Das Wichtigste war unverlierbar. Eine Biographie aus dem Ende des 2. Weltkriegs - realistisch und trotzdem immer wieder zum Schmunzeln. - Christoph von Lowtzow - E-Book

Das Wichtigste war unverlierbar. Eine Biographie aus dem Ende des 2. Weltkriegs - realistisch und trotzdem immer wieder zum Schmunzeln. E-Book

Christoph von Lowtzow

0,0

Beschreibung

Zunächst geht es um die Verankerung der Familie in der alten Heimat Mecklenburg. Da tauchen vor allem Gutsbesitzerpersönlichkeiten auf, und es gibt viel zu schmunzeln. Dann fokussiert sich das Büchlein zunehmend auf das Jahr 1945 - das Ende des furchtbaren Zweiten Weltkriegs. Immer wieder wird die Sicht jenes Achtjährigen eingenommen, der später zum Autor dieses Buches wurde. Die letzten Wochen vor der Flucht sind ihm besonders unheimlich. Dann wieder spricht er als der Erwachsene von heute. Das kann er nicht abschütteln. Aus beiden Perspektiven wird die damalige Zeit geschildert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 203

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christoph von Lowtzow

Das Wichtigste

war

unverlierbar

Der Sturz einer

Gutsbesitzerfamilie

1945

Copyright: © Christoph von Lowtzow

Marienhöhe 151

25451 Quickborn

Verlag und Druck:

Tredition GmbH

Heinz-Beusen-Stieg 5

22926 Ahrensburg

Softcover

978-3-384-15361-6

Hardcover

978-3-384-15362-3

E-Book

978-3-384-15363-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Unser Leben vor der Flucht

„Heimat Mütterlicherseits“

„Heimat Väterlicherseits“

Patriarchalisch - matriarchalisch

Weihnachten patriarchalisch

Unser Gutshaus - recht typisch

Die engere Familie

Die unheimlichen Wochen vor der Flucht

Die Flucht

Wir werden vorübergehend im „Kral“ sesshaft.

Contenance – Liebe – Gottvertrauen – Sinn des Lebens

Arbeit?

Wie sieht die Zukunft aus?

„Beutestücke“ aus unserem verwüsteten Gutshaus

Unsere Eltern fördern uns nach Strich und Faden

Die erste Flüchtlingsweihnacht

Zunächst bleibt es, wie es war

Glückssuche

Der Tiefpunkt im Hungerwinter 1947

Veränderungen

Die Söhne sollen in ein Internat wechseln.

Das Internat

Endlich: Unsere Eltern auf einer „Ziel-Linie“

Nachgedanken

Mein Dank

Schriftliche Grundlagen dieses Buches

Der Autor

Das Wichtigste war unverlierbar

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Unser Leben vor der Flucht

Der Autor

Das Wichtigste war unverlierbar

Cover

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

Unser Leben vor der Flucht

Bis 1945 lebten wir von Lowtzows auf dem 800 Hektar großen mecklenburgischen Gut Rensow, etwa 55 Kilometer südöstlich von Rostock. Davon will ich zunächst berichten, denn nur wenige wissen noch, wie ostdeutsche Gutsbesitzerfamilien vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelebt haben.

Vermutlich klingt kein Name mecklenburgischer als Lowtzow, denn in ihm kommen zweimal die Buchstaben „ow“ vor, die „oh“ gesprochen werden – und vielfach in Orts- und Familiennamen Mecklenburgs erscheinen. Es handelt sich um eine altslawische Bezeichnung für einen Ort. Von Lowtzow auf Rensow bei Teterow im Kreis Güstrow. O weh, o weh!

Im Jahr 1609 kaufte mein Vorfahr Eler von Lowtzow das Gut Rensow. Er war Offizier. Wie mag er die 24.000 Gulden aufgebracht haben, die er der Familie von Bülow zahlen musste? Diese Summe entsprach dem Gegenwert von damals knapp noch 1000 Hektar Ackerland und Wald – von meist gutem, ertragreichem Ackerland. Eler stammte aus der Eigentümerfamilie des Gutes Levitzow bei Teterow. Diese lebte dort vielleicht schon seit Generationen, einst in einer sogenannten Niederungsburg, wie sie die slawischen Wenden seit dem 7. Jahrhundert im heutigen Mecklenburg-Vorpommern errichteten.

Für Eler, als vierten Sohn, gab es vermutlich nichts zu erben. Deswegen schlug er die Laufbahn eines Offiziers ein. Sein militärischer Rang ist mir nicht bekannt. Er nahm als höherer Offizier an den Türkenkriegen Kaiser Rudolphs II. von Habsburg in Ungarn teil. Und dort wurde offenbar „robust“ Krieg geführt, denn Eler erbeutete unter anderem einen Koran. Doch wohl aus einer Moschee! Anderswo lagen Heilige Korane wahrscheinlich nicht herum. Er verschenkte dieses sicher höchst unhandliche Beutestück an einen Gelehrten. Und er zahlte nach diesen Feldzügen 24.000 Gulden für ein Rittergut! Diese erhebliche Summe brachte er schon in jungen Jahren auf, denn der Krieg in Ungarn endete schon drei Jahre vor diesem Kauf. Ein guter Sold? Und - geldwerte Beute?

Mir fällt dazu ein, dass im Mai 1945 aus unserem Gutshaus als Beute weggeschafft wurde, was eben wegzuschaffen ging, sogar die Zentralheizung verschwand – wie wir später erfuhren - weil man ihr Metall verkaufen konnte. Nur die alten Kachelöfen blieben und einstweilen ein ungefähr vier Meter langes zehnbeiniges Rokoko-Sofa. Nachdem meine Eltern am Nachmittag des 30. April 1945 Haus und Hof verlassen hatten, kamen zunächst deutsche Plünderer. Die Beute sei ihnen gegönnt, sie waren teilweise pommersche Flüchtlinge - so wie wir zu dieser Zeit als mecklenbur-gische Flüchtlinge in Holstein lebten - und es kamen, zögernd, auch die in Rensow ansässigen Landarbeiter-familien. Dann erschien die Rote Armee. Der viel gespielte Flügel meiner Mutter stand bald im Park. Deutsche Kriegsgefangene, die nach Sibirien transportiert wurden, berichteten, sie seien an großenteils offenen Eisenbahnwaggons mit Antiquitäten vorbeigekommen, die nach Russland gingen. Kriegsbeute. Dergleichen wiederholt sich leider immer wieder, auch gegenwärtig in der Ukraine.

„Heimat mütterlicherseits“

Das Gutshaus Kurzen Trechow um 1936

Ich nehme an, dass meine Mutter oft auf ihrem Flügel spielte, während sie mit mir schwanger war. Sie zog nach ihrer Heirat mit diesem Flügel, einem Geschenk ihres Vaters, in das Haus ihres Mannes ein, obwohl es dort schon einen Flügel und ein Klavier gab. Ich finde es auffällig: Zu Klaviermusik habe ich einen ganz unmittelbaren Zugang. Wo ein Klavier erklingt, bin ich zu Hause – vor allem bei Beethoven, Schubert und Chopin, den von meiner Mutter bevorzugten Komponisten.

Zwar ist anzunehmen, dass die meisten Gutsbesitzer-Töchter das Klavierspielen erlernten, zumal, wenn sie – wie meine Mutter - noch im 19. Jahrhundert geboren wurden. Doch die musikalische Neigung meiner Mutter ging über eine konventionelle Nähe zur Musik deutlich hinaus. Sie soll das absolute Gehör gehabt haben. Ich hatte nie Gelegenheit, es zu testen, denn als ich nach dem Krieg alt genug dafür war, besaßen wir kein Klavier mehr, nicht einmal eine Flöte. Ihr Vater, Reimar von Plessen, Eigentümer der Güter Kurzen und Langen Trechow, rund vierzig Kilometer südwestlich von Rostock, hatte als Student der Agrarwissenschaft seine Bariton-stimme ausbilden lassen. Sehr untypisch für einen Gutsbesitzersohn! Die Mutter meiner Mutter galt zwar als „weniger musikalisch“, spielte aber Orgel und Harmonium. Bei diesen Eltern wuchs Luise von Plessen auf, meine spätere Mutter.

Schon mit elf Jahren konnte sie ihren Vater Reimar von Plessen am Flügel begleiten, wenn er beispielsweise das berühmte Lied „Zwielicht“ von Robert Schumann sang oder „Tom der Reimer“ und „Die Uhr“ von Carl Loewe. Solche Lieder wurden im Gutshaus Trechow oft zelebriert, nicht zuletzt vor anwesenden Gästen. Mein Großvater genierte sich nicht vor ihnen, und seine Tochter übte für diese Liederabende mit ihrer Klavierlehrerin die teilweise äußerst schwierige Klavierbegleitung ein. Doch die Musik drängte sich in Trechow keineswegs in den Vordergrund. Beide Eheleute Plessen erwiesen sich als sehr tüchtig in Landwirtschaft und Haushalt.

Die Hobbys vieler Besitzer von Landgütern bestanden traditionell vor allem in der Beschäftigung mit der Jagd und mit Pferden. In dieser Hinsicht machte auch der Bariton singende Vater meiner Mutter keine Ausnahme. Er ging leidenschaftlich gern auf die Pirsch, und er war ein begeisterter Reiter, der seine drei Söhne und seine Tochter - die Jüngste der Kinder - schon früh zum Reiten anhielt. Er verlangte beispielsweise, dass sie auf ungesattelten, nur mit der Trense aufgeschirrten Pferden durch den ungefähr 450 Meter breiten Trechower See schwammen. In der Tat, es wurde mit den Pferden geschwommen! Meine Mutter hat es oft erzählt: Wenn das Pferd den Grund unter den Füßen verlor und zu schwimmen begann, musste sie – schon als etwa Zwölfjährige - schnell neben das Tier ins Wasser gleiten und sich an dessen Mähne festhalten. Wenn das Pferd wieder festen Boden unter den Hufen spürte und aus dem Wasser stieg, galt es, sofort wieder aufzusitzen.

Die drei älteren Brüder kamen mit dieser Militär-ähnlichen Übung schon früher als ihre Schwester gut zurecht, denn diese begann erst deutlich nach ihnen an der geschilderten, auf Sommergäste zielenden Show teilzunehmen. Einmal glitt sie am jenseitigen Ufer von ihrem ungesattelten, glitschigen Pferd und fiel zu Boden. Nur unter großen Schmerzen konnte sie wieder aufsteigen. Am nächsten Tag verlangte ihr Vater, dass ihre Brüder und sie rückwärts eine irgendwo im Haus angebrachte Sprossenwand hinaufhangelten. Sie konnte es nicht, ihre Schmerzen ließen es nicht zu. Ihr Vater fragte: „Na - - ward dat nix?“ Der herbei gerufene Arzt stellte bei ihr einen Schlüsselbeinbruch fest. Nun, Mecklenburg ist nicht weit von Preußen entfernt, das wird hier deutlich. Der Selbstbeherrschung wurde ein hoher Wert beigemessen.

„Na, ward dat nix?“ Es wurde im Gutshaus Kurzen Trechow viel Plattdeutsch gesprochen. Meinem Großvater war das wichtig. Er wusste, dass das Plattdeutsche schon damals auszusterben drohte. In Trechow galt jedoch eine sprachliche Arbeitsteilung: Meine Großmutter sprach in der Familie Hochdeutsch. Das lag ihr. Sie initiierte z.B. im großen Nachbardorf Bernitt Laienspiele und führte Regie. Auf Hochdeutsch! Doch sie hatte in ihrer Kindheit ebenfalls überwiegend „platt“ gesprochen, auch mit ihren einst zum Großher-zoglich-Mecklenburg-Strelitzschen Hofstaat gehörenden Eltern. Für seine Kinder ließ Reimar von Plessen beim Plattdeutsch-Sprechen keine Ausnahme gelten. Selbst dann, wenn beispielsweise eines der Kinder verreiste und einen Brief an den Vater schrieb, musste der „up Platt“ abgefasst sein. Der Sohn Matthias meinte als Jugend-licher einmal, darin eine Ausnahme machen zu können und schrieb seinem Vater auf Hochdeutsch. Er erhielt den Brief zurück. Darüber stand: „Oewersetten!“ Matthias wusste, dass sein Vater den Brief gelesen hatte. Darum verzichtete er darauf, ihn ins Plattdeutsche zu übersetzen und abermals abzuschicken. Doch im Gutshaus Kurzen Trechow sprach man neben Hochdeutsch nicht nur Plattdeutsch. Für die Kinder Plessen waren auch wechselnde Mademoiselles und Misses anwesend, um ihnen Französisch und Englisch beizubringen.

Reimar von Plessen agierte als Patriarch. Wegen mancher seiner Einfälle galt er in Mecklenburg als Original. Einmal wurde im Winter in seinem Beisein auf einem Feld nahe beim Gutsdorf eine Kartoffelmiete geöffnet. Solche Mieten sind durch eine dicke Schicht Stroh und darauf geschaufelte Erde gegen winterlichen Frost einigermaßen geschützt. Sie wurden in der kalten Jahreszeit dann und wann geöffnet, um den Landar-beiterfamilien des Gutes ihre Deputat-Kartoffeln zuzuteilen. „Deputat“ ist der in Sachwerten bestehende Teil des Lohns der Landarbeiter, zu dem beispielsweise für jede Familie auch ein Nutzgarten und Brennholz für den Winter gehörte. Bei der Öffnung dieser Kartoffel-miete erhob sich seitens der beteiligten Arbeiter und einiger Arbeiterfrauen, die zur Abholung der Kartoffeln erschienen waren, wütendes Geschrei: „De Kartüffeln ät wi nich, dor sünd de Salamanders binnen und hem se vergift‘!“ Tatsächlich wuselten einige kleine Eidechsen aus der geöffneten Miete. Großvater Plessen griff sich eine von ihnen und rief: „Kiekt mål alle her!“ Er leckte das Tierchen von oben und von unten sorgfältig ab und ließ es wieder laufen. Dann rief er: „Wenn ick doot bliew, bruukt ji de Kartüffeln nich to äten. Bün ick aewer in drei Stünnen noch an’ Leven, sünd dit juch Deputat-Kartüffeln.“ (Wenn ich sterbe, braucht ihr die Kartoffeln nicht zu essen. Bin ich aber in drei Stunden noch am Leben, sind dies eure Deputat-Kartoffeln.) Die Zuschauenden erstarrten. Offenbar erwarteten einige von ihnen, ihr Gutsherr würde sich vor ihnen bald in Krämpfen winden und dann tot zusammensinken. Doch nach einigen Schrecksekunden trat eine der Arbeiterfrauen vor und sagte: „Ick ät de Kartüffeln!“ Wahrscheinlich handelte es sich bei ihr um eine der wenigen, die von vornherein keineswegs davon über-zeugt waren, die Kartoffeln seien von „Salamandern“ vergiftet. Außerdem gewann wohl das Vertrauen in den ihr seit Jahren bekannten Gutsherrn die Oberhand. Nach ihr näherten sich alle weiteren Frauen mit ihren Körben und Bollerwagen und ließen sich Kartoffeln geben.

Noch etwas zu meinem Großvater mütterlicher-seits: In den zwanziger Jahren gewöhnte sich der Briefträger an, keineswegs zuerst zum Gutshaus Trechow zu kommen, sondern zunächst sehr langsam durch das Dorf zu gehen, obwohl er dort meistens nur wenig auszutragen hatte. Er unterhielt sich mit den Leuten, die er mit Post aufsuchte oder die er vor ihren Häusern traf und strebte erst dann dem Gutsbüro zu. Dort aber warteten Großvater Plessen und der Gutssekretär oft sehr dringend auf Post, beispielsweise auf die Beantwortung von Ersuchen um die Reparatur von Landmaschinen, auf eigene Verkaufsangebote von Getreide, auf kommerzielle Angebote von Kunstdünger usw. Das Gut hing sehr von dergleichen ab, natürlich mit sämtlichen Dorfbewohnern.

Auf die freundliche Bitte, zuerst zum Gutshaus zu kommen und sich dann erst dem Dorf zuzuwenden, ging der Postbote nur dann und wann ein, weil er sie oft vergaß. Mein Großvater wendete schließlich eine List an. Er ließ an drei Tagen durch seinen Gutssekretär einen schweren Stein an sich selbst schicken. Meine Mutter hat nicht überliefert, um welche Art von Stein es sich handelte. Ich nehme an, es war ein in der Trechower Ziegelei hergestellter großer Ziegelstein, der sich wegen seiner eckigen Form gut verpacken ließ. Das schwere und unhandliche Päckchen wurde morgens in aller Frühe mit dem Milchwagen des Gutes nach Bützow gebracht und kam – wohl jeweils am gleichen Tag – mit dem Briefträger wieder nach Trechow. So war es damals mit Päckchen. Naheliegenderweise suchte der arg beschwerte Zusteller nun sogleich das Gutsbüro auf und danach erst das Dorf. Spätestens am dritten Tag dieser Prozedur wusste er vermutlich, wie ihm geschah, und er entschied sich endgültig für die neu eingeübte Reihenfolge.

Meine Mutter erzählte oft aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und die schlimme Zeit unmittelbar danach. Sie erlebte diese Jahre überwiegend zu Hause in Trechow. Der Tod ihres sehr geliebten jüngsten Bruders Hubertus im Luftkampf über Frankreich, noch im Mai 1918 - also ein halbes Jahr vor Kriegsende - hat sie sehr getroffen. Ein großes Foto von ihm, im Wohnbereich des Trechower Gutshauses, sei von ihr immer wieder umkränzt worden, so berichtete sie. Ihr Vater ließ in einen Findling den Namen und die Lebensdaten seines jüngsten Sohnes einmeißeln. Dieser Stein wurde auf einer Anhöhe unweit des Trechower Herrenhauses aufgestellt. Bis dahin hatte ein Ort des Erinnerns gefehlt, fortan gab es ihn, und meine Mutter suchte ihn oft auf.

Sie berichtete auch aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die sie zunächst in Hamburg erlebte. Dorthin war sie zeitweilig übergesiedelt, um Stenografie und das Schreiben mit der Maschine zu lernen, aber auch, um ihr musikalisches Können weiterzuentwickeln. Letzteres geschah vor allem durch sehr intensive Klavierstunden, außerdem nahm sie Geigen- und Gitarrenunterricht.

In Hamburg wurde in der Zeit nach dem Krieg viel mit scharfer Munition geschossen. Am militantesten verhielten sich ehemalige Soldaten, die ihre Einheiten meuternd verlassen hatten. Meine Mutter wohnte damals in einem Gebäude etwas entfernt von der Wohnung ihrer Vermieterin. Es war verboten und gefährlich, sich nach Einbruch der Dunkelheit außerhalb der Häuser aufzuhalten. Sie berichtete: Wenn sie abends noch bei ihrer Wirtin gesessen habe, um mit ihr Abendbrot zu essen, musste sie im Dunklen schnell in das andere Gebäude hinüber huschen, denn man habe nie gewusst, von wo plötzlich geschossen wurde. Auch von Männern mit Maschinengewehren auf dem Dach des Alsterpavillons erzählte sie.

Die Zeit des Kapp-Putsches, 1920, erlebte sie in Trechow, weil ihre Eltern sie vorsichtshalber zurück-holten. Doch meine Mutter kam dort vom Regen in die Traufe. Es erschien eines Tages eine bewaffnete Gruppe von kommunistischen Putschisten und wollten das Gutshaus angeblich auf Kriegsgewehre durchsuchen. Mein Großvater hatte tatsächlich einige solcher Waffen versteckt, wenngleich sie zuvor von einem Schlosser durch das Ausbauen einiger Teile „vorsichtshalber“ unbrauchbar gemacht worden waren. Man hätte sie umgehend wiederherstellen können. Großvater Plessen ließ die Haustüren abschließen und sprach mit dem drohenden Trupp aus einem geöffneten Fenster. Dabei hatte er eine geladene Pistole in der rechten Hand, die er jedoch unter dem Fensterbrett verbarg. Meine Großmutter und meine Mutter standen im Hintergrund des Zimmers. Dabei hörten sie, dass er im Gespräch gewagte Anspielungen machte. Bei ihm sei ein Freund, der ihm notfalls entscheidend helfen würde. Natürlich wollten die ungebetenen Besucher wissen, wer das sei, dieser Freund. Das wurde ihnen nicht mitgeteilt. Die Männer entfernten sich nach einiger Zeit. Doch um ggf. noch ins Gutshaus hineinzukommen, blieben sie in dessen Nähe, auch noch während eines Teils der darauffolgenden Nacht - bei einem Holzfeuer. Kein Wunder, dass meine Mutter von diesen Tagen als von einer Zeit der „Hausbelagerung“ sprach! Die Gruppe war am nächsten Tag verschwunden. Aber die Lage blieb unsicher. Darum wurde weiter darauf geachtet, dass alle Türen und Fenster verschlossen blieben, und dass die Dienstboten vorübergehend keine Ausgangserlaubnis bekamen. An jedem Morgen wurde für alle Hausbewohner eine Andacht angeboten. Meine Mutter erzählte noch nach Jahren tief beeindruckt davon. Ihr Vater habe diese Andachten selbst gehalten, indem er frei sprach, jeweils über einen Satz der Bibel, den er sorgfältig ausgesucht hatte. Ihre Mutter oder sie hätten zu Beginn und zum Schluss das gemeinsame Singen eines Chorals auf dem Harmonium begleitet.

„Heimat väterlicherseits“

Die Familie, aus der mein Vater stammte, war nicht so kunstbeflissen wie die meiner Mutter. Auf seiner Seite kann ich auch von derartig „gewieften“ Vorfahren wie meinem Großvater nichts berichten, aber immerhin von einem sehr sportlichen Urgroßvater. In Rensow musste man sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem auf den Aufbau von Hof und Dorf konzentrieren, denn am Ende des 18. Jahrhunderts war das Gut vernachlässigt worden. Die Eigentümerfamilie lebte zunächst auf einem anderen Gut und dann im Kloster Dobbertin. Jenes andere Gut, Klaber, hatte der damalige Lowtzow durch Heirat erworben - es gehörte, wie damals obligatorisch - skandalöser Weise durch die Eheschließung ihm und nicht mehr seiner Frau. Obendrein war er zum Kloster-hauptmann von Dobbertin gewählt worden. Man könnte sagen: Zum wirtschaftlich verantwortlichen Vorsteher des dortigen „Adligen Damenstifts“. Ein Klosterhaupt-mann lebte mit vielen wirtschaftlichen Privilegien, daher schien es naheliegend, sich gegen das ererbte Familiengut Rensow als Wohnsitz zu entscheiden.

Dieser Ururgroßvater war ein strenger, willkürlich entscheidender Mann. Rensow erbte nicht etwa sein ältester Sohn, der war Drost geworden, also Landrat. Er wurde beim Erben von Grundbesitz zu seinem Ärger völlig übergangen. Der Drittälteste bekam Klaber und der Viertälteste, mein Urgroßvater Adolph, das Stammgut Rensow. Er erwies sich als sehr tüchtig. Das Gut nahm unter seiner Bewirtschaftung einen deutlichen Aufschwung. Er ließ immerhin sieben neue Häuser bauen, auf dem Hof fünf und im Dorf zwei. Die letzten von ihm errichteten Gebäude, darunter ein Schweinestall, wurden in üppigem, neugotischem Stil errichtet, an den Giebelseiten mit Spitzbögen im Mauerwerk, zum Teil mit „gotischen“ Fenstern und Zinnen auf den Dächern. Auf der Zinne eines der Häuser nisteten später Störche.

Adolph hat nicht zuletzt mit Merino-Wolle Geld verdient. Sie ging damals für Uniformstoff z.B. nach Russland und England. In Groß-Britannien hatte der Import von Wolle aus Australien und Neuseeland noch keinen nennenswerten Umfang erreicht. Eine Hinter-lassenschaft dieses Einkommenszweiges ist heute noch in Rensow vorhanden, wenngleich versteckt und kaum bekannt. Es handelt sich um einen Damm durch einen kleinen, südlich vom Dorf gelegenen See. Er war damals noch nicht von Gebüschen umgeben wie heute, sondern lag frei da. Die Schafe, die geschoren werden sollten, wurden zur Säuberung ihrer Wolle über den Damm durchs Wasser getrieben. Sicher ist durch eng beieinan-derstehende Bretterzäune Vorsorge dafür getroffen worden, dass sie nicht vom Wall abrutschten. Teilweise hing von ihrer Sauberkeit der zu erzielende Preis für die wertvolle Merinowolle ab. Etliche Jahre später badeten in diesem kleinen See nicht mehr Schafe, sondern Menschen. An einem Ufer gab es sogar eine Art Sand-strand.

Mein Urgroßvater hat mehrfach an den damals neuen Galopprennen bei Doberan teilgenommen. Sie fanden dort seit 1822 statt, ab 1830 auch auf einer „Steeple-Chase-Bahn“, die zahlreiche der Natur nachempfundene Hindernisse aufwies. Die Rennen wurden meistens vor den Augen der großherzoglichen Familie und der „feinen Gesellschaft“ Mecklenburgs ausgerichtet. Adolph soll oft unter den Erstplatzierten gewesen sein. Einmal, als er Zweiter wurde, bezeichnete ihn der Ausrufer zu seinem Ärger als „Herr von Levetzow“. Der brachte die mecklenburgischen Adelsfamilien durcheinander. Eine Korrektur dieses Fehlers war im Fortgang des Rennens leider nicht möglich. Ich weiß nicht, wie Adolph sein Pferd oder seine Pferde von Rensow in das knapp 70 Kilometer entfernte Doberan schaffte. Wahrscheinlich auf ihren eigenen Hufen, was eine erhebliche Ruhepause vor den Rennen notwendig machte. Komfortable Pferdetransporter gab es noch nicht.

1853, erst mit 55 Lebensjahren, heiratete er. Vorher wollte er sein Gut von allen Spuren früherer Vernachlässigung befreien. Aber ich nehme an, dass es auch einen anderen Grund für seine späte Eheschließung gab. Junge Frauen waren ihm wohl deswegen nicht hold, weil er mit dem rechten Auge stark schielte. Das entstellte ihn. Ein einziges bei mir vorhandenes Foto von ihm zeigt es. Die hübsche, schließlich von ihm auserwählte junge Frau war 21 Jahre alt und wurde gerade erst mündig. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, dass sie sich bei ihren Eltern mit dieser Eheschließung durchsetzte. Ihre Kinder und Enkel beschreiben sie als überaus gütig. Auch ihr Testament, in dem sie sogar ihre beiden Dienstmädchen liebevoll und keineswegs knapp bedenkt, lässt auf große Menschenfreundlichkeit schließen. So könnte es sein, dass sie das Werben Adolph von Lowtzows erhörte, weil sie sich sagte: „Diesem Mann muss doch jemand eine Chance geben, so alt wie er bereits ist.“ Wie ich sie einschätze, wird vermutlich christliche Nächstenliebe bei ihrer Entscheidung eine erhebliche Rolle gespielt haben. Sie bekamen vier Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne. Seinen Teenager-Kindern konnte Adolph auf dem Klavier zum Tanz aufspielen. Und mit über 70 Lebensjahren lief er noch Schlittschuh, was für die Zeit um 1870 sehr ungewöhnlich war. Er starb im 87. Lebensjahr.

Sein ältester Sohn, mein Großvater, schaffte es durch große Sparsamkeit, sogar ein zweites Gut zu erwerben, denn das oben erwähnte „andere“ Gut seines Großvaters gehörte jetzt einem Vetter. Das neuerwor-bene Gut war flächenmäßig ungefähr so groß wie Rensow. Dabei dachte er sicher an seine vier Kinder und deren Chance, etwas zu erben. Bemerkenswert ist, dass er edle Pferde züchtete, Traber und Springpferde, und damit Gewinn machte, obwohl die Zucht von Rassepferden in Mecklenburg unter Landwirten als Pleite-Risiko galt. Er sah sich sogar dazu in der Lage, etliche moderne Ställe und Scheunen bauen zu lassen. Seine Frau und er verloren drei Söhne, einen - sechzehnjährig - durch die damals noch unheilbare Zuckerkrankheit, zwei durch den Ersten Weltkrieg. Die Tochter nannte das Rensower Gutshaus darum jahrelang „Haus der Schatten“. Ein inniger christlicher Glaube half meinen Großeltern bei der Bewältigung ihres dreimaligen Verlustes.

Von seinem Vater übernahm mein Vater, Werner von Lowtzow, die Leidenschaft für Pferde und Jagd. Er berichtete in einer zu seinem 75. Geburtstag verfassten Kurzbiographie, dass er als Zehnjähriger einmal „eine Dublette auf Hasen“ geschossen habe. Er war mit einer Doppelflinte seines Vaters völlig allein in der Feldmark unterwegs – durchaus mit dessen Billigung. Solch ein Gewehr ist für einen kleinen Jungen schwer zu tragen und vor allem beim Anlegen und Zielen schwierig zu handhaben. Trotzdem gelang es ihm, hintereinander zwei Hasen zu erlegen. Er notierte zu seinem Fünfundsiebzigsten: „Es wurde mir sauer, wenigstens einen von ihnen nach Hause zu schleppen.“ Er hatte ja auch die Flinte noch auf dem Rücken. Wahrscheinlich musste der Kutscher umgehend mit ihm dorthin fahren, wo der zweite Hase lag, um diesen vor Füchsen und Krähen zu bewahren.