Streit um Legohr, sieben Löffel Pudding und andere Kindergeschichten - Günter Saalmann - E-Book

Streit um Legohr, sieben Löffel Pudding und andere Kindergeschichten E-Book

Günter Saalmann

5,0

Beschreibung

In Winkeln veranstalteten die Klassen 4a und 4b eine „Kleine Friedensfahrt“. Achim Schuster hat für das Radrennen fleißig trainiert. Seine Chancen, am Ende auf einem Treppchen des Siegerpodestes zu stehen, sind groß. Doch es kommt alles ganz anders. An der Strecke steht seine Freundin Anne, ihr ist der Esel Legohr weggelaufen. Achim unterbricht das Rennen und hilft, das Tier einzufangen. Um aber das Gesamtergebnis seiner Klasse nicht zu gefährden, lässt er sich zu einem Betrug hinreißen. Schwierig werden die nächsten Tage nicht nur für Achim, sondern auch für Frau Schuster, seine Oma und Lehrerin. Ausgerechnet von ihr wird er eine Ohrfeige bekommen - und alles nur, weil Legohr gerettet werden muss. Ulrike und Jörg klettern heimlich auf einen Baum in der Kirschplantage. Der große Ast ragt weit auf die Straße und wackelt bedrohlich. Da fährt ein Lastwagen vorbei ... Bastian ist mit seinen Eltern aus Leipzig in den Westen umgezogen. Wird er neue Freunde finden? Da sind Songül, das türkische Mädchen, aber auch Ossi und Tom - und das kostbare Taschenmesser aus Leipzig. INHALT: Streit um Legohr Sieben Löffel Pudding Der alte Ast Das Odradek Am Katzentisch

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Streit um Legohr

So fünfzehn Jahre ist das jetzt her

Trainings-Vorlauf

Anne hat kein Rad

Am Start - wieder Papa

Meinhardt macht Angebote

Auf der Strecke

Am Ziel - Oma

Siegerehrung

Das Treppchen

Schlag auf Schlag

Esel-Salami

Üb immer Treu ...

Gestrüpp und Gerümpel

Der Punkt aufs i

Der Abschied

Achim korrigiert Hefte

Lumpensammler

Achim Legohr negativ

Zwei Retter

Achim will sich entscheiden

Werter Kollege Saalmann!

Sieben Löffel Pudding und andere Geschichten um Ulrike und Jörg

Sieben Löffel Pudding

Der alte Ast

Das Odradek

Am Katzentisch

1. Kapitel: Rippenfreiheit

2. Kapitel: Verrücktschüs Laden

3. Kapitel: Völkerschlacht

4. Kapitel: Die Scherzfrage

5. Kapitel: Die Zerstörenfriede

6. Kapitel: Baldrian

Günter Saalmann

E-Books von Günter Saalmann

Impressum

Günter Saalmann

Streit um Legohr, sieben Löffel Pudding und andere Kindergeschichten

ISBN 978-3-86394-453-7 (E-Book)

Die Druckausgabe von „Streit um Legohr“ erschien erstmals1981 in Der Kinderbuchverlag Berlin, „Am Katzentisch“ 1991 im Arena Verlag Würzburg und „Sieben Löffel Pudding“ 1978 in Der Kinderbuchverlag Berlin (Die kleinen Trompeterbücher Band 131).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Streit um Legohr

So fünfzehn Jahre ist das jetzt her

So fünfzehn Jahre ist das jetzt her (1981 der Verlag), da hockte ich zufällig auf dem winzigen Bahnhof von Winkeln, Kreis Wunkeln, und wartete auf den Zug. Neben mir saß ein zappliger, spitznasiger Junge, der immerzu aufsprang, bald zu der Tafel mit den Ankunftszeiten lief, bald auf die Bank stieg und in einem Aushang herumbuchstabierte:

Bahnpolizeiliche Vorschriften über den Verkehr auf Bahnhöfen

Mal riss er die Augen weit auf, mal kniff er sie zusammen wie einer, der schlecht sieht oder angestrengt nachdenkt.

„Du brauchst eine Brille“, sagte ich probeweise.

„Sie machen ihn tot“, flüsterte er.

Der Junge war ein richtiges Nervenbündel. Da wir allein waren, entspann sich ein Gespräch. Er nannte sich Achim, manchmal einfach Acke. Er erwartete seine Eltern von einer Erholungsreise zurück. Sie sollten mit dem Zug kommen, mit dem ich weitermusste. Er erwartete sie mit großer Bangigkeit.

Wie es kam, dass er mir, einem Wildfremden, seine Geschichte erzählte? Es schien, als fürchtete er, der Zug könnte eintreffen, bevor ich und er selbst sein verwickeltes Problem begriffen hätten ...

Vergangenen Winter verschlug mich mein Beruf wieder einmal auf jenes Bahnhöfchen. Ich fror, las in den Bahnpolizeilichen Vorschriften - sie hingen immer noch hinter blank geputzten Glasscheiben:

Zuwiderhandlungen werden nach der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung vom 17. Juli 1928 bestraft."

Mir kam mein unruhevoller Achim oder Acke in den Sinn. Was mochte aus ihm geworden sein?

Bald darauf entschloss ich mich, seinen Bericht aufzuschreiben, obwohl ich den Schluss nicht kannte. Ich hatte ja damals fortgemusst, als sein Vater ankam.

Einige Kapitel erschienen in der Zeitung. Daraufhin erreichte mich ein Schreiben von einem Herrn Joachim Schuster. Dieses Schreiben enthielt den Schluss, der mir fehlte. Er ist weit merkwürdiger, komischer und dabei einfacher, als ich selbst ihn hätte ausknobeln können. Den Brief hänge ich nun mit freundlicher Erlaubnis des Absenders ans Ende meines Büchleins.

Die Geschichte von Ehrlichkeit und Treu und Redlichkeit habe ich grammatisch in die Gegenwart (Präsens) gerückt. Was nicht bedeuten soll, dass wir heute noch die gleiche Not mit der Ehrlichkeit haben wie mein Achim vor fünfzehn Jahren. Beileibe nicht! Wir schmeißen ja auch keinen Müll mehr in den Wald. Dies bloß als Beispiel.

Günter Saalmann

Trainings-Vorlauf

„Nicht so schnell, Papa!“

„Tempo, Acke! Im Windschatten bleiben!“

Papa trainiert mit Achim für die „Kleine Friedensfahrt“ der vierten Klassen. Das ist das Verrückteste seit Jahren: Papa, der Vorsitzende der LPG, bringt mal Zeit auf für seinen Sohn.

Er hat das eigene Rad, sein altes Rennrad, vom Schuppenboden geholt, Luft aufgepumpt, Mama winkte am Hoftor, ab ging’s.

„Tempo!“

Der Himmel wird hell, sie verlassen Triebschs Holz. Die Chaussee neigt sich sanft abwärts, rasch - rasch - rasch, rascheln die alten Birnbäume mit ihren jungen Blättchen. Hinter Papa her!

Linker Hand reckt und streckt sich der Kleeschlag der LPG über den Hang. Der Klee steht kümmerlich dieses Frühjahr. Auf einmal bremst Papa scharf.

„Mistvieh, verfluchtes!“

Von rechts trottet Triebschs Esel Legohr über die Fahrbahn. Hat die behaarten grauen Ohren nach hinten gelegt, von seinem Halfter baumelt ein Stück Strick. Achim stemmt sich in den Rücktritt, nimmt hart die Handbremse.

Auch der Esel ist stehen geblieben. Blickt erwartungsvoll. Pupst. „Satansbraten“, sagt Papa. „Wolltest wieder in unseren Klee. Hat dich die alte Hexe losgescheucht?“

Legohr blinzelt, hebt die Ohren, legt sie wieder an.

„Großmutter Triebsch ist keine alte Hexe“, rügt Achim seinen Vater. Er benutzt den vornehmen Ausdruck „Großmutter Triebsch“, obwohl er sonst auch nur „alte Triebschen“ sagt, wie alle Leute im Dorf Winkeln.

„So?!“ Papa muss sich zwingen, ruhig zu atmen. Plötzlich ist zu merken, dass er das Radfahren doch nicht mehr so recht gewohnt ist. „So? Eine Hexe ist sie also nicht. Fein, fein. Du Experte, du. Aber ihren Esel - den schickt sie absichtlich in den LPG-Klee, damit er sich den Wanst vollschlägt. Diebstahl nenn ich so was. Hat sie kein Gras vorm Haus?“

Den Krach zwischen Großmutter Triebsch und der LPG gibt es nicht erst seit gestern. Die alte Frau zetert im Dorf herum, das Gras auf ihrer Wiese ist dem Esel nicht mehr zuzumuten! Jedenfalls nicht, solange die Winkelner weiterhin ihr Gerümpel draufpfeffern! Die LPG wiederum erklärt, dafür ist sie nicht zuständig. Das Gerümpel ist Bürgermeistersache. Und die Leute laden ihren Krempel ja auch im Wald ab. Wer soll da anfangen aufzuräumen ... Gut, gut, verkündet die alte Triebschen, dann frisst er eben LPG-Klee.

Wer hat recht?

Auf der letzten Gemeindeversammlung gab es böse Worte. Papa hat den Bürgermeister beschimpft und die Triebschen eine „verdammte alte Hexe“ genannt. Und sie hat ihm Rache geschworen: „Das wirst du mir büßen, Vorsitzender!“

So jedenfalls erzählt man’s im Dorf, so hat es Achim hinter seinem Rücken in der Schule tuscheln hören.

„Das bisschen Klee“, sagt er zu Papa.

„Und unsere Rinder?“, fragt der bissig. „Ich würde ja nichts sagen, wenn Sommer wär. Wenn wir genug Futter hätten. Die Kälber ...“

„Am Kälberstall steht: ‚Betreten verboten’, Papa. Aber den Esel kann man streicheln.“

„Streicheln? Bist wirklich ein Experte.“

Mit einiger Mühe zerrt Papa den Esel von der Straße, zurück auf Triebschs Wiese. Dabei knurrt er diese Melodie, die ihm neuerdings immer dann einfällt, wenn er innerlich kocht:

„Das ist, schrummschrumm, die Liebe der Matrosen ...“

Beim Singen läuft Papas Gesicht rot an, es ist ein ungesundes, böses Rot.

Triebschs Wiese gleicht tatsächlich einer Schutthalde. Bettenteile, eine zahnlose Egge, Motorradreifen, ein rostiger Kultivator; der Wind bewegt die Stoffbezüge eingebeulter Lampenschirme. Immerhin, bei gutem Willen sieht man auch Grün sprießen ...

Am Strick bugsiert Papa den Esel bis hinauf zu Triebschs mickrigem Gehöft. Stiefelt durchs Tor. Achim gibt auf die Räder acht. Von Weitem vernimmt er Weibergezeter, Papas Stimme, die sich manchmal überschlägt, und Legohrs lang gezogenes A-hi-i-i-i, laut wie eine Bushupe.

Anne hat kein Rad

„Komm vor, Acke, ich seh dich“, sagt das Mädchen Adriana geradeaus in die Luft. Das Gestrüpp in Triebschs Holz hat ihr wohl heute die Haare gekämmt. Sie wehen wie eine Trauerweidenkrone bei Gewitter. Zwischen den Haaren guckt ein Ohr hervor, sie lauscht schräg gegen den Wind. Natürlich hat sie zwei Ohren, aber das eine steht ein bisschen ab, ein klein wenig. Das Mädchen heißt Adriana. Zum Lachen. Ein Name wie von einer Seenixe.

Adriana Triebsch. Jeder sagt Anne.

Alle sagen, den Nixennamen hat ihre Mutter nur ausgesucht, weil sie selbst einen Hang zum Wasser hat. Alle sagen, sie kellnert in der fernen Seestadt Rostock und färbt sich jeden Tag die Haare anders. Einen Tag blond, den nächsten lila.

Anne breitet den Saum ihrer Strickjacke aus, hockt sich auf ein sonnentrockenes Eckchen Matratze. Sie schlingt die Arme um ihre Wollstrumpfknie. In ihrer Hand erspäht Achim einen Beutel Lakritzebonbons.

„Komm schon vor, Achim, ich hab dich lange gesehen“, wiederholt sie. Dabei guckt sie suchend in die Runde.

Zum Lachen ist auch der Name des Wäldchens. Als ob diese Bäume und Sträucher und der verschlammte Gerümpelteich wirklich Anne gehörten. Oder ihrer Großmutter. Triebschs Holz. Oder Triebschs Tümpel.

Das Gehöft, in dem die beiden Weibsen samt ihrem Esel hausen, duckt sich eng und verschämt an den Waldrand - alles hier ist mit den Jahren ineinander gewachsen. Triebschs Holz, Triebschs Tümpel, Triebschs Wiese. Ein schönes, stilles Fleckchen Erde, wie geschaffen zum Schuttabladen.

„Komm endlich vor!“, schreit Anne in den Wind.

Achim kippt den morschen Karnickelstall um, hinter dem er die ganze Zeit gesteckt hat, hebt sein Rad auf und geht zu Anne. Sie blickt ihm mit gefurchter Nase entgegen, „’n Rennlenker?“

„Seit gestern Abend. Von mei’m Papa seinem Rad abmontiert. Gib schon.“ Er langt nach der Bonbontüte.

„Nein, warte, die sind abgezählt.“ Anne angelt mit Daumen und Zeigefinger ein klebriges Lakritzeklümpchen aus ihrem Mund. Achim wischt es an seiner neuen Trainingshose gründlich sauber und schiebt es sich zwischen die Zähne.

„Du hast natürlich kein Rad“, stellt er sachlich fest.

Anne schweigt. Sie kann das Rennen nicht mitfahren.

„Mit mir hat mein Papa trainiert“, sagt Achim.

„Du und dein Papa.“ Anne rückt ein Stück auf der Matratze.

Achim setzt sich neben sie. Er überlegt: „Wenn du willst - ich starte dann mit der ersten Gruppe. Sowie ich durchs Ziel bin, saus ich wieder her - ich nehm die Abkürzung, untenrum, da schaff ich’s, bis der letzte Schwung losfährt. Du kriegst meine Mühle.“

Irgendwo tief im Bauch durchströmt Achim ein warmes, stolzes Gefühl, dass er Anne sein Rad bringen will. Anstatt am Ziel gemütlich zu verschnaufen und mit der guten Fahrzeit zu strunzen. Denn - eins ist sicher: Er wird eine gute Zeit fahren. Nach dem vielen Training!

„Dein Papa, dein Papa“, wiederholt Anne, als hätte sie seinen selbstlosen Vorschlag nicht gehört.

Kann er dafür, dass er einen Vater besitzt, der mal Radsportler war? Freilich, sie hat überhaupt keinen. Und kein Fahrrad, geschweige denn eins mit Rennlenker. „Dafür hast du Legohr“, tröstet er. „Keiner im Dorf hat einen Esel. Nicht mal das Pferd von Eidams kommt da mit.“

Anne lacht unfreundlich. „Jawohl! Aber den Esel will uns dein genossenschaftlicher Papa wegnehmen.“

Aha. Deshalb hat sie’s dauernd mit Papa.

„Wer redet von Eselwegnehmen.“

„Die Polizei will er uns auf den Hof schicken, dein Papa.“

„Warum jagt ihr den Esel auch in den Klee? Ich würde ja nichts sagen, wenn Sommer wär. Aber jetzt, wo’s kaum für die Kälber langt?“ Achim spürt, wie sich seine Ohren zornig röten. Er hat auf einmal den Wunsch, seinen „genossenschaftlichen Papa“ zu verteidigen, wenn er auch gestern nicht seiner Meinung war.

Auch durch Annes abstehendes Ohr scheint die Sonne dunkelrosa. Sie tritt mit dem Schuhabsatz gegen einen Blecheimer. Der gerät ins Rollen und landet im Wasser, dass die Wasserläufer erschrocken nach allen Seiten flitzen.

„Wir jagen Legohr nicht in den Klee! Er reißt alleine aus, findet bei uns kein Futter mehr. Du redest wie dein Vater!“

„Und du zeterst wie deine Großmutter. Es wächst genug Gras auf eurer Wiese.“

Anne steht auf, klopft sich die Strümpfe ab: „Wenn du’s genau wissen willst - vorhin hat Großmutter ihr Schwarzes angezogen. Ich dachte, sie will zu Großvater gießen gehn. Nein, sagt sie, sie geht nicht auf den Friedhof, sie sucht nur ’n Käufer für Legohr. Und jetzt gib mein Bonbon wieder her.“

Achim sitzt betroffen. „Alle“, murmelt er.

Aus der Matratze steigt es unangenehm feucht. Eine ruppige Amsel schnäbelt Wasser aus Triebschs Tümpel. Sie macht einen trägen Hupfer und flattert auf den Rennlenker. Aus ihrem Schnabel gucken die zerknickten Spinnenbeine eines Wasserläufers.

Am Start - wieder Papa

Die „Kleine Friedensfahrt“ bringt sich lärmend in Erinnerung, schiebt alle anderen Probleme vorerst beiseite. Den Waldweg entlang klappern schwatzende, klingelnde Trupps auf frisch geputzten Rädern. Wehende Wimpel! Bierdeckel zwischen blitzenden Speichen! An Jochen Beulers Gepäckträger baumelt, wer weiß warum, eine Flaschenbürste. Auf dem Rücken von Mario Möller bauscht sich sogar eine richtige Startnummer, die 51.

„4a - hierher!“

Achims Mannschaft sammelt sich um einen mächtigen Eichenstubben. Die aus der B gruppieren sich weiter drüben, beim Tümpel.

Anne geht unter den Ihren umher und bringt die Lakritzen zur Verteilung. Startbonbons, für jeden Kämpfer einen, kraftspendend, vitaminreich. Lakritze soll ja aus dem Blut der schnellen Pferde gemacht sein! Auch Achim bekommt ausgehändigt, was ihm zusteht, aber ohne einen Blick.

Von der Chaussee her ist das Brummen einer Dieselameise zu hören. Das Fahrzeug kommt schnell näher, biegt in den Waldweg ein. Alle Sportler wenden die Köpfe: Schon schaukelt die bekannte blaue Rumpelkiste durch die Senke hinter dem Teich. Auf der Ladefläche sieht man eine Schaufel und einen Rest Grobkies hüpfen. Der Motor tuckert aus.

Aus dem Fahrerhäuschen zwängt sich - Papa.

„Herr Schuster“, zirpt es erstaunt aus Mädchenkehlen.

„Entschuldigung, Sportsfreunde. Es mussten noch ein paar Schlaglöcher zugeschippt werden. Sonst stürzt ihr mir da rein. Na, Experte?“, begrüßt der LPG-Vorsitzende seinen Sohn.

„’n Tag.“ Der Streit mit Anne bedrückt Achim, und irgendwie passt ihm Papas Ankunft nicht.

„Alle da?“, fragt der. Die Sportsfreunde murmeln durcheinander.

„Die Rennleiterin fehlt noch“, erklärt Achim.

„Mann, Frau Pachulke hat Haushaltstag“, kommt es aus dem Haufen der B.

„Tja. Was ist da zu machen.“ Papa hat plötzlich eine Trillerpfeife zwischen den Lippen, trillert, bläst die Wangen auf, seine Augenwinkel kriegen heitere Fältchen.

„Herr Schuster, Herr Schuster ist Rennleiter!“ Die Mädchen hopsen, als wäre sonst was los. Achim erkennt sehr wohl, dass die silberne Trillerpfeife seine ist. Und er wundert sich noch mehr als gestern: Woher nimmt Papa auf einmal die Zeit für diese Rennleiterfunktion?

„Bei uns fehlt noch wer“, meldet Anne voll Wichtigkeit. „Ein Bonbon ist übrig.“

„Meinhardt Eidam fehlt“, bestätigt mit schleppender Stimme Jochen Beuler und fummelt an seiner Flaschenbürste herum.

„Beule hat recht. Naja, Meinhardt Milchtüte.“

Die meisten mögen Meinhardt nicht sonderlich, und auch Achim denkt: Drückt sich. Typisch Milchtüte. Ein passender Spitzname übrigens. Wann ist er aufgekommen? Voriges Jahr, als der liebe Meinhardt wieder mal in der Schule fehlte. Seine Eltern schrieben einen Entschuldigungsbrief. Die kalte Schulmilch wäre schuld: Diarrhöe ... Eine Darmkrankheit, bei der man aus Taktgefühl nicht weiter fragt. Doch eine zweite Nachricht erreichte die Klasse. Meinhardt, damals unschuldsvoll und harmlos, eine richtige Milchtüte eben, sandte von seinem „Krankenlager“ eine Glanzpostkarte, extragroß: Gruß aus Ahrenshoop, Ostsee. Die Krankheit war geplatzt, und Meinhardts Vater erhielt eine Rüge, weil er seinen Sprössling am Lernen hinderte.

Herr Eidam ist Antennenbauer; eine hochgestellte Persönlichkeit, scherzen die Leute. Er hält ein Reitpferd namens Lore.

„Wir müssen ohne Meinhardt anfangen“, spricht Papa nach einem. Blick auf die Armbanduhr. Er klettert aufs Trittbrett seines Fahrzeugs, und gleich darauf trägt der Wind eine feierliche Ansprache über die Lichtung. Die Worte kommen Achim bekannt vor, heute früh sah er auf dem Radio einen Zettel mit wunderlichen Stichpunkten liegen: Sportsfreunde Paten-LPG aufs Herzlichste Euer Beifall beweist mir vor vielen Jahren das Foto sauberer Sportlergeist, Ehrlichkeit stolzes Erbe. Prämie nicht vergessen!

„Jetzt müsst ihr klatschen“, sagt Papa. Alle klatschen. Papa hebt die Hand: „Vor Jahren gab es in Winkeln einmal einen Kreismeister im Straßenfahren ...“ Der Redner muss husten; nur Achim bemerkt den betrübten Blick Papas auf die Bauchwölbung unter seinem alten Trainingsanzug. Nur er weiß von Papas kurzem Atem nach dem Training gestern.

„Sportsfreunde! Wer von euch für seinen Papa mal ein paar Flaschen - e-hem - Limo holen geht, der kann unsere Mannschaft in der Gaststube sehen, ich meine - das Foto: Am Start. Es hängt über dem Stammtisch. Die Eiche im Hintergrund der Aufnahme - hier, in Triebschs Holz, hier hat sie gerauscht. Jetzt wälzen sich da diese gottverdammten Matratzen ... Karnickelställe ... Eine Schweinerei ist das ... Wenn ich nur mal einen von der Saubande erwischen würde, jeden Knochen einzeln ... he-em.

Sportsfreunde! Das stolze Erbe eurer Väter gilt es fortzusetzen und mit frischem, grünendem Leben ... e-hm ... also, kurzum ...“

Meinhardt macht Angebote

Die feierliche Rede wird gestört durch Meinhardt, der ziemlich mühsam anbalanciert kommt, wobei er beim Trampeln auf dem Ledersattel hin und her rutscht. Er steuert einen schweren Zweisitzer, ein Tandem.

Ein Tandem, schwarz-rot lackiert und neu.

Meinhardt schnauft, um Haltung bemüht. Drückt das Kinn an den Latz eines gelben Nickis, das gewiss ein gelbes Siegertrikot sein soll, klingelt zur Begrüßung.

„Milchtüte! Guckt euch den an!“

Die Mannschaften lassen ihre Räder Räder sein, umdrängen das Wunderwerk der Technik, an dessen Heck zum Überfluss ein echter, buschiger Fuchsschwanz weht.

„Junge, warum kommst du nicht auf deinem normalen Rad. Was willst du allein auf dem Ding ausrichten?“, fragte der Rennleiter verblüfft.

„Beifahrer gibt’s genug“, ist die Antwort.