Ich bin der King - Günter Saalmann - E-Book

Ich bin der King E-Book

Günter Saalmann

4,5

Beschreibung

Rex, hochbegabter Spross eines nun arbeitslosen DDR-Ingenieurs und einer Spitzensportlerin, gerät in den Strudel der Nach-Wendezeit. Er nutzt seine überlegene Intelligenz dazu, für die zu erwartende räuberische Gesellschaft zu "trainieren", indem er eine Gruppe jüngerer "Loser" um sich schart und ihr Räuberhauptmann wird. Was harmlos beginnt wird bald lebensgefährlich. Das Ganze erzählt in einer Rahmenhandlung, die vom Leser nicht so schnell durchschaut wird. INHALT: Täglich zwei Mahlzeiten durch den Türspalt, Herberts Stolz Das Garagendach Kindergeburtstag. Es war knapp ein Jahr später, "Wieder eins von diesen Ich lausche Herberts Firma Herbert konnte nicht meckern, Ein künftiger Firmenchef In meiner miesen Stimmung Der Pausenhof. So vergingen die Wochen. Am Tag unserer Firmeneröffnung, Als ich nach den drei Tagen Auf dem stillgelegten Werkgelände Die Versicherung Während Herberts Krankenhauszeit Ich kam mit dem Mittagszug Die Story "Eine Survival-Maske hat er aufgehabt!" Ich habe innerlich gejubelt, In der zweiten Hofpause Ich traf Jabwonski Ich habe sie gekriegt. In der Schule Es gibt mehrere Gründe, Es "ergab sich so", Für Herberts Zehntausendmarktür Rechtzeitig sah ich Der Einstand, Ich war noch weit davon entfernt, Du reißt deine Tage runter Wenn sie untereinander Krach bekamen, Im Umfeld des Aktivmarkts Nächster Abend. Schauer zwischen den Schulterblättern, Die Schwarze: "Was is nu?" Ihren Ursprung Hätte ich nur nicht So bestätigte sich, Wenn ich und Jabw Es gab ein Schulfach, Das Ende des Schuljahrs Ich selber Trotz allem, Das Sprayen Die Strassenlampen Die über und über In einer der nächsten Nächte Auf den Joke, Immer öfter erhob sich die Frage, Quasimir Schulschluss. Eigentlich konnte es mir egal sein, Beate Ich hätte Beate Und setzte mich hinunter Dieser Herbst war insgesamt trübe, Ich schlief unruhig. Die Schule Mit Jabw Weihnachten, Heiligabend. Erster Feiertag. Zwoter Feiertag. Quasimir Für Silvester Wenn ich in diesen Tagen Die Mädchen Ich ging noch einmal Ja, da wussten wir, Den Knallertrupp In der Zeitung Manchmal kam ich Stunden später Ich tippte in meinen PC Herbert experimentierte 20 Uhr. Funkkontakt. Die Clique war angeschlagen, Nun hatte ich ein, Herbert saß schon vormittags QSO zu Jabw, Zu unseren Vorbereitungen Wir stießen Beate Während der letzten anderthalb Stunden Zu Hause Ich hatte Beate regelmäßig versorgt Ich hätte am liebsten Die Juninacht beginnt kühl zu werden. Auf dem Rückweg lächle ich In der Dresdener Strasse

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Impressum

Günter Saalmann

Ich bin der King

ISBN 978-3-86394-050-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1997 im Ravensburger Druckverlag (Ravensburger Junge Reihe)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

I’m a timebomb

stop now

what’s that sound

everybody look what’s going down

and all the timebombs

they’re all dancing to the same song

in a world full of no-ones I’m a someone

I’m a timebomb

(CHUMBAWAMBA: ANARCHY)

Vorsatz

"In dieser, schon etwas anspruchsvolleren Mission, müsst Ihr zum ersten Mal gegen Menschen antreten. Zerstört deren Städte, doch passt auf, dass Teron Gorefiend nichts passiert.

Bewegt alle Eure Einheiten (außer Peons) nach Westen und zerstört in einem Blitzkrieg die Menschenstadt (türkis). Teron Gorefiend sollte sich dabei wie immer im Hintergrund halten. Wenn dies geschafft ist, baut Ihr so schnell wie möglich eine Stadt auf. Achtet darauf, dass Ihr sie genügend verteidigen könnt. Zum gleichen Zeitpunkt begebt Ihr Euch nach Süden, wo Ihr eine Goldmine erobern könnt. Es empfiehlt sich, dort ein Haupthaus zu bauen. Während dieser Mission ist die Verteidigung vorrangig. Wenn eine mittelstarke Truppe zur Verfügung steht (ca. 25 Mann), geht Ihr erneut nach Süden, dort erobert Ihr die Stadt (lila). Solltet Ihr zu wenig Einheiten haben, geht am oberen Kartenrand entlang, an deren Ende geht Ihr nach Süden. Auch hier findet Ihr eine weitere Goldmine. Wenn Ihr eine große und starke Truppe um Euch geschart habt, vernichtet Ihr alle Menschen (blau)."

(Spiel-Support zu dem Computerspiel ‘Warcraft 2 - Beyond The Dark Portal’, Mission 4, Zeitschrift POWER PLAY Heft 9/96, auf dessen Rückseite auch eine Bierwerbung leuchtet.)

Täglich zwei Mahlzeiten durch den Türspalt,

früh Scheiblettenkäse, Schwarzbrot, Kiwi, Trinkjoghurt. Abends warm. Am Anfang Hungerstreik. Jetzt esse ich.

Habe mich im Griff, spare Kräfte, teile den Tag ein. Kurze Schlafphasen, ein bisschen Fitness, Liegestütze, Kniebeugen.

Sport und Wandern. Sechs Schritt hin. Die Eisentür. Kehrtwende, rechte Schuhsohle, sechs Schritt zurück, in Augenhöhe die vergitterte Luke, Kehrtwende, linke Sohle. Eisentür, Luke. Tür, Luke. Was habe ich falsch gemacht? Wo hat meine Logik versagt?

Durch die blinde Scheibe Blick auf verstaubte Klinker, auf Handlänge nah. Im Lauf des Tages wandernde Sonnenquadrate. Der Lichtschacht oben, zu ebener Erde, mit einem Rost abgedeckt.

Problem Nummer eins: die Gitterstäbe. Wäre das gelöst, käme Nummer zwei - der Schacht. Jemand mit schmalen Schultern, ein Schlangenmensch, könnte sich durchwinden. Ich nicht. Aussichtslos.

Ich muss hier raus!

Türwärts nur auf die schwarzen Fliesen treten. Kehrtwende. Lichtwärts nur auf die weißen. Weiße Karos, schwarze Karos. Wenn ich draußen bin, zerschlage ich alle Schachbretter der Welt.

Das Bett, der Wasserhahn, die Toilette.

Ich bin Rex. Rex, Latein: der König.

Ich bin Kamentz. Soll slawisch sein: Stein. Rex Kamentz: König Stein. Königsstein. Festung Königsstein, ha ha, dieses Loch.

Ich muss hier raus.

Seit der Nacht zum Dienstag zweiundsiebzig Stunden Einzelhaft. Am Anfang Ineinanderfließen von Ohnmacht und Halbschlaf. Das Schädeldröhnen wie ein endloser, tiefer Gong. Die Haare um die Kopfwunde herum geschoren, als Kompresse eine Zellstoffeinlage mit der berühmten Saugkraft, mit Heftpflaster kreuzweise festgeklebt.

Das Pflaster löst sich bereits, ich kratze vom Rand her den Schorf aus den Stoppeln.

Dienstag in Abständen meine Wutanfälle, Fäuste gegen die Tür. Pauken und Brüllen, Pauken und Brüllen. Danach totale Erschöpfung, nervöser Schlaf, einmal gestört von einem Schurren und Schieben, Eisen auf Stein. Und ein ekelhafter Traum: Ich reiße Beate den Pulli hoch. Ich dringe in wütender Lust in sie ein, ich bin ein Rammbock, bei jedem Stoß schiebt sie ihre Zunge ein Stück weiter aus ihrem Mund, salamifarben, salamilang.

Auf dem Bettrand sitzen. Pläne für den Ausbruch.

Die bisherigen Versuche - zwei Pleiten. Die erste am Mittwochabend.

Ein Streifen, von der verschlissenen Wolldecke gerissen, zum Strick gedreht, zum Fesseln der Geisel, unterm Kopfkeil griffbereit. Als Schritte auf der Treppe hörbar werden: Fäuste gegen die Schläfen, Würgelaute, Stirn gegen die Mauer, ein Anfall von Durchdrehen, von Raserei, von Selbstzerfleischung. Aber sie fallen nicht drauf rein, schieben nur das Essen durch den Türspalt.

Gestern Abend, Donnerstag, zweiter Versuch, diesmal mit Power. Ich stehe sprungbereit, lausche. Schlüsselklappern, ich werfe meine ganzen fünfundsiebzig Kilo gegen die Tür. Sie fliegt auf, dong, dröhnt zurück. Ich gebe nicht auf, stoße, schiebe. Umsonst. Das Gegengewicht ist massiv. Der Türspalt reicht maximal zum Durchschieben der Mahlzeiten.

Sie waren vorbereitet, draußen steht ein Klotz, der nicht von schlechten Eltern ist. Das war’s in der Richtung. Ausbruchsversuch Nummer drei steht noch bevor.

Diesmal muss es klappen. Wenn ich am Leben bleibe - Rache! Ich ziehe das Ding durch, verlasst euch drauf!

Das Bettgestell. Eisen, Uralt-Sperrmüll. Am Kopfteil ist eine Schweißnaht gerissen, ich packe die Querstrebe und kann sie zur Seite biegen. In der Gegenrichtung sperrt sie sich, aber ich nehme beide Hände. Drei, vier Versuche, sie bricht heraus. Die Bruchstelle scharfkantig, das Werkzeug liegt nicht schlecht in der Faust.

Draußen noch Dämmerung, hier unten schon Dunkelheit. Unterhalb der Fensterluke ertaste ich eine Vertiefung in einer Fuge. Mein Ansatzpunkt, schon beim ersten Kratzen rieselt Mörtel. Morgen früh, bei Tagesanbruch, kann ich meine Decke in die Luke hängen, wie zum Auslüften, das Loch tarnen. Sie könnten unverhofft den Kopf durch den Türspalt stecken.

Kratzen.

In den Verschnaufpausen manchmal ein Rascheln. Vielleicht eine Ratte. Hallo, Ratte!

Ist jetzt schon Freitag? Bei der monotonen Arbeit kein Zeitgefühl mehr, noch dazu im Finstern. Die Swatch hat was abgekriegt, die Zifferblattbeleuchtung streikt. Diese Nacht noch muss der erste Ziegel aus der Wand. Hab ich den, komme ich besser an den nächsten. Lachhaft, ein Mann, der ins Sprengstoffgeschäft einsteigen will, kratzt sich mit ‘nem Stück Eisen durch die Mauer. Graf von Monte Christo.

Durch die Luke fällt kühle Nachtluft.

Herberts Stolz

war der Anti-Gartenzwerg Anita, der in allem das Gegenteil seiner landläufigen Kollegen war: Aus Eisenblech zusammengeschweißt und genietet, bartlos, mit weiblichen Wölbungen, trug er statt einer roten eine blaue Zipfelmütze und reckte dem Besucher, ein Würstchen drückend, das blanke Hinterteil entgegen. Das Würstchen aus Grauguss war äußerst lebensecht gestaltet - ein Hund, der uns besuchte, schnupperte versehentlich daran. Die Figur war eine Extraanfertigung aus Herberts Betrieb, von ihm selbst lackiert. Das war die Art von verbissenem Humor, die er manchmal aufbrachte, damals, als es uns gut ging, ihm, Patricia und mir, dem Sohnematz.

Blumenrabatten. Samtblauer Eibisch, zwei Steinschalen mit mehrjährigen Fuchsien. Unser Haus war das gepflegteste in der Siedlung, die aus der langgestreckten Häuserzeile "Am Sack" bestand und tatsächlich eine Sackgasse war. Eine dichte Ligusterhecke schirmte den Vorgarten zur Straße hin vor fremden Blicken. Dabei verirrte sich sowieso selten jemand zu uns, denn unser Grundstück Nummer 45 lag ganz am Ende. Zwischen ihm und den anderen Häusern erstreckten sich unbebaute Parzellen, Grundstücke, die, wer weiß warum, nicht verkauft worden waren. Auch hatten wir kein Gegenüber - die sturen Elfgeschosser des Betonviertels guckten erst aus hundertfünfzig Metern Entfernung über unsere Hecke.

Zwischen diesen Klötzern, genannt "Stalingrad" und dem "Sack" lag Ödland, von Weidengestrüpp, Rainfarn, Heidenröschen und Goldrute überwuchert. Hinter dem Haus aber begannen die Felder, die im Frühsommer rapsgelb leuchteten und bis in die Zimmer hereindufteten.

Als ich klein war, hatte ich doch nie das Gefühl, kleiner zu sein als meine Eltern. Ich kannte mich unter dem Tisch ebenso gut aus wie auf den Schränken. Wohl deshalb, weil ich genügend oft in die Luft geworfen, auf dem Arm herumgeschleppt wurde. Manchmal stand ich auf dem Fensterbrett, wenn ein Gewitter heraufzog, der erste Wind Äpfel aufs Garagendach plumpsen ließ, und sagte: "Na, komm mal her, mein Blitz."

Und meine Mama Patricia nannte meinen Papa Herbert "mein stolzer Hirsch", er selbst aber nannte sich "Leiter der Entwicklungsabteilung II/A im Werk ‘Spezialtechnik Kaiserswartha’". Der Allerweltsname seiner Firma war allerdings Tarnung (wie ich später wusste): Sie fertigten dort, weit draußen vor der Stadt, Granaten und Panzerwaffen, außerdem eine bunte Auswahl an Signalmunition. Sie drehten, frästen, stanzten, montierten die scharfen Sächelchen vom kleinsten Blechteil aufwärts, mixten die Ladungen, pressten sie in die Sprengköpfe, entwickelten den inneren Aufbau der Kartuschen weiter, optimierten die Energiebilanz und die Reichweiten, alles top secret, rundherum gesichert von Wachtürmen und Doppelzäunen und Hunden an Laufdrähten.

Der Betrieb hieß im Volksmund "die Waffia", und die dort arbeiteten "Waffiosi."

Fast alle leitenden Angestellten wohnten "Am Sack", jeder kannte jeden, aber keiner wusste genau, was in der Abteilung des anderen geschah.

Nach der Zeitenwende, der berühmten Herbstrevolution von 1989, die alles auf den Kopf stellte, grüßten sich manche nicht mehr.

Wenn Familie Kamentz damals im Auto den schmalen Asphaltstreifen entlang fuhr, lief der Dialog zum Beispiel so:

Herbert: "Da, guckt ihn Euch an, Müller, Hilmar, vormals Sicherheitsbeauftragter. Verkauft jetzt Dessous. Scheint zu laufen, das halbseidene Geschäft. Sitzt im feinen neuen Wintergarten, trinkt Käffchen."

Ich: "Papa, was sind Dessous?" (Ich wusste schon früh, was Dessous sind.)

Er: "Alles Quatsch. Firlefanz. Frag die Mama."

Ich: "Mama, weißt du’s? Was sind Dessous?"

Patricia drehte sich zu mir um, behielt aber Herbert im Auge: "Damenbekleidung für die Herren der Schöpfung." Sie lächelte und fügte hinzu: "Nichts für kleine Kinder."

Herbert aber redete weiter, bedachte einen Nachbarn nach dem anderen mit einer bissigen Bemerkung, besonders boshaft wurde er immer bei Hausnummer 33: "Und da: Herrn von und zu Rippersreuths Gartenzwergsammlung. Ein ganzes Wachbataillon. Hat er wieder eine Neuerwerbung?"

Ich: "Glaube nicht, Papa. Aber jetzt pflastern sie den Hof."

Ich hatte den Hals nicht nach irgendwelchen neuen Gartenzwergen gereckt, denn solche Missgeburten standen fast in allen Vorgärten. Nein, womöglich zeigte sich die Tochter, Beate v. Rippersreuth. Irgendwann früher hatte ich sie mal nackt zwischen den Zwergen herumflitzen sehen, und sie hatte mir die Zunge raus gesteckt. Sie war das frechste Stück, das es für meine Begriffe geben konnte.

Mittlerweile rollten wir vor unser Haus, weitab von direkter Nachbarschaft, ich musste das Garagengatter öffnen, Herbert steuerte den Honda aufs Grundstück, und wenn er dann zur Haustüre herumkam, tätschelte er im Vorbeigehen seinen Anti-Gartenzwerg Anita.

Damals verstand ich nicht, warum er die Nachbarn mit so viel Neid beobachtete. Hatten wir es nicht schön?

Das Garagendach

war der Lieblingsplatz meiner Kinderzeit. Ich stieg einfach aufs Aschehaus, das später den Kompost enthielt, und zog mich weiter hinauf. Besonders im Sommer war es dort oben herrlich, denn die schwer herabhängenden Äste unseres alten Klarapfelbaums bildeten ein schattiges Versteck. Ich lag bäuchlings auf der warmen Teerpappe, sog den strengen Chemiegeruch tief in die Nase und übte mich im Schießen. Meine Waffe war ein gläsernes Blasrohr, in das ich gekaute Papierkügelchen lud, ich zielte nach den gutmütigen metallicblauen Brummern, die es bei uns reichlich gab, und flüsterte hingerissen "Volltreffer!", wenn ich einen erwischte.

Einmal traf ich versehentlich einen Schmetterling, einen prächtigen, goldbraun schimmernden Großen Fuchs, der mit hochgestellten, wie atmend zuckenden Flügeln auf einem Blatt gesessen hatten. Ich starrte gebannt auf das unförmige Loch in den zart geäderten Schwingen, sah dann das todgeweihte Tier verzweifelt umhertaumeln und begann zu schniefen.

Ein anderes Mal beobachtete ich von hier oben aus meine Eltern. (Das muss lange vor dem Gespräch über Dessous gewesen sein.) Ich hörte unbekannte Geräusche aus dem weitgeöffneten Fenster vom Papas Zimmer. Film-Clip: Das Bett. Mama wippt rittlings auf Papa, stößt leise Schreie aus. Ich sehe ihren schmalen Hinterkopf mit der schwarzen Kurzfrisur, den muskulösen Rücken, schweißglänzend, die Rinne ihrer Wirbelsäule. Papas roter Bart ragt in die Luft, in seinen braunkarierten Socken krampfen sich die Zehen, als wollten sie etwas greifen. Halb bin ich da schon aufgeklärt, oder viertel. Ich will Spaß machen und rufe: "Mama, was machst du mit dem Papa für Sport? Ich seh alles!"

Sie hört auf zu wippen, dreht den Kopf zum Fenster und sagt mit normaler Stimme: "Mach dich runter vom Dach! Kannst dir ein Eis aus der Truhe holen, ich komme gleich."

Ich nahm mir zwei Eis, und am Abend gab es Holundereierkuchen, die in Teig getauchten und goldbraun gebratenen Blütenteller, und hinterher spielten wir zu dritt Monopoly, knöpften einander Häuser, Grundstücke und ganze Straßenzüge ab. Von Zeit zu Zeit schielte ich unter den Tisch nach den braunkarierten Socken von Papa und musste kichern.

So lernte ich, wie das geht. Später las ich mal, dass der Anblick von Elternsex manche Kinder fürs Leben schockt, sie später impotent bzw. frigide macht.

Impotent bin ich nicht geworden. Jedenfalls nicht total. Fühlte mich nicht geschockt: Ich nahm zur Kenntnis, dass es eben so aussieht, wenn Mann und Frau "das" miteinander tun: Die Mama reitet auf dem Papa und schreit, und beide recken das Kinn zur Lampe, und davon kommen dann die Babys.

Patricia war in ihrer Jugend Sportlerin, Tennis, ihre Vorhand war berühmt, Pokale und Wimpel aus ganz Europa schmückten ihr Zimmer. Das war aber, bevor Herbert bei der Waffia anfing, danach durfte sie nicht mehr gen Westen reisen. Alles top secret eben.

Sie hatte da aber schon diese und jene inoffiziell überreichte DM- oder Dollarprämie (die sie "Köder" nannte, aber natürlich nicht zurückwies) auf ihr geheimes Göttinger "Tenniskonto" überwiesen, ohne dass unsere Ost-Behörden davon Wind bekamen. Das Geld lag lange Zeit eisern fest.

Von ihr, von der Mutter, habe ich den dreieckigen Sportlerrücken, die schmalen Hüften, meine Bizepse, überhaupt meine Rambofigur.

Nicht wie bei Goethe: Vom Vater die Statur, vom Mütterlein die Frohnatur. Sondern von ihr gottseidank die Statur, von ihm aber leider nicht mal eine irgendwie erkennbare Frohnatur, sondern die Verbissenheit, die Erfolgswut, den so oft unkontrollierbaren Jähzorn. Und dieses elende Frustgefühl bei jeder Schlappe.

Kindergeburtstag.

An meinem Ehrentag hat Herbert die Äußerung mehr scherzweise getan. Es war am dreizehnten August, ich wurde vierzehn. Da waren wir schon längst keine Zonis mehr, sondern nannten uns Bundesbürger. Wir saßen beim Frühstück, im Radio liefen die Nachrichten, wie immer im August Jahrestag des Berliner Mauerbaus, Gebührenerhöhung bei der Post, Benzinpreise, Fußballfernsehen demnächst nur im Pay-TV, sozial verträgliche Einschnitte, Herzklappenspezialisten, Opel-Manager verschachert Know-how, sächsischer AOK-Chef veruntreut Millionen. Da also kam Herberts Satz: "Man müsste diesen Spitzbuben ein Feuerwerk unter ihre dicken ... Sessel machen." Dabei balancierte er sein hartgekochtes Eigelb auf dem Löffel.

Beruflich war er da schon unter den wenigen, die bei der Waffia das Licht ausknipsten. Er war längst nicht mehr "Leiter der Entwicklungsabteilung II/A", sondern der letzte Hilfsarbeiter. Der neue Job nannte sich "Konversion": Mein Vater stand an der Presse, die früher das Pulver in die Geschosse gedrückt hatte, und entleerte nun Granate für Granate, Kartusche für Kartusche. Entließ sich selbst, langsam, unaufhaltsam.

Er schob sich das Eigelb unter den Schnauzer: "Wüsste sogar, wie man an genügend TNT rankäme. Oder an Nitrozellulose aus den Treibsätzen. Zentnerweise könnte ich das Teufelszeug ..."

Patricia: "Bleib friedlich, Hirsch, mein verhinderter Terrorist. Ball die Faust in der Tasche. Heute ist Geburtstag. Dein Protest im Leben hockt draußen im Garten, ist aus Blech und heißt Anita."

Ich blies meine vierzehn Lebenslichter aus und sah, wie Herbert seltsam erregt mit dem rechten Daumen ein Loch in die Innenfläche der linken Hand zu bohren versuchte. Eine neue Angewohnheit von ihm.

"Prinzipiell und in meinen eigenen vier Wänden kann ich reden was ich will ..." begann er von neuem, winkte aber dann nur ab. Danach kamen an meine Adresse die üblichen Geburtstagssprüche: GratulationglücklichesAlterwiedieZeitvergehtalsichso-altwarwiedu. Ich bekam meine Videokamera M 623 mit zehnfachem Zoom und Autofocus und Stativ, ein Schachspiel und dazu die verschiedensten Klamotten, die mir heute allesamt zu kurz sind.

Am Nachmittag war dann die eigentliche Fete. Ein paar Kumpels und Mädels aus dem Gymmi waren da, etwa ein Dutzend Leutchen. Ihr Geschenk war bescheiden, irgendeine CD, sie hatten zusammengelegt.

Beate v. Rippersreuth brachte einen Videomitschnitt, Pop Classic, Vanessa Mae, damals ihr und mein absoluter Star. In knackigen Shorts, wie eine Teufelin. Ich meine Vanessa mit ihrer Geige.

Einer kam später, uneingeladen, Stefan Jabwonski, genannt Jabw, er zog aus der Kapuze Michael Jackson: "Dangerous", ladenneu. Sein Geschenk war das teuerste. Dass er es aus der Kapuze zog, deutete allerdings darauf hin, dass für ihn die Anschaffung kostenlos gewesen war, nur mit Risiko verbunden.

Wie Feten so ablaufen: Irgendwer hatte eine Flasche Hochprozentigen im Beutel, damit verschnitten wir unsere Cola. Auch Sekt war da. Ein paar versammelten sich in meinem Zimmer an der Konsole und an den Joysticks, andere interessierten sich für mein Paintball-Gewehr.

Herbert grillte Bratwürste, pflanzte zwischendurch Johannisbeersträucher, obwohl der August nicht gerade die Jahresszeit dafür ist, er rauchte zu viel, hatte einen sitzen und machte Werbung, echt McDonald’s-verdächtig: "Ran, Leute, heiße Wurrycurst, solang der Vorrat reicht, danach gibt’s nur noch Sudelnuppe!"

Für uns war er wirklich komisch.

Ich war natürlich der Mittelpunkt:

Jabw: "Mann, habt Ihr’s geil, Rex! Klo direkt am Hobbyraum! Tür auf, und du kannst im Sitzen Pingpong spielen!"

Elän Zibchen (Sie war die Tochter eines Predigers irgendeiner Konkurrenzfirma der großen Kirche, hieß eigentlich Hélène und verlangte, dass man den Namen französisch aussprach): "Rex, der verflixte Martial, du könntest mir in Latein helfen ..."

Beate: "Rex, zeig mal’n Uki Goshi ..."

Ich hatte mal Judo gemacht, immerhin, violetter Gürtel. Wir breiteten Wolldecken auf den Rasen. Ich führte ein paar Fallübungen vor und den einwandfrei knallenden Handschlag auf dem Boden. Steckte die Freiwilligen der Reihe nach in meinen alten Judogi und zog sie aus dem Stand über die Hüfte. Allesamt krachten ächzend auf die "Matte". Am härtesten Jabw, denn er versuchte, sich zu sperren.

Mit den Mädchen ging ich pfleglicher um, ließ sie sanfter zur Erde gleiten, aber sie quietschten wie auf der Achterbahn.

Dann hatten alle genug und verteilten sich zwischen Büschen und Sträuchern. Ich holte mir eine Bratwurst mit viel Curry. Beate kam und wollte noch mal geworfen werden.

Sie war in dem Sommer noch mager. Wo ihr himmelblaues Top nicht hinreichte, sah man die Rippen. Und doch konnte sie einen Jungen schon um den Verstand bringen. Es war nicht nur ihre ungewöhnliche Körperlänge, es waren auch die Proportionen, ihre knappen, harmonischen Bewegungen, es machte einen schwindlig, sie rennen oder auch nur gehen zu sehen.

Unser Lateinlehrer hatte uns mal das Wort venustas erklärt: venustas, Anmut. Manche kannten nicht mal das deutsche Wort, da hatte er Beate vom Stuhl aufstehen lassen, einfach so aufstehen, und gesagt: "Das ist Anmut, meine Herren der Schöpfung, und beata venustas heißt glückliche Anmut."

Und es waren Beates Augen, vor allem die Augen.

"Schon drei Gläser Sekt auf ex", kicherte sie. "Es fliegt sich so schön."

Schon bei den vorigen Würfen war mir in den Schädel gekommen, bei ihr einen unerlaubten Griff zu riskieren. Dieses Mal! dachte ich. Ich legte meine Currywurst ins Gras, sie schlüpfte in die Kutte, band den Gürtel, stellte sich in Grundstellung. Mit der Rechten knüllte ich den leinenen Aufschlag in ihrem Nacken, mit der Linken griff ich aber nicht nach dem Ärmel, wie es den Regeln entsprach, sondern ihr zwischen die Beine. So standen wir. Auch in meinem Kopf drehten sich die Promille.

Fliegst du jetzt? wollte ich sie fragen.

Ich weiß, es war blöd, aber ich dachte damals, es müsse so sein, so hart und ... na ja, eben männlich ... Und dass die Mädchen es eigentlich auch so haben wollten. Aber sie erschrak, als ich sie meine Hand dort spürte, und ich zuckte zurück.

Gleichzeitig blickten wir beide um uns, ob wir beobachtet worden waren. Ihr Gesicht flammte. Dann sah sie an sich herunter. "He, meine weißen Jeans!": Der Abdruck meiner Curryfinger war deutlich genug.

Sie warf die Kutte ab und ging weg. Nachher tobte sie umso schlimmer herum, irgendwie drehte sie total auf. Bis ihre Jeans von oben bis unten schmuddelig waren vom Gras und unserer rötlichen Erde.

Übrigens küsste sie sich gegen Abend hinter der Garage mit zwei oder drei Leuten, zu denen sie sich hinabbeugen musste.

Ich wusch mir meine Curryhände und suchte ihre Nähe, aber ausgerechnet mich küsste sie nicht, mich, bei dem sie das Herunterbeugen nicht nötig gehabt hätte. Da küsste ich schließlich Elän Zibchen, der fiel vor Schreck die Brille von der Nase, und sie trat drauf.

Daraufhin stieg ich auf mein Garagendach, lag vollgefressen und angenehm benebelt auf der warmen Dachpappe zwischen Blättern und gelben Äpfeln versteckt, hörte das Gebrumm der Fliegen und beobachtete meine Gäste aus der Rex-Perspektive. Ich sah, dass auch Jabw hinter Beate her war.

Er stellte es selten blöde an: Er zerrte sie am Arm hinter die Garagenecke, direkt unter mein Versteck, und stammelte hitzig: "Ich auch mal, ich auch mal!"

Sie wehrte sich kichernd, und erst, als er sie umhalsen wollte, stieß sie ihn hart in den Magen und schrie: "Putz dir erst mal die Zähne, du Ferkel!"

Ich warf ihm einen Apfel auf den Kopf.

Später, beim Abschied, gab es noch einen echten Zwischenfall mit ihm, diesmal war meine Mutter schuld. Sie überreichte ihm vor aller Augen eine Plastiktasche mit abgelegten Shirts, die sie in aller Eile zusammengeramscht hatte. Klamotten, die natürlich jeder an mir kannte.

"Sehen Sie mal, die Hemden sind doch noch recht gut!"

Jabws Miene verfinsterte sich.

Sie: "Sie müssen sich nicht bedanken. Rex hat ja heute neue Sachen gekriegt."

Sie nahm die Teile einzeln aus der Tasche, zum Beweis, dass sie wirklich noch brauchbar waren: "Eh ich sie dem Roten Kreuz gebe ..." Sie drückte ihm den Bettel der Reihe nach in die Hand, Stück für Stück, resolut, als verteile sie milde Gaben an Asylbewerber.

Alle konnten sehen, wie er in seinem mühsam runtergeschluckten Suff bleich wurde, einige wandten sich ab.

Seine unter der breiten Stirn merkwürdig engstehenden Augen schillerten vor Kränkung und Wut. Patricia bemerkte die Unmöglichkeit der Situation immer noch nicht und sattelte drauf: "Ich hoffe, es ist eine kleine Hilfe, und Ihre Eltern werden sich freuen."

Da entriss er ihr die Tasche, stopfte das geschenkte Zeug wahllos hinein und rannte zur Tür hinaus. Auf dem Kiesweg stieß er mit einem gezielten Seitwärtstritt unseren Zwerg Anita um.

Es war knapp ein Jahr später,

da schlug sich Herbert beim Ausstemmen einer Kabelrinne auf die Daumenwurzel. Fluchend schleuderte er den Hammer weg und traf den Garderobenspiegel. Seine Erregung war dadurch aber nicht verpufft - nur scheinbar ruhig stieg er von der Leiter. Seine Schläfenadern schwollen erst jetzt richtig an, er hob den Hammer auf und zertrümmerte das gesprungene Glas systematisch weiter, bis kein Splitter mehr aus dem Rahmen ragte, in stummer Raserei, als wollte er seine Spiegelbild für etwas bestrafen. Endlich schrie er: "Vierzig Millionen, vierzig Millionen!"

Patricia kam die Treppe heruntergerannt: "Was ist los, Mann, knallst du durch?"

Er: "Ich ... knalle ... durch, ... soviel ... es ...mir ... passt!" Er hämmerte rhythmisch weiter, nun allerdings, da kein Glas mehr zu zertrümmern war, in die eigene, hohle Hand.

Sie: "Hast du was getrunken?"

Er: "Und wenn? Ich bin ab dreißigsten abgewickelt. Mich gibt’s nicht mehr."

Abgewickelt, das war die landläufige Umschreibung des Wortes arbeitslos. Erst mal herrschte Schweigen, nur das Patschen des Hammers war zu hören. Patricia holte den Besen und begann, die Scherben aus den Ecken zu kehren: "Wir haben’s doch kommen sehen, mein stolzer Hirsch."

In der Tat - Kaiserswartha, unser Nest, das kaum einer in Deutschland kannte und das meistens noch mit Hoyerswerda verwechselt wurde, Kaiserswartha fürchtete schon lange den Tag X herbei. Die Treuhand hatte die Waffia, die "Spezial-technik GmbH", wie sie offiziell noch hieß, für die berühmte symbolische eine Mark "verkauft", an einen Deutschamerikaner aus Indiana, der im Polnischen, dicht hinter der nahen Grenze, eine ähnliche Firma unterhielt. Der Ami hatte die Konversion sofort nach Polen ausgelagert, das Werk in Kaiserswartha dicht gemacht und bot nun das riesige Gelände samt Produktionshallen und modernen Maschinen der Treuhandnachfolgerin BvS als Immobilie an - für vierzig Millionen. Für dieses Geld wollte er die Stadt seiner Väter Kaiserswartha später mit einem Gewerbepark beglücken.

Ich war der Sohn eines Abgewickelten. Am gleichen Tag rief mich Beate an und fragte, was mit meiner diesjährigen Geburtstagsfete werden sollte. Und sie lud mich schon jetzt zu ihrer eigenen ein. Ich legte auf.

Zu meinem fünfzehnten Geburtstag dann kam als einziger Besuch meine Oma Nelly aus dem Gebirge, sonst niemand. Familie Kamentz stand unter Schock.

"Wieder eins von diesen

vollklimatisierten Chemoklosetts", knurrte Herbert und meinte damit den blanken Reisebus, der vor uns im Stau stand: v. RIPPERSREUT’S REISETOUR’S GmbH.

Ich: "Die Apostrophe sind beide falsch."

Wir rückten wieder einen Meter vor.

Er: "Ja, Deutsch muss einer heutzutage nicht können."

"Schlage vor, Ihr wechselt das Thema", kam es sanft von Patricia, die im Fond saß. "Mein Hirsch schimpft sich neuerdings so leicht in Rage."

Aber Herbert war nicht mehr aufzuhalten: "Ha, Kollege Rippersreuth! Als Abteilungschef in der Waffia war er ‘ne glatte plusminus Null!"

Die "plusminus Null" mit der apostrophalen Reklame war aber Beates Vater, und so sagte ich: "So eine Null kann er nicht gewesen sein, sonst wäre er nicht Chef geworden. Genau so einer wie du, Papa."

Herbert haute auf die Hupe: "Fahr endlich, grüner wird’s nicht!"

Das "Chemoklosett" rollte an, kam als letztes unter den Linksabbiegern über die Kreuzung. Die gläserne Seitenfront blinkte in der Abendsonne, und das kleine v. vor dem Namen des Firmeninhabers leuchtete signalrot. Wir standen wieder.

Herbert: "Herr von Adel. Früher hat er den Buchstaben am liebsten weggelassen, hat Arbeiterklasse gemimt."

Ich schüttete Öl ins Feuer: "Drei Doppelstockbusse, dazu der Mercedes-Möbelwagen mit Hänger ..."

Ich kannte meinen Vater. Jetzt kam die Sache mit dem Grund- und Startkapital. Davon konnte bei v. Rippersreuths nämlich nicht viel mehr vorhanden gewesen sein, als bei uns, bei Familie Kamentz. Im "Sack" war nichts von einer reichen Erbschaft oder einem Lottogewinn bekannt.

Herbert, prompt: "Woher hat er das Geld für so eine Firma? Ich fress’n Besen quer, da stimmt was nicht."

Patricia:  "Das Geld stimmt jedenfalls. Unser Nachbar hat halt Schwung, Initiative."

Das hätte nicht auch noch kommen dürfen.

Er: "So, ich habe also keinen Schwung, keine Initiative? Ich stehe nicht jeden Morgen punkt fünf Uhr auf?"

Sie: "Das musst du jetzt nicht mehr."

Er: "Ich tue es aber. Aus Prinzip."

Sie: "Hör endlich auf, sinnlos zu nörgeln, Mann."

Er: "Soll ich mir vielleicht bei der Vulkanwerft was suchen? Oder bei Aerospace? Oder bei Fokker? Europa steht mir ja offen, ha, ha!"

Sie: "Und wenn du dich bei der Gardinenwäscherei um die Ecke bewirbst - sie sind auf Diplomingenieure aus der Waffia nicht scharf."

Er: "Ich kann ja ein Bestattungsinstitut aufmachen, mit Krematorium gleich in der Garage, ‘Herbert’s letzter Auspuff’, mit Apostroph, für mich selber als ersten Kunden."

Jetzt wurde Patricia ernstlich fuchtig, sie beugte sich nach vorn und schrie uns beiden in die Ohren: "Mach doch zwei Krematorien auf, drei, vier, mach was du willst, aber hör jetzt endlich auf zu jammern!"

"Prinzipiell höre ich auf, wann’s mir passt." Grün. Er gab Vollgas.

Sie plumpste gegen ihre Rückenlehne: "O Gott. Ich krieg noch Krämpfe bei diesem ewigen ‘prinzipiell’ neuerdings ..."

Vollbremsung in Kreuzungsmitte. Ich flog fast mit dem Kopf durch die Scheibe. Der Gegenverkehr war zufällig wieder ein Fahrzeug der Firma Rippersreuth, diesmal ein Kleintransporter.

Den haben sie neu, hätte ich am liebsten gesagt, aber ich beherrschte meine Wut, mit der ich ganz auf Patricias Seite war.

Endlich hatten wir freie Fahrt. Herbert heizte durch die Löcher, Patricia war dem Infarkt nah, endlich bogen wir in den "Sack" ein.

Hausnummer 33. Fakt war: Während Herbert sich Granate für Granate selbst abwickelte, hatte sein ehemaliger Waffia-Kollege knallhart zugeschlagen. Rippersreuths Einfamilienhaus, einst ein Typenbau wie unseres, breitete sich jetzt mit neuen Anbauten aus wie das Anwesen von Steffi Graf.

Ich sah Beate schon von weitem im Sportdress mit dem Racket in der Hand. Die hohe Mauer, die das Wohnhaus vom Fahrzeughof trennt, diente ihr als Squash-Wand. Ich hatte genug von meinen streitenden Eltern: "Ich will aussteigen!"

Die Reifen radierten, ich sprang raus und knallte die Tür zu.

Beate spielte weiter, als hätte sie nichts bemerkt, sagte schließlich, etwas außer Atem: "Ach du bist’s." Und fuhr fort, ihre Schläge zu zählen. Sie war schon bei über zweihundert.

Ich lehnte mich auf den Metallzaun und sah ihr zu. Venustas. Seit meinem unerhörten "Judogriff" war viel Zeit verstrichen. Von ihrer Rippenmagerkeit war nichts geblieben, sie hatte sich zur S-Klasse-Frau entfaltet. Sie trug ihre dichten blonden Haare, die in den Wellentälern der Locken dunkelblond erschienen, unter einem weißen Frotteeband gerafft.

Ich wartete, dass sie wenigstens einen Seitenblick für mich erübrigen würde. Ich dachte: Irgendwann hüpft dir schon der Ball davon. Der tat mir aber nicht den Gefallen, und sie ließ mich noch eine Weile ihr heftig bewegtes Profil bewundern, endlich griff sie den aufspringenden Ball und kam racketschwenkend zu mir an den Zaun.

Beim Gehen hielt sie sich wie ein Tennisstar, drückte bei jedem Schritt die Knie durch, ihr Hüftschwung war galaktisch. Das Wichtigste aber waren wie immer die Augen. Grau, ein Schimmer grün, in der linken Iris entdeckte ich an diesem Tag ein sternförmiges helles Einsprengsel, eine winzige Anomalie, die ich bei mir sofort "Magnetanomalie" taufte. (In Gegenden mit starken ferromagnetischen Feldern tanzt bekanntlich die Kompassnadel. Auch mein innerer Kompass kreiselte wie verrückt.) Beate war so schön, dass es nur einen einzigen Jungen im ganzen Gymnasium gab, der zu ihr passen konnte ...

"Wow, dreihundert", sagte sie rasch atmend und gab mir die Hand über den Zaun. Sie schwitzte durch ihr Shirt, meine Nasenflügel dehnten sich.

Ich: "Es ist wegen deiner Geburtstagseinladung ..."

Sie: "Sorry, wir verreisen."

Ich: "Gebongt. Aber ich kenne einen großen blonden Typ mit v-förmigem Rambokreuz ..."

Sie: "Ein v-förmiges Kreuz? Total spannend."

Ich: "Der würde dich gern zu ‘ner Cola-Ouzo einladen."

Sie: "Hab ich im Kühlschrank."

Ich: "Vielleicht zu ‘nem Eis?"

Sie: "Hab ich in der Truhe."

Ich: "Willst du ‘ne Zigarette? Oder hast du die auch in der Truhe?"

Sie: "Alles uncool - ich hab alles. Und hier noch extra was. Mund auf, Augen zu."

Sie fischte in ihrer Brusttasche, ich dachte, sie wollte vielleicht einen Kaugummi herausholen, und gehorchte wie ein Fünfjähriger, schloss die Augen und sperrte den Mund auf. Als ich ihn vorsichtig zumachte, spürte ich ihren Finger im Mund. Es war der kleine, warm und salzig, und sie zog ihn wieder raus, dass es ein winziges Flopp-Geräusch gab. Ich hatte die Augen wieder auf und sah ihre Pupillen ganz nah, die "Magnetanomalie" vibrierte lustig: "Alter, du hättest mir lieber mal’n Kuss anbieten können!"

Ich: "Und wenn ich’s jetzt tu?"

"Zu spät!"

Hinter mir bremste ein schwarzer Opel Frontera, der berühmte Off-Roader, Allrad, Geländegetriebe. Beates Mutter, sie lud Einkäufe aus. Ich half ihr, ein paar Sachen zum Haus tragen. Sie ähnelte ihrer Tochter sehr, nicht nur, dass sie ebenfalls blond war. Es war die Stirnpartie, die Wangen mit ihrer jugendlich straffen Haut. Ihr Schritt war hart und eilig.

Mir fiel nicht schnell genug ein neuer, vernünftiger Grund für eine Verabredung mit Beate ein, ich dachte, du kannst sie doch nicht einfach in Gegenwart ihrer Mutter zum Küssen einladen. Ich haspelte: "Ich hab doch das Paintball-Gewehr. Wir könnten ... wir könnten ein Scheibenschießen ... du und ich." Idiotisch. Ich hätte mich ohrfeigen können, ihr mit so einem blöden Vorschlag zu kommen.

Sie zuckte denn auch die Schultern: "Mal sehen." Machte auf dem Absatz kehrt und folgte ihrer Mutter ins Haus.

Decke unter die Luke gehängt, das Loch ist unsichtbar. Dreck im Klo weggespült. Gefrühstückt.

Wieder das Auf und Ab. Sechs Schritt. Die graue Tür. Kehrtwende, rechte Sohle, sechs Schritt zurück zur Luke, Kehrtwende, linke Sohle. Tür, Luke. Tür, Luke.

Nicht auf die drei, vier gelben Ameisen treten auf ihrem Marsch schräg übers Schachbrett, unter der Seitentür durch, wo das WC gurgelt. Lauft nur, Ameisen, kleine geschäftige Marschierer, Rex tut Euch nichts, der Adler fängt keine Fliegen. Und keine Ameisen. Im Klo gibt es Organisches für Euch, Miasmen ziehen durch meinen Knast. Ich kann die Luke aufreißen soviel ich will.

Jetzt eine Zigarette! Ach, der erste Zug, nussartig, süß-brandig, das aufglimmende Papier eine Spur wie angebrannte Milch. Meine Eidetik funktioniert, auch nach dem Gongschlag über den Schädel: diese sozusagen plastische Erinnerungsfähigkeit: computergenau gespeichert, CD-ROM, jederzeit in den Hauptspeicher einlesbar, Dialoge, Wort für Wort, der Tonfall, die Miene, die Gebärde. Sound, Text und Grafik sozusagen. Und obendrein, anders als beim Rechner, Gerüche, die Erinnerung an Berührungen, besonders an die Weichheit und Wärme eines Körpers. Fast wie live. Fast. Sex im Präteritum. Aber die Wirkung von Nikotin ist nicht durch Eidetik, nicht durch die lebhafteste Erinnerung zu ersetzen.

Ich lausche

gewöhnlich nicht an Türen, aber ich bekam doch mit, dass Herbert eine Firma gründen wollte.

Eine eigene Firma! Firma Kamentz!

Wir wollten Mittelstand werden. Mindestens Mittelstand.

Ich stellte mir sofort einen Traumurlaub vor. So weit weg, wie die Rippersreuthschen Reisebusse nie kommen würden. USA vielleicht. Auch, dass wir statt unseres popeligen Honda ein BMW-Cabrio besitzen würden, casablancaweiß. (Beates Vater fuhr einen 500 SL, die Mutter den Frontera.) Und wie ich über kurz oder lang selbst den "Sack" entlang pritschen würde wie James Dean, dann schon sechzehn, der einzige Junge in der ganzen Stadt mit US-Führerschein: Stopp unter Beates Fenster, dass die Karosse nur so wippt. Hupsignal: lang, kurz, kurz, kurz, das Morse-B, und wir würden zusammen abzischen, dass unsere Haare flattern, und einen Kometenschweif von Vanessa-Mae-Klängen hinter uns herziehen.

Herberts Firma

war aber noch Zukunftsmusik. Patricia reagierte schneller auf die neue Lage der Familie. Eines Tages lud ein Transporter vor unserer Gartenpforte einen Stapel Kartons ab. Sie trugen kein Firmenzeichen.

Patricia: "Überraschung!" Sie lächelte geheimnisvoll und unterschrieb den Lieferschein. "Wird bezahlt von meinem Tenniskonto!"

Der Fahrer war noch nicht zur Gartenpforte raus, da war der neue Zoff schon da.

Herbert: "Willst du ’n Laden aufmachen?"

Patricias Unterlippe schob sich vor: "Noch nichts von der amerikanischen Methode gehört? Sie garantieren bis zu zweitausend Mark Nebenverdienst. Können wir doch jetzt brauchen, oder?"

Ins Startgeräusch des Transporters hinein belferte Herbert sie an: "Aha, bis jetzt habe ich euch wohl nicht anständig ernährt?"

"Bis vor kurzem", schrie sie zurück.

Das war die Zeit, als sie sich das gegenseitige Anschreien angewöhnten. In unserem abgelegenen Haus fiel das nur dreien auf den Wecker, ihnen beiden und mir.

Er stieß mit dem Fuß gegen den Kartonstapel: "Und was hat der ganze Bettel gekostet, he?" Er fragte nicht mal nach dem Inhalt.

Sie, eisig: "Der ‘Bettel’ wurde, wie gesagt, von meinem Konto bezahlt. Aber ich verrate dir den Preis, damit du deine Ruhe hast: genau die Summe, die ich binnen einem Monat doppelt wieder reinhabe!"

Mir fiel auf, dass Patricia anfangs gesagt hatte: wird bezahlt. Und jetzt: wurde bezahlt. Offenbar war der Handel schon nicht mehr rückgängig zu machen.

Herbert merkte die kleine Unstimmigkeit nicht. Er schnappte bloß nach Luft und schwieg. Ich musste die Kartons in den Hobbyraum hinuntertragen. Ich riss einen Deckel auf und hielt ein zierliches Kästchen in der Hand. Als ich auch das öffnete, fiel ein geschliffener Flakon heraus und zersprang auf dem Fußboden. Bald durchzog süßlicher Fliederduft das ganze Haus.

Die "amerikanische Methode" funktionierte so: Patricia verfertigte eine Liste und rief der Reihe nach ihre alten Schulfreundinnen an: "Wir müssen uns doch mal sehen? Mal wieder eine Runde schwatzen?"

Die meisten sagten zu, denn sie wussten noch nicht, was sie erwartete. Und Patricia wandte sich an uns: "Seht Ihr’s? Der Anfang ist gemacht. Was man braucht in dieser Zeit, ist Schwung und Initiative."

Sie kaufte sich ein dunkelblaues Kostüm, in dem sie aussah wie eine Chefstewardess. Sie war in letzter Zeit fülliger geworden, fast üppig wie Beates Mutter, was ihr meiner Ansicht nach nicht schlecht stand. Sie färbte sich auch die Haare neu, sie glänzten blauschwarz.

"Wir machen einen Wettstreit, Hirsch", sagte sie zu Herbert: "Einen Wettbewerb, wessen Laden besser läuft."

Ich: "Was wird denn nun überhaupt mit Papas Firma?"

Aber Herbert spannte uns weiterhin auf die Folter.

Als Patricia von ihrer ersten Tour zurückkam, nahm sie erst mal eine Tablette. Bei drei Freundinnen war sie gewesen, ihr war schlecht vom vielen Kaffee.

Eine hatte rundweg abgelehnt. Die zweite hatte eine Palette pastellfarbene Schminkpuder für vierundzwanzig Mark neunund-neunzig genommen. Diese "Kundin" war Frau v. Rippersreuth, Beates Mutter.

Patricia war ehrlich zu uns: "Die knalldumme Pute: Mein Gatte hinten, mein Gatte vorn. Ich sah schon beim Abschied, wie das Geld sie reute. Und mit welcher Gönnergeste sie mir den Pfennig Rückgabe geschenkt hat! Zwischen uns ist es jedenfalls gelaufen."

Die dritte Freundin hatte das Kaffeegeplauder von sich aus auf "die Haut ab dreißig" gelenkt und ihr, Patricia, dann ein Sortiment Cremes angeboten.

Das Stewardessenkostüm hing seitdem im Schrank. Patricia hat ihre fliederduftende Ware später nach und nach als Weihnachts-, Oster- und Geburtstagspräsente unter die Leute gebracht.

Herbert konnte nicht meckern,

denn er hatte bisher noch nicht mal vierundzwanzig Mark neunundneunzig umgesetzt. Seine "Verhandlungen waren noch am laufen", wie er sagte. Konkreter wurde er nicht. Nur flatterten bei Tisch großartige Wörter aus seinem Mund: Investment, Grundfonds, Rendite, Bankgeheimnis, Anmeldung im Firmenregister, in den Gelben Seiten. Er erklärte: "Die einen verdienen ihr Geld mit Arbeit, die anderen mit Geldverdienen. Das ist das ganze Geheimnis."

Eines Tages mähte er sich den roten Vollbart zu einem Dreitagebart.

"Sieht so ein Chef aus?" fragte er bei Tisch und reckte den nicht vorhandenen Bauch.

Patricia wusste zu dem Zeitpunkt schon, was ich noch nicht wusste. Ihr Lächeln war voll trauriger Ironie, als sie uns die Vorsuppe auftat. Es war eine Spargelbouillon mit Fleischklößchen.

"Bisschen mager wirkst du ohne richtigen Bart, Hirsch", sagte sie.

Er blickte mich prüfend an, in seinen Augen lag Zweifel. Ich weiß heute, wie sehr er sich vor meiner Reaktion auf die bevorstehende Mitteilung fürchtete.

Ich: "Ich platze vor Neugier!"

Patricia: "Bring es ihm ein bisschen behutsam bei, Mann."

Er seufzte: "Also gut. Es ist nicht gerade ein Geschäft mit Fliederduft. Im Gegenteil."

Patricia: "Lass den Fliederduft aus dem Spiel, bitte."

Er: "Unsere Kästen blitzen nicht vor Lack und Glas wie gewisse vollklimatisierte Chemoklosetts auf Rädern ..."

Ich: "Soll ich jetzt raten?"

Er: Für das Geschäft benötigen wir sehr teure Spezialfahrzeuge. Zwei siebenhundertelfer Daimler für je hundertzwanzigtausend Mark. In den Kästen, die wir transportieren, findet gerade ein Mensch Platz. Der Inhalt ist voll biologisch abbaubar, ha, ha. Na, dämmert’s?"

"O nein, o nein", schrie ich.

Patricia: "Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen, Junge."

Ich stieß meinen Teller weg, dass die Fleischklößchen über den Tisch hüpften, und rannte in mein Zimmer. Nur zu gut erinnerte ich mich an den Streit im Auto, von wegen Krematorium "Letzter Auspuff." Was damals noch als ein trauriger Witz erschienen war, sollte jetzt Wirklichkeit werden: Ein Bestattungsunternehmen. Die "Kästen", das konnten nur die Särge sein.

Ich sprach tagelang nicht mit ihnen.

Ein künftiger Firmenchef

braucht einen gewissen Lebensstil. Teure Anschaffungen belegen ja, dass der Betrieb gut läuft. Das Wohnzimmer wurde Büro. Mit neutral-dunklen, geschmackvollen Möbeln, sie durften keineswegs billig aussehen. Die alte Heizung im Keller, ein tonnenschwerer Kohleofen, wurde abmontiert und in eine Ecke gewuchtet. Ich musste helfen, wir schufteten schwitzend, legten Holzrollen unter wie die alten Ägypter. Zu dem gewissen Lebensstil gehörte eine Ölheizung im Haus, okay.

Im "Sack", war kürzlich mehrmals eingebrochen worden. Natürlich tippte jeder auf das "Gesindel aus Stalingrad". Unser "Firmengelände" musste also gegen Diebe gesichert werden. Wieder schwirrten die großartigen Wörter umher: Investmentfonds, Kreditbank, Bankgeheimnis, neuerdings brachte Herbert auch immer wieder Patricias eisernes "Tenniskonto" ins Gespräch. Dabei stieß er allerdings auf taube Ohren.

Die Kellerfenster, die sowieso unter dem Niveau unseres Rasens, in der Tiefe abgedeckter Luftschächte Staub und Spinnenweben ansetzten, wurden zusätzlich vergittert.

Wir kauften eine Hochsicherheitshaustür.