Das, was sie Liebe nennen - Caroline Bongrand - E-Book

Das, was sie Liebe nennen E-Book

Caroline Bongrand

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Beschreibung

Ein Roman über zweite Chancen und über den Mut, diese zu ergreifen

Paris. Sie lebt in einer unglücklichen Ehe, in der sie sich vernachlässigt und zurückgewiesen fühlt. Doch eine Scheidung kommt nicht infrage, sie möchte ihren Kindern nicht das Herz brechen. Und irgendwie schafft sie es immer wieder, sich einzureden, dass sie sie nicht braucht, die große Liebe. Bis sie ihm begegnet. Die beiden beschließen, eine rein platonische Liebe zueinander zu bewahren. Doch nach einem Sommer ohne Nachricht von ihm wird ihr klar, dass sie das nicht mehr ertragen kann. Ohne ihn zu sein, das ist Tortur. Gerade als sie alles hinter sich lassen will, trifft das Schicksal sie mit ungeahnter Wucht.

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Seitenzahl: 167

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Das Buch

»Er war witzig, klug, er lachte nicht, aber er lächelte verschmitzt über ihr herzhaftes Lachen. Alles, was er erzählte, war faszinierend, und sie riss die Augen auf angesichts solcher Intelligenz. Und wenn sie sprach, hörte er ihr mit größter Aufmerksamkeit zu. Die Atmosphäre war sehr angenehm, plötzlich war sie wie befreit – oder frei –, und sie fühlte sich so leicht. Was war das für ein neues Gefühl?«.

Die Autorin

Carolin Bongrand, 1967 geboren, schreibt Romane, Essays und Drehbücher. Sie war mehrere Jahre Chefredakteurin der Zeitschrift L’Officiel de la Mode. In Frankreich wurde sie bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Das, was sie Liebe nennen ist ihr erster Roman bei Heyne.

CAROLINE BONGRAND

Das, was sie

Liebe nennen

Roman

Aus dem Französischen von

Carola Fischer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Vous aimer

erschien 2016 bei Robert Laffont, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Das Gedicht Der Mensch und das Meer ist entnommen aus: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke / Briefe. Band 3.

Les fleurs du mal. Die Blumen des Bösen

Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp

© 1975 Carl Hanser Verlag München

Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2017

Copyright © 2016 by Caroline Bongrand

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Hanne Hammer

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design unter

Verwendung eines Motivs von © Gettyimages / Josef Ladik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20512-6V002

www.heyne.de

Für Dominic

»Die Sprache ist eine Haut.«

Roland Barthes

Fast nichts

Es war einer dieser schwierigen Tage, inmitten einer schwierigen Woche. Sie musste sich mit ihrem eintönigen Alltag abfinden, mit einem Ehemann, der nichts als bissige Bemerkungen machte, der sich fortwährend über sie beschwerte, über das, was sie tat und was sie nicht tat, ein Mann, der nichts, gar nichts zu schätzen wusste. Inzwischen hatte sie das Interesse verloren, war wie von sich selbst, von ihrem wahren Wesen abgeschnitten. Ihr war schwer ums Herz gewesen, als sie am frühen Abend nach der Arbeit den Einkauf erledigt und ihrer Freundin Gabriella anvertraut hatte:

»Ich möchte mich nicht beklagen. Das macht das Problem nur größer.«

Das alles hatte keine Bedeutung, davon war sie überzeugt, fest überzeugt. Das ruhige Leben war gut. Das ruhige Leben, das keine Überraschungen barg, keine bösen und keine guten.

Wenn sie sich alle zwei Wochen, manchmal auch seltener, mittags trafen und vor einem frisch gepressten Karottensaft saßen, kamen sie letztlich immer auf dieses Thema zu sprechen. Gabriella führte ihr vor Augen, dass sie sich in einem emotionalen Vakuum befand und es ihr besonders an Liebe mangelte.

»Dein Leben ist nicht ruhig, dein Leben ist ohne Liebe. Du wirst schon sehen, eines Tages wird dir ein Mann sagen, dass er dich schön findet. Er wird dich lieben. Und dann …«

»Was dann?«

»Dann wirst du begreifen, dass es das gibt. Dass man geliebt wird, wirklich geliebt, so wie man ist, uneingeschränkt.«

»Ach was, das interessiert mich nicht. Und ich bin auch keine Frau, die Männern gefällt, das kann ich dir versichern. Auf der Straße dreht sich nie einer nach mir um. Außerdem will ich auch gar nicht, dass mir das passiert.«

Sie führten immer die gleiche Unterhaltung. Aber wenn Gabriella und sie sich trennten, dachte sie manchmal: Und wenn mir das doch passieren würde, wenn mir wirklich jemand eines Tages sagt, ich sei schön? Nein, dazu würde es nicht kommen.

Vielleicht gab es – auch wenn sie noch ernsthaft daran zweifelte – irgendwo einen wunderbaren Mann, den ihre Schultern verzückten, den sie, so wie sie war, vollkommen in Erstaunen versetzte, der nicht ständig aufzählte, wie sie nicht war. Jemanden, der davon träumte, sie zu küssen, und der ihr das auch sagte, jemanden, den die Form ihrer Hüften begeisterte, der ihr verzieh, dass ihre Brüste mit den Jahren gelitten hatten, der sie schön und sogar anmutig fand. Aber sie würde sich nicht auf die Suche nach ihm machen. Wozu auch, um »auf den Herzen ihrer Kinder herumzutrampeln«? Eine ihrer Bekannten hatte diese Formulierung einmal gebraucht, als sie von ihrer Scheidung gesprochen hatte. Nein, das wollte sie nie wieder erleben, nie wieder.

Die schöne, die große Liebe, wenn es sie denn wirklich gab, führte nirgendwohin. Außerdem hatte sie die große Liebe, wenn auch nur indirekt, bereits kennengelernt. Ihre Eltern hatten sich wahnsinnig geliebt. Und wie die Wahnsinnigen hatten sie sich zerfleischt, kaputtgemacht, umgebracht und sich letztlich scheiden lassen, um sich weiterhin zu hassen, das heißt zu lieben. Sie hatte diese verrückte, ausschließliche Liebe gesehen, die im Lauf der Zeit alles zerstörte – die intellektuelle Redlichkeit, die Wahrheit, das Familienleben oder die Kinder. Sie hatte den Eindruck, dass sie die Liebe, die große Liebe, die zum Träumen verleitete, um jeden Preis vermeiden sollte. Die edlen Ritter, die Stierkämpfer, die Tangotänzer mit dunklem Teint und braunen Augen, die eine Frau bis in alle Ewigkeit verwirrten und ihr in einer Nacht mehr Vergnügen schenkten als andere in einem ganzen Leben, solche Menschen waren für sie unerreichbar, und wenn aus der Begegnung mit ihnen die große Liebe erwachte, dann war es besser, eine Messe zu lesen und das alles unter den Teppich zu kehren. Nur nichts davon leben.

Das ruhige Leben, wie sie es nannte, war besser. Dennoch, als sie an jenem Tag mit Einkaufstaschen beladen nach Hause kam, spürte sie einen winzigen Stich im Herzen. Vielleicht, sagte sie sich, werde ich wirklich nichts mehr erleben, jetzt, wo ich auch noch älter werde. Nie mehr wird ein Mann mich so lieben, wie es sein sollte, nie mehr werde ich mich schön und begehrenswert fühlen, von Kopf bis Fuß, nie mehr. Ich werde mit dem Gefühl einer großen Vergeudung sterben. Mit dem Gefühl, in meinem Leben nichts getan zu haben, nichts Schönes und nichts Großes. Mit dem Gefühl, nicht so gelebt zu haben, wie man das Leben leben sollte: Man sollte es ehren, und man sollte es feiern. Aber sie beklagte sich nicht, sie kam zu dem Schluss, dass sie ihr Leben akzeptieren musste, dass das »ihr Los« war.

Sie öffnete die Eingangstür zu ihrem Haus. Sie war froh, mit ihrer Freundin gesprochen zu haben, sie war froh, dass sie bald wieder einen frisch gepressten Karottensaft mit ihr trinken würde, sie war froh, wieder bei ihren Kindern zu sein.

Im Aufzug betrachtete sie im Spiegel ihre Gesichtszüge. Ihr Gesicht hatte so viele Fehler. Ihre Augenbrauen waren am Ansatz zu buschig und am Ende zu schmal, ihr Gesicht war etwas länglich, sie hatte Zornesfalten, und diese da um den Mund, die bei der Nase anfingen, wie hießen die? Klammerfalten vielleicht? Ihre Haut war nicht wirklich strahlend und glatt. Und ihre Augen? Sie wusste gar nicht, was sie von ihnen halten sollte. Ihr Mund hingegen hatte eine ganz schöne Form. Und die hohen Wangenknochen wirkten interessant: Sie zogen das Licht an. Aber genügte das? Schließlich hatte ihr Mann nicht unrecht. Nein, sie war nicht schön, gerade mal durchschnittlich, und sie hätte sich glücklich schätzen sollen – und dem Himmel dafür danken –, dass sie jemanden gefunden hatte.

Kurz bevor sich die Stahltüren öffneten, sie war immer noch in ihre Gesichtskonturen vertieft, merkte sie überrascht, dass Wut in ihr aufstieg. Auch wenn sie, objektiv gesehen, nicht sehr schön war, kein schönes Gesicht und auch keinen schönen Körper hatte, alles in allem also eine ziemlich gewöhnliche Frau war, warum musste sie sich so schlecht fühlen? Im Laufe ihres Lebens waren ihr Frauen begegnet, die nicht mehr und nicht weniger schön gewesen waren als sie, die aber dennoch selbstbewusst und selbstsicher gewirkt hatten. Vielleicht waren die Wurzeln des Bösen tief verborgen. Sie kam zu der Überzeugung, dass nur jemand, der so ein Gesicht hatte wie sie, sie verstehen – das heißt ihre Nicht-Schönheit begreifen – und sie daher vielleicht lieben konnte. Jemand, der einen etwas zu langen Kopf hatte, wie sie. Helle Haut und ansonsten nichts, das besonders war. Aber sie wies sich sofort zurecht: Wenn sie diesen Menschen mit fünfundvierzig Jahren noch nicht getroffen hatte, dann existierte er nicht.

Man brauchte ein ganzes Leben, um sich zu lieben, sich zu verzeihen, was man nicht war, seine Fehler zu bezwingen und letztlich zu begreifen, dass sie keine waren, ein ganzes Leben, um liebevoll mit sich selbst zu sein. Mit fünfundvierzig Jahren hatte sie endlich gelernt, sich zu schätzen. Nicht ihren Körper, aber immerhin den Rest. Sie freute sich über das, was sie im Beruf und als Mutter erreicht hatte, letztlich blickte sie sogar mit etwas Stolz auf den Weg, der hinter ihr lag, zurück. Ihr Leben war ein Sieg über alles, was sie nicht aus der Bahn geworfen hatte. Die Tränen und auch die anderen Schmerzen, schwache wie starke, die sie zu dem gemacht hatten, was sie war, hatte sie vergessen. Sie war eine Überlebende, ein Mensch, der zu einer unvorstellbaren Begeisterung fähig war, auch für Kleinigkeiten. Jeder Tag, fast jeder, war ein Fest, so wie jedes Stück Melone zu Beginn des Sommers, jeder Löffel frischer Schlagsahne, jeder Sonnenstrahl, der auf ihre Lider fiel. Sie liebte die Freuden des Lebens, waren sie auch noch so klein, wie in eine Zitronenscheibe zu beißen, oder so unendlich groß wie die Freude, abends die Haustür aufzumachen und zu wissen, dass dort eine Familie wartete, ihre Familie. Sie war zufrieden, sehr zufrieden mit ihrem Leben – einfach damit, am Leben zu sein – und dass es ein erfülltes Leben war. Das Glas war voll, denn sie kannte alles, was man nicht haben konnte, alles, was man verlieren konnte, jede Frage, die man sich stellen konnte, ohne jemals eine Antwort zu finden und erst recht keinen Frieden.

Sie war auch fest entschlossen, mit ihrer Ehe glücklich zu sein. Und das war sie. Ihre erste Scheidung, die eher chaotisch als bösartig gewesen war, hatte ihr viel Kraft geraubt. Sie war sehr allein gewesen. Mit zwei Kindern, vier und sechs Jahre alt, hatte sie um alles kämpfen müssen. Und zuallererst um das, was offensichtlich schien: eine Wohnung, eine Arbeit, etwas Würde. Sie hatte diesem Wort niemals große Aufmerksamkeit geschenkt, doch damals hatte sie begriffen, wie wichtig es für einen Menschen war, seine Würde zu bewahren. Niemand sollte ihre Schwachstelle kennen, so unendlich groß, die Wunde, das Gefühl, im Leben gescheitert zu sein, die falschen Entscheidungen getroffen zu haben, von denen sich eine an die andere reihte, unerbittlich, tödlich, trostlos. Wenn sie das Haus verließ, tat sie ihr Bestes, damit niemand merkte, was in ihr vorging. Wie die kleine Maus, die in den Milchkrug gefallen war und um ihr Leben strampelte.

Am Ende des Schreckens und der Angst, als sie ihren Ehemann (den zweiten) kennengelernt hatte, rettete ihr diese Schulter zum Anlehnen das Leben. Plötzlich kümmerte sich jemand um sie, rief sie an, kam sie besuchen. Er war ein guter Mann, ein sehr guter Mann sogar. Er besaß Prinzipien, war aufrichtig, ein anständiger Mensch. Sie hatten sich zusammengetan, wie man so sagte, er brachte zwei Töchter mit in die Ehe. Sie waren ein schönes Beispiel einer gelungenen Patchworkfamilie. Eine kleine Gruppe aus zwei Erwachsenen und vier Kindern, bald waren es fünf, eine fröhliche Bande, die immer Krach machte: das Leben. Sie rannten über Bahnsteige, Barbiepuppen fielen in die Legokiste, Pokémonkarten wurden getauscht, mit Playmobil, Kaplasteinen und Dinosauriern spielten sie »historische« Ereignisse nach; Mäntel und Jacken, die die Kleinen von den Großen erbten, das ewige Rätsel, wem welche Socke gehörte, die aus dem Wäschetrockner geholt wurde. Es wurde viel gelacht, ständig gab es kleine Krisen, bis jeder seinen Platz gefunden hatte, es war sehr, sehr lebhaft: ein Leben, das sich Tag für Tag weiterspann, das intensiver wurde, sich verdickte und verdichtete – ein Leben, das ihr Sicherheit gab. Jetzt waren sie zwei, die den Alltag bewältigten, zwei, die die auftretenden Fragen beantworteten, zwei, die die Elternrolle ausfüllten und sich die Bälle zuspielten, und sie wurde endlich aus diesem schrecklichen, schonungslosen Monolog befreit, was nicht weniger bedeutete, als dass sie vor ihren unerbittlichen Dämonen gerettet wurde.

Die Zeit zermürbt das Ehepaar, sagte man. Nein. Das Ehepaar zermürbte sich selbst, weil es nicht gleich zu Anfang klar sah, Gott sei Dank. Wenn das Paar von Anfang an erkennen würde, was es erwartet, käme es nie zusammen. Der kirchliche Segen war nur Verblendung. Neun Jahre später, und ein Kind mehr in der Bande, hatten sie einiges eingesteckt. Er verstand seine Frau einfach nicht und war darüber zutiefst enttäuscht. Sie klammerte sich an das Lachen der Kinder, um die Launen ihres Mannes, der ungeduldig, entnervt und cholerisch war, ertragen zu können.

Manche Menschen projizierten ihre Unsicherheiten schnell auf andere. Im Laufe der Jahre, der Höhen und Tiefen, die ein Berufsleben unvermeidbar mit sich brachte, hatte ihr Mann seinen Frust, dass er nicht die bedeutende Person geworden war, die er einmal hatte werden wollen, auf sie übertragen. Er hatte die Absicht gehabt, eines Tages sehr anerkannt und respektiert zu sein, und sogar, wenn möglich, beneidet zu werden. Er sah in ihr eine ziemlich natürliche Frau, genau das, was ihn in Wahrheit erschreckte, vielleicht erschreckte ihn die Wahrheit selbst. Sie war häufig ungeschminkt, kleidete sich unauffällig, ihre Eleganz war rein zufällig. Er hatte ihr oft Vorwürfe gemacht, diese und andere, erst kleine, dann große, immer häufiger. Bis seine Angriffe ihr unter die Haut gingen und sie tief verletzten. Er machte Bemerkungen über ihre Figur und hielt ihr einen Vortrag über Sport, den jeder machen sollte, er kaufte ihr eine Bodenmatte und ein Buch über Pilates, zählte jedes Nahrungsmittel auf, das es zu vermeiden galt und sprach von der Kontrolle, die man aus reiner »Selbstachtung« über sich haben sollte. Öfters hatte er ihr gesagt, sie solle sich umziehen, wenn er fand, dass das, was sie trug, ihr nicht stand. Sie hatte begriffen, denn das hatte er ihr sehr deutlich gemacht, dass ihr Körper nicht schön war, weder ihr Bauch noch ihre Oberschenkel noch ihre Taille, nicht einmal ihre Brüste, die er behauptete »nicht zu verstehen«. Er schlug ihr vor, hohe Absätze zu tragen, damit sie nicht »so gestaucht« wirkte, und dunkle Farben zu bevorzugen, die schlank machten. Was auf der einen Seite wieder zusammengesetzt worden war – das Leben –, hatte sich auf der anderen in Luft aufgelöst: dieses berühmte »Selbstvertrauen«, um das Frauen mit Leib und Seele hartnäckig, waghalsig, manchmal verzweifelt kämpften.

Inzwischen schämte sie sich für ihren Körper. Die Schwangerschaftsstreifen betrübten sie, die Waden beunruhigten sie, ihre Hüften machten ihr Angst. Dieses Versagen fühlte sich absolut erbärmlich an, sie war wütend, dass sie gefangen worden war, oder besser gesagt, dass sie festsaß, in dieser Falle der inneren Unsicherheit, die sich durch die Blicke der anderen übertrug. Wenn er einen Witz über die innere Schönheit machte (für ihn war das nur ein riesiger Schwindel, Augenwischerei), hielt sie den Atem an. Denn auch wenn sie vielleicht nicht so schön war wie die Frauen, die er früher gekannt hatte, wollte sie doch glauben, dass sie es war, zumindest ein bisschen, zumindest ein Teil von ihr, zumindest ihre Schultern. Sie liebte ihre Schultern. Ihr Körper war wie aus einzelnen Teilen zusammengesetzt. Sie war keine Frau mehr, sondern ein Haufen Körperteile. Ein passables Gesicht, dünne Arme, dicke Beine, ein Bauch, der wie die Brüste korrigiert werden musste, die Hüften zu breit, ein Hintern, der niemals Eindruck gemacht hatte. Dennoch bestritt er in seiner Grausamkeit jegliche böse Absicht – »Ich sag dir das, weil ich es gut mit dir meine.«

Ja, er hatte recht, sie strengte sich nicht mehr an, denn keine Anstrengung war, offen gesagt, je von Erfolg gekrönt, im Gegenteil. Sie hatte überhaupt keine Lust, ihr Leben schwarz gekleidet zu verbringen, um ihm zu gefallen, noch wollte sie immer Absätze tragen, in der Hoffnung, dann ein wenig schlanker zu wirken. Das alles ärgerte sie, kam ihr dumm vor, immer dümmer, und nach zehn Jahren des Zusammenlebens, sagte sie ihm das ins Gesicht. Vielleicht war das der Preis, den man für eine Ehe zahlen musste? Bei einigen Themen musste man Zugeständnisse machen. Und er hatte auch viele gute Eigenschaften. Er war ein sehr guter Vater und Stiefvater, und das war unbezahlbar. Den perfekten Mann gibt es nicht, dachte sie oft. Man musste an sich selbst arbeiten, das Bestmögliche aus seiner Lage machen.

Niemand trägt je an allem allein die Schuld. Sobald der andere das Verhalten akzeptiert und duldet, befürwortet er es und ermutigt den anderen in gewisser Weise auch dazu. Letztlich hatte sie sein Verhalten akzeptiert und geduldet, denn nachdem sie eine geschiedene Frau mit Kindern gewesen war, hatte sie ein lebenswichtiges Bedürfnis verspürt, zu einer angemessenen, sicheren Lebensform zurückzufinden – die äußerst vorhersehbar, einfach und eindeutig war. Er hatte ihr das geboten, was Gabriella, die Esoterische, die breite Schulter zum Anlehnen nannte. Manchmal brauchte man eine breite Schulter wie der Efeu eine Steinmauer brauchte, um wieder auf die Füße zu kommen und den eigenen Aufstieg in Angriff zu nehmen. Dem Ehemann konnte man also nicht die Schuld geben, nicht mehr, als man ihr vorwerfen konnte, sich für ihn entschieden zu haben, eine Entscheidung, die sie aus Vernunft, aus Erschöpfung getroffen hatte. Sie verdankte es ihm, dass sie wieder auf die Beine gekommen war, dass sie wieder gelernt hatte, sich gerade zu halten, trotz allem, dass sie ihre Kinder beschützen konnte, vor allem Unbill.

Sie war ihm nicht einmal böse, aber sie sah schon seit einiger Zeit, mit weit aufgerissenen Augen, wie wenig sie beide zueinanderpassten. Ihn faszinierte Shakira, er war besessen von der Jugend, und versuchte um jeden Preis, seine eigene zu erhalten, mithilfe von Antifaltencremes auf der Basis von Fruchtsäure. Er brüstete sich vor ihr mit seinen Gesichtsmasken oder, nach den Ferien, mit seinen Cremes, die die Bräune länger anhalten lassen sollten. Im Kopf war er fünfundzwanzig, und er war beinahe stolz darauf. Er hatte solche Angst vor seinem Alter, so alt auszusehen, wie er war, dass er wahrscheinlich alles dafür gegeben hätte, um mit einer Sechsundzwanzigjährigen zusammen zu sein. Sie hatte ihm das schon oft vorgehalten, wenn sie sich wieder einmal über eine seiner Bemerkungen gestritten hatten. Worauf wartete er noch, warum suchte er sich nicht jemanden, der seinen Vorstellungen entsprach? Große, junge Frauen mit schlanken, straffen Körpern, mit Brüsten, die zum Himmel aufschauten, gab es mehr als genug, und wenn das Vorbild für seine Traumfrau Shakira war – sie würde nie so aussehen wie die Sängerin, nicht einmal nach dreißig Schönheitsoperationen –, dann sollte er sich auf die Suche nach ihr machen. Hatte man nicht nur ein einziges Leben? Warum sollte man das mit verbittertem Klagen über seine Ehefrau vertun? Mehrmals bereits hatte sie ihn ermutigt zu gehen und ihre Beziehung zu beenden. Zu begreifen, dass diese Diskussion unter die Gürtellinie ging und ihn nicht gerade ehrte. Mein Gott, gab es denn nichts anderes als das Aussehen?

Diese verhängnisvollen Gedanken hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt, und obwohl sie sich dagegen wehrte und sie nicht nur unwürdig, sondern auch zutiefst lächerlich, nahezu pathetisch fand, hatte sie sich nach ein paar Jahren Beziehung mit ihm dabei ertappt, dass sie die anderen Frauen mit Sorge betrachtete, um nicht zu sagen mit Neid – was eine bemitleidenswerte Sünde war.

Das hatte er aus ihr gemacht: eine Frau, die die Schönheit der anderen Frauen fürchtete. Das würde sie, die die Menschen liebte, die immer nur das Gute in ihnen sah, die an ihren Nächsten glaubte, das würde sie ihm nie verzeihen. Sollte man in einer Beziehung nicht eigentlich besser werden? Sollte man nicht versuchen, das Beste aus sich zu machen und auch dem anderen dabei zu helfen?

Sie fürchtete sich vor dem Sommer, jedes Jahr, wenn er sie stirnrunzelnd ansah, all diese einzelnen Stücke von ihr. Er ertrug es nicht, wenn sie einen Bikini anzog – nein, sie sollte einen Badeanzug tragen, der mehr »verhüllte«, und zwar einen schwarzen.