Das Wiedersehen - Jhumpa Lahiri - E-Book

Das Wiedersehen E-Book

Jhumpa Lahiri

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Beschreibung

Von der Sehnsucht nach einer besseren Welt und vom Fremdsein in der schönsten aller Städte: Rom. Das neue Buch der vielfach ausgezeichneten Pulitzerpreisträgerin und «Meisterin der Kurzgeschichte» (Die Welt). Ein Mann erinnert sich an eine Sommerparty, die eine andere Version seiner selbst zum Leben erweckt hat. Ein Paar, das von einem tragischen Verlust heimgesucht wird, kehrt nach Rom zurück, um Trost zu suchen. Eine Außenseiterfamilie wird aus dem Wohnblock vertrieben, in dem sie sich niederzulassen gehofft hat. Eine Treppe in einem römischen Viertel verbindet das tägliche Leben der unzähligen Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt.  Dieses Buch ist ein eindrucksvolles Fresko von Rom, der verführerischsten Stadt von allen: widersprüchlich, in ständigem Wandel und ein Zuhause für diejenigen, die wissen, dass sie nicht ganz dazugehören können, sich aber trotzdem dafür entscheiden. «Das Wiedersehen» ist ein meisterhaftes Werk einer der großen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Jhumpa Lahiri hat es in ihrer geliebten Wahlsprache Italienisch verfasst und erzählt wie keine andere von Heimat und Zugehörigkeit. «Eine wunderschöne, elegante Prosa, Figuren, die von Leid, Isolation, Verlust, großen und kleinen Tragödien heimgesucht werden, und vor allem eine alles durchdringende, tiefe Menschlichkeit.» Khaled Hosseini

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Jhumpa Lahiri

Das Wiedersehen

Römische Geschichten

 

 

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

 

Über dieses Buch

Von der Sehnsucht nach einer besseren Welt und vom Fremdsein in der schönsten aller Städte: Rom. Das neue Buch der vielfach ausgezeichneten Pulitzer-Preisträgerin und «Meisterin der Kurzgeschichte» (Die Welt).

 

Ein Mann erinnert sich an eine Sommerparty, die eine andere Version seiner selbst zum Leben erweckt hat. Ein Paar, das von einem tragischen Verlust heimgesucht wird, kehrt nach Rom zurück, um Trost zu suchen. Eine Außenseiterfamilie wird aus dem Wohnblock vertrieben, in dem sie sich niederzulassen gehofft hat. Eine Treppe in einem römischen Viertel verbindet das tägliche Leben der unzähligen Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt.

Dieses Buch ist ein eindrucksvolles Fresko von Rom, der verführerischsten Stadt von allen: widersprüchlich, in ständigem Wandel und ein Zuhause für diejenigen, die wissen, dass sie nicht ganz dazugehören können, sich aber trotzdem dafür entscheiden.

«Das Wiedersehen» ist ein meisterhaftes Werk einer der großen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Jhumpa Lahiri hat es in ihrer geliebten Wahlsprache Italienisch verfasst und erzählt wie keine andere von Heimat und Zugehörigkeit.

 

«Eine wunderschöne, elegante Prosa, Figuren, die von Leid, Isolation, Verlust, großen und kleinen Tragödien heimgesucht werden, und vor allem eine alles durchdringende, tiefe Menschlichkeit.» Khaled Hosseini

Vita

Jhumpa Lahiri wurde in London geboren und wuchs in Rhode Island auf. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie u.a. mit dem Pulitzer-Preis, dem PEN/Hemingway Award und dem Commonwealth Writers’ Prize ausgezeichnet. Seit 2012 ist sie Mitglied der American Academy of Arts and Letters.

 

Julika Brandestini, geboren 1980 in Berlin, arbeitet seit 2008 als freiberufliche Übersetzerin und Redakteurin. 2010 erhielt sie den Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises. Sie übersetzte unter anderem Michela Murgia, Elena Ferrante und Michele Serra.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Racconti romani» bei Ugo Guanda Editore S.r.l., Milano Gruppo editoriale Mauri Spagnol.

 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Racconti romani» Copyright © 2022 by Jhumpa Lahiri

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, nach dem Original von Pan Macmillan

Coverabbildung Reinhard Goldmann/Getty Images; Shutterstock

ISBN 978-3-644-01733-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Noor, Octavio und Alberto: Zehn Jahre später.

Crescebat interim urbs munitionibus alia atque alia appetendo loca, cum in spem magis futurae multitudinis quam ad id quod tum hominum erat munirent.

 

«Unterdeß wuchs die Stadt durch Bebauung eines Platzes nach dem andern, indem sie bei Aufführung ihrer Häuser mehr auf eine zu hoffende Volksmenge als auf die gegenwärtige Menschenzahl sahen.»

 

(Livius, Römische Geschichte, I,8)

 

jnondum tamen invia Iani ora patentis erant, neque iter praecluserat unda.

 

«Noch nicht war aber des offenen Janus Mündung unnahbar, noch sperrte die Welle den Weg nicht.»

 

(OVID, Metamorphosen, XIV, 789–90)

I

Die Grenze

1

Jeden Samstag kommt eine neue Familie. Manche frühmorgens, von weit her, schon in Ferienstimmung. Andere tauchen nicht auf bis zum Sonnenuntergang, vielleicht weil sie sich verfahren haben, und sind schlechter Laune. Hier ist es leicht, sich zu verfahren, die Wegweiser in den Hügeln sind spärlich.

Heute werde ich die Neuankömmlinge begrüßen. Normalerweise macht das meine Mutter. Aber diesen Sommer verbringt sie in einem anderen Dorf in der Nähe, um einem Alten zu helfen, der auch hier im Urlaub ist, und darum muss ich das übernehmen.

Sie sind zu viert: Mutter, Vater, zwei Töchter. Sie folgen mir mit aufmerksamen Blicken, froh, sich endlich die Beine zu vertreten. Wir bleiben einen Augenblick im schattigen Hof stehen, von dem aus man die Wiese überblickt, unter dem Laubdach, durch das Sonnenlicht fällt. Ich öffne die Glasschiebetür und lasse sie ins Innere schauen: in das einladende Wohnzimmer mit zwei Sofas vor dem Kamin, die gut ausgestattete Küche, die zwei Schlafzimmer.

Draußen im Hof stehen zwei Sessel und ein weiteres Sofa, mit weißen Überwürfen bedeckt. Es gibt Liegen, auf denen man sich ausstrecken kann, und einen Holztisch für zehn Personen.

Während der Vater beginnt, das Gepäck aus dem Auto zu laden, und die Mädchen, die sieben und neun Jahre alt sein mögen, in ihrem Zimmer verschwinden und sofort die Tür hinter sich zumachen, erkläre ich der Mutter, wo die Ersatzhandtücher und die Wolldecken sind, falls die Nächte kühl werden.

Ich zeige ihr schnell, wo das Mäusegift liegt, und empfehle ihr, vor dem Schlafen die Fliegen zu erschlagen, die ins Haus geflogen sind, da sie sonst ab Sonnenaufgang mit ihrem Brummen nerven. Erkläre ihr den Weg zum Supermarkt, wie die Waschmaschine hinter dem Haus funktioniert und wo die Wäsche aufgehängt wird, gleich hinter dem Gemüsegarten meines Vaters. Ich füge hinzu, dass die Gäste ruhig Salat und Tomaten pflücken dürfen. Es gibt dieses Jahr viele Tomaten, doch wegen der starken Regengüsse im Juli sind sie schon beinahe alle verfault.

2

Ich tue so, als beobachtete ich sie nicht, verhalte mich diskret. Kümmere mich um die Hausarbeit, bewässere den Garten, aber ich kann nicht anders, ich spüre ihre Freude, ihre Begeisterung, hier zu sein. Höre die Stimmen der Mädchen, die über die Wiese rennen, lerne ihre Namen. Da die Gäste dazu neigen, stets die Schiebetür offen zu lassen, bekomme ich mit, was die Eltern miteinander reden, während sie die Sachen ins Haus bringen, die Koffer ausräumen und entscheiden, was es zum Mittagessen geben soll.

Das Häuschen meiner Familie liegt hinter einer Hecke, die einen kleinen Sichtschutz bietet, nur wenige Meter entfernt. Viele Jahre lang war es nicht mehr als ein Zimmer, das uns dreien als Küche und Schlafzimmer diente. Als ich vor zwei Jahren dreizehn wurde, hat meine Mutter angefangen, für den Alten zu arbeiten, und nachdem sie genug gespart hatten, haben meine Eltern den Eigentümer gebeten, ein weiteres Zimmerchen für mich anbauen zu dürfen, wo nachts dicke Eidechsen aus den Ritzen zwischen Wänden und Dach kriechen. Mein Vater ist der Verwalter dieses Anwesens. Er hält das große Haus in Schuss, hackt Holz, arbeitet auf den Feldern und im Weinberg. Er versorgt die Pferde, die große Leidenschaft des Besitzers.

Der Besitzer des Hauses lebt im Ausland, doch er ist kein Fremder wie wir. Er kommt ab und zu hierher. Er kommt alleine, er hat keine Familie. Tagsüber reitet er, abends liest er Bücher am Kamin, dann fährt er wieder.

Im restlichen Jahr mieten nur wenige Gäste sein Haus. Im Winter ist es hier schneidend kalt, und im Frühling regnet es viel. Von September bis Juni bringt mein Vater mich mit dem Auto zur Schule, wo ich mich anders fühle, wo ich mich nicht mühelos unter die anderen mische, wo ich niemandem ähnlich bin.

Die Töchter dieser Familie ähneln sich sehr. Man sieht sofort, dass sie Schwestern sind. Sie haben schon ihre gleichen Badeanzüge angezogen, um später zum Meer zu gehen, das etwa zwanzig Kilometer entfernt liegt. Auch die Mutter sieht aus wie ein junges Mädchen, schlank und klein. Sie hat langes, offenes Haar und zierliche Schultern. Sie läuft mit nackten Füßen über das Gras, obwohl ihr Mann sie warnt und (richtigerweise) sagt, dass dort Stachelschweine, Hornissen, Schlangen lauern könnten.

3

Nach nur ein paar Stunden ist es, als hätten sie immer hier gewohnt. Die Sachen, die sie für eine Woche am Meer mitgebracht haben, liegen überall verstreut: Bücher, Zeitschriften, ein Laptop, Puppen, Pullover, Buntstifte, Zeichenblöcke, Badeschuhe, Sonnencreme. Beim Mittagessen höre ich die Gabeln auf den Tellern klappern, bekomme jedes Mal mit, wenn einer von ihnen sein Glas auf dem Tisch abstellt. Ich kann dem gemächlichen Lauf ihrer Unterhaltung folgen, höre das blubbernde Geräusch der caffettiera, rieche den Kaffee, den Rauch einer Zigarette.

Nach dem Essen bittet der Vater eines der Mädchen, ihm seine Brille zu holen. Er studiert aufmerksam eine Landkarte. Zählt die Städtchen auf, die im Umkreis zu sehen sind, die archäologischen Stätten, die Ausgrabungsorte. Die Mutter interessiert das nicht. Sie sagt, dass dies die einzige Woche des Jahres ohne Termine und Pflichten sei.

Später geht er mit den Kindern ans Meer. Bevor er losfährt, fragt er mich, wie lange es dauert und welches der schönste Strand sei. Er fragt mich nach dem Wetterbericht für die nächste Woche, und ich sage ihm, dass in wenigen Tagen eine Hitzewelle kommt.

Die Mutter bleibt beim Haus. Sie hat trotzdem ihren Badeanzug angezogen, um sich zu sonnen.

Sie streckt sich auf einer Liege aus. Ich nehme an, sie möchte sich ausruhen, aber als ich die Wäsche aufhängen gehe, sehe ich, dass sie etwas schreibt. Sie schreibt in ein Notizbuch auf ihrem Schoß.

Ab und zu hebt sie den Kopf und betrachtet die Landschaft. Die verschiedenen Grüntöne des Rasens, der Hügel und des fernen Waldes. Das blendende Blau des Himmels, das Gelb des Heus. Das ausgeblichene Geländer und die niedrige Steinmauer, die das Grundstück umschließt. Sie betrachtet all das, was ich jeden Tag sehe. Und doch frage ich mich, was sie darin mehr sieht als ich.

4

Bei Sonnenuntergang ziehen sie Pullover an und lange Hosen, als Schutz vor Mückenstichen. Nach dem Strand haben der Vater und die Mädchen warm geduscht, deshalb haben sie jetzt nasse Haare.

Die Mädchen erzählen der Mutter von ihrem Ausflug: dem heißen Sand, dem etwas trüben Wasser, den enttäuschend sanften Wellen. Die ganze Familie macht einen kurzen Spaziergang. Sie schauen sich die Pferde an, die Esel, ein Wildschwein, das im Schweinestall hinter den Pferdeställen gehalten wird. Sie sehen sich die Schafherde an, die jeden Tag um diese Zeit am Haus vorbeizieht und die Autos auf der staubigen Straße für einige Minuten am Weiterfahren hindert.

Der Vater macht praktisch in einem fort Fotos mit seinem Handy. Er zeigt den Mädchen die kleinen Pflaumenbäume, die Feigen- und Olivenbäume. Er sagt, dass eine Frucht, die man vom Baum pflückt, anders schmecke, nach Land, nach Sonne.

Im Hof öffnen die Eltern eine Flasche Wein, probieren einen Käse, Honig aus der Gegend. Sie bewundern die strahlende Landschaft, staunen über die leuchtenden Wolkenberge in der Farbe von Granatäpfeln im Oktober.

Es wird Abend. Sie lauschen den Lauten der Frösche, der Grillen, dem Rascheln des Windes. Trotz des Lüftchens, das jetzt geht, beschließen sie, draußen zu essen, um noch das Licht zu genießen.

Mein Vater und ich essen drinnen, schweigend. Meist hebt er nicht den Blick. Ohne meine Mutter gibt es keine Unterhaltung bei Tisch. Normalerweise ist sie diejenige, die beim Essen redet.

Meine Mutter erträgt diesen Ort nicht, dieses Dorf. Sie und mein Vater kommen von noch viel weiter her als alle, die hier Ferien machen. Sie hasst es, auf dem Land zu leben, im Nirgendwo. Sie sagt, hier gebe es keine netten Menschen, alle seien so verschlossen.

Ihre Klagen fehlen mir nicht. Ich höre sie nicht gerne, auch wenn ich fürchte, dass sie recht hat. Manchmal, wenn sie zu viel jammert, übernachtet mein Vater im Auto statt an ihrer Seite.

Nach dem Abendessen laufen die Mädchen auf der Wiese herum und jagen Glühwürmchen. Sie spielen mit ihren Taschenlampen. Die Eltern bleiben auf dem Sofa, betrachten den Sternenhimmel, die tiefe Dunkelheit. Die Mutter schlürft heißes Wasser mit Zitrone, der Vater einen Grappa. Sie sagen, dass man hier nichts anderes braucht, dass hier sogar die Luft anders ist, reinigend. Wie schön, sagen sie, so zusammen zu sein, fern von allem.

5

Früh am Morgen gehe ich in den Hühnerstall, um die Eier einzusammeln. Sie sind warm, blass und schmutzig. Einige davon lege ich in eine Schale und bringe sie den Gästen zum Frühstück. Normalerweise begegne ich niemandem und stelle sie auf den Tisch im Hof, doch als ich am Haus ankomme, sehe ich durch die Schiebetür, dass die Kinder bereits wach sind. Ich sehe Kekspackungen auf dem Sofa verstreut, Krümel, eine umgekippte Müslipackung auf dem Couchtisch.

Die Kinder versuchen, die Fliegen zu fangen, die morgens im Haus summen. Die Größere hat die Fliegenklatsche in der Hand. Die kleinere Schwester protestiert, weil sie schon so lange darauf wartet, endlich an der Reihe zu sein. Sie sagt, sie wolle auch Fliegen töten.

Ich stelle die Eier ab und gehe zurück zu unserem Haus. Dann klopfe ich an ihre Tür und leihe dem Mädchen unsere Fliegenklatsche, so sind beide zufrieden. Ich sage nicht noch einmal, dass es praktisch ist, die Fliegen vor dem Schlafengehen zu töten. Ich sehe, wie viel Spaß sie haben, während die Eltern trotz der lästigen Fliegen und der lärmenden Kinder weiterschlafen.

6

Im lauf weniger Tage hat sich ein immer gleicher Rhythmus eingestellt. Am Vormittag geht der Vater ins Dorf, um in einer Bar Milch und die Zeitung zu kaufen und einen zweiten Kaffee zu trinken. Wenn nötig, macht er einen Abstecher zum Supermarkt. Anschließend geht er trotz der Schwüle in den Hügeln joggen. Einmal kommt er erschüttert zurück, weil ein Hütehund ihm bedrohlich den Weg versperrt hat, obwohl am Ende nichts geschehen ist.

Die Mutter tut das, was ich tue: Sie fegt, bereitet das Essen, spült Geschirr. Wenigstens einmal am Tag hängt sie Wäsche auf, wir teilen uns eine Leine, auf der sich unsere Kleider beim Trocknen mischen. Den Kopf zwischen den Armen, sagt sie zu ihrem Mann, wie glücklich sie sei, das tun zu können. Da sie in der Stadt leben, in einer Wohnung ohne Garten, Balkon oder Dachterrasse, hängt sie ihre Wäsche nie im Freien auf.

Nach dem Mittagessen geht der Vater mit den Kindern an den Strand, und die Mutter bleibt alleine zu Hause. Sie raucht eine Zigarette, ausgestreckt, konzentriert, und macht sich Notizen in ihr Buch.

An einem Tag jagen die Mädchen stundenlang Grillen, die im Gras herumspringen. Sie stecken zwei in ein Glas mit ein paar Tomatenstückchen, die sie aus dem Salat der Eltern stibitzt haben. Sie machen Haustiere aus ihnen, geben ihnen sogar Namen. Am nächsten Tag sind die Grillen in dem Glas erstickt, und die Mädchen weinen. Sie begraben sie unter dem Pflaumenbaum und legen ein paar Wiesenblumen darauf.

An einem anderen Tag merkt der Vater, dass einer seiner Badeschuhe, die er vor dem Haus abgestellt hat, verschwunden ist. Ich erkläre, dass ihn wahrscheinlich der Fuchs geholt hat, es treibt sich einer hier herum. Ich sage meinem Vater Bescheid, und ihm, der die Gewohnheiten und die Unterschlüpfe aller Tiere der Gegend kennt, gelingt es, den Schuh wiederzufinden, zusammen mit einem Ball und einer Einkaufstasche, die die vorige Familie hier liegen gelassen hat.

Ich merke, wie sehr den Gästen diese ländliche, gleichbleibende Landschaft gefällt. Ich sehe, wie sie jede Kleinigkeit genießen, wie sie ihnen beim Nachdenken hilft, beim Entspannen, beim Träumen. Als die Kinder Brombeeren pflücken, sich dabei die schönen Kleider vollkleckern, ist ihre Mutter nicht böse. Im Gegenteil, sie lacht. Sie bittet den Vater, ein Foto von den Töchtern zu machen, dann geht sie die Kleider waschen.

Gleichzeitig frage ich mich, was sie von unserer Einsamkeit wissen. Was wissen sie über die immer gleichen Tage in unserem Haus mit dem blätternden Putz? Von den Nächten, in denen der Wind so stark weht, dass die Erde zu beben scheint, oder wenn das Geräusch des Regens mich wach hält? Von den Monaten, die wir in den Hügeln alleine sind unter Pferden, Insekten, Vögeln, die über die Felder hinwegfliegen? Würde ihnen die unversöhnliche Stille gefallen, die hier den ganzen Winter herrscht?

7

Am letzten Abend kommen weitere Autos. Es sind Freunde der Gäste. Besucher mit weiteren Kindern, die auf der Wiese herumrennen.

Ein paar Leute sagen, dass es auf dem Weg aus der Stadt keinen Verkehr gegeben habe. Die Erwachsenen schauen sich das Haus an und den Garten bei Sonnenuntergang. Der Tisch im Hof ist bereits gedeckt.

Ich höre alle Geräusche des Abendessens, die Gespräche, das Gelächter, das heute Abend lauter ist als sonst. Die Familie erzählt von den Pannen, die ihnen auf dem Land widerfahren sind: von den tomatenessenden Grillen, der Beerdigung unter dem Pflaumenbaum. Dem Hütehund, dem Fuchs, der den Gummischuh stahl. Die Mutter sagt, dass ein echter Kontakt mit der Natur den Mädchen gutgetan hat.

Irgendwann taucht eine Torte mit Kerzen auf, und mir wird klar, dass der Vater heute Geburtstag hat. Er ist fünfundvierzig Jahre alt geworden. Alle singen, die Torte wird angeschnitten.

Mein Vater und ich essen leicht verdorbene Weintrauben. Ich will gerade abräumen, als ich höre, wie es klopft. Vor mir stehen die Mädchen, zögernd, stammelnd. Sie reichen mir einen Teller, auf dem zwei Stücke Torte sind, eins für mich und eins für meinen Vater. Bevor ich mich bedanken kann, rennen sie weg.

Wir essen die Torte, während die Gäste über die Regierung reden, über Reisen, über ihr Leben in der Stadt. Jemand fragt die Mutter, wo sie die Torte gekauft habe, und sie antwortet, einer der Gäste habe sie mitgebracht, und der nennt daraufhin den Namen der Konditorei, den Namen der Piazza.

Mein Vater legt die Gabel weg und senkt den Kopf. Als er mich ansieht, ist sein Blick unstet. Er erhebt sich brüsk, dann geht er hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, unbeobachtet.

8

Auch wir haben früher in der Stadt gelebt. Mein Vater hat als Blumenhändler an genau der Piazza gearbeitet. Meine Mutter ging ihm zur Hand.

Sie verbrachten ihre Tage eng beisammen an diesem kleinen, hübschen Ort. Sie verkauften die Blumen, die die Menschen nach Hause trugen, um ihre Tische, ihre Balkone damit zu schmücken.

Gleich nach ihrer Ankunft in diesem Land hatten sie die Namen der Blumen gelernt: Rose, Sonnenblume, Nelke, Margerite; sie alle stellten sie mit geschnittenen Stielen in frisches Wasser in aufgereihten Eimern.

Eines Abends waren drei junge Männer gekommen. Mein Vater war alleine im Laden, meine Mutter, damals schwanger mit mir, war zu Hause geblieben, weil er nicht wollte, dass sie am Abend arbeitete. Es war spät, die anderen Läden an der Piazza hatten bereits geschlossen, und mein Vater wollte gerade den Rollladen herunterlassen.

Einer der Männer hatte ihn gebeten, noch mal aufzumachen, er sei auf dem Weg zu seiner Freundin und brauche einen schönen Strauß. Mein Vater hatte zugestimmt, obwohl sie unhöflich und angetrunken waren.

Als er ihm den Strauß zeigte, hatte der junge Mann ihn nicht üppig genug gefunden und ihm gesagt, er möge weitere Blumen dazutun. Mein Vater hatte mehr Blumen genommen, eine übertriebene Menge, bis der Kerl zufrieden war. Er hatte den Strauß in Papier gewickelt, dann hatte er ein buntes Band darumgebunden, die Schleife befestigt. Er nannte ihm den Preis.

Der junge Mann hatte etwas Geld aus der Tasche gezogen. Es reichte nicht. Und als mein Vater sich weigerte, ihm die Blumen zu geben, hatte der Kerl ihn als Dummkopf beschimpft, der von nichts eine Ahnung habe, der nicht einmal einen schönen Strauß für ein schönes Mädchen binden könne. Dann hatte er begonnen, zusammen mit den anderen auf ihn einzuprügeln, bis sie ihm die Zähne ausgeschlagen hatten.

Mein Vater hatte den Mund voller Blut, er schrie, aber um diese Uhrzeit hörte ihn niemand. Die Jungen hatten ihn angebrüllt, er solle zurück in sein eigenes Land gehen. Sie hatten den Blumenstrauß genommen und ihn auf die Erde geworfen, einfach so. Mein Vater war in der Notaufnahme geendet.

Ein Jahr lang hatte er keine feste Nahrung zu sich nehmen können. Als er mich nach meiner Geburt das erste Mal sah, konnte er nichts sagen.

Seitdem fällt ihm das Reden schwer. Er verhaspelt sich, als wäre er ein alter Mann. Er schämt sich zu lächeln, weil ihm Zähne fehlen. Meine Mutter und ich verstehen ihn, aber andere nicht, sie denken, dass er als Ausländer die Sprache nicht richtig beherrscht, manchmal glauben sie sogar, er sei stumm.

Wenn die Birnen, die roten Äpfel reif sind, die im Garten wachsen, schneiden wir sie ihm in beinahe durchsichtige Scheiben, sodass er sie essen kann.

Durch einen seiner Landsleute hat er diese Arbeit hier gefunden, an diesem verlassenen Ort. Bis dahin kannte er das Landleben nicht, er hatte immer in der Stadt gelebt.

Hier kann er arbeiten, ohne den Mund aufzumachen. Hier hat er keine Angst, überfallen zu werden. Er ist lieber bei den Tieren und bestellt den Boden. Inzwischen hat er sich an die wilde Landschaft gewöhnt, sie beschützt ihn.

Spricht er mit mir, wenn er mich mit dem Auto in die Schule fährt, sagt er immer dasselbe: dass er in seinem Leben nichts hat tun können. Er will nur, dass ich studiere, die Universität besuche, und dann fortgehe, fort von ihnen.

9

Tags darauf beginnt der Vater am späten Vormittag, das Gepäck ins Auto zu laden. Ich sehe vier sonnengebräunte Gestalten, die noch mehr verbunden sind. Sie wollen nicht abfahren. Beim Frühstück sprechen sie davon, dass sie nächstes Jahr wiederkommen. Fast alle Gäste sagen das, wenn sie abfahren. Einige, die Treuen, kehren zurück, aber den meisten genügt ein Besuch.

Bevor sie losfahren, zeigt die Mutter mir die Sachen im Kühlschrank, die sie nicht mit in die Stadt zurücknehmen möchte. Sie sagt mir, sie hat das Haus sehr lieb gewonnen, dass sie es jetzt schon vermisst. Vielleicht wird sie an diesen Ort zurückdenken, wenn die Sorgen oder die Arbeit sie auffressen: an die saubere Luft, die Hügel, die leuchtenden Wolken bei Sonnenuntergang.

Ich wünsche der Familie eine gute Reise und verabschiede mich. Warte, bis das Auto nicht länger zu sehen ist. Dann beginne ich, das Haus für eine neue Familie vorzubereiten, die morgen ankommen wird. Ich mache die Betten, beseitige das Chaos im Kinderzimmer. Fege die erschlagenen Fliegen zusammen.

Sie haben ein paar Dinge, die sie nicht mehr brauchen, vergessen oder absichtlich liegen lassen. Ich hebe sie auf. Zeichnungen der Mädchen, Muscheln, die sie am Strand gefunden haben, die letzten Tropfen eines gut riechenden Duschgels. Einkaufslisten in der kleinen, blassen Handschrift der Mutter, mit der sie, auf weiteren Zetteln, alles über uns aufgeschrieben hat.

Das Wiedersehen

An einem sonnigen Septembertag treffen sich zwei Frauen auf dem Ponte Sisto und umarmen sich. Seit einem Jahr haben sie sich nicht gesehen. Sie steigen über die niedrige rostige Kette zur Absperrung des Verkehrs, in die Verliebte ihre Schlösser stecken und über die Unvorsichtige stolpern. Es ist schon nach zwei, sie haben Hunger.

Eine der beiden, die in der Nähe des Ponte Sisto aufgewachsen ist, ist in Trauer: Sie hat vor einigen Wochen ihren Vater verloren, außerdem geht ihre Ehe gerade in die Brüche. Sie ist eine kleine Frau mit hellen, hochgesteckten Haaren, großen grünen Augen und kleinen Goldringen mit Brillanten am Ohr.

Die andere, eine Universitätsprofessorin, hat dunkles Haar und dunklere Haut. Sie ist größer als die Freundin, und in diesen Tagen ist sie auch glücklicher. Sie hat gerade ihren Geburtstag am Meer gefeiert, ist braun gebrannt und fühlt sich verjüngt. Es war ihr wichtig, die Freundin in ihrer schweren Lebenslage zu treffen, inmitten der Trennung und der Trauer um den Elternteil.

«Wann bist du zurückgekommen?», fragt sie die Freundin, während sie eingehakt nebeneinander hergehen.

«Ungefähr vor zehn Tagen. Und du?»

«Vorgestern.»

Die Frauen haben sich vor langer Zeit auf dem Spielplatz an der Piazza San Cosimato angefreundet, ihre Kinder sind im gleichen Alter. Sie gingen häufig in einer Trattoria essen, führten lange Gespräche.

Seit zwei Jahren jedoch lebt die trauernde Frau, die jetzt zur Beerdigung ihres Vaters nach Rom gekommen ist, in einer Stadt im nahen Ausland. Sie ist dort mit ihren beiden Kindern hingezogen, aber ohne den Mann, der wegen seiner Arbeit in Italien bleiben musste. Damals lief noch alles ziemlich gut zwischen ihnen. Mit ihren sechsundvierzig Jahren wollte sie eine Luftveränderung; ihre heruntergekommene Geburtsstadt belastete sie zunehmend.

Auch die Professorin ist kürzlich nach Rom zurückgekehrt, nicht wegen eines Verlusts, sondern um sich ein Sabbatjahr mit ihrer Familie zu gönnen. Sie kennt die Hauptstadt gut und liebt sie, kommt häufig zu Recherchen oder Konferenzen hierher, alleine oder mit Familie, manchmal auch für längere Zeit, um die Geschichte der Stadt zu studieren.

Heute hat die trauernde Frau einen Tisch in einer Trattoria reserviert, die sie sehr mag. Es ist eine der wenigen, wie sie sagt, die eigensinnig und auf wunderbare Weise dem Verstreichen der Zeit trotzen. «So lernst du einen neuen Ort kennen. Sowieso ist meine Stadt inzwischen ebenso gut deine.»

Auf dem Weg zur Trattoria kommen sie an dem eleganten Wohnhaus vorbei, in dem die Eltern der trauernden Frau den größten Teil des Jahres gewohnt haben. «Es ist seltsam, wenn ich mir vorstelle, dass er nie mehr zurückkommt», seufzt sie und meint den Vater, einen Journalisten, der fünf Sprachen sprach und früher die ganze Welt bereiste. Im Sommer lebten ihre Eltern in den Bergen, weil es dort kühler war. Der Vater starb mit über neunzig Jahren in demselben Bett in den Bergen, wo er auch geboren worden war. Die Wohnung in der Stadt stand im Sommer immer leer, aber jetzt, sagt sie, ist sie auf eine andere Weise verlassen.

Die trauernde Frau erzählt ihrer Freundin, dass sie vorhin schnell hingegangen sei, um ein paar Sachen zu holen, es habe sie mitgenommen, von all den Bildern, Büchern und anderen Gegenständen umgeben zu sein, die dem Vater gehörten.

«Warst du bei ihm, als er gestorben ist?», fragt die Professorin.

«Ich war im Flugzeug, ich habe es nicht rechtzeitig geschafft.»

Die Trattoria liegt in einer kleinen Gasse ohne Bürgersteig, in einer labyrinthischen, sehr belebten Gegend. Dieselbe Gegend, in der die Professorin vor Jahren eine Wohnung für den Sommer gemietet hatte. Beiden Frauen hat dieser Zufall immer gefallen, dieser gemeinsame Ort, wenngleich bewohnt zu unterschiedlichen Zeiten, unter ganz verschiedenen Umständen.

Als sie die Trattoria erreichen, gehen sie beinahe daran vorbei, so unauffällig, beinahe anonym ist die Fassade. Sie ähnelt nicht den anderen Trattorien in der Gegend, die von Touristen überlaufen sind. Zum Beispiel ähnelt sie nicht jener Trattoria ein Stück die Straße runter, die die Professorin und ihre Familie in jenem Sommer beinahe jeden Abend warm willkommen geheißen hatte. Dort standen Weinflaschen im Schaufenster und draußen weiße, etwas mitgenommene Sonnenschirme. Man saß auf wackeligen Plastikstühlen, auf der abschüssigen Piazza an der rissigen Mauer, und manchmal stellten die beiden Brüder, die das Lokal betrieben, bevor sie die Rechnung brachten, eine große Flasche Averna auf den Tisch.

Die Trattoria, in die sie heute gehen, wirkt zurückhaltend, es gibt zwei Glastüren, die zu verschiedenen Häusern gehören. Eines ist ein Ziegelhaus, die glatte Fassade des anderen ist mit großen blassen Vierecken in Rosa und Orange bemalt. Eine der Türen flankiert den Eingang, die andere dient als Fenster. Beide sind aus Milchglas, sodass sie vor den Blicken der Passanten schützen. Um hineinzukommen, muss man klingeln, und da der Eingang schräg zur Straße liegt, kann man nur undeutlich einen Teil des Innenraums erkennen.

Drinnen grüßt die trauernde Frau die Wirtin, eine kräftige Frau mit schmaler Brille und kurzen weißen Haaren. Dann erkennt sie einen Mann, der mit einem Kind von etwa sechs Jahren an einem Tisch in der Ecke sitzt, und grüßt auch ihn. An ihrem warmen Umgang merkt die Professorin, dass es sich um einen alten Freund von ihr handelt, der ebenso wie sie nahe der Trattoria aufgewachsen sein muss.

«Entschuldige, wenn ich mich mit dem Rücken zu dir setze», sagt die trauernde Frau zu ihm, als sie Platz nimmt.

«Dann lass mich doch einfach hierhin», schlägt die Freundin vor, und die beiden tauschen die Plätze und stellen ihre Taschen auf den Stuhl zwischen sich.

Die Trattoria ist geformt wie ein L. Der schwarze Sims und der blasse marmorne Wandsockel erinnern an den nackten, sauberen Anblick einer Schlachterei. Die trauernde Frau schaut in Richtung ihres Kindheitsfreundes am Ecktisch, die Professorin auf einen Tisch mit gut gekleideten Männern, die vermutlich alle im selben Büro arbeiten. Unmöglich zu erkennen, was hinter der Ecke liegt.

Auf dem Tisch eine Speisekarte in einer durchsichtigen Hülle: ein weißes Blatt Papier, die Gerichte mit Schreibmaschine getippt. Doch sie bleibt auf dem Tisch liegen, die beiden Frauen werfen nicht einmal einen Blick darauf.

Die Wirtin, die auch die Köchin und Kellnerin ist, sagt ihnen, was es zu essen gibt. Sie hat kräftige Arme und trägt über einer kurzärmeligen weißen Baumwollbluse eine Schürze. Die trauernde Frau wählt als Vorspeise Gemüse und als ersten Gang ein Pastagericht.

«Und was bringen wir der moretta?», fragt die Wirtin brüsk, ohne die Professorin dabei anzusehen.

Nach ein paar Sekunden antwortet sie: «Ich nehme dasselbe», wobei ein unangenehmes Gefühl sie überkommt, ähnlich dem, wenn man die federleichten, aber spitzen Beine eines Insekts auf der Hand spürt.

«Was genau bedeutet moretta?», fragt die Professorin ihre Freundin.

«Gib da nichts drauf, das sagt man hier zu allen Dunkelhaarigen», murmelt die trauernde Frau, die das leichte Unwohlsein der Freundin bemerkt hat.

Jetzt, da sie sitzen, bemerkt die Professorin, wie erschöpft die Freundin ist.

«Kannst du schlafen?»

«Wenig.»

«Essen?»

«Heute ja, hier ist das Essen ausgezeichnet.»

Genau in dem Moment bringt die Wirtin Wasser und ein Körbchen mit nur zwei Stücken Brot darin. Dann kommt das gesottene Gemüse von einem dunklen, aber glänzenden Grün.

«Hier, Schatz», sagt sie zu der trauernden Frau. Zur anderen: «Und einmal dasselbe für die schöne Signora.» Diese neuerliche indirekte Beleidigung, hervorgebracht in scharfem Tonfall, trifft sie ein weiteres Mal.

«Wie geht es den Kindern bei all dem?», fragt die Professorin die trauernde Freundin. Beide haben einen Sohn und eine Tochter.

«Sie haben es verstanden. Ich habe sie bei meiner Mutter in den Bergen gelassen. Schau mal.»

Auch die Professorin zieht ihr Handy aus der Tasche.

«Deine Tochter sieht aus wie du», bemerkt die trauernde Frau.

«Deine ähnelt dafür sehr ihrem Vater», antwortet die Freundin. Leise fragt sie: «Ist er noch immer mit der Kollegin zusammen?»

«Scheint so. Tja, was soll man da machen?»

«Wie hast du es herausgefunden?»

«Inzwischen glaube ich, ich habe es schon damals gewusst, oder wenigstens geahnt. Wahrscheinlich wollte ich deshalb fort, weil etwas nicht in Ordnung war.»

«Das hast du gut gemacht.»

«Ich habe mir etwas vorgemacht. Ich wollte es so machen wie du, zusammen mit den Kindern einen neuen Ort entdecken. Aber meine Entscheidung hat nur einer maroden Ehe den Todesstoß versetzt.»

Die trauernde Frau erzählt, sie habe bereits mit einem Anwalt gesprochen, aber da sie jetzt mit den Kindern in einer anderen Stadt lebt, ist die Situation kompliziert.

Sie unterbricht sich, um den Kindheitsfreund zu verabschieden, der fertig mit essen ist.

«Hast du gesehen, wie gut man hier isst?», sagt sie zu seinem Kind. «Stell dir vor, in deinem Alter bin ich auch oft hierhergekommen. Wie du, um mit meinem Papa mittagzuessen.»

Das Kind schaut sie schüchtern und mit weit aufgerissenen Augen an, ohne etwas zu antworten.

Da taucht die Wirtin auf und bringt die Pasta.

«Du redest zu viel, du hast noch nicht mal dein Gemüse aufgegessen», sagt sie, die trauernde Frau liebevoll neckend. Diesmal kein weiteres Epitheton für die Professorin.

Die Pasta ist sehr heiß, mild gewürzt, aber gut. Während sie essen, klingelt das Handy der trauernden Frau.

«Ich bin gerade mit einer Freundin mittagessen», sagt sie, und dann bittet sie die Person am anderen Ende der Leitung, in der Trattoria vorbeizukommen. Nachdem sie aufgelegt hat, erklärt sie, das sei ein Nachbar ihrer Eltern gewesen, der ihr die ganze Post übergeben möchte, darunter zahllose Beileidsbekundungen zum Tod des Vaters.

Wenige Minuten später kommt der Nachbar mit einer schwarzen Papiertüte herein. Er küsst die trauernde Frau auf beide Wangen und schüttelt der Professorin kräftig die Hand.

«Setz dich», sagt die trauernde Frau. «Trinkst du einen Espresso mit?»

«Nein danke. Hier ist deine Post.»

Sie sprechen über den Vater, und die trauernde Frau gibt eine Zusammenfassung der vergangenen Tage, seine letzten Wünsche auf dem Krankenbett, die Beerdigung.

«Es war genauso, wie er es sich gewünscht hätte», sagt sie traurig, aber ohne zu weinen.

«Er war ein außergewöhnlicher Mann», sagt der Nachbar. «Ich habe immer seine Freude am Reisen bewundert, seine Neugier auf fremde Welten. Er wird uns fehlen.»

Dann verabschiedet er sich. Auch die Männer am Tisch nebenan erheben sich und gehen. Einige werfen der Professorin neugierige Blicke zu.

«Und du, bist du froh, hier zu sein?», fragt die trauernde Frau ihre Freundin.