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Dies ist eigentlich der dritte Band zu "Umberto". Den zweiten hat der Autor aber weggelassen: "Im Kinderheim", die Wendezeit, welche die junge Leserschaft wohl selten noch interessiert. In "Pa-isch" ist Umberto schon ein handfester Bursche - mit dem Gemüt eines Vierzehnjährigen. Die neue Einheit Deutschlands macht's möglich: Er zieht mit seiner Mutter gen Westen - nun steht ihm ja die Welt offen. Aber auch unter den neuen Bedingungen kriegt er sein Leben nicht in den Griff - oder erst recht nicht. Und er beschließt erneut die Flucht - diesmal soll es aber wirklich nach Afrika gehen. Und er nimmt wiederum seine kleine Schwester mit. Auf einem geklauten Motorrad. Wo sie schließlich landen? Dieses Buch entstand parallel zu dem Drehbuch für den Kinofilm "Fernes Land Pa-isch". LESEPROBE: Medock, Umberto, zum Heimleiter! Die Stimme der alten Sprechanlage schnarrt durch das langgestreckte Gewölbe des Schlosses. Der Fuß im dreckigen Lederschuh zögert eine Sekunde. "Mal wieder kein Wort zu verstehen", murmelt Umberto und setzt sich in gemächlichen Trab. Vorüber an der Tür mit der Aufschrift Heimleitung. Am Ende des Ganges überzeugt er sich, dass ihn niemand beobachtet, und verschwindet im Schuhputzraum. Dieser war früher einmal der Vorraum zu einem Scheinbalkon an der Ostseite des alten Gemäuers. Das Geländer davor ist weggerostet, der "Balkon" selbst kaum mehr als ein verwitterter Porphyrsims. Die Tür, die an die frische Luft führt, ist aus Sicherheitsgründen zugeschraubt und von außen zusätzlich mit Brettern vernagelt. Umberto reckt den Arm hinauf in ein Lattenregal: Hinter den Lieferkartons mit Schuhcreme ist eine Wandhöhlung. Die Hand ertastet einen Stoffbeutel, seine "Mauke", seine ganz privaten Schätze. Er zieht den Beutel auf und kontrolliert den Inhalt: Ein Kinderpassbild von Aleksandra Krautwein, eine Packung Zigaretten, Streichhölzer, ein Päckchen Präser, falls es hier im Heim mit der stämmigen Evi mal "dazu" kommt, ein Taschenmesser mit sieben Werkzeugen, eine halbe Knoblauchknolle. Von dieser polkt er die papierweißen Schalen ab, schmeißt sich die Halbmonde in den Mund und kaut mit Todesverachtung. Ab einer bestimmten Menge, das weiß er aus Erfahrung, kommt ihn das Kotzen an beim Kauen, sofern er auch nur im geringsten die Miene verzieht. Also heißt es: eiserne Maske! Immer dran denken: Die dicke Evi frisst Zwiebeln und hält das schon seit Jahren durch.
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Seitenzahl: 208
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Impressum
Liebe Leute!
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Günter Saalmann
E-Books von Günter Saalmann
Günter Saalmann
Fernes Land Pa-isch
ISBN 978-3-86394-059-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1994 bei Erika Klopp Verlag GmbH, München
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Dieses Buch entstand parallel zu dem Drehbuch für den Kinofilm "Fernes Land Pa-isch", das ich zusammen mit Regisseur Rainer Simon geschrieben habe. Manchen Einfall, manche Wendung der Dinge verdanke ich unserer gemeinsamen Arbeit.
Günter Saalmann
© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Dies ist eigentlich der dritte Band zu meinem noch kürzlich berühmten Roman "Umberto", den zweiten Band habe ich ausgelassen. Warum? Weil zur Zeit niemand etwas aus der aufregenden Wender-Zeit im schönen Lande Sachsen lesen mag. Alle rufen: Wissen wir! (Das beste Zeichen, dass niemand was weiß.)
Vielleicht ändert sich die allgemeine Stimmung mal, dann werden womöglich treue Leser erfahren wollen, wie es Umberto drei Jahre lang im Jugendheim Neuensorge erging, in den Jahren, in denen ein ostwärts erhobener Zeigefinger sich verlor im Wald westwärts gespitzter - Eselsohren.
Noch dies:
Als ich vor Jahren meinen ersten Band an die Schriftstellerin Leonie Ossowski schickte mit der Widmung: Der Verfasserin des schönen und schlimmen Buches "Die große Flatter", da schrieb sie mir zurück, zweierlei wäre interessant zu wissen. Nämlich, was aus ihrem "Helden" Ricci wohl unter DDR-Verhältnissen und aus meinem "Helden" Umberto unter bundesdeutschen geworden wäre. Keiner von uns beiden ahnte, dass letzteres einmal zu erfahren sein würde. Nun, hier ist meine Antwort.
Noch das:
Im ersten Buch "Umberto" steht, dass unser Freund am 12. Oktober 1968 das Licht der Stadt Walda erblickte. Die Jahreszahl war leider ein Rechenfehler von mir. Bei dem vermeintlichen Stillstand der Staatsgeschichte schien es gleichgültig, in welchem Jahr jemand seinen Personalausweis bekam oder zerriss. Eben in dem Punkt hatte ich mich verrechnet. Hier nun also das gültige Datum: Umberto wurde geboren am 12. Oktober 1974.
Und noch ein drittes:
Ein Jugendbuch, wie wir es lieben, ist "Fernes Land Pa-isch" nicht geworden. Wer es liest, braucht eigentlich ein Herz aus Stein. Achtung also: keinesfalls erweichen lassen!
Pais - das ist das portugiesische Wort für Land, Staat. Umberto hat es nie geschrieben gesehen, sondern immer nur aus dem Mund seines Freundes Octaviano gehört. So ist für ihn Pa-isch herausgekommen. Denn so klingt das Wort in Portugal und in einigen Ländern Lateinamerikas und Afrikas.
Umbertos derzeitiger Aufenthalt, woher er kommt und wohin er soll. Seine Vorliebe für ein bestimmtes Gemüse verschafft ihm eine böse Stunde in schwindelnder Höhe, aber ein Signalfeuer erlöst ihn
Medock, Umberto, zum Heimleiter!
Die Stimme der alten Sprechanlage schnarrt durch das langgestreckte Gewölbe des Schlosses. Der Fuß im dreckigen Lederschuh zögert eine Sekunde. "Mal wieder kein Wort zu verstehen", murmelt Umberto und setzt sich in gemächlichen Trab.
Vorüber an der Türmit der Aufschrift Heimleitung. Am Ende des Ganges überzeugt er sich, dass ihn niemand beobachtet, und verschwindet im Schuhputzraum.
Dieser war früher einmal der Vorraum zu einem Scheinbalkon an der Ostseite des alten Gemäuers. Das Geländer davor ist weggerostet, der "Balkon" selbst kaum mehr als ein verwitterter Porphyrsims. Die Tür, die an die frische Luft führt, ist aus Sicherheitsgründen zugeschraubt und von außen zusätzlich mit Brettern vernagelt.
Umberto reckt den Arm hinauf in ein Lattenregal: Hinter den Lieferkartons mit Schuhcreme ist eine Wandhöhlung. Die Hand ertastet einen Stoffbeutel, seine "Mauke", seine ganz privaten Schätze. Er zieht den Beutel auf und kontrolliert den Inhalt: Ein Kinderpassbild von Aleksandra Krautwein, eine Packung Zigaretten, Streichhölzer, ein Päckchen Präser, falls es hier im Heim mit der stämmigen Evi mal "dazu" kommt, ein Taschenmesser mit sieben Werkzeugen, eine halbe Knoblauchknolle.
Von dieser polkt er die papierweißen Schalen ab, schmeißt sich die Halbmonde in den Mund und kaut mit Todesverachtung. Ab einer bestimmten Menge, das weiß er aus Erfahrung, kommt ihn das Kotzen an beim Kauen, sofern er auch nur im geringsten die Miene verzieht. Also heißt es: eiserne Maske! Immer dran denken: Die dicke Evi frisst Zwiebeln und hält das schon seit Jahren durch.
Nicht ohne Wohlwollen betrachtet er in der vernagelten Türscheibe seine ins Goldene schimmernden Haare, die nicht zu hohe Stirn, die breite Nasenwurzel, die Augen mit den etwas geknifften unteren Lidern. Irgendein Wichser vom Tiefbau hat mal gesagt, diesem Asphaltschnuffi Medock sieht man das Heim an. Umberto hat ihm bei Gelegenheit eins aufs Auge gedrückt, da war Ruhe.
"Medock, Umberto, bitte zum Heimleiter!" hallt draußen die Lautsprecherstimme, jetzt betont langsam und deutlich.
"Mach 'n Kopp zu", knurrt der Gerufene.
Obwohl erst Oktober ist, kracht die Heizung. Die Hitze verstärkt den Geruch nach Schweißfüßen und Schuhcreme. (Und vermutlich auch nach Knoblauch.) Er fragt sich manchmal, ob er nach Walda zurück möchte. Im ersten Heimjahr ist er zweimal über den Zaun gestiegen. Die wenigen Stunden zu Hause haben aber nichts gebracht.
Seine sogenannte Mutter Ilona und ihr sogenannter Verlobter Tscheschiak waren beide Male randvoll. Beim ersten Besuch hat er die beiden angeschrien wegen dem Chaos im Wohnzimmer. Beim zweiten Mal hatten sie die Tür zugenagelt. Umberto ist fluchtartig wieder abgehauen, eine Etage höher, zu seiner Schwester Karla. Karla heißt jetzt Karla Backofen und wohnt mit Mann und Kind in der Mansardenwohnung der verstorbenen Großmutter. Aber alles hatte sich verändert seit Großmutters Tod, nur das Vogelhäuschen am Fenster hat noch an sie erinnert.
Karla fand kaum Zeit für ihn. Und zum Bleiben war kein Platz. Da hat er noch bei seiner ehemaligen Lehrerin geläutet. Und als er vor der Klingel stand, hat sein Herz angefangen, schwer zu schlagen. Da wusste er, weshalb er in Wirklichkeit über den Zaun gestiegen war. Der Gedanke, dass gleich vielleicht nicht die Lehrerin, sondern ihre Tochter vor ihm stehen könnte, die magere, stets etwas blasse Aleksandra aus seiner Erinnerung hat ihm das ruhige Atmen schwergemacht. Aber bei Krautweins war niemand daheim, er hat im Park übernachtet.
Okay, ein drittes Mal ist er nicht ausgerückt. Im Heim ist es auszuhalten. Und was seine Strafsache angeht - sie haben ihn nicht verknackt damals, nachdem er versucht hatte, die Waldaer Schule abzufackeln. Die Richterin war von der milden Sorte, sie hat es so hingestellt, dass kein Vorsatz dahintersteckte. Oder fast keiner. Seine Aktion sollte eine Art Notsignal gewesen sein. Reine Psychokiste, sie haben ihn sogar einem Weißkittel vorgestellt.
Das mit dem Notsignal - da lagen sie genau richtig. Nach dem Feuer war auf einmal die Aufnahme in Neuensorge perfekt. Vorher hatte es sich monatelang hingezogen: Heim oder Nicht-Heim. Umberto pfiffelt seine Knoblauchfahne vor sich hin. In Kürze hat er die Ausbildung abgeschlossen, wird als sein eigener Herr mit seiner Kolonne ziehen, herumkommen im ganzen Land, langsam aber sicher. Auf heißen, dampfenden Chausseen, die er selber asphaltiert.
"Umberto Medock zum Direktor!!!"
"Ja doch!"
Er verstaut seine Mauke, zieht den linken Schuh vom Fuß und wienert mit den besockten Zehen über das Oberleder vom rechten, wiederholt die Prozedur andersherum. Schuhkontrolle ist ein Hobby von Mehnert.
Mehnert steht am Schreibtisch, gießt eine Topfpflanze und studiert gleichzeitig ein Aktenpapier.
Umberto tritt nah heran, haucht kräftig: "Hhhhhherr Direktor, Sie wollten mich sprechen."
Die Nasenlöcher des Angesprochenen, aus denen rötliche Härchen sprießen, weiten sich. "0 Gott, hast du wieder mal das Zeug gekaut?"
Umberto gelingt eine unschuldige, aufrichtige Stimmlage. "Was Sie immer denken. Es kann höchstens vom Mittagessen kommen." Er schüttelt den Kopf mit nachsichtigem Tadel.
"Heute gab's Milchreis, Spinnkopp. Wenn du nur ja mit irgendwas auffallen kannst." Der Direktor schnauft, öffnet das Fenster, stellt den Besucherstuhl weit vom Schreibtisch weg neben die Tür. "Nimm Platz. Hör zu, überlege gründlich!"
Umberto gehorcht. Unbehagen beschleicht ihn. Mit Mühe gelingt ihm ein kleines knackendes Schmatzgeräusch beim Öffnen des linken Mundwinkels, jene Grimasse, die er einst einem alten Kumpel abguckte.
Der Direktor macht es heute feierlich, die Hand mit dem amtlichen Papier verrät seinen Tatterich. "Ich lese dir aus einem Schreiben des Jugendamtes deiner Heimatstadt Walda vor: >••• hat die hier ansässige Frau Medock, Ilona die Heimentlassung beantragt für ihre beiden Kinder Medock, Umberto und Medock, Bianca, da sie in einem der alten Bundesländer eine passende Wohnung gefunden hat und einen neuen Anfang ... <"
"'nüber nach 'm Westen?", entfährt es Umberto.
"rüber und 'nüber, das gibt's nicht mehr", unterbricht Mehnert sein Vorlesen. "Trotzdem muss ich dich fragen, Junge: Willst du wirklich mit? Du hast hier die achte Klasse abgeschlossen und in Kürze einen Beruf in der Tasche. Wegziehen heißt die Ausbildung unterbrechen. Und die Mitarbeiter in deiner Kolonne mögen dich. Sie sagen, du kannst ranklotzen, wenn du willst."
Umberto stößt alle Atemluft aus. Knoblauchdampf hüllt ihn ein. Guck an, Ilona, denkt er. Hat sie sich doch noch mal zu 'ner Tat aufgeschwungen.
"Und Bianca soll auch mit?" vergewissert er sich. Die vierjährige Schwester lebt in einem Kinderheim in Dresden.
"Hier steht's so."
"Dann muss ich auch. Ohne mich lässt sie die Kleine verkommen."
Der Direktor seufzt. "Dein letztes Wort?"
"Wenn ich's sage. Sie lässt sie eingehen wie 'ne Primel."
"Dann hol morgen früh deine Papiere. Auf der Arbeit meldest du dich selber ab. Bist alt genug."
Umberto steht auf, saugt diesmal beim Handgeben Luft in den Brustkasten und stellt danach rasch den Abstand wieder her. Mehnert hat schon den Telefonhörer abgehoben und dreht die Scheibe. Umberto greift zur Türklinke.
"Moment! Schuhe?" fragt der Direktor aus alter Gewohnheit.
Umberto präsentiert im "Stillgestanden" seine ledernen Treter und verlässt das Büro.
Der Gang ist menschenleer bis auf ihn und Evi, die das Schließen der Bürotür in ihrem Rücken überhörte - sie hat die Musikstöpsel in den Ohren. Das rothaarige Mädchen mit dem Jungengesicht ist in den letzten drei Jahren mächtig in die Breite gegangen. Evis säulenartige Oberschenkel sind das Thema vieler Schlafraumwitze der Jungen: Bei jedem Schritt muss dieses Weib sozusagen um das andere Bein herumgehen.
Umberto verharrt und lauscht: Leises Nylonwitschen ist zu hören. Er huscht ihr geduckt hinterher wie ein Buschkrieger beim Überraschungsangriff, haut ihr auf die gut gepolsterte Rückenrinne. "Erschrocken, eh?" Sie stößt einen spitzen Schrei aus. "Ach du", sagt sie sanft.
"Ich mach den Abflug", sagt er.
"Ist doch mir achtundachtzig."
Sie kriegt lila Flecken auf den Wangen. Auch wenn sie cool tut, sie fasst die Nachricht nicht. Gleich wird sie sagen, dass er spinnt.
Sie sagt: "Schick mir 'n Überraschungsei, du Blödmann."
Der Nachmittag geht rum mit Packen. Den Zimmernachbarn erzählt er was von Urlaub. Lange nach dem Abendbrot holt er seinen Maukenbeutel aus dem Versteck. Als er den Schuhputzraum verlassen will, knipst jemand das Licht aus. Er wird von hinten gepackt. Sie drehen ihm den Arm auf den Rücken, er hört das hastige Atmen von mindestens drei Mann, sie schieben ihn in die Tiefe des dunklen Raums, er spürt frische Nachtluft: Die Tür zu dem Scheinbalkon wurde aufgeschraubt. Sie schieben ihn hinaus. "Guten Abflug, Stinker! Da draußen kannste auslüften!"
Sie schrauben von innen wieder zu. Er spürt das Kratzen und Schaben des Schraubendrehers in den Schulterblättern durch die massive Bretterverstärkung hindurch.
Vom weggerosteten Balkongeländer ragen nur ein paar Stummel. Zwei Stockwerke tiefer gähnt schwarz der alte Schlossgraben. Ein Mauerstück bröckelt unter Umbertos Schuh weg und zerbirst eine Sekunde später auf nacktem Fels.
Er klebt mit dem Rücken an der Tür, die Angst vor dem Abgrund schnürt ihm die Kehle zu. Rufen wäre auch zwecklos. Wenn die Großen so was anstellen, kuschen die Kleinen, und die Diensträume und die Hausmeisterwohnung liegen an der Hofseite. Umberto rutscht in die Hocke, die Füße haben gerade noch Halt an den Geländerstummeln. Der Streifen geronnener Milch, der sich quer über den Himmel zieht, hört auf zu kreisen, wenn er die Augen schließt.
Warum machen sie das mit ihm? Er ist mit allen hier zurechtgekommen. Warum also? Einer geht weg, sie bleiben, ist es das?
Leidet er an Höhenangst? Das Am-Abgrund-Balancieren hat er im Leben bisher nur einmal ausprobiert. Das war zu seinem Schulanfang, daheim, da hat er spät abends auf dem Fensterbrett gestanden und ein Lied gesungen. Mutig hinunter auf den nächtlichen Marktplatz. Aber das war etwas anderes, da hatten die Erwachsenen ihm Schnaps eingefüllt.
Ein Wind kommt auf. Im Tal liegt das Dorf Neuensorge. In einem Fenster geht das Licht aus und gleich daneben wieder an.
Er öffnet mit einer Hand den Maukenbeutel, tastet nach seinem Messer, klappt die große Klinge auf, fährt damit in Rillen und Ritzen der Türbretter. Der untere Teil ist morsch, es gelingt ihm, große Splitter und später eine lockere Leiste herauszubrechen. Er häufelt das Holz neben sich, zündet es an. Als die Flammen die Tür hinauflecken, beginnt er doch zu rufen.
Hat jemand unten im Dorf den Feuerschein gesehen und mit dem Hausmeister telefoniert? Jedenfalls sind Schritte zu vernehmen, Hilfe kommt.
Das ist Umbertos letzter Abend im Jugendheim Neuensorge bei Walda im Freistaat Sachsen.
Abschied von Walda. Umberto betrachtet seine Mutter mit Abstand, erlebt unerwartete Nähe zu einem anderen weiblichen Wesen und trägt eine warme Hand davon
Umberto ist im Begriff, Lebewohl zu sagen, doch zugleich betrachtet er den Waldaer Bahnhof mit dem Blick des Rückkehrers nach langer Reise. Sie haben dem Hauptgebäude einen neuen, viel zu hellen Anstrich verpasst, unter dem der Putz schon wieder bröckelt.
Im Morgenwind knarren wie eh und je die Türen mit den abgeschlagenen Emailleschildern ABORTE, MÄNNER, FRAUEN. Die Gerüche vermischen sich mit dem zerflatternden Zigarettenrauch, der aus den Mündern der Wartenden quillt. Auf den bunten Reklameflächen haben Witzbolde den lachenden Models Vampirzähne gemalt.
Mit den Augen des Rückkehrers sieht der Junge auch seine Mutter. Ilona wartet vier, fünf Meter weiter neben Reisetasche, Rucksack und mehreren Kartons. Ihr Gesicht wirkt ein wenig gedunsen. Dicker ist sie geworden in den zwei Jahren, aber noch nicht direkt fett. Sie sollte nicht mehr diesen Jeansmantel anziehen, den sie obenrum nicht zukriegt. Und die Frisur, zur Feier des Aufbruchs gelbblond mit schwarzem Strähnchen - sie müsste das Haar nicht mehr unbedingt schulterlang tragen in ihrem Alter.
Missbilligend betrachtet er auch ihre Beine in den roten, hochhackigen Riemchenpumps. Ilona. Wenigstens sieht sie nicht mehr so abgewirtschaftet aus, wie er sie in Erinnerung hat. Das macht vielleicht: Sie ist nüchtern Und das muss sie seit Wochen sein, total trocken. Eine übermenschliche Leistung für sie. Sie hat ihren versoffenen Tscheschiak rausgeschmissen, den Umzug organisiert, ihre Kinder aus dem Heim losgeeist. Hoffentlich lässt sie das Saufen für immer.
Persönlich hat sie gestern Bianca aus dem Dresdener Kinderheim geholt. Sie und die Kleine sind schon vertraut miteinander. Bianca lehnt mit dem schwarzen, rastagelockten Wollekopf an ihrem Bauch und lässt sich hin- und herschaukeIn.
Wir sind beinah eine glückliche Familie, denkt Umberto und spuckt zwischen seine Schuhspitzen. Fehlt bloß noch Karla. Die große Schwester hat schon vor ihrer Heirat kaum noch ein Wort mit der Mutter geredet. Aber zum Abschied hätte sie kommen können, wenigstens das. Die Leute gucken, wechseln Bemerkungen, offensichtlich über Bianca. Die hat sich nun losgemacht, tanzt zu irgendeinem selbsterfundenen Kindersingsang, dreht sich mit erhobenen Armen und gerecktem Bauch. Ihre fröhliche Schnute ist dunkelrot und afrikanisch aufgeworfen, die Haut, wie stets im Sommer, ziemlich dunkelbraun. Fraglich, warum Octaviano, ihr Vater, sich damals für sie den Namen Bianca gewünscht hat. Bianca, die Weiße. Auch ihre Augen sind ganz afrikanisch: kirschenschwarz und blank.
Bianca hopst. "Trari, trara, Feuerwehr da!" Sie zeigt in die Ferne, wo sich, noch winzig, die rote Diesellok des Zuges sehen lässt.
"Was haben sie dir bloß in Dresden gelernt!" Ihre Mutter schüttelt lächelnd den Kopf, und dieses Lächeln und mütterliche Kopfschütteln ist für die Zuschauer gedacht und soll bedeuten: Hätten diese staatlichen Stellen mir das Kind gelassen, wüsste es jetzt, wie eine Feuerwehr aussieht. "Das ist nicht die Feuerwehr, das ist der Z-hug." Ihre Stimme setzt manchmal aus, wird kratzig, besonders, wenn sie die Lautstärke zurücknimmt.
Die Straße herauf kommt eine weibliche Gestalt angehastet, und Umberto glaubt im ersten Moment, es ist doch noch Karla. Aber dann ist die Gestalt viel zu schmal, sie rennt den Bahnsteigzaun entlang, ein Mädchen, der nur halb zugeknöpfte pinkfarbene Sommermantel wedelt, sie setzt beim Rennen die Beine ein bisschen auswärts. Keine Sportlerin, denkt Umberto, und in diesem Moment erkennt er Aleksandra. Aleksandra Krautwein, die Lehrerstochter. Mit der er im siebenten Schuljahr schon mal unter einem Federbett lag. Sie wollte ihn wärmen, weil er Schüttelfrost hatte.
Aleksandra hat ihn ebenfalls entdeckt und ist tief atmend hinter dem Zaun stehengeblieben. Er macht einen Schritt auf sie zu, denkt aber rechtzeitig an seine Knoblauchfahne, die sich bekanntlich erst am zweiten Tag voll entfaltet. Er schnuppert verstohlen seinem Atem nach. 0 Scheiße ...
"Hallo, Aleksandra, eh", spricht er aus der Entfernung.
Was sie antwortet, wird vom Rädergepolter des Zuges überdröhnt.
"Hä?" Er tut einen weiteren Schritt.
Sie umklammert mit einer Hand eine Zaunstange, noch immer atemlos. "... hab gehört, ihr macht nach drüben."
"Gehört? Von wem?"
"Spricht sich rum. Medocks sind immer wieder mal Stadtgespräch. Entschuldige schon. Seit zwei Tagen hetz ich zu jedem Zug."
Sie muss jetzt in der zehnten Klasse sein, ist noch gewachsen, schmal, aber nicht mehr dünn. Ein blondes Wesen, Buttermilch, ganz wie früher und doch fremd. Ihre Stirn scheint noch höher als damals, aber das mag an der Frisur liegen. Umberto sieht ein zartes rosa Äderchen unter ihrer Schläfenhaut, das er früher bestimmt oft gesehen und nie bemerkt hat. Die wird mal echt schön, denkt er. Und plötzlich: Sie ist schon, sie ist es schon. Ist die schön! Und ein tiefer Schmerz setzt sich zwischen seinen Rippen fest.
"Was guckst du?" fragt sie und lächelt ein bisschen.
Umberto verzieht und öffnet den Mundwinkel. Das kleine coole Knackgeräusch misslingt.
Sie blickt zur Seite. "Dachte, du freust dich. Ich bin so gerannt. Gibst mir nicht mal die Hand."
Der Zug bremst mit abscheulichem Quietschen. Sie stehen sich gegenüber, jeder hält sich die Ohren zu. Jetzt müssen sie beide lachen.
"Kann dir nicht nahe kommen. Stinke wie ein Bus Kanaken", gesteht er.
"Red nicht so faschomäßig. Mir hast du noch nie gestunken." Sie guckt wieder zur Seite. "Kalt heute früh."
Umberto gibt sich einen Ruck. Er tritt zu ihr, schiebt seine schwielige, schaufelgewohnte Pranke durch den Zaun unter ihren modischen pinkfarbenen Mantel mit den blauen Aufschlägen. "Hat dich fein gemacht, deine Mutter." Die Hand findet ihre Brust, die ist klein und spitz und warm unter dem dünnen Stoff.
Ein unerhörter Griff, das weiß er. Sie ist zurückgezuckt, aber nur für einen Bruchteil eines Moments.
Umberto muss heftig blinzeln. Schon mehrmals hat er Ilonas mahnendes Krächzen gehört. Sie hat bereits das Gepäck und Bianca in den Zug gehoben.
"Musst einsteigen", sagt Aleksandra.
Umberto schiebt nun auch die andere Hand unter ihren Mantel. Jetzt endlich tritt sie vom Zaun zurück, und für einen Moment schweben seine leeren Hände in der Luft. Aleksandra sagt kaum hörbar: "Die rechte ist kleiner."
"Na und, eh", sagt er blöde und ärgert sich auf einmal über sein poltriges, überlautes Organ, das er sich im Umgang mit seinen Kumpels auf der Straßenwalze zugelegt hat. "Wächst noch, echt mal!" tröstet er und spürt, wie er heiße Ohren kriegt.
"Woll'n Sie mit, junger Mann?! Dann ein bisschen Dampf!" ruft die Rotmütze.
"Schreibst du?" fragt das Mädchen.
"Ich und schreiben, eh."
"Iss kein Rauschgift!"
Er wendet sich ab, rennt, hechtet auf den anfahrenden Zug, zieht die Tür hinter sich zu. Wie einen unbekannten Gegenstand besieht er seine gehöhlte Hand, die noch die Wärme von Aleksandras Körper bewahrt, und er steckt die Nase hinein, solange er allein im Gang ist. Noch minutenlang steht er am offenen Fenster, lässt sich vom Fahrtwind das Haar kämmen, sein seidiges Brünett, auf das er sich was einbilden darf.
Am Bahndamm bleibt der Badeteich seiner Kindheit zurück. Teich und Ufer sind fast verschwunden unter Autowracks, verbeulten Kühlschränken, aufgeschlitzten Matratzen. Verstreut auf der Wiese aber liegen Teile von Medocks Schrankwand, die er selbst einst himmelblau angepinselt hat. Ilona ist neben ihn getreten. Sie seufzt: "Ich hab alles allein entsorgt, Tscheschiak hat keinen Finger krumm gemacht. Drei Tage lang hatt ich von der Rammelei die Spontanose im Kreuz."
Umberto landet in der aufregendsten Stadt Deutschlands. Das Geheimnis, durch das Ilona zur neuen Wohnung kam. Bekanntschaft mit Frau Betty und ein Schluck zur Aufwärmung
Hamburg! Was Spannenderes hätte sich Umberto nicht wünschen können. Die Hafenstadt mit dem Doppel-H im Nummernschild der schweren, dunklen Limousinen, die Stadt mit den geheimnisvollen Namen Jungfernstieg, Große Freiheit, Reeperbahn. Hansestadt Hamburg! Bunte Gipsenten in den Auslagen und allenthalben die nasenlosen lächelnden Mondgesichter, die die Stadtverwaltung auf jede freie Fläche sprühen ließ, vorbeugend, in der Hoffnung auf freundliche Zurückhaltung anderer Sprühdosenkünstler.
Eine Woche nun schon Hamburg: 'Neubauviertel Kirchdorf Süd, Achtgeschosser, Elfgeschosser. Umberto kommt von seiner dritten Stadt- und Kaufhausbesichtigung, er hat sich ein Paar prächtige, luftgefederte Baseballschuhe mitgebracht. Nie wieder Leder, nie wieder putzen! Luftgefedert betritt er sein neues Zuhause. Der Bau ähnelt den Kästen daheim, und im Treppenhaus riecht es kaum anders: unten ein bisschen nach Eckengepinkel, weiter oben mal nach Krautsuppe, mal nach Scheuerwasser. Auch die Wandsprüche im Fahrstuhl sind nichts Neues. Aber einer ärgert Umberto: STERBEN IST DIE BESTE ABMAGERUNGSKUR. Er nimmt seinen neuen Wohnungsschlüssel und kratzt im Wort STERBEN herum, bis es STREBEN heißt.
Im siebenten Stock steigt er aus. Das Türschild ILONA UND UMBERTO UND BIANCA MEDOCK hat er selbst gemalt.
Ilonas ewige Schlappheit ist von ihr abgefallen. Sie entwickelt ungeahnte Energien, hat bereits zweimal ein Sonnenstudio aufgesucht. Ferienbräune bedeckt Gesicht und Schultern, und sie wirkt schon nicht mehr so gedunsen wie am Tag des Abschieds von Walda.
Einen Kredit und irgendeine Beihilfe hat sie gleich am zweiten oder dritten Tag auf den Ämtern rausgeschlagen, geholfen hat ihr allerdings bei allen Behördengängen jemand, von dem Umberto nie zuvor hörte. Bianca nennt ihn "Onkel Sockelade". Weil er Schokolade mitbringt, sooft er erscheint. Umberto hat den Namen abgekürzt: "Onkel Socke". Auch deshalb, weil er ihn bei der ersten Begegnung auf Socken antraf, vor der Toilette, mitten in der Nacht. Aber bei Nacht ist er nur einmal dagewesen, das erste Mal.
Eins scheint sicher: Er bringt keinen Schnaps mit wie früher Tscheschiak. Auch schlägt er Ilona nicht.
Der Mann ist mindestens fünfzig, ein sportlicher Typ, alles tipptopp, goldener Ohrring, Schnurrbartspitzen bis an die Ohren, kleines Zöpfchen im Nacken. Sanfte Stimme, unerklärlich junge Wangenhaut, ein Kunstfreund. Beim "Tässchen Kaffee" zwischen spitzen Fingern beginnt er nicht selten eine gehobene Unterhaltung, die bei Medocks freilich in einem Selbstgespräch versiegen muss. Denn natürlich kann niemand mitreden. Ilona begnügt sich mit Staunen und Ausrufen wie: "Da hört sich doch die Weltgeschichte auf!"
Dann wendet er sich speziell an Umberto, der unruhig im Zimmer auf und ab geht oder sich mit Bianca zu schaffen macht und nicht weiß, was er antworten soll. Onkel Socke schlägt seine großen blauen Augen zu ihm auf und schwärmt beispielsweise von einem neuentdeckten Laden, der nach seinen Schilderungen geradezu ein Museum sein muss und Millionenschätze "birgt". Vor allem "Naives aus Afrika" ... Eine geschnitzte Madonna sei da zu finden, ganz "urwüchsige Grazie, gazellenhaft", unbeschreiblich schön, der Preis - leider eine Zahl mit mehreren Nullen. Aber vielleicht schlägt er eines Tages zu, er ist so verrückt. Dazu wedelt er mit seiner Eurocard. Ein anderes Mal versucht er, den "Sohn des Hauses" zum Tauchsport zu bekehren. Endlich kann Umberto auch was sagen. Er erzählt von einer hochpatenten Schweizer Armbanduhr für Tiefseeforscher, die er in einem Geschäft in der Mönckebergstraße gesehen hat.
"Kleiner Schelm." Onkel Socke lächelt.
Ilona - auch sie hebt ihre Tasse mit spitzen Fingern - wirft dann wohl zärtlich flüsternd ein: "Mit solche Gespräche und mit seine blauen Augen hat er mich vor zwanzig Jahren bet-hört. Wo er noch als Geschäftsmann in der Zone kam."
Der Onkel Socke steckt hinter dem Umzug nach Hamburg, hat bei der Wohnungssuche seine "Connections spielen lassen" (wie er sich ausdrückt) und ihr auch Adressen aufgeschrieben, wo sie als Putze hingehen kann. Von Beruf ist er Unternehmer, Hersteller von Klappmöbeln. Vier seiner patentierten Erzeugnisse sind bei Medocks in Gebrauch, die beiden im Wohnzimmer heißen Bettstühle, die im Schlafzimmer Stuhlbetten.
Umberto hat mal vor seinen Augen den Preisaufkleber von einer mitgebrachten Schokoladentafel abgekratzt. "Eine Mark", hat er gesagt.
"Eine Mark ist viel wert", kam es ölig von Onkel Socke. "Es kommt drauf an, was einer draus macht. Für eine Mark krieg ich heutzutage 'ne Immobilie im Osten."
Umberto ist immer froh, wenn der Typ wieder raus ist. Aber immerhin kümmert er sich um Ilona.
Ja, es sieht so aus, als hätte das Glück spät im Leben noch einmal bei Frau Medock angeklopft. Im Secondhandshop hat sie einen tadellosen Küchentisch und passende Stühle geholt, einen Kühlschrank, Geschirr und natürlich einen super "Buntfernseh" mit Klappvisier - der reinste Astronautenhelm.
Für Neuanschaffungen ist im neuen Heim reichlich Platz, und Biancas fröhliches Gequietsch schallt von den Wänden. Um ihre staksigen Beine ringeln sich überlange Strumpfhosen, und die Füßlinge schlappen bei jedem Schritt. Sie spielt "Spenst" mit dem nassen Scheuerlappen, hängt ihn sich über den Kopf und macht: "Huhu, huhu."
Umberto fängt sie ab, nimmt sie auf den Arm. "Eh, Bianca, bist du ein Gespenst, ja?"
Sie wird plötzlich stumm und will weg von ihm.
"Redest nicht mit jedem?"
Sie tut manchmal fremd mit dem eigenen Bruder. Das wird er ihr abgewöhnen. Kurzer Prozess ist da das Beste. Er stellt sie runter, sagt: "Jetzt ist Umberto mal das Gespenst, total unsichtbar, huhu, huhu ..." Er zieht sich ins Bad zurück.
Prompt drängt sie sich hinter ihm zur Tür herein. Er dreht den warmen Strahl über der Wanne auf, entledigt sich seiner Sachen. Auch Bianca zieht und zerrt an ihren Hosen, bis sie glücklich draußen ist. Er hilft ihr beim Hemdchen, zusammen steigen sie ins Wasser. "Huhu, heiß ist das, Biancalein!"
Er legt sich ihren Scheuerlappen über den Kopf. "Ich bin der Geist, der beißt!"
Sofort hat er fünf Zehen im Mund. "Beiß Geist!" verlangt sie.
"Cham cham cham!"
Schon sind es zehn Zehen.
Auf der Wannenkante präsentieren sich in Reih und Glied Sprays und Bademittel. Umberto lächelt still bei der Erinnerung an das allererste warme Bad seines Lebens. Das war vor drei oder vier Jahren, als die Jugendhilfe in der Waldaer Wohnung eine Wanne installieren ließ. Aus Unkenntnis hat er damals eine volle Flasche Fichtennadelextrakt auf einmal leergedrückt. Und dann hat er mit dem Küchensieb Schaum geschlagen, Schaumgebirge, die musste er aus dem Fenster schaufeln.
Diesmal wählt er einen Schuss Lavendelduft, und sie machen den Schaum durch Geplansch, setzen einander weiße Hauben ins Gesicht und reißen schrecklich die Mäuler auf. Das Spiel heißt "Geist, der beißt".
Bianca kann was Feines: Bäuerchen unter Wasser.
"Horch!" sagt sie auftauchend.
Draußen hat es geklingelt.
Umberto stochert sich den Schaum aus den Ohren. Da ist Ilonas Stimme und noch eine andere, die von Antrittsbesuch redet. Besuch? Wer außer Onkel Socke kennt die neue Adresse? Karla? Vielleicht hat Ilona ihr geschrieben? Ein freudiger Schreck durchfährt ihn, vielleicht gibt es doch ein Wiedersehen mit der Großen? Er erhebt sich augenblicklich aus dem Wasser, rubbelt die Schwester notdürftig trocken und zieht sich selbst Ilonas seidenen Morgenmantel über.
Es ist nicht Karla. Die üppige Frau mit dem Blumentopf in der Hand hat Umberto schon im Fahrstuhl gesehen.
Ilona ist gerade dabei, ihr die geplante Einrichtung zu beschreiben: "Übergardinen... Kanapee ... bescheidene kleine Hausbar ... "