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Julius Wolff

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Beschreibung

Julius Wolffs Werk 'Das Wildfangrecht' ist ein Meisterwerk des Naturalismus. Das Buch erzählt die Geschichte von Hans, einem jungen Wilderer, der von der Gesellschaft verstoßen wird und sich mit den Herausforderungen des Lebens in der wilden Natur auseinandersetzen muss. Wolffs literarischer Stil ist geprägt von realistischen Beschreibungen und einer schonungslosen Darstellung von Armut und sozialer Ungerechtigkeit. Das Buch spielt in einer Zeit, in der die Industrialisierung und damit verbundene gesellschaftliche Veränderungen die Lebensbedingungen vieler Menschen verschlechterten. In 'Das Wildfangrecht' zeigt Wolff die brutale Realität des Überlebenskampfes in einer von Egoismus und Ausbeutung geprägten Welt auf.

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Julius Wolff

Das Wildfangrecht

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- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung [email protected]   2017 OK Publishing

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechzehntes Kapitel.
Siebzehntes Kapitel.
Achtzehntes Kapitel.
Neunzehntes Kapitel.
Zwanzigstes Kapitel.
Einundzwanzigstes Kapitel.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Vierundzwanzigstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

An einem warmen Septemberabend saß ein hochgestalteter, stämmiger Mann mit grauem Langhaar vor dem Wohnhause seines Gehöftes in dem anmutig gelegenen Städtchen Wachenheim in der Rheinpfalz und blickte sinnend vor sich hin. Er war in landesüblicher Bauerntracht, aber seine Haltung und ganze Erscheinung hatten etwas Würdevolles, Achtunggebietendes. Seine rechte Hand ruhte auf dem derben Kreuzbeintische vor ihm, und ohne sich dessen bewußt zu sein, trommelte er auf der Platte einen marschmäßigen Takt. Er hatte in den überstandenen, langen Kriegsjahren viel trommeln gehört, und so war ihm dieses Fingerspiel zur Gewohnheit geworden, wenn ihm etwas Besonderes die Gedanken bewegte.

Es war der Bürgermeister von Wachenheim Christoph Armbruster, der sich als Winzer eines behäbigen Wohlstandes erfreute und die Bürgermeisterei im Ehrenamt verwaltete. Es schienen auch keineswegs Sorgen zu sein, was ihn zu dieser Stunde beschäftigte, denn sein Gesicht mit der stark hervortretenden Nase und dem kräftigen Kinn zeigte einen zufriedenen Ausdruck, und er schaute, wie sie in der Pfalz sagen, so recht stillbeducht und heimselig drein.

Das Gehöft, auf das man von der Straße durch ein breites, bei Tage stets offenes Tor gelangte, bildete ein umfangreiches, längliches Viereck, in welchem sich mehrere, den Umfassungsmauern angefügte Gebäude befanden, ein größeres, zweistöckiges Haus, das der Bürgermeister mit seiner Frau und seiner jüngsten Tochter, und ein kleineres, das sein Sohn mit Frau und Kindern bewohnte, ferner das Kelterhaus, Scheune, Schuppen und Ställe. Dem größeren Wohnhause entlang zog sich eine schattige Pergola, d. h. ein laubenartiger, auch oben mit Latten versehener Rebengang, worin zwischen den Ranken und Blättern dunkelblaue Malvasiertrauben hingen. Hinter den Häusern streckte sich bis an die mit runden Verteidigungstürmen bewehrte Stadtumwallung ein wohlgepflegter Obst- und Gemüsegarten. Auf dem geräumigen Hofe stand seitwärts ein alter Nußbaum, dessen mächtigen Stamm eine hölzerne Sitzbank umgab.

Dieses stattliche Anwesen hieß der Abtshof, weil es vor Jahrhunderten das Eigentum des nahen, von Konrad II., dem Salier, gestifteten und reich dotierten Benediktinerklosters Limburg gewesen war, zu dem der Kaiser selber, und zwar an dem nämlichen Tage wie zu dem herrlichen Dom in Speyer den Grundstein gelegt hatte. Einer der Äbte hatte den Hof erbaut, um hier die edlen Gewächse der ihn umgebenden, dem Kloster zugehörigen Weinberge keltern und lagern zu können, und jetzt noch waren die starken Mauern und Gewölbe vorhanden, in denen dies einst geschehen war.

Außer diesem unterirdischen Gemäuer aber war von dem abteilichen Bau kaum ein Stein auf dem andern geblieben. Kriegsstürme hatten ihn wie so manches, was Menschenhand hier geschaffen, fast bis auf den Grund hinweggefegt. Denn die Pfalz, namentlich die Vorderpfalz mit ihrem Köstliches hervorbringenden Rebengelände an der Haardt hatte unter schweren Drangsalen zu leiden gehabt. Die unaufhörlichen Fehden des streitlustigen Pfalzgrafen bei Rhein Friedrich des Siegreichen, die Untaten des Bauernkrieges, die verzweifelten Kämpfe mit den beutegierigen Landsknechten des Markgrafen Albrecht Alcibiades von Brandenburg und endlich die furchtbaren Heimsuchungen im dreißigjährigen Kriege unter Tilly, dem Grafen Ernst von Mansfeld und dem Herzog Christian von Braunschweig hatten die Städte und Dörfer der Pfalz eingeäschert, das Land verödet, die Leute ins Elend versetzt.

Aber die unerschöpfliche Fruchtbarkeit des Bodens brachte nach jeder Verwüstung die jungen Saaten und Pflanzungen zu schnellem Wachstum, und die Betriebsamkeit der Bewohner besaß die zähe Kraft, unverdrossen wieder aufzurichten, was niedergestampft, verbrannt und verdorben war. Trotz aller Verheerungen, denen sie im Lauf der Zeiten ausgesetzt war, rühmte sich die Pfalz, einer der höchstgesegneten Gaue des deutschen Reiches zu sein, so daß es einst von ihr hieß, sie wäre so reich, daß hier selbst die Bettelleute Kapitalsteuer zahlten. Und jetzt, sechzehn Jahre nach dem Westfälischen Frieden, unter der Regierung des für die Wohlfahrt seines Landes rastlos bemühten Kurfürsten und Pfalzgrafen Karl Ludwig, war sie in fröhlichem Aufschwung begriffen; allerwegen entfaltete sich ein sichtliches Gedeihen von Handel und Gewerbe, Acker- und Weinbau.

Auch der Abtshof, die einstige Siedelung jenes längst zerstörten Benediktinerstiftes, hatte sich aus den Trümmern, in die er mehr als einmal gesunken war, in erneuter Gestalt erhoben und war nun schon in der vierten Generation das Erbe der Familie Armbruster. Seine letzte Beschädigung durch die Spanier, die sein gegenwärtiger Besitzer als junger Mensch schon erlebt hatte, war nicht so schlimm gewesen wie die früheren. Christophs Großvater hatte ihn wiederhergestellt, sein Vater noch erweitert und ausgebaut und er selber ihn endlich zu dem gemacht, was er heute war, ein echt pfälzischer Bauern- und Winzerhof, der sich sehen lassen konnte und in ganz Wachenheim nur von einem einzigen an Größe und schmucker Wohnlichkeit noch übertroffen wurde.

Hier auf seinem freien Eigen saß nun Christoph Armbruster und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Plötzlich überflog ein gutmütig schlaues Lächeln seine markigen Züge, und er hob den Blick zu der trutzigen Wachtenburg empor, die unweit der Stadt den Gipfel eines steilen Vorberges krönte. Die Sonne war bereits hinter dem hohen, in schönen Linien auf- und absteigenden Kamme des Gebirges verschwunden, aber ein flammendes Abendrot stand am Himmel und überhauchte die Zinnen und Türme der Burg mit einem goldigen Schimmer.

Dort hauste der Reichsfreiherr Dietrich von Remchingen, kurfürstlicher Obervogt der Vorderpfalz, der die ihm verliehene Machtbefugnis gerecht und mild ausübte. Er und Christoph waren Jugendgenossen. Der Abkömmling eines alten, stolzen Rittergeschlechtes und der Sproß einer alten, freien Bauernfamilie hatten sich als Knaben bald auf den Wällen und in den Gräben der Burg, bald in dem Garten und den Wirtschaftsräumen des Winzerhofes getummelt, hatten als Jünglinge die Berge und Täler der Haardt durchstreift, als Männer dem edlen Weidwerk obgelegen und endlich die Schrecken des großen Krieges miteinander getragen, und ihre Freundschaft hatte durch all die langen Jahre treulich standgehalten und blühte heute noch, wo sie beide rüstige, welterfahrene Sechziger waren. Im traulichen Gespräch nannten sie sich du und bei den Vornamen, im amtlichen Verkehr aber, den ja ihre Stellungen mit sich brachten und bei dem es hin und wieder zu kleinen Reibereien und manchmal auch zu einem scharfen Wortwechsel kam, schnoben sie sich auch wohl mit Herr Reichsfreiherr! und Herr Bürgermeister! unwirsch an, um sich beim nächsten Wiedersehen ohne Vorrede die Hände zu schütteln und herzlich ins Gesicht zu lachen. An einen solchen kürzlich gehabten Streit mochte der Bürgermeister wohl gedacht haben, als er zur Wachtenburg hinaufgeblickt hatte.

Wie er da nun am Tisch unter den Reben saß und sinnierte, lugte plötzlich, unbemerkt von ihm, ein brauner Mädchenkopf aus der Haustür um die Ecke, und husch! sprang eine hübsche junge Dirn die paar Stufen hinab und zu dem Alten auf die Bank, wo sie sich kuschelig an seine breite Schulter schmiegte.

»Grashupf, bist du da?« sprach er, indem er den Arm um seinen Liebling, die jüngste Tochter, schlang. »Wo ist die Mutter?«

»Sie kommt auch gleich,« erwiderte das Mädchen. »Hast wohl schon Hunger, Väterle?«

»O ja, aber die andern fehlen auch noch, ihr laßt mich ja ganz allein hier.«

»Ich doch nicht, Väterle! ich lauf dir immer nach wie ein spürendes Hundl seinem verlorenen Herrn.«

»Ja du, du!« lächelte er und drückte sie sanft an sich.

Die Siebzehnjährige mit runden Wangen und lustigen Augen war eine Herzensfreude für den ernsten, manchmal kurz angebundenen Mann, und wenn er sie auch keineswegs verzogen hatte, so besaß sie doch eine nicht geringe Gewalt über ihn und konnte ihm abbetteln und abschmeicheln, was sie wollte. Er aber hatte seinen Spaß an den kleinen Listen, die sie dabei anwandte und die er, ohne sich's merken zu lassen, wohl durchschaute.

Die beiden blieben nicht lange allein. Zwei pausbäckige Jungen von zehn und acht Jahren, Christophs Enkel, kamen um das Haus herum angestürmt, und das erste Wort des älteren war: »Gibt's noch nichts zu essen?«

»So!« lachte Christoph, »wo habt ihr Schlingel denn gesteckt?«

»Im Garten, Großvater,« erwiderte der jüngere.

»Und wo sind eure Eltern?«

»Vater ist nicht daheim, und Mutter singt's Bärbele in Schlaf.«

»Dann seht mal nach, ob ihr Großmutter findet, daß sie euch die gefräßigen Mäuler stopft.«

Da sprangen sie ins Haus hinein, und man hörte sie nach der Großmutter rufen.

Nun erscholl von innen eine weibliche Stimme: »Ammerie!«

»Ja, Mutter!« gab das Mädchen zurück und enteilte.

Bald kamen die vier wieder. Christophs Frau Madlen, in Abkürzung von Magdalene so genannt, und Ammerie, beide mit irdenen Tellern und Schüsseln beladen, auf denen das kalte Abendbrot appetitlich geschichtet war, und hinter ihnen die zwei Jungen mit anderem Eßgerät, soviel ihre kleinen Hände fassen konnten. Alles wurde auf die sieben Plätze an dem zuvor mit einem blaugemusterten Linnen bedeckten Tisch verteilt, denn der Sohn aß mit Frau und Kindern stets bei den Eltern, weil es der alte Herr, der auf den festen Zusammenhalt der Familie hohen Wert legte, so verlangte. Als Ammerie dann noch einen großen Steinkrug selbst geherbsteten Wein und fünf zinnerne Becher geholt hatte, erschien auch Elsbeth, Armbrusters schöngewachsene Schwiegertochter.

»Wo hast du deinen Mann?« fragte Christoph.

»Ich weiß nicht, wo der Peter bleibt,« erwiderte Elsbeth. »Er wollte nur noch einmal zum Böttchermeister Lutz Hebenstreit gehen.«

»Nun, warten wir nicht auf ihn,« bestimmte der Bürgermeister und ließ sich quervor am Tische in einem grobgezimmerten Lehnstuhl nieder, seiner Frau gegenüber, so daß Kinder und Enkel zwischen den beiden Alten saßen, das jüngere Ehepaar auf der Bank.

Ehe sie aber alle Platz genommen hatten, rief der ältere der beiden Jungen: »Da kommt der Vater!«

Peter, an Gliederbau wie auch im Gesicht seines Vaters Ebenbild und dessen rechte Hand im Wirtschaftsbetriebe, kam schnell über den Hof heran und setzte sich mit einem entschuldigenden »Verzeiht!« neben seine Frau.

Nach einem kurzen Tischgebete, das der älteste Enkel geläufig, doch ohne große Andacht hersagte, begannen sie zu essen, und Elsbeth teilte ihren beiden Jungen ein Genügendes zu, während Ammerie aus dem Kruge die Becher füllte.

»Du warst noch bei Lutz Hebenstreit?« fragte Christoph.

»Ja, ich wollte ihn noch einmal ernstlich an unsere Fässer mahnen,« gab Peter zur Antwort, »aber da kam ich bei dem bärbeißigen alten Junggesellen schön an. Erst müßte er die für meinen Schwiegervater fertigschaffen, der ihm mit Entziehung seiner Kundschaft gedroht hätte, wenn er sie ihm nicht pünktlich lieferte; wir sollten ihn in des Deibels Namen in Ruhe lassen, fuhr er patzig auf mich los, ehe ich nur ausreden konnte.«

»Nun, es ist ja noch ein paar Wochen Zeit bis zur Lese,« meinte Madlen begütigend.

»Die Wingerten sind geschlossen, und wir haben einen guten Herbst vor uns,« sagte Christoph. »Aber freilich, wo Florian Gersbacher den Vorsprung hat, da hat unsereins das Nachsehen. Und das will mein Freund sein!« fügte er launig hinzu.

»Ist er auch, lieber Vater!« fiel Elsbeth, die Tochter des eben Beredeten, ein. »Aber warum kommst du so spät?« wandte sie sich an ihren Mann.

»Ich hatte auf dem Rückwege einen kleinen Aufenthalt,« erwiderte dieser.

»Warst wohl noch in einer Straußwirtschaft und hast dir dort das Loch im Ärmel geholt?« zog Ammerie ihren Bruder spottlustig auf.

»Wahrhaftig, er hat ein zerfetztes Kamisol!« rief Elsbeth erschrocken, jetzt erst den Riß in seinem Wams entdeckend. »Mann! was hast du angestellt?«

»Ja, da kriegst du was zu flicken,« lachte Peter. »Ich wurde ein wenig handgemein mit einem widerspenstigen Ochsen, der trotz Zuredens und Schläge nicht in den Stall hinein wollte. Da mußt ich doch dem Hans Kaub und seinem Knechte helfen und packte den störrischen Dickkopf bei den Hörnern, was ihm nicht zu gefallen schien, denn er stieß nach mir, schlitzte mir aber nur das Kamisol auf, nicht auch das Fell, und so ist es noch gut abgelaufen und nicht der Rede wert. Der Ochs mußte in den Stall, und nun ist er drin.«

»Hast recht getan,« sprach der Bürgermeister mit seiner tiefen Stimme. »Wem du hilfst, der hilft dir wieder.«

»Aber mit einem bösen Ochsen anzubinden ist eine Vermessenheit. Peter, Peter, immer noch die Tollkühnheit wie in deinen jungen Jahren!« schalt ihn Madlen liebevoll.

»Nein, Mütterle, hab keine Bange, ich nehm mich schon in acht, wo's nötig ist,« beschwichtigte sie der gute Sohn.

Frau Madlen machte den Eindruck einer behäbigen, sich ihres Standes und Wertes bewußten Bäuerin, in deren gescheiteltes Haar sich schon reichlich Silberfäden mischten. Sie hatte ein ruhiges, wohlwollendes Gemüt, das sich in ihrem vollen Antlitz mit den vielen Fältchen und in ihren hell und freundlich blickenden Augen wie in der gemessenen Art ihres Redens und Gebarens ausprägte. Ihrem Manne war sie eine treue, tapfere Lebensgefährtin und hatte ihm vier Kinder geschenkt, deren ältestes Peter war. Ein zweiter Sohn war jung gestorben, eine darauffolgende Tochter war an einen Zimmermeister in Neustadt verheiratet, und als nicht mehr erwarteter Spätling hatte sich Ammerie noch eingestellt, die schon in ihren Kinderjahren etwas ungemein Drolliges gehabt hatte und nun, zur blühenden Jungfrau gereift, Eltern und Geschwister mit ihrem schalkhaften Frohsinn ergötzte. Sie hatten sie alle lieb, auch Elsbeth stand mit der viel jüngeren Schwägerin auf dem besten Fuße.

So herrschte eine erfreuliche Eintracht in der Familie, und wenn man tagsüber seine Arbeit getan hatte, so ergab man sich am Feierabend und bei Tische einer harmlos heiteren Stimmung, die kein Mißton trübte. Christoph Armbruster selber, das von allen verehrte Oberhaupt, waltete auf dem Abtshofe als unbeschränkter Herr und Gebieter, dessen leisestem Wort und Wink sich jeder der Seinigen ohne Widerspruch fügte. In dem, trotz der festen Mauern und Türme, mehr bäuerlichen als städtischen Gemeinwesen genoß er wegen seiner Rechtschaffenheit und besonnenen Tatkraft eines hohen Ansehens, obwohl er aus einem besonderen Grunde auch einige seiner Mitbürger zu entschiedenen Gegnern hatte. Seit dreiundzwanzig Jahren war er hier Bürgermeister als unmittelbarer Nachfolger seines Vaters, der gleichfalls dieses Amt bis zu seinem in hohem Alter eintretenden Tode innegehabt hatte.

Als nun an dem warmen, bei dem klaren Himmel lange hell bleibenden Abend alle, Alte und Junge, unter dem hie und da durchsichtigen Rebendach fröhlich beisammensaßen und den aufgetragenen Imbiß verzehrten, wandte sich Madlen plötzlich zur Seite und sagte: »Wen bringt uns denn der Schneckenkaschper da? eine Fremde? Einen Besuch?«

Alle blickten auf und sahen nach dem Eingange hin.

Dort unter dem Torbogen stand ein etwa vierzehnjähriger Junge, barhäuptig und barfüßig und ärmlich gekleidet, aber kräftig und gebräunt, mit einem offenen, klugen Gesicht. Zu einer neben ihm stehenden weiblichen Gestalt redend zeigte er mit ausgestrecktem Finger nach der am Tische sitzenden Familie. Dann traten beide näher, von einem Hunde, einem gelblich grauen, struppigen Schnauzerl begleitet, und das junge Weib oder Mädchen, das ein Bündel auf den Rücken trug, schritt stracks auf die Bürgermeisterin zu.

Die mehr als mittelgroße Fremde war sehr hübsch, fast schön zu nennen, aber sie sah bleich und verhärmt aus, und um ihren feingeschnittenen Mund wob sich ein Zug von Bitterkeit. »Seid Ihr Frau Madlen Armbruster?« begann sie schüchtern.

»Ja, die bin ich,« antwortete Madlen.

»Ich bin Gontrud Hegewald aus Gamburg im Würzburgischen.«

»Wie hieß deine Mutter mit ihrem Mädchennamen?« fragte die Bürgermeisterin.

»Hilde Scheithauer.«

»Das stimmt; dann bist du die Trudi, und ich bin deine Bas',« sprach Madlen, erhob sich und reichte ihrer Nichte die Hand. »Sei willkommen und sage: was schaffst du?«

Die Zugereiste mußte sich in ihrer tiefen Befangenheit erst fassen, um das Anliegen, das sie hergeführt hatte, vorbringen zu können. Dann tat sie dies mit einem hörbaren Beben der Stimme: »Vater und Mutter sind tot, ich bin eine Waise, – mittellos und heimatlos, – habe viel Trauriges und Schlimmes erlebt und – kann nicht wieder dahin zurück, wo ich herkomme. Darum wollt ich Euch herzlich bitten, mich als Magd, als dienende Magd bei Euch aufzunehmen; – ich kann arbeiten und weiß auch mit Wingert und Weinbau Bescheid.« Sie atmete tief auf, als sie das von der Seele herunter hatte, und blickte ihre Base ängstlich und erwartungsvoll an.

»Lege dein Bündel ab und nimm Platz an unserem Tische,« sagte Madlen ohne auf die ihr vorgetragene Bitte gleich einzugehen. »Dies sind die Meinigen, mein Mann und unsere Kinder und Enkel.«

Trudi überflog die kleine Gesellschaft mit den Augen, und die grüßende Neigung ihres blonden Hauptes war von einer gefälligen Anmut.

»Du bleibst die Nacht hier, und wenn du morgen ausgeschlafen hast, reden wir weiter; ich denke, es wird sich einrichten lassen, was du wünschest,« fuhr Madlen fort, nachdem sie sich die Sache überlegt und das Mädchen mit einem prüfenden Blick angeschaut hatte.

»Ich danke Euch!« kam es wie ein erlösender Hauch aus Trudis bewegter Brust.

»Setze dich neben mich; hier auf der Bank ist noch Platz, und nun vor allen Dingen, – du wirst hungrig sein vom Wege, – also flink, Ammerie!«

Diese sprang auf und verschwand im Hause, während Trudi der Einladung ihrer Base folgte.

Der mit ihr gekommene Junge hatte, etwas zurückstehend, das Gespräch mit angehört und wollte sich nun entfernen, aber die Bürgermeisterin rief ihm zu: »Nein, Kaschper, bleib da und wart e bissel.«

Da setzte er sich auf die Bank unter dem großen Nußbaum, und sein rauhhaariger Köter legte sich zu seinen Füßen nieder, den Kopf zwischen den Vorderpfoten, und blinzelte witternd nach dem Speisetische hin.

Auch Kaspar war eine elternlose Waise, hatte Vater und Mutter nie gekannt und lebte hier bei seinem Großvater, der sich wenig um ihn kümmerte und nicht einmal für seine rechte Ernährung sorgte. Aber der Junge war in den Mitteln, seinen Hunger zu stillen ohne zu betteln, sehr erfinderisch, und weil er sich zu diesem Zwecke in den Weinbergen fleißig Schnecken suchte, die er sich in einer alten Blechpfanne mit allerlei Wurzel- und Kräuterwerk schmorte oder auch röstete, nannte man ihn den Schneckenkaschper. Die meisten der Wachenheimer hatten den wild Aufwachsenden gern, und da er auch sonst anstellig und geschickt war, brauchten sie ihn zu kleinen Diensten, zu Botengängen, zum Viehhüten, zum Verscheuchen der Vögel aus den Weinbergen, wozu er sich eine weittönende Klapper angefertigt hatte, und zu mehr dergleichen Verrichtungen. Dafür gaben sie ihm dann zu essen, und manche schenkten ihm abgelegte Kleider von ihren Kindern, seinen Altersgenossen und Gespielen, deren er sehr viele und sehr anhängliche hatte.

Ammerie brachte für Trudi einen Teller, Messer und Gabel und auch einen Becher, den ihr Peter randvoll goß, und nun langte die einer Atzung allerdings sehr Bedürftige ohne Scheu zu und ließ sich das freundlich Gebotene munden. Die anderen störten sie darin auch nicht mit Erkundigungen nach ihrem Schicksal. Sie beobachteten das wohlgesittete Mädchen mit teilnehmender Aufmerksamkeit, und keinem von ihnen stieg der Verdacht auf, daß es eine Schuldbeladene, vom Häscher Verfolgte sein könnte.

Unterdessen hatte Frau Madlen ein großes Stück hausbacken Schwarzbrot rundherum mit Schinken belegt und winkte nun den Schneckenkaschper herbei, der sich zur Entgegennahme eines solchen, ihm ungewohnten Schmauses wahrlich nicht nötigen ließ. Er ging damit zur Nußbaumbank zurück, hieb mit gesunden Zähnen wacker darauf ein und gab auch seinem Schnauzerl hin und wieder einen guten Bissen davon ab.

Als er das Schinkenbrot verzehrt hatte, fragte Trudi: »Darf ich den lieben Buben, der mich zu euch geführt hat, einen Schluck aus meinem Becher tun lassen?«

»Ja, das darfst du,« sprach der Bürgermeister schnell, und es klang warm und freudig, wie er es sagte.

Da kam Kaspar wieder heran, leerte den ihm von Trudi gereichten, noch halb vollen Becher langsam in kleinen Absätzen, und seine Augen strahlten, als er ihn der Spenderin des erquickenden Trunkes mit einem leisen »Danke!« zurückgab.

Peters nicht gern stillsitzende Sprößlinge waren aufgestanden und jagten sich mit Patz, Kaspars vierbeinigem Begleiter, auf dem Hofe herum, was allen dreien viel Spaß zu machen schien. Die Jungen tobten, der Hund umsprang sie, bellte und wedelte vergnügt mit seinem kurzen Schwänzchen.

Bald aber machte Elsbeth dem lärmenden Spiel ein Ende, indem sie ihren Rangen befahl, sich zu Bett zu scheren, was sie ihnen allerdings zweimal sagen mußte, ehe sie gehorchten und sich trollten. Da ging auch der Schneckenkaschper mit seinem Patz still von dannen.

Durch die Ankunft einer bis jetzt völlig unbekannten Verwandten war das Gespräch am Tische etwas ins Stocken geraten, kam aber allmählich wieder in Gang. Besonders die beiden Frauen bemühten sich, in Trudi nicht das Gefühl aufkommen zu lassen, daß sie als eine Störende in den geschlossenen Kreis der Familie getreten wäre, und richteten öfter das Wort an sie. Auch Christoph und Peter beteiligten sich, wenn auch nur spärlich, doch in entgegenkommender Weise an der Unterhaltung mit ihr. Nur Ammerie verhielt sich auffallend schweigsam, ließ aber ihre neue Muhme nicht aus den Augen, und manchmal schien es, als schwebte ihr ein Wort auf der Zunge, das sie beinahe hervorgebracht hätte und dann doch ungesprochen herunterschluckte. Als aber Elsbeth nun doch ein paar Fragen an Trudi stellte, welche diese nur einsilbig und ausweichend beantwortete, schritt Christoph dagegen ein und gebot: »Verschont die Trudi heut abend mit Fragen; sie wird müde sein und der Ruhe bedürfen.«

»Hast recht, Chrischtoph,« sprach Madlen. »Morgen nach dem Kirchgang, Trudi, denn morgen ist das Fest der Kreuz-Erhöhung, wirst du mir alles erzählen, nicht wahr?«

»Ja, gern, Base Madlen!« erwiderte Trudi.

»Und du schläfst mit mir im Obenaufstübel,« erklärte Ammerie bestimmt, »da steht noch ein Bett für meine Schwester, wenn sie von Neustadt herüberkommt.«

»Ich möchte aber niemand verdrängen,« sagte Trudi.

»Tust du auch nicht, liebe Trudi,« beruhigte sie Madlen. »Die Bertel wird sobald nicht kommen, und wenn doch, so wird schon Rat werden für ihren Unterschlupf.«

»Siehst du? du schläfst bei mir!« frohlockte Ammerie und griff nach Trudis Bündel. »Komm! ich bringe dich zu Bett.«

»Daß du sie mir aber nicht durch dein unnützes Geplapper noch lange wach hältst!« ermahnte Madlen ihre Tochter.

»Nein, Mütterle, ich schlaf auf beiden Ohren, ich schlaf wie unsre Urschel in der Kirch, wenn der Pater Bumpus auf der Kanzel steht.«

Die andern lachten, denn sie kannten den festen Kirchenschlaf der guten Urschel, ihrer ältesten Magd, unter dem einlullenden Genäsel des dicken Mönches, das bei mehreren der »andächtig Versammelten« diese unwiderstehliche Wirkung zu haben pflegte.

Trudi reichte jedem der Sitzenden die Hand zur guten Nacht und folgte Ammerie ins Haus. Diese rief noch von der Tür zurück: »Ich komme gleich wieder.«

Als sich die beiden Mädchen entfernt hatten, schwiegen die vier am Tische Gebliebenen eine Zeitlang still. Jeder von ihnen mochte wohl seinen Gedanken nachhängen über die unter so seltsamen Umständen hier Eingekehrte, die sich bei ihren einzigen Verwandten als Magd verdingen wollte. Ihre kummervollen Andeutungen über das, was sie erlebt hatte, und der Ton, mit dem sie vorgebracht waren, hatten glaubwürdig und herzergreifend geklungen und das Mitleid der Hörenden erregt, schon ehe sie Näheres von ihr wußten.

Madlen war die erste, die ihren Betrachtungen Worte lieh. »Wie sie mich jammert, die arme Dirn!« begann sie, »welche Kämpfe muß sie zu Hause durchgemacht haben! Der Gram stand ihr deutlich in dem blassen Gesicht geschrieben, und ihre Augen blickten so traurig und ängstlich. Wenn wir ihr doch halbwegs ersetzen könnten, was sie verloren hat! Ist es dir recht, Chrischtoph, daß ich ihr Losier gegeben habe?«

»Gewiß, liebe Alte!« erwiderte der Bürgermeister, »wir können doch eine Zufluchtsuchende aus deiner Freundschaft nicht von unserer Schwelle weisen.«

»Und können auch zur Lese recht gut noch zwei Hände mehr gebrauchen,« fügte Peter hinzu. »Sie sagte ja, daß sie mit dem Winzergeschäft Bescheid wüßte, und an Kraft zu tüchtiger Arbeit scheint es ihr wahrlich nicht zu fehlen.«

»Du hast wohl ihre Eltern nicht gekannt, Chrischtoph,« fuhr Madlen fort. »Ihre Mutter und ich sind Geschwisterkinder; der Hilde ihr Vater und meiner waren Brüder, wohnten aber nicht in derselben Stadt; mein Onkel Joseph Scheithauer wohnte in Landau. Aber wir haben sie öfter dort und sie uns wieder in Deidesheim besucht, und einmal ist die Hilde wochenlang allein bei uns geblieben, und da wurden wir Mädchen sehr befreundet miteinander. Wie es dann zugegangen ist, daß sie den Hegewald geheiratet hat und mit ihm ins Würzburgische gezogen ist, weiß ich mich nicht mehr zu erinnern. Er hatte weder Bruder noch Schwester, soll aber ein ordentlicher, braver Mensch gewesen sein.«

»Und nun sind Vater und Mutter tot,« sprach der Bürgermeister. »Wie mag ihre Tochter nur so ins Elend geraten sein, daß sie gänzlich habelos geworden und ausgewandert ist?«

»Ja, darauf bin ich selber neugierig,« erwiderte Madlen. »Morgen werd ich's ja wohl von ihr erfahren.«

Jetzt kam Ammerie zurück mit einem sehr ernsten und wehmütigen Gesicht.

»Nun? hast du die Trudi gut versorgt?« fragte Madlen.

»Ja, Mutter, ich glaube, sie schläft schon, so müde war sie,« berichtete Ammerie. »Oben in der Kammer ist sie mir um den Hals gefallen und hat geschluchzt und geweint vor Glück und Freude, daß wir sie aufgenommen haben. Ach, wenn mich doch deine Eltern bei sich behielten! wie wollt ich's ihnen danken! sagte sie unter Tränen und sah mich dabei mit Augen an, daß mir's durch und durch ging. Vater, laß sie doch hier bleiben!«

»Wird ja wohl so kommen, mein Kind,« erwiderte Christoph und nickte der für die Heimatlose Bittenden freundlich zu.

In diesem Augenblick blies der Türmer auf seinem Waldhorn den Abendsegen. Es klang aber nicht wie eine fromme Weise, sondern wie das weidmännische Halali, und sein Weckruf morgens früh ähnelte auch stark einem »Frischauf zum fröhlichen Jagen!«, denn der Niklas war früher Jäger beim Reichsfreiherrn auf der Wachtenburg gewesen, und dieser hatte ihm, als er gebrechlich geworden war und zum Weidwerk nicht mehr taugte, den Ruheposten des Türmers in Wachenheim verschafft. Sein Waldhorn hatte der Alte mitgebracht, und seine geliebten Jagdfanfaren dünkten ihn geradeso erbaulich wie das Glockengeläut, das er ebenfalls besorgte.

Die Armbrusters erhoben sich und sagten sich Gute Nacht, denn es war allmählich tiefe Dämmerung geworden. Aber der zunehmende Mond beleuchtete den stillen Abtshof, in dessen Schutz und Frieden ein vielgequältes Mädchenherz seit langer Zeit zum ersten Male wieder in sorglosem Schlummer ruhte.

Zweites Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

In der Frühe des nächsten Tages fragte Madlen ihre Tochter, wie Trudi geschlafen hätte.

»Sie schläft immer noch,« gab Ammerie zur Antwort, »und ich habe beim Anziehen ganz leise gemacht, um sie nicht zu wecken.«

»Gut! aber sage mal: wie ist's mit ihrer Kleidung bestellt?«

»Soviel ich davon gesehen habe, recht dürftig, und wenn sie mit uns zum Hochamt gehen soll . . . Ich habe schon gedacht, ob ich ihr nicht aushelfen könnte, aber meine Röcke werden ihr zu kurz sein, denn sie ist ein ganz Teil größer als ich.«

»Und meine Gewänder sind ihr zu weit,« lächelte Madlen.

»Aber von Elsbeth könnte ihr vielleicht manches passen,« meinte Ammerie.

»Das ist wahr; lauf hin zu ihr und sieh zu, was du ihr abschwatzen kannst; sie ist ja gutherzig und gefällig.«

»Jaja! sofort! und mit leeren Händen komme ich nicht wieder,« rief Ammerie und sprang davon.

Nach kaum einem Viertelstündchen kehrte sie mit einem makellos sauberen Kleide zurück, das sie triumphierend vor der Mutter entfaltete. »Siehst du? ich wußt es wohl, die Elsbeth schlägt mir nichts ab, und sie hat's gern hergegeben.« Dann eilte sie vergnügt damit die Treppe hinauf.

Als Trudi, erfrischt und gestärkt durch den gesunden Schlaf, mit Ammerie herankam, nahm sie sich ganz vortrefflich aus, denn Elsbeths Kleid stand ihr gut und saß ihr auch leidlich gut, wenn es auch um die Brust etwas eng und um den Gürtel nicht anschließend genug war, aber das ließ sich ja leicht ändern. »Ihr beschämt mich mit eurer Güte,« sprach sie nach dargebrachtem Morgengruß, »aber ich nehme es mit allem Dank an, damit ich euch am Feiertage mit meinen abgetragenen Sachen keine Schande mache.«

»Wie ist dir nach deiner Wanderung zumute?« fragte Madlen.

»Ach! wie neugeboren fühl ich mich; es lag sich so wonnig in dem schönen Bett, ich konnte mich recken und strecken, und nicht einmal geträumt hab ich.«

»Schade!« meinte Ammerie, »denn was man in der ersten Nacht unter einem fremden Dache träumt, das geht in Erfüllung.«

»Mir ist so wohlig hier, als wäre dies kein fremdes Dach für mich,« erwiderte Trudi, »und was soll mir denn noch groß in Erfüllung gehen?«

»Kind, du bist noch jung; in deinen Jahren läßt sich auch das schwerste Leid mit frohen Hoffnungen trösten,« gemahnte sie Madlen.

Trudi seufzte leise und schwieg.

Jetzt trat Christoph ins Zimmer, wo das Frühmahl seiner harrte. »Nun, ich brauche nicht zu fragen, wie du geruht hast,« sprach er, »siehst heute schon ganz anders aus als gestern abend.«

»Das macht nicht bloß der tiefe Schlaf, Onkel,« erwiderte Trudi, »die liebevolle Aufnahme tut's, die ich bei Euch gefunden habe.«

Er strich ihr mit der Hand über ihr volles, glänzendes Blondhaar und sagte: »Dem Müden ist leicht gebettet, und der Willkommene findet immer offene Arme.« Dann ließen sich alle vier am Tische nieder.

Die Armbrusters waren bereits in festlichem Gewand, und als später die Glocke der dem Ritter Sankt Georg geweihten Kirche läutete, setzte sich der Bürgermeister seinen breitkrempigen Dreispitz auf, und sie begaben sich mit Trudi zum Gottesdienst.

Auch heute wölbte sich wieder ein wolkenloser Himmel über der Pfalz, und es brütete eine schier sommerliche Wärme. Die Wachenheimer pilgerten in Scharen zur Kirche. Ihre Gesichter schauten heiter, und ihre Gemüter waren froh gestimmt, wohl nicht zum geringsten Teil deswegen, weil diese heißen Sonnenstrahlen den Trauben an den Weinstöcken noch zugute kamen, an deren vollsaftigem Gedeihen die Hoffnungen eines ganzen Jahres hingen.

Die Sitzreihen der Kirche füllten sich schnell, und viel neugierige Blicke richteten sich auf die bildhübsche Fremde zwischen Madlen und Ammerie, die man noch nie in Gesellschaft der Armbruster gesehen hatte.

Das Hochamt begann, nahm seinen gewöhnlichen Verlauf und sein Ende, und das Gotteshaus leerte sich wieder. Auf dem Heimwege schlossen sich manche der Kirchgänger der Bürgermeisterfamilie an, und wenn es die Lippen nicht taten, so fragten doch die Augen: wen habt ihr denn da bei euch? so daß Madlen oftmals wiederholen mußte: »Das ist eine liebe Verwandte, die zum Besuch eingetroffen ist und längere Zeit bei uns bleiben wird.«

Die Honoratioren der Winzergilde, auch einige kleinere Hofbesitzer und ehrsame Handwerksmeister vereinigten sich nach dem Gottesdienste noch in dem Gasthaus zur Krone bei der sogenannten Elfuhrmesse zu einem Schoppenglase. Auch Christoph Armbruster fehlte selten bei diesem Sonntagstrunke, denn dort wurden die Gemeindeangelegenheiten oft gründlicher durchgesprochen als auf dem Stadthause, und man vertrug sich beim Wein leicht in Frieden und Freundschaft. Manchmal freilich kam es auch anders, wenn die Köpfe der Streitenden heiß wurden. Dann fielen schwere, selbst grobe Worte, keiner blieb dem andern etwas schuldig, und die Fäuste donnerten mit einem trotzigen Hol mich der Deibel! auf den Tisch. Denn ein Sprichwort sagte: dem Pfälzer sitzt das Herz auf der Zunge und nicht hinter den Ohren.

Die Frauen aber gingen heim, um nach dem Mittagessen zu sehen. So auch die Frau Bürgermeisterin mit den beiden jungen Mädchen.

Auf dem Abtshof angelangt sagte Madlen zu Trudi: »Nun komm mit mir in den Garten; dort ist eine schattige Laube, wo du mir deine Lebensgeschichte erzählen kannst und uns niemand stören wird.« Dieser Zusatz war für Ammerie bestimmt, die den Wink verstand und sich an Stelle der Mutter pflichtschuldig in die Küche verfügte.

Als Base und Nichte auf einer Bank in der Laube Platz genommen hatten, Trudi aber noch schwieg, faßte Madlen ihre Hand und sprach: »Öffne mir dein Herz, liebes Kind, so vertrauensvoll, als wär' ich deine beste Freundin oder deine Mutter, was ich ja beides fortan auch wirklich sein will.«

Und Trudi hub mit bewegter Stimme und anfangs manchmal stockend an: »Ich muß mit den Erinnerungen meiner frühesten Jugend beginnen, die bis zu meinem zwölften Jahre eine wunschlos glückliche war. Meine Eltern, deren einziges Kind ich war, erzogen mich zu allem Guten und Schicklichen und sorgten auch für meinen Unterricht, den mir und ein paar anderen Kindern ein alter geistlicher Herr mit großer Hingebung erteilte. Sie besaßen in Gamburg, nicht weit von Tauberbischofsheim im Würzburgischen, ein mäßiges Ackergut, dessen Ertrag sie auskömmlich ernährte und zu dem auch ein Weinberg in guter Lage gehörte. Sie waren jedoch Altarleute des Klosters Bronnbach, hatten diesem Zehnten und Beden zu leisten, und mein Vater mußte auf dem klösterlichen Meierhofe in den Jahreszeiten, wo es Feldarbeit gab, wöchentlich einen, während der Ernte meistens zwei Tage Frondienst tun. Das kam ihn hart an, aber er hatte bei der Übereignung des Lehngutes diese unablösbare Verpflichtung mit übernehmen müssen. Der Meier des Klosterhofes war nachsichtig und milde gegen ihn, plagte ihn nicht und drückte ein Auge zu, wenn der Vater einmal eine Woche lang nicht zum Fronen und Roboten erschien. So gingen meine Tage sorglos dahin; dann aber – dann brach das Unglück über uns herein.

Mein lieber Vater starb – nach kurzem Krankenlager – an einem hitzigen Lungenfieber, – und meine Mutter war trost- und ratlos. – Es sind nun zehn Jahre her, aber heute noch seh ich und fühl ich, wie sie in ihrer Verzweiflung die Hände rang, mich in maßlosem Jammer an sich preßte und schluchzte.«

Trudi selber zitterte am ganzen Körper bei der Mitteilung dieses unvorhergesehenen, tief in ihr Leben einschneidenden Trauerfalles.

»Kurz vor Anfang des Winters war es. Korn und Trauben waren herein, aber was sollte werden, wenn das Frühjahr kam und der Wingert besorgt, der Acker bestellt werden mußte? Da blieb meiner Mutter nichts anderes übrig als einen Oberknecht anzunehmen, der die Wirtschaft leiten sollte. Das geschah denn auch. Pankraz Dornhuber war ein noch ziemlich junger, aber tüchtiger Mensch, der den ihm anvertrauten Posten zur Zufriedenheit meiner Mutter ausfüllte, sich aber auch auf jede Weise in ihre Gunst einzuschmeicheln suchte.«

Die Erzählerin blickte einige Sekunden lang starr vor sich hin, ehe sie fortfuhr: »Ja, – wie das alles so gekommen ist, weiß ich nicht mehr, aber nach der ersten Ernte unter seinem Betriebe, die sehr gut ausgefallen war, heiratete meine Mutter ihren Großknecht, und nun zog er plötzlich ganz andere Saiten auf. Als Herr in Haus und Hof trat er auch herrisch auf, und alles mußte nun nach seinem Willen gehen. Die Mutter hatte nichts mehr zu sagen, und nur mit vieler Mühe und nach manchem harten Streite konnte sie es durchsetzen, daß ich den guten Unterricht noch weiter genießen durfte. Ich sollte im Weinberge und auf dem Felde mitarbeiten, verlangte er und ließ mich mit jedem Tage mehr fühlen, daß ich ihm ein unbequemes, sehr überflüssiges Stiefkind war.

Jahre vergingen; ich hatte mich zu einem kräftigen Mädchen entwickelt und sah, wie sehr meine Mutter unter dem rohen Wesen ihres zweiten Mannes litt, vor dem sie zu schützen nicht in meiner Macht lag; jeden Versuch dazu hatte ich schwer zu büßen. Nun mußte ich öfter die fälligen Gilten, das Fastnachtshuhn und andere Abgaben nach dem Meierhofe des Klosters tragen, was ich anfangs sehr gern tat, um dann und wann auf kurze Zeit von Hause wegzukommen und frei und allein zu sein, denn die Meierei war wenig über eine halbe Stunde von Gamburg entfernt. Bald aber trat ich diesen Weg nur mit dem größten Widerstreben an, und das hatte seinen besonderen Grund.«

»Was für einen Grund, Trudi?« fragte Madlen, berührt von dem auffallend bittern Tone, mit dem Trudi die letzten Worte gesprochen hatte, und weil sie danach in ihrem Berichte wieder stockte.

»Der Sohn des Meiers,« griff Trudi den Faden wieder auf, »hatte seinem alternden, schwachen Vater das Regiment auf dem Klosterhofe ganz aus den Händen genommen und schaltete nun dort allein nach seinem Belieben. Sooft ich dahin kam, näherte sich mir der Vincenz Ebendorffer, – so hieß der junge Meier – sprach in Ausdrücken zu mir, die mir das Blut in die Wangen trieben, und stellte mich, um mich länger bei sich zu behalten, zu leichten Arbeiten an, dies damit erklärend, daß mein Stiefvater seinem Frondienst nicht genügend nachkäme und ich ihn dafür durch Leistungen meinerseits entschädigen müßte. Er sagte mir das mit einer falschen, geschmeidigen Höflichkeit und sah mich dabei von oben bis unten mit so seltsamen Blicken an, daß ich mich im Innern davon erschaudern fühlte. Ich mochte den widerlichen Menschen mit seinem fuchsroten Haar und Bart nicht leiden; sein Benehmen, seine bloße Gegenwart schon flößten mir unwillkürlich Mißtrauen und Furcht ein. Mein Stiefvater schien mein längeres Fortbleiben von Hause nicht zu beachten oder war dessen vielleicht froh, um mich, die ihm sichtlich Verhaßte, nicht beständig vor Augen haben zu müssen.«

Mit steigender Spannung lauschte Madlen den Eröffnungen der immer erregter Werdenden. »Hast du dich in dieser Annahme nicht getäuscht, liebes Kind?« fragte sie jetzt. »Er entbehrte doch während deiner Abwesenheit deine Hilfe bei der Arbeit.«

Trudi schüttelte das Haupt. »Nein, ich habe mich nicht getäuscht, und später ist mir die Erkenntnis darüber aufgegangen, warum er mich immer nach dem Klosterhof schickte. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß meine Mutter dem Pankraz nicht lange nach der Hochzeit einen Knaben geboren hatte. Von Stund an war ich, die rechtmäßige künftige Erbin des Lehngutes, ihm im Wege, und er wollte mich los sein, um den durch die Heirat mit meiner Mutter erschlichenen Besitz dermaleinst seinem Sohne verschreiben zu können.

Nun durchschaute ich auch die abscheulichen Absichten Vincenz Ebendorffers, der immer zudringlicher, immer deutlicher in seinen Anspielungen wurde und die unverschämtesten Verführungskünste gegen mich aufbot. Er begehrte meiner, aber nicht zum Weibe; er wollte mich nur besitzen, und mein Stiefvater – unterstützte ihn in seinen sündhaften Plänen,« rief Trudi zornrot.

»Trudi!«

»Hört mich nur weiter! Eines Tages kam der Vincenz zu uns und hatte eine heimliche Unterredung mit Pankraz, deren Inhalt ich von meiner Mutter erfahren habe. Er hatte ihm den Vorschlag gemacht, mich ihm auf den Meierhof auszuliefern, wogegen er ihn von allem Frondienst befreien und ihm die Gilten und Beden soviel wie möglich erlassen wollte. Mein Stiefvater war auf den gewissenlosen Handel bereitwillig eingegangen, aber meine Mutter, die unsere trübseligen häuslichen Verhältnisse kaum noch ertragen konnte und, an Leib und Seele davon angegriffen, kränkelte, raffte all ihr bißchen Kraft noch auf, die Schmach und Schande von mir abzuwenden.

Die Folge ihres und meines unüberwindlichen Widerstandes gegen den ruchlosen Verrat Dornhubers war, daß der Unmensch uns beide nun noch niederträchtiger behandelte, ich kann wohl sagen mißhandelte. Das hielt meine arme Mutter nicht mehr lange aus; sie siechte trotz meiner sorgsamsten Pflege zusehends dahin, und in diesem Frühjahr starb sie, wie zu Tode gemartert.«