bekannten morgenländischen Gastfreundschaft.) Der Nachbar ist ausgegangen, ein Stöpsel liegt da.
Unser Mann borgt sich den Stöpsel, badet, planscht, schnauft, genießt das schöne Leben. Und wickelt den unbedeutenden Gegenstand hinterher in seinen Waschlappen, damit er in Zukunft auf Reisen nicht wieder in Verlegenheit gerät. Nun fehlen zwei Stöpsel.
Der Nachbar kommt mit einer entfernteren Nachbarin aus der Nachtbar, sie wollen baden. Sie klinken an der dritten Tür, borgen sich den Wannenverschluss und vergessen alles um sich her, auch die Rückgabe des Stöpsels.
Am folgenden Tag fehlten drei Stöpsel, und als die Karawane schließlich die Kamele sattelte, fehlten sie in allen vierzig Wannen. Eine Familie mit ihrem netten Jungen, die später angereist war, konnte nur duschen und verpanschte einen ganzen Fluss von dem kostbaren Wasser, denn der Wasserverbrauch war im Zimmerpreis inbegriffen.
Zornig erließ der Sultan den Befehl, dass seine Wärmflaschenmacher ihre Werkstätten augenblicklich auf Badewannenstöpsel umstellen müssten, um den Verlust auszugleichen.
Aber so sehr er auch mit Handabhacken drohte, die Stöpsel im Land sollten künftig nie mehr ausreichen. Und obwohl der Sultan bald die größte Badewannenstöpselproduktion der Welt besaß, fehlten sie bald selbst in der kleinsten Herberge. Denn wo immer nun ein Gast noch solch ein begehrtes Stück vorfand, steckte er es kurzerhand ein. Jetzt schon als Ersatz für den Fall der Fälle, nämlich, dass er seinen personengebundenen Badewannenstöpsel einmal liegen ließe, aus alter Gewohnheit.
1983
Volkspolizeirevier xxx
- Bahnpolizei -
Nur für den Dienstgebrauch
Berlin, 5. 3.87
Der Vorgeführte gibt an, Mitglied eines Zirkels Schreibender Jugendlicher zu sein. Er verhielt sich bei der Festnahme ruhig, wiewohl sein Äußeres von Verwahrlosung zeugte: Wickelschal, angeschmutzte Kutte, randlose, sog. "Schubertbrille", langes, strähniges Haar. Den sichergestellten, von ihm so betitelten Prosatext "Zukunftsvision" hat er nach eigenem Eingeständnis ohne fremde Hilfe verfasst, und zwar in den heutigen Nachtstunden, im Wartegang vor hiesigem Mitroparestaurant, auf seinem Rucksack sitzend. Der Text wird hier als Beweismittel angefügt.
1 Anlage Prosaarbeit "Zukunftsvision"In der Frühe des 17. Januar des Jahres 1990 liegen die unlängst vom Eis geräumten Kreuzungen fast verlassen. In weiten Abständen schwimmen einzelne Scheinwerferpaare durch den Dunst, der seit Tagen über der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik liegt. Massen von Fußgängern wälzen sich als dunkle Knäuel über die Gehsteige, bilden Menschenmauern an den Haltestellen, auf den Plattformen der S-Bahnhöfe, ergießen sich später als lautlose Ströme ins Innere der Fabrikhöfe. Zu hören ist nur ihr tausendfacher Tritt, hier und da ein Satzfetzen, ein Räuspern, ein unterdrückter Morgenhusten. Im Kontrast zu dem gewohnten Schweigen, das der Fremde als mürrisch zu deuten geneigt ist, steht in vielen Augen ein verständnisinniges, bald spöttisches, bald verschwörerisches Glitzern.
Verspäteter als sonst und in größerer Zahl hasten die Nachzügler schräg über verödete Fahrbahnen, zurück bleibt lastende, für die Hauptstadt ganz ungewöhnliche, geradezu peinliche Stille, die nun zusammen mit dem sich noch weiter verdichtenden grauen Dunst in alle Winkel kriecht.
Und dabei produzieren die Volkseigenen Betriebe wie jeden Tag, aus rostigen Rohren, aus Ziegelritzen quillt es weiß, rosa, gelb, und man vernimmt durchaus das Stampfen der Aggregate, das Klirren schwerer Maschinenteile hinter trüben Scheiben, das an- und abschwellende Getöse der Bahnen, das Aufgrollen von Dieselmotoren.
Aber das alles ist nicht der vertraute gleichbleibende Lärm, das Brausen der Stadt, vielmehr sind es bloß einzelne Geräusche, Akzente, die die Stille gleichsam bestätigen. Was ausbleibt, ist das pausenlose Schlagen und Klatschen abgefahrener Reifenprofile auf löcherigem, klebrigem Asphalt, das ununterbrochene Getöff im Standgas laufender Zweitakter.
Jetzt, das Tageslicht dämmert bleiern herauf, heben sich in den Wohngebieten schemenhaft die an den Fahrbahnrändern, auf den Gehsteigen zwischen den Baumrümpfen noch für die Nacht geparkten PKW ab, schmutzfarben, sinnlos die schräggestellten Räder gespreizt. Die zentralen Parkplätze dagegen gähnen zahnlückiges Gähnen.
Was ist geschehen? Im anderen Teil der Stadt herrscht Smogalarm der Stufe zwei, der dortige Innensenator hat sich in einem Fernsehappell eigens an die Einwohner der "Hauptstadt" gewandt, auf den fahrbaren Untersatz vorübergehend freiwillig zu verzichten. Zehntausendfach ist man diesseits der Mauer dem Aufruf gefolgt.
Und schon tauchen entlang der ausgestorbenen Magistralen unangemeldete Kamerateams auf, treffen Anstalten, den Erfolg des Appells zu dokumentieren. Sie werden von rasch zusammengezogenen Ordnungskräften abgedrängt. Über Sprechfunk ergehen kurze Anfragen an ferne Dienststellen. Lakonisch sind die darauf erfolgenden Weisungen an die Filmleute. Sie werden auf die Einhaltung geltender Bestimmungen hingewiesen und höflich aufgefordert, zur Mittagsstunde wiederzukommen.
Bereits ab elf Uhr rollt der Verkehr. Insbesondere der weite Ring: Unter den Linden, Karl-Marx-Allee, Leipziger Straße, Friedrichstraße ist dicht befahren, als wäre bereits Hauptverkehrszeit. Chromglänzende schwarze Limousinen, farbenfrohe Ladas, gewaschene Wartburgs und Trabants, hinter den blitzenden Scheiben erahnen die ausländischen Kameras die trainiert undurchdringlichen Mienen der Einschätzung durch die Dienststelle.
Als Anlage beigefügte Auslassung, die unzweifelhaft den Tatbestand der Herabwürdigung der DDR erfüllt, wurde offenbar nicht abgeschlossen bzw. deren Fertigstellung rechtzeitig von Ordnungskräften unterbrochen. Es erübrigt sich der Zusatz, dass der Text von Anfang bis Ende der irregeleiteten Fantasie des Aufgegriffenen entspringt. Weder wurde in Berlin am Morgen des 17. Januar eine Verringerung des PKW-Verkehrs registriert noch wurden Aktivitäten verdächtiger Kamerateams beobachtet, so dass auch die weiteren, vom Verfasser behaupteten staatlichen Folgemaßnahmen aus der Luft gegriffen sind. Von "Stille, die zusammen mit dem sich verdichtenden grauen Dunst in alle Winkel kroch", konnte mithin nicht im Mindesten die Rede sein.
Auf Fakten beruht lediglich der erwähnte panikmacherische sog. "Appell an die Autofahrer Ostberlins", der jedoch die bestehende Ordnung in keiner Weise beeinträchtigen konnte und kann, und dessen Anstifter unsere Hauptstädter durch Besonnenheit bei der gewohnten Benutzung ihrer Kraftfahrzeuge einmal mehr unmissverständlich die gebührende Abfuhr zuteil werden ließen.
1987
Das Posi von Elke Mai wurde unter den Mädchenbänken weitergereicht wie ein erster Liebesbrief, doch es duftete so verräterisch nach neuem Kunstleder, dass die Jungen mit ihren Spottnasen buchstäblich herausschnüffeln konnten, in wessen Ranzen es gerade steckte. Herrn Kraatschblick entging nicht das allgemeine Interesse an dem Gegenstand.
"Ach ja", sprach er zu seiner lieben 5 a, "das reife Alter naht mit Macht, und wer möchte nicht dereinst gewappnet mit gereimtem Herzenswunsch und -spruch den Stürmen des Lebens trotzen?"
"Posis sind Mist", riefen die Jungen überlaut. Das linke Augenlid des Deutschlehrers zuckte leicht:
"Streng genommen heißt es nicht 'Posi"', versetzte er, "sondern 'Poesie-Album'. Poesie, meine Freunde, ist nicht unbedingt Mist. Mein Vorschlag: Selber dichten! Weg mit solch geblümeltem Schwachsinn, wie er zu meiner Schulzeit Mode war: Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken, aber unsre Liebe nicht..."
"Steht bei mir schon drin", entfuhr es Elke Mai. "Aber wenn es nicht von Liebe sein soll, reiß ich die Seite noch mal raus."
Olaf Scheibner blätterte errötend und fahrig das Lesebuch durch: "Hier waren doch immer prima Sprüche", murmelte er, "von Max Zimm - - -"
"Nein, nein, nein", rief Herr Kraatschblick, "ich sagte: Selber dichten! Gäbe das nicht ganz neuartige Posis? Fortschrittlich kann und soll ja durchaus sein, was jeder sich ausdenkt. Mag es auch von Liebe handeln."
Fortschrittlich... und von Liebe? Der Vorschlag des Klassenleiters war angenommen.
Nun rannten auch die Jungen von Papiergeschäft zu Papiergeschäft nach einem "Poesie-Album", und mit hängender Zunge klebte ein jeder gestanzte Vergissmeinnicht auf die erste Seite und malte darunter: MEINE SCHULZEIT. Die Blätter wurden mit Bleistift nummeriert: 1. Mutti, 2. Herr Kraatschblick, 3. Herr Direktor Seybold, 4. Elke M. Es folgten die Namen weiterer ausgewählter Dichter.
Der Tausch begann zügig. Elke hatte den kritisierten Spruch von den welkenden Rosen, Tulpen, Nelken entfernt und reichte Olaf ihr Album zum zweiten Mal. Errötend gab er ihr seins.
Er quälte sich sehr. Die Nelken wichen nicht aus seinem Kopf, und nachts, unter der Bettdecke, im Schein der Taschenlampe, reimte er schließlich: Liebe Mai, Elke, Du bist eine Meinelke. Dies dichtete Dir zur frdl. Erinnerung Dein Schulfreund Olaf Scheibner
Nun, nachts dichtet der Mensch manches, für das er sich früh geniert. Olaf gab das Album lange nicht zurück. Elke konnte ihn nicht mahnen, sie machte selbst schwere Tage durch. Schließlich fand sie im Posi ihrer Mutter dieses: Zwei Lebensstützen brechen nie: Gebet und Arbeit heißen sie.
Zuversichtlich, dass schon keiner den Betrug merken würde, machte sie sich ans Abschreiben. Bei dem merkwürdigen Ausdruck 'Gebet und Arbeit' stockte ihr jedoch der Füller.
"Muss es nicht 'Gebt uns Arbeit' heißen?", fragte sie ihre große Schwester.
"Danke für Obst", sagte die knurrig, denn sie war aus gewesen letzte Nacht. "Schreib: 'Held der Arbeit', das wirkt gut. Gott, ist mir schlecht."
Elke schrieb also: Zwei Lebensstützen brechen nie, Held der Arbeit heißen sie.
Beim Durchlesen merkte sie, dass ja von zwei Stück Lebensstützen die Rede war, und sie malte entschlossen eine rote Zwei vor den 'Helden der Arbeit'. Mit halbwegs gutem Gewissen konnte sie die Widmung schreiben: Dies dichtete Dir usw.
Olaf zog einen Flunsch, als er verstohlen sein Album aufschlug, das sah Elke wohl. Aber sie selbst konnte mit Olafs Gedicht zufrieden sein. Ohne Säumen reichte sie ihr Album weiter.
In der Folgezeit probierten alle, auf Olafs Art zu dichten, nämlich die Vor- oder Familiennamen irgendwie als Reimwörter einzubauen: 'Alles Gute, liebe Ute', schrieben sie. 'Nur Mut, Dein Knut', 'Alles Erdenkl. wünscht Ralf Krenkel'.
Natürlich, die Methode half wirtschaften. Aber immerhin mussten sich ja alle siebenundzwanzig Klassenkameraden fünfundzwanzigmal verewigen. (Das eigene Album entfiel, und einer, Jens, konnte sich keins leisten.) Blieben 27 mal 25 gleich 675 Posi-Sprüche, die neu zu schaffen waren. Angesichts solcher Planziele war das Namen-Reim-Verfahren ein Tropfen auf den heißen Stein. Und was sollte z. B. der arme Tassio Zschokkelt in Manina Hupfs Album hineindichten? Etwa: Manina Hupf, krieg niemals Schnupf? Auch Tassio, leider, griff zu unlauteren Mitteln. Er entlehnte, wer weiß woher, einen uralten Posi-Scherz:
Wer Dich lieber hat als ich, der schreibe sich nur hinter mich. Gedichtet von Tassio Zschockelt
Er schrieb sich auf die letzte Seite und ließ unten ganz wenig Platz. Dennoch quetschte nach ihm Wilhelm Kowalski seinen Wilhelm noch hin, direkt auf den Schnittrand, der vergoldet war. (Das Album war aus dem Westen.)
Man sieht, trotz fehlender genialer Einfälle glomm bereits so etwas wie eine künstlerische Wettbewerbsstimmung. Ohne diese Stimmung wäre es wohl auch schwerlich jemandem eingefallen, jemandem seine junge Liebe auf die Nase zu binden. Im Posi war es Kunst.
Ein dritter Verehrer Maninas heftete die Blätter in dem feinen Album kurzerhand um und verdrängte Tassio samt Wilhelm von der letzten Seite. Nun hatte er selbst Manina am liebsten. Beim Umheften verkleckste er eine halbe Flasche gelben Büroleims.
Der Unglücksrabe! War es Bosheit oder Dummheit? Den Spruch, den er ein paar Tage später dem langen Ulf Kretzschmar ins Album klierte, hatte er im Altpapier aufgestöbert:
O wandle stets auf Rosen auf immergrüner Au, bis einer kommt in Hosen und führt Dich heim als Frau. Zur frd!. Erinnerung an Deinen Schulfreund Jens Zippel
UIf fetzte die Seite heraus und gab seinem Banknachbarn tagelang keine Schnitte ab, bis er wieder einmal Blutwurst drauf hatte. Solche und ähnliche Vorfälle dämpften den allgemeinen Eifer dann wieder wochenlang, und als Herr Kraatschblick einmal vorsichtig nach dem Stand der Posi-Bewegung fragte, kam sogar betretenes Schweigen auf. Elke Mai, jetzt Mainelke genannt, maulte: "Andere Klassen haben ihre Posis längst voll."
Hatte sie nicht recht? Längst waren in der Schule andere Moden aufgekommen, etwa das Schießen mit Drahtkrampen oder zartfarbene Abdrucke von Modefotos auf nagellackgetränkte Briefbögen. Dichten? Die Großen tippten sich an die Stirn: "Deutsch-Kraatschblick läuft nicht mehr rund!"
"Ihr wollt Pioniere sein", sprach der Lehrer traurig zu seinen Lieben, "schöpferische Persönlichkeiten, die später..."
"Herr Kraatschblick, Herr Kraatschblick, was kriegen wir?"
"Bitte, Olaf, ich verstehe nicht recht?"
"Na, eine Prämie oder so, wo wir uns dermaßen anstrengen..."
Des Lehrers Augenlid flatterte wieder mal zum Verrücktwerden, und die meisten senkten davor die Blicke.
"Also gut", sprach er nach einer ganzen Weile, "wir werden das schönste Poesie-Album auswählen. Mag es in unserem Schul-Traditions-Zimmer 'Max Zimmering' kommenden Geschlechtern von unserem Dichterfleiße künden..." Sein Auge flatterte nicht mehr. Es blinzelte eher ein wenig spöttisch.
Wenn man später zurückdachte, so war ein scheinbar unscheinbares Gedicht der Start zu neuen Ufern der Verskunst. Sein Verfasser war ausgerechnet Jens, der Unglücksrabe, der Leimverschwender, der Rosen-Hosen-Poet, ein Mensch, auf den sich keiner gern verließ, und der sich selbst auf niemanden verlassen konnte, nicht einmal auf seine Leute daheim. Außerdem wuchs er bedeutend langsamer als seine Mitschüler, trotz ewiger Verfressenheit. Jens Zippel, konnte jemand unglücklicher sein als Jens Zippel?
Einen neuen Spruch verlangte Ulf Kretzschmar, diesmal ohne Rosen-Hosen. In einer Hofpause steckte er seinen Kumpel samt Album und Schreibwerkzeug in den großen Klassenschrank und band die Tür zu. Nur ein Streifen Licht fiel in Jensens dumpfes Gefängnis.
"Dichte!"
Der Kleine biss die Zähne zusammen, Tränen der Ratlosigkeit tropften aufs Papier, aber beim Klingelzeichen stand es da, das neue Werk:
Wachse groß wie eine Esche ohne Dresche. Jens Zippel
Die Klasse umsteht den geöffneten Schrank. Trotzig blinzelt der Dichter aus dunkler Tiefe. Ulf lässt das Album sinken. Mainelke bemächtigt sich des Materials, liest laut vor.
"Eigentlich...", sagt sie nach längerer Pause. Die meisten schlendern still an ihre Plätze.
Die Zeit eilte dahin, allmählich, allmählich wurde klar, dass es keine einheitlichen Verfahren gab, nach welchem man Verse herstellte wie Aufhängebleche oder genagelte Topfuntersetzer... Jensens schlichte Zeilen hatten ahnen lassen, dass nicht unbedingt Dichter und Angesungener eins sein mussten in Sehnen und Trachten, immer vielmehr der Dichter und sein Gesang.
Schweigen will ich über jene, die heimlich Zweit-Posis anlegten, um sich darin gegenseitig mit Rosen, Tulpen, Nelken zu überschmeicheln. Freilich, ein Kitsch-Posi lief nicht Gefahr, ans Neonlicht des Traditionszimmers gezogen zu werden.
Herrn Kraatschblicks 'Prämie' hatte in der Tat etwas Vertracktes, wie sich bald noch anderweitig zeigte.
Während einer Stunde in Zivilverteidigung entfloss Wilhelm Kowalskis Füller in Tassio Zschockelts Album hinein diese romantische Strophe:
Wenn einst der Fahne Ruf erschallt und ruft uns zwei in Sumpf und Wald, dann denk: Wir stehn in dunkler Nacht auch für Manina Hupf auf Wacht.
'Der Fahne Ruf'... Diese gruseligen U-Laute! Wie untermalten sie Wilhelms tapfere Selbstverleugnung gegenüber dem künftigen Waffengefährten! Fortschrittlichkeit plus Liebe - ja, das war's! Der Name Maninas war mit Bleistift eingesetzt: Vielleicht überlegte Tassio es sich bis dahin und wechselte ihn aus... "Zschockelts Album muss ins Traditionszimmer", schlug Wilhelm bescheiden vor.
Das war eben das Vertrackte: Den wirkungsvollsten Spruch schrieb man am liebsten seinem heimlichen Widersacher ein, damit der womöglich sein Album für die Nachwelt opfern musste, der eigene Name kündete dann darin vom Dichterfleiße.
"Noch ist nicht aller Tage Abend", sagte Herr Kraatschblick und nahm einen Stapel Posis mit zu Direktor Seybold, damit der in jedes ein paar passende Worte hineinschriebe.
"Mumpitz!", schimpfte der Direktor unerwartet streng, "habe ich meine Zeit gestohlen?" Und er zuckte seinen Goldfüller und druckte in sämtliche Bücher:
"Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Dein Direktor Seybold
"Da geht einfach nix drüber", grollte er noch.
Mainelkes Mutti, die in der Schule saubermacht und zufällig gerade anwesend war, wischte sich die Hände trocken und schrieb ihrer Tochter den gleichen Aufruf ins Posi, gleich auf die Nachbarseite. Herrn Kraatschblicks Auge ruckte und zuckte wie nie, als er die verschiedenen Schreibweisen auf beiden Blättern verglich.
"Ob sich Herr Seybold und Frau Mai heiraten?", fragte tags darauf Ulf Kretzschmar spitz.
Mit solchen Reden möchten sie Mainelke ärgern. Die guckt seit einem gewissen Wandertag nach Jens Zippel, und der ist, jetzt in der Zehn, ein stämmiger junger Mann. Nicht gerade groß wie eine Esche, dafür lieb wie ein Lamm und mit leicht chinesisch wirkendem Schnurrbart. Er streichelt wie von ungefähr über Elkes Poesiealbum, und sie sieht's wohl und überhört die dummen Witzeleien.
Wessen Posi wohl den Preis erringen wird?
Am meisten von allen rackelt sich mit dem Dichten der alte Deutsch-Kraatschblick ab. Ein ganzer Berg goldgeprägter Bände belastet seinen häuslichen Schreibtisch und seine Träume. Ihr Lieben..., dichtet er, ihr Lieben..., und findet nicht weiter. Es soll ja für jeden was Extraes sein.
Für diese Ausgabe wurde übrigens, wo notwendig, die Orthografie in sämtlichen Sprüchen durch Herrn Kraatschblick korrigiert.
1985
Dieser wagt, was der noch wägt, dieser sagt's nur, jener sägt, dieser buckelt, jener bückt sich, dieser druckt ein Wort, der drückt sich... Dieser stützt und jener stutzt uns, dieser nützt und der benutzt uns, dieser trägt 'ne Losung vor, jener schlägt 'ne Lösung vor.
1988
Du sitzt und liest im Heimatblatt, Du liest von Kuwait und Bagdad. Von PLO und IRA, Von Libanon, Südafrika. Algerien, Bosnien, Türkei, von Hunger, Mord und Tyrannei. Du raffst dich auf: Das Bad ist frei!
1988 (wird ständig aktualisiert)