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Die Sammlung 'Die beliebtesten Gute-Nacht-Märchen (Illustriert)' vereint klassische Erzählkunst verschiedener Epochen und Kulturen in einem Band und bietet so einen einzigartigen Querschnitt durch die Welt der märchenhaften Literatur. Die Anthologie zeichnet sich durch eine sorgfältige Auswahl von Werken solch bedeutender Autoren wie Julius Wolff, Ludwig Bechstein, Hans Christian Andersen, den Brüdern Grimm, Elsbeth Montzheimer und Joseph Jacobs aus. Diese Sammlung illustrierter Märchen lässt sowohl die literarischen Feinheiten als auch die kulturellen Prägungen der jeweiligen Epochen, aus denen sie stammen, lebendig werden und betont dabei die universellen Themen und moralischen Lehren, die Märchen traditionell vermitteln. Die Autoren und Herausgeber, die zu dieser Sammlung beigetragen haben, sind tief verwurzelt in der literarischen Tradition der europäischen Märchen. Ihre Geschichten reflektieren kulturelle und historische Besonderheiten ihrer Heimatländer und bilden zusammen eine facettenreiche Draufsicht auf das Genre. Die illustrierten Geschichten fördern nicht nur ein tieferes Verständnis für die literarische Kunstform des Märchens, sondern auch für die Wechselwirkungen zwischen den überlieferten Geschichten verschiedener Kulturen. 'Die beliebtesten Gute-Nacht-Märchen (Illustriert)' ist eine essentielle Lektüre für jeden Liebhaber von Märchen und solche, die es werden wollen. Das Buch ist eine Schatzkiste, die zu einer Reise durch eine Welt voller Phantasie und tiefgründiger Weisheit einlädt. Es ist nicht nur eine Quelle der Unterhaltung, sondern auch ein wichtiges Bildungswerkzeug, das die Vielfältigkeit und Tiefe des Märchengenres aufzeigt und zur kulturellen Bildung beiträgt.
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Seitenzahl: 492
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Es war herrlich draußen auf dem Lande. Es war Sommer, das Korn stand gelb, der Hafer grün, das Heu war unten auf den grünen Wiesen in Schobern aufgesetzt, und der Storch ging auf seinen langen, rothen Beinen und plapperte ägyptisch, denn diese Sprache hatte er von seiner Frau Mutter gelernt. Rings um die Aecker und Wiesen waren große Wälder, und mitten in den Wäldern tiefe Seen. Ja, es war wirklich herrlich draußen auf dem Lande! Mitten im Sonnenscheine lag dort ein altes Landgut, von tiefen Canälen umgeben, und von der Mauer bis zum Wasser herunter wuchsen große Klettenblätter, die so hoch waren, daß kleine Kinder unter den höchsten aufrecht stehen konnten; es war eben so wild darin, wie im tiefsten Walde. Hier saß auf ihrem Neste eine Ente, welche ihre Jungen ausbrüten mußte; aber es wurde ihr fast zu langweilig, ehe die Jungen kamen; dazu erhielt sie selten Besuch; die andern Enten schwammen lieber in den Canälen umher, als daß sie hinauf liefen, sich unter ein Klettenblatt zu setzen, um mit ihr zu schnattern.
Endlich platzte ein Ei nach dem andern: »Piep! piep!« sagte es, und alle Eidotter waren lebendig geworden und steckten den Kopf heraus.
»Rapp! rapp!« sagte sie; und so rappelten sich Alle, was sie konnten, und sahen nach allen Seiten unter den grünen Blättern; und die Mutter ließ sie sehen, so viel sie wollten, denn das Grüne ist gut für die Augen. »Wie groß ist doch die Welt!« sagten alle Jungen; denn nun hatten sie freilich viel mehr Platz, als wie im Ei.
»Glaubt Ihr, daß dies die ganze Welt sei?« sagte die Mutter; »die erstreckt sich noch weit über die andere Seite des Gartens, gerade hinein in des Pfarrers Feld; aber da bin ich noch nie gewesen!« – »Ihr seid doch Alle beisammen?« fuhr sie fort und stand auf. »Nein, ich habe nicht alle; das größte Ei liegt noch da; wie lange soll denn das dauern! Jetzt bin ich es bald überdrüßig!« und so setzte sie sich wieder.
»Nun, wie geht es?« sagte eine alte Ente, welche gekommen war, um ihr einen Besuch abzustatten.
»Es währt recht lange mit dem einen Ei!« sagte die Ente, die da saß; »es will nicht platzen; doch sieh nur die andern an: sind es nicht die niedlichsten Entlein, die man je gesehen? Sie gleichen allesammt ihrem Vater; der Bösewicht kommt nicht, mich zu besuchen.«
»Laß mich das Ei sehen, welches nicht platzen will!« sagte die Alte. »Glaube mir, es ist ein Kalkutten-Ei! Ich bin auch einmal so angeführt worden und hatte meine große Sorge und Noth mit den Jungen, denn ihnen ist bange vor dem Wasser! Ich konnte sie nicht hineinbringen; ich rappte und schnappte, aber es half nichts. – Laß mich das Ei sehen! Ja, das ist ein Kalkutten-Ei! Laß das liegen und lehre lieber die andern Kinder schwimmen!«
»Ich will doch noch ein Bischen darauf sitzen,« sagte die Ente; »habe ich nun so lange gesessen, so kann ich auch noch einige Tage sitzen.«
»Nach Belieben,« sagte die alte Ente und ging von dannen.
Endlich platzte das große Ei. »Piep! piep!« sagte das Junge und kroch heraus. Es war sehr groß und häßlich! Die Ente betrachtete es: »Es ist doch ein gewaltig großes Entlein das,« sagte sie; »keins von den andern sieht so aus; sollte es wohl ein kalkuttisches Küchlein sein? Nun wir wollen bald dahinter kommen; in das Wasser muß es, sollte ich es auch selbst hineinstoßen.«
Am nächsten Tage war schönes, herrliches Wetter; die Sonne schien auf alle grünen Kletten. Die Entleinmutter ging mit ihrer ganzen Familie zu dem Canale hinunter. Platsch! da sprang sie in das Wasser. »Rapp! rapp!« sagte sie, und ein Entlein nach dem andern plumpte hinein; das Wasser schlug ihnen über dem Kopfe zusammen, aber sie kamen gleich wieder empor und schwammen ganz prächtig; die Beine gingen von selbst, und alle waren sie im Wasser; selbst das häßliche, graue Junge schwamm mit. »Nein, es ist kein Kalkutt,« sagte sie; »sieh, wie herrlich es die Beine gebraucht, wie gerade es sich hält; es ist mein eigenes Kind! Im Grunde ist es doch hübsch, wenn man es nur recht betrachtet. Rapp! rapp! – Kommt nur mit mir, ich werde Euch in die große Welt führen, Euch im Entenhofe präsentiren; aber haltet Euch immer nahe zu mir, damit Euch Niemand trete und nehmt Euch vor den Katzen in Acht!«
Und so kamen sie in den Entenhof hinein. Drinnen war ein schrecklicher Lärm, denn da waren zwei Familien, die sich um einen Aalkopf bissen, und am Ende bekam ihn doch die Katze.
»Seht, so geht es in der Welt zu!« sagte die Entleinmutter und wetzte ihren Schnabel, denn sie wollte auch den Aalkopf haben. »Braucht nun die Beine!« sagte sie; »seht, daß Ihr Euch rappeln könnt, und neigt Euern Hals vor der alten Ente dort; die ist die vornehmste von allen hier; sie ist aus spanischem Geblüt, deshalb ist sie so dick, und seht Ihr: sie hat einen rothen Lappen um das Bein; das ist etwas außerordentlich Schönes und die größte Auszeichnung, welche einer Ente zu Theil werden kann; das bedeutet so viel, daß man sie nicht verlieren will und daß sie von Thier und Menschen erkannt werden soll! – Rappelt Euch! – setzt die Füße nicht einwärts: ein wohlerzogenes Entlein setzt die Füße weit auswärts, gerade wie Vater und Mutter; seht: so! Nun neigt Euern Hals und sagt: Rapp!«
Und das thaten sie; aber die andern Enten rings umher betrachteten sie und sagten ganz laut: »Siehe da! Nun sollen wir noch den Anhang haben; als ob wir nicht schon so genug wären! Und pfui! wie das eine Entlein aussieht, das wollen wir nicht dulden!« – Und sogleich flog eine Ente hin und biß es in den Nacken.
»Laß es gehen!« sagte die Mutter; »es thut ja Niemandem etwas.«
»Ja, aber es ist zu groß und ungewöhnlich,« sagte die beißende Ente, »und deshalb muß es gepufft werden.«
»Es sind hübsche Kinder, welche die Mutter hat,« sagte die alte Ente mit dem Lappen um das Bein, »alle schön, bis auf das eine; das ist nicht geglückt; ich möchte, daß sie es umarbeitete.«
»Das geht nicht, Ihro Gnaden,« sagte die Entleinmutter; »es ist nicht hübsch, aber es hat ein innerlich gutes Gemüth und schwimmt so herrlich wie jedes andere, ja, ich darf sagen, noch etwas besser; ich denke, es wird hübsch heranwachsen und mit der Zeit etwas kleiner werden; es hat zu lange in dem Ei gelegen und deshalb nicht die rechte Gestalt bekommen!« Und so zupfte sie es im Nacken und glättete das Gefieder. »Es ist überdies ein Entrich,« sagte sie; »und darum macht es nicht so viel aus. Ich denke, er wird gute Kräfte bekommen; er schlägt sich schon durch.«
»Die andern Entlein sind niedlich,« sagte die Alte; »thut nun, als ob Ihr zu Hause wäret, und findet Ihr einen Aalkopf, so könnt Ihr mir ihn bringen.«
Und nun waren sie zu Hause.
Aber das arme Entlein, welches zuletzt aus dem Ei gekrochen war und so häßlich aussah, wurde gebissen, gestoßen und zum Besten gehabt, und das sowohl von den Enten, wie von den Hühnern. »Es ist zu groß!« sagten Alle, und der kalkuttische Hahn, welcher mit Sporen zur Welt gekommen war und deshalb glaubte, daß er Kaiser sei, blies sich auf wie ein Fahrzeug mit vollen Segeln und ging auf dasselbe los; dann kollerte er und wurde ganz roth am Kopfe. Das arme Entlein wußte nicht, wo es stehen oder gehen sollte; es war betrübt, weil es häßlich aussah und vom ganzen Entenhofe verspottet wurde.
So ging es den ersten Tag, und später wurde es schlimmer und schlimmer. Das arme Entlein wurde von Allen gejagt: selbst seine Schwestern waren böse gegen dasselbe und sagten immer: »Wenn die Katze Dich nur fangen möchte, Du häßliches Geschöpf!« Und die Mutter sagte: »Wenn Du nur weit fort wärst!« Die Enten bissen es, und die Hühner schlugen es, und das Mädchen, welches die Thiere füttern sollte, stieß mit den Füßen nach ihm.
Da lief es und flog über den Zaun; die kleinen Vögel in den Büschen flogen erschrocken auf. »Das geschieht, weil ich so häßlich bin,« dachte das Entlein und schloß die Augen, lief aber gleichwohl weiter; so kam es hinaus zu dem großen Moor, wo die wilden Enten wohnten. Hier lag es die ganze Nacht; es war müde und kummervoll.
Gegen Morgen flogen die wilden Enten auf und betrachteten den neuen Kameraden. »Was bist Du für Einer?« fragten sie; und das Entlein wendete sich nach allen Seiten und grüßte, so gut es konnte.
»Du bist außerordentlich häßlich!« sagten die wilden Enten; »aber das kann uns gleich sein, wenn Du nur nicht in unsere Familie hinein heirathest.« – Das Arme! Es dachte wahrlich nicht daran, sich zu verheirathen, wenn es nur die Erlaubniß erhalten konnte, im Schilfe zu liegen und etwas Moorwasser zu trinken.
So lag es zwei ganze Tage; da kamen zwei wilde Gänse oder richtiger wilde Gänseriche dorthin; es war noch nicht lange her, daß sie aus dem Ei gekrochen waren, und deshalb waren sie auch so keck.
»Höre, Kamerad!« sagten sie; »Du bist so häßlich, daß wir Dich gut leiden können; willst Du mitziehen und Zugvogel werden? Hier nahebei in einem andern Moor gibt es einige süße, liebliche, wilde Gänse, sämmtlich Fräulein, die alle »Rapp!« sagen können. Du bist im Stande Dein Glück dort zu machen, so häßlich Du auch bist!« –
»Piff! Paff!« ertönte es eben, und beide wilden Gänseriche fielen todt in das Schilf nieder, und das Wasser wurde blutroth. – »Piff! Paff!« erscholl es wieder, und ganze Schaaren wilder Gänse flogen aus dem Schilfe auf. Und dann knallte es abermals. Es war große Jagd; die Jäger lagen rings um das Moos herum; ja, einige saßen oben in den Baumzweigen, welche sich weit über das Schilfrohr hinstreckten. Der blaue Dampf zog gleich Wolken in die dunkeln Bäume hinein und weit über das Wasser hin; zum Moore kamen die Jagdhunde: Platsch, Platsch; das Schilf und das Rohr neigte sich nach allen Seiten. Das war ein Schreck für das arme Entlein! Es wendete den Kopf, um ihn unter den Flügel zu stecken, aber in demselben Augenblicke stand ein fürchterlich großer Hund dicht bei dem Entlein; die Junge hing ihm lang aus dem Halse heraus, und die Augen leuchteten greulich, häßlich; er streckte seine Schnauze den Entlein gerade entgegen, zeigte ihm die scharfen Zähne und – – Platsch, Platsch! ging er wieder, ohne es zu packen.
»O, Gott sei Dank!« seufzte das Entlein; »ich bin so häßlich, daß mich selbst der Hund nicht beißen mag!«
Und so lag es still, während die Schrote durch das Schilf sausten und Schuß auf Schuß knallte.
Erst spät am Tage wurde es ruhig: aber das arme Junge wagte noch nicht, sich zu erheben; es wartete noch mehrere Stunden, bevor es sich umsah, und dann eilte es fort aus dem Moore, so schnell es konnte. Es lief über Feld und Wiese: da tobte ein solcher Sturm, daß es ihm schwer wurde, von der Stelle zu kommen.
Gegen Abend erreichte es eine kleine, armselige Bauernhütte; die war so baufällig, daß sie selbst nicht wußte, nach welcher Seite sie fallen sollte; und darum blieb sie stehen. Der Sturm umsauste das Entlein so, daß es sich niedersetzen mußte, um sich dagegen zu stemmen, und es wurde schlimmer und schlimmer. Da bemerkte es, daß die Thüre aus dem einen Angel gegangen war, und so schief hing, daß es durch die Spalte in die Stube hineinschlüpfen konnte, und das that es.
Hier wohnte eine Frau mit ihrem Kater und ihrer Henne. Und der Kater, welchen sie Söhnchen nannte, konnte einen Buckel machen und schnurren; er sprühte sogar Funken, aber dann mußte man ihn gegen das Haar streicheln. Die Henne hatte ganz kleine, niedrige Beine, und deshalb wurde sie Küchelchen-Kurzbein genannt; sie legte gute Eier, und die Frau liebte sie wie ihr Kind.
Am Morgen bemerkte man sogleich das fremde Entlein; und der Kater begann zu schnurren und die Henne zu glucken.
»Was ist das?« sagte die Frau und sah sich ringsum; aber sie sah nicht gut, und so glaubte sie, daß das Entlein eine fette Ente sei, die sich verirrt habe. »Das ist ja ein seltener Fang!« sagte sie. »Nun kann ich Enteneier bekommen. Wenn es nur kein Entrich ist! Das müssen wir erproben.«
Und so wurde das Entlein für drei Wochen auf Probe angenommen; aber es kamen keine Eier. Und der Kater war Herr im Hause, und die Henne war die Dame, und immer sagte sie: »Wir und die Welt!« Denn sie glaubte, daß sie die Hälfte seien, und zwar die bei Weitem beste Hälfte. Das Entlein glaubte, daß man auch eine andere Meinung haben könne; aber das litt die Henne nicht.
»Kannst Du Eier legen?« fragte sie.
»Nein!«
»Nun, da wirst Du die Güte haben zu schweigen!«
Und der Kater sagte: »Kannst du einen krummen Buckel machen, schnurren und Funken sprühen?«
»Nein!«
»So darfst Du auch keine Meinung haben, wenn vernünftige Leute sprechen!«
Und das Entlein saß im Winkel und war bei schlechter Laune; da fiel die frische Luft und der Sonnenschein herein; es bekam solche sonderbare Lust, auf dem Wasser zu schwimmen, daß es nicht unterlassen konnte, dies der Henne zu sagen.
»Was fällt Dir ein?« fragte die. »Du hast nichts zu thun, deshalb fängst Du Grillen! Lege Eier oder schnurre, so gehen sie vorüber.«
»Aber es ist so schön, auf dem Wasser zu schwimmen!« sagte das Entlein; »so herrlich, es über dem Kopfe zusammenschlagen zu lassen und auf den Grund zu tauchen!«
»Ja, das ist ein großes Vergnügen!« sagte die Henne. »Du bist wohl verrückt geworden! Frage den Kater darnach – er ist das klügste Geschöpf, das ich kenne – ob er es liebt, auf dem Wasser zu schwimmen oder unterzutauchen? Ich will nicht von mir sprechen. – Frage selbst unsere Herrschaft, die alte Frau; klüger als sie ist Niemand auf der Welt! Glaubst Du, daß die Lust hat, zu schwimmen und das Wasser über dem, Kopfe zusammenschlagen zu lassen?«
»Ihr versteht mich nicht!« sagte das Entlein.
»Wir verstehen Dich nicht? Wer soll Dich denn verstehen können! Du wirst doch wohl nicht klüger sein wollen, als der Kater und die Frau; – von mir will ich nicht reden! Bilde Dir nichts ein, Kind! und danke Deinem Schöpfer für all' das Gute, was man Dir erwiesen! Bist Du nicht in eine warme Stube gekommen und hast Du nicht eine Gesellschaft, von der Du Etwas profitiren kannst? Aber Du bist ein Schwätzer und es ist nicht erfreulich, mit Dir umzugehen! Mir kannst Du glauben! Ich meine es gut mit Dir. Ich sage Dir Unannehmlichkeiten, und daran kann man seine wahren Freunde erkennen! Sieh nur zu, daß Du Eier legst oder schnurren und Funken sprühen lernst!«
»Ich glaube, ich gehe hinaus in die weite Welt!« sagte das Entlein
»Ja, thue das!« sagte die Henne.
Und das Entlein ging; es schwamm auf dem Wasser, es tauchte unter, aber von allen Thieren wurde es wegen seiner Häßlichkeit übersehen.
Nun trat der Herbst ein; die Blätter im Walde wurden gelb und braun; der Wind faßte sie, sodaß sie umher tanzten; und oben in der Luft war es sehr kalt; die Wolken hingen schwer von Hagel und Schneeflocken; und auf dem Zaune stand der Rabe und schrie: »Au! Au!« vor Kälte; ja, es fror Einen schon, wenn man nur daran dachte. Das arme Entlein hatte es wahrlich nicht gut! Eines Abends – die Sonne ging so schön unter! – kam ein Schwarm herrlicher, großer Vögel aus dem Busche; das Entlein hatte nie so schöne gesehen; sie waren blendend weiß, mit langen, geschmeidigen Hälsen: es waren Schwäne. Sie stießen einen eigenthümlichen Ton aus, breiteten ihre prächtigen, langen Flügel aus und flogen aus der kalten Gegend fort nach wärmeren Ländern, nach offenen Seen! Sie stiegen so hoch, so hoch, und dem häßlichen, jungen Entlein wurde gar sonderbar zu Muthe. Es drehte sich im Wasser, wie ein Rad, rund herum, streckte den Hals hoch in die Luft nach ihnen und stieß einen so lauten und sonderbaren Schrei aus, daß es sich selbst davor fürchtete. O, es konnte die schönen, glücklichen Vögel nicht vergessen; und sobald es sie nicht mehr erblickte, tauchte es unter bis auf den Grund; und als es wieder heraufkam, war es wie außer sich. Es wußte nicht, wie die Vögel hießen, auch nicht, wohin sie flögen; aber doch war es ihnen gut, wie es nie Jemandem gewesen. Es beneidete sie durchaus nicht. Wie konnte es ihm einfallen, sich solche Lieblichkeit zu wünschen? Es wäre schon froh gewesen, wenn die Enten es nur unter sich geduldet hätten – das arme, häßliche Thier!
Der Winter wurde kalt, sehr kalt! Das Entlein mußte im Wasser umherschwimmen, um das völlige Zufrieren desselben zu verhindern; aber in jeder Nacht wurde das Loch, in dem es schwamm, kleiner und kleiner. Es fror so, daß es in der Eisdecke knackte; das Entlein mußte fortwährend die Beine gebrauchen, damit das Loch sich nicht schloß. Zuletzt wurde es matt, lag ganz stille und fror so im Eise fest.
Des Morgens früh kam ein Bauer; da er dies sah, ging er hin, schlug mit seinem Holzschuh das Eis in Stücke und trug das Entlein heim zu seiner Frau. Da kam es wieder zu sich.
Die Kinder wollten mit ihm spielen; aber das Entlein glaubte, sie wollten ihm etwas zu Leide thun, und fuhr in der Angst gerade in den Milchnapf hinein, sodaß die Milch in die Stube spritzte. Die Frau schlug die Hände zusammen, worauf es in das Butterfaß, dann hinunter in die Mehltonne und wieder heraus flog. Wie sah es da aus! Die Frau schrie und schlug mit der Feuerzange danach; die Kinder rannten einander über den Haufen, um das Entlein zu fangen; sie lachten und schrieen! – Gut war es, daß die Thür aufstand und es zwischen die Reiser in den frischgefallenen Schnee schlüpfen konnte; – da lag es ganz ermattet.
Aber all' die Noth und das Elend, welche das Entlein in dem harten Winter erdulden mußte, zu erzählen, würde zu trübe sein. – – Es lag im Moore zwischen dem Schilfe, als die Sonne wieder warm zu scheinen begann. Die Lerchen sangen; es war herrlicher Frühling.
Da konnte auf einmal das Entlein seine Flügel schwingen; sie brausten stärker, als früher und trugen es kräftig davon; und ehe es dasselbe recht wußte, befand es sich in einem großen Garten, wo der Flieder duftete und seine langen, grünen Zweige bis zu den geschlängelten Canälen hinunter neigte. O, hier war es so schön, so frühlingsfrisch! Und vorn aus dem Dickichte kamen drei prächtige, weiße Schwäne; sie brausten mit den Federn und schwammen leicht auf dem Wasser. Das Entlein kannte die prächtigen Thiere und wurde von einer eigenthümlichen Traurigkeit befangen.
»Ich will zu ihnen hinfliegen, zu den königlichen Vögeln! Und sie werden mich todtschlagen, weil ich, der ich so häßlich bin, mich ihnen zu nähern wage. Aber das ist Einerlei! Besser, von ihnen getödtet, als von den Enten gezwackt, von den Hühnern geschlagen, von dem Mädchen, welches den Hühnerhof hütet, gestoßen zu werden und im Winter Mangel zu leiden!« Und es flog hinaus in das Wasser und schwamm den prächtigen Schwänen entgegen; diese erblickten es und schossen mit brausenden Federn auf dasselbe los. »Tödtet mich nur!« sagte das arme Thier, neigte seinen Kopf der Wasserfläche zu und erwartete den Tod. – Aber was erblickte es in dem klaren Wasser? Es sah sein eigenes Bild unter sich, das kein plumper, schwarzgrauer Vogel mehr, häßlich und garstig, sondern selbst ein Schwan war.
Es schadet nichts, in einem Entenhofe geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!
Es fühlte sich erfreut über all' die Noth und das Drangsal, welche es erduldet. Nun erkannte es erst recht sein Glück an der Herrlichkeit, die es begrüßte. – Und die großen Schwäne umschwammen es und streichelten es mit, den Schnäbeln.
In den Garten kamen einige kleine Kinder, die warfen Brot und Korn in das Wasser: und das kleinste rief: »Da ist ein neuer!« Und die andern Kinder jubelten mit: »Ja es ist ein neuer angekommen!« Und sie klatschten mit den Händen und tanzten umher, liefen zu dem Vater und der Mutter, und es wurde Brot und Kuchen in das Wasser geworfen, und sie sagten Alle: »Der neue ist der schönste! So jung und prächtig!« Und die alten Schwäne neigten sich vor ihm.
Da fühlte er sich ganz beschämt und steckte den Kopf unter seine Flügel; er wußte selbst nicht, was er beginnen sollte; er war allzuglücklich, aber durchaus nicht stolz! Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden war, und hörte nun Alle sagen, daß er der schönste aller schönen Vögel sei. Selbst der Flieder bog sich mit den Zweigen zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien warm und mild! Da brausten seine Federn; der schlanke Hals hob sich, und aus vollem Herzen jubelte er: »So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das häßliche Entlein war!«
Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten alle Brüder, denn sie waren von einem alten zinnernen Löffel geboren. Das Gewehr hielten sie im Arme und das Gesicht gerade aus; roth und blau war ihre Uniform. Das Erste, was sie in dieser Welt hörten, als der Deckel von der Schachtel genommen wurde, in der sie lagen, war das Wort: »Zinnsoldaten!« Das rief ein kleiner Knabe und klatschte in die Hände; er hatte sie bekommen, denn es war sein Geburtstag, und stellte sie nun auf dem Tische auf. Der eine Soldat glich dem andern leibhaftig, nur ein einziger war zuletzt gegossen und da hatte das Zinn nicht ausgereicht; doch stand er eben so fest auf seinem einen Beine, als die andern auf ihren zweien, und grade er ist es, der merkwürdig wurde.
Auf dem Tische, auf welchem sie aufgestellt wurden, stand viel anderes Spielzeug; aber das, was am meisten in die Augen fiel, war ein niedliches Schloß von Papier. Durch die kleinen Fenster konnte man in die Säle hineinsehen. Vor dem Schlosse standen kleine Bäume rings um einen kleinen Spiegel, der wie ein klarer See aussah. Schwäne von Wachs schwammen darauf und spiegelten sich. Das war Alles niedlich, aber das Niedlichste war doch eine kleine Dame, die mitten in der offenen Schloßthüre stand; sie war auch aus Papier geschnitten, aber sie hatte einen Rock vom klarsten Linnen an und ein kleines, schmales, blaues Band über die Schultern, ähnlich einem Gewande; mitten in diesem saß eine glänzende Flitterrose, so groß wie ihr ganzes Gesicht. Die kleine Dame streckte ihre beiden Arme aus, denn sie war Tänzerin; und dann hob sie das eine Bein so hoch empor, daß der Zinnsoldat es durchaus nicht finden konnte und glaubte, daß sie, wie er, nur ein Bein habe.
»Das wäre eine Frau für mich!« dachte er; »aber sie ist sehr vornehm; sie wohnt in einem Schlosse; ich habe nur eine Schachtel, und da sind wir fünfundzwanzig drin; das ist kein Ort für sie! Doch ich muß mit ihr Bekanntschaft machen!« dann legte er sich, so lang er war, hinter eine Schnupftabaksdose, welche auf dem Tische stand; da konnte er die kleine, feine Dame recht betrachten, die fortfuhr, auf einem Beine zu stehen, ohne aus dem Gleichgewichte zu kommen.
Als es Abend wurde, kamen alle die andern Zinnsoldaten in ihre Schachtel, und die Leute im Hause gingen zu Bette. Nun fing das Spielzeug an zu spielen, sowohl »Es kommt Besuch«, als auch »Krieg führen und Ball geben«. Die Zinnsoldaten rasselten in der Schachtel, denn sie wollten mit dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht abheben. Der Nußknacker machte Purzelbäume, und der Griffel belustigte sich auf der Tafel; es war ein Lärm, daß der Kanarienvogel davon erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen. Die beiden Einzigen, die sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die Tänzerin; sie hielt sich gerade auf einer Fußzehenspitze und hatte beide Arme ausgestreckt; er war eben so standhaft auf seinem einen Beine; seine Augen wandte er keinen Augenblick von ihr.
Jetzt schlug die Uhr Zwölf und klatsch! da sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose; aber es war kein Tabak drin, sondern ein kleiner schwarzer Kobold; das war ein Kunststück.
»Zinnsoldat!« sagte der Kobold; »sieh doch nicht nach Dem, was Dich Nichts angeht!«
Aber der Zinnsoldat that, als ob er es nicht hörte. »Ja, warte nur bis morgen!« sagte der Kobold.
Als es nun Morgen wurde und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das Fenster gestellt und, war es nun der Kobold oder der Zugwind, auf einmal flog das Fenster auf und der Soldat fiel Hals über Kopf aus dem dritten Stockwerke hinunter. Das war eine schreckliche Fahrt! Er streckte das Bein gerade in die Höhe und blieb auf dem Tschako mit dem Bayonnet zwischen den Pflastersteinen stecken.
Das Dienstmädchen und der kleine Knabe kamen sogleich herunter, ihn zu suchen; obgleich sie nun nahe daran waren, auf ihn zu treten, sahen sie ihn doch nicht. Hätte der Zinnsoldat gerufen: Hier bin ich! so hätten sie ihn wohl gefunden; aber er fand es nicht für passend, laut zu schreien, weil er in Uniform war.
Nun fing es an zu regnen; bald fielen die Tropfen dichter; endlich wurde es ein Platzregen. Als er vorüber war, kamen zwei Straßenbuben.
»Sieh einmal!« sagte der eine, »da liegt ein Zinnsoldat! Der muß hinaus und auf dem Kahne fahren!«
Da machten sie einen Kahn von einer Zeitung, setzten den Soldaten mitten in denselben, und nun segelte er den Rinnstein hinunter; beide Knaben liefen nebenher und klatschten in die Hände. Gott bewahre uns! was für Wellen schlugen in dem Rinnsteine, und welch' ein Strom war da; ja der Regen hatte aber auch gefluthet! Das Papierboot schaukelte auf und nieder, und mitunter drehte es sich so geschwind, daß der Zinnsoldat bebte; aber er blieb standhaft, verzog keine Miene, sah gerade aus und hielt das Gewehr im Arme. Mit einem Male trieb der Kahn unter eine lange Rinnsteinbrücke, da wurde es so dunkel, als wäre er in seiner Schachtel.
»Wohin mag ich nun kommen?« dachte er. »Ja, ja, daran ist der Kobold schuld! Ach säße doch die kleine Dame hier im Kahne, da möchte es hier meinetwegen noch einmal so dunkel sein!«
Da kam plötzlich eine große Wasserratte, welche unter der Rinnsteinbrücke wohnte.
»Hast Du einen Paß?« fragte die Ratte. »Her mit dem Passe!«
Aber der Zinnsoldat schwieg und hielt das Gewehr noch fester.
Der Kahn fuhr fort und die Ratte hinterher. Hu! wie fletschte sie die Zähne, und rief den Holzspänen und dem Stroh zu:
»Haltet ihn! Haltet ihn! Er hat keinen Zoll bezahlt! Er hat den Paß nicht gezeigt!« Aber die Strömung wurde stärker und stärker; der Zinnsoldat konnte schon da, wo die Brücke aufhörte, den hellen Tag erblicken; allein er hörte auch einen brausenden Ton, der wohl einen tapfern Mann erschrecken konnte. Man denke nur: die Gosse mündete da, wo die Brücke endete, in einen großen Canal ein: das wäre für ihn eben so gefährlich gewesen, als für uns, einen großen Wasserfall hinunterzufahren.
Nun war er schon so nahe daran, daß er nicht mehr anhalten konnte. Der Kahn fuhr hinaus, der arme Zinnsoldat hielt sich so steif, wie er konnte; Niemand sollte ihm nachsagen, daß er mit den Augen blinke. Der Kahn schnurrte drei, vier Mal herum, und war bis zum Rande mit Wasser gefüllt: er mußte sinken! Der Zinnsoldat stand bis an den Hals im Wasser, und tiefer und tiefer sank der Kahn, mehr und mehr löste das Papier sich auf; nun ging das Wasser über des Soldaten Kopf. – Da dachte er an die kleine, niedliche Tänzerin, die er nie mehr zu Gesicht bekommen sollte; und es klang vor seinen Ohren:
»Fahre hin, o Kriegesmann! Den Tod mußt Du erleiden!«
Nun ging das Papier entzwei, und der Zinnsoldat stürzte hinab – wurde aber augenblicklich von einem großen Fische verschlungen.
O, wie dunkel war es im Fischleibe! Da war es noch finsterer, als unter der Rinnsteinbrücke; und dann war es da sehr enge. Aber der Zinnsoldat blieb standhaft und lag, so lang er war, mit dem Gewehr im Arme. –
Der Fisch schwamm hin und her; er machte die schrecklichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz still; es durchfuhr ihn wie ein Blitzstrahl; das Licht schien klar, und eine Stimme rief laut: »Der Zinnsoldat!«
Der Fisch war gefangen, auf den Markt gebracht, verkauft und in die Küche hinaufgekommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufschnitt. Sie faßte mit ihren beiden Fingern den Soldaten mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo alle einen solchen merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches herumgereist war; aber der Zinnsoldat war nicht stolz. Sie stellten ihn auf den Tisch, und da – nein, wie sonderbar kann es doch in der Welt zugehen! Der Zinnsoldat war in derselben Stube, in der er früher gewesen war; er sah dieselben Kinder und dasselbe Spielzeug stand auf dem Tische: das herrliche Schloß mit der niedlichen, kleinen Tänzerin. Sie hielt sich noch auf dem einen Beine und hatte das andere hoch in der Luft: sie war auch standhaft. Das rührte den Zinnsoldaten; er war nahe daran, Zinn zu weinen, aber es paßte sich nicht. Er sah sie an, aber sie sagte nichts.
Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn in den Ofen und gab keinen Grund dafür an; es war sicher der Kobold in der Dose, der Schuld daran war.
Der Zinnsoldat stand beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die schrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, wußte er nicht. Die Farben waren von ihm abgegangen; ob das auf der Reise geschehen, oder ob der Kummer daran Schuld war, konnte Niemand sagen. Er sah die kleine Dame an, sie blickte ihn an, und er fühlte, daß er schmolz; aber noch stand er standhaft mit dem Gewehr im Arme. Da ging plötzlich eine Thür auf, der Wind ergriff die Tänzerin, und sie flog, einer Sylphide gleich, in den Ofen zum Zinnsoldaten, loderte in Flammen auf und fort war sie. Da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Herz. Von der Tänzerin hingegen war nur die Flitterrose da, welche kohlschwarz gebrannt war.
Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heirathen; aber es sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt umher, um eine solche zu finden, aber überall stand dem etwas entgegen. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nicht herausbringen. Immer gab es etwas, was nicht in der Ordnung war. Da kam er denn wieder nach Hause und war traurig, denn er wollte doch gar zu gern eine wirkliche Prinzessin haben.
Eines Abends zog ein schreckliches Gewitter auf; es blitzte und donnerte, der Regen strömte herunter, es war entsetzlich! Da klopfte es an das Stadtthor, und der alte König ging hin, um aufzumachen.
Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Thore stand. Aber, o Gott! wie sah die von dem Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von dem Haare und den Kleidern herunter; es lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und an den Hacken wieder heraus. Und doch sagte sie, daß sie eine wirkliche Prinzessin sei.
»Ja, das werden wir schon erfahren!« dachte die alte Königin. Aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alle Betten ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle, darauf nahm sie zwanzig Matratzen und legte sie auf die Erbse, und dann noch zwanzig Eiderdunenbetten auf die Matratzen.
Darauf mußte nun die Prinzessin die ganze Nacht liegen. Am Morgen würde sie gefragt, wie sie geschlafen habe.
»O, schrecklich schlecht!« sagte die Prinzessin. »Ich habe meine Augen fast die ganze Nacht nicht geschlossen! Gott weiß, was da im Bette gewesen ist! Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so daß ich ganz braun und blau über meinen ganzen Körper bin! Es ist entsetzlich!«
Nun sahen sie ein, daß sie eine wirkliche Prinzessin war, weil sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdunenbetten hindurch die Erbse verspürt hatte. So empfindlich konnte Niemand sein, als eine wirkliche Prinzessin.
Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wußte er, daß er eine wirkliche Prinzessin besitze; und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn Niemand sie gestohlen hat.
Sieh, das ist eine wahre Geschichte.
Welche von dem Spiegel und den Scherben handelt.
Seht! nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr, als jetzt, denn es war ein böser Kobold! Er war einer der allerärgsten, er war der Teufel! Eines Tags war er recht bei Laune, denn er hatte einen Spiegel gemacht, welcher die Eigenschaft besaß, daß alles Gute und Schöne, was sich darin spiegelte, fast zu Nichts zusammenschwand, aber Das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, hervortrat und noch ärger wurde. Die herrlichsten Landschaften sahen wie gekochter Spinat darin aus, und die besten Menschen wurden widerlich oder standen auf dem Kopfe ohne Rumpf; die Gesichter wurden so verdreht, daß sie nicht zu erkennen waren, und hatte man eine Sommersprosse, so konnte man überzeugt sein, daß sie sich über Nase und Mund ausbreitete. Das sei äußerst belustigend, sagte der Teufel. Fuhr nun ein guter frommer Gedanke durch einen Menschen, dann zeigte sich ein Grinsen im Spiegel, sodaß der Teufel über seine künstliche Erfindung lachen mußte. Die, welche die Koboldschule besuchten, – denn er hielt Koboldschule – erzählten überall, daß ein Wunder geschehen sei; nun könnte man erst sehen, meinten sie, wie die Welt und die Menschen wirklich aussähen. Sie liefen mit dem Spiegel umher, und zuletzt gab es kein Land und keinen Menschen mehr, welcher nicht verdreht darin gesehen wäre. Nun wollten sie auch zum Himmel selbst auffliegen, um sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, um so mehr grinste er; sie konnten ihn kaum festhalten; sie flogen höher und höher, Gott und den Engeln näher; da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, daß er ihren Händen entfiel und zur Erde fiel, wo er in hundert Millionen, Billionen und noch mehr Stücke zersprang. Und nun gerade verursachte er weit größeres Unglück, als zuvor, denn einige Stücke waren kaum so groß als ein Sandkorn; diese flogen nun in die weite Welt, und wo Jemand sie in das Auge bekam, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen Alles verkehrt, oder hatten nur Augen für das Verkehrte bei einer Sache; denn jede kleine Spiegelscherbe behielt dieselben Kräfte, welche der ganze Spiegel besessen hatte. Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe in das Herz, dann aber war es ganz entsetzlich; das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich. Einige Spiegelscherben waren so groß, daß sie zu Fensterscheiben verbraucht wurden; aber durch diese Scheiben taugte es nicht, seine Freunde zu betrachten; andere Stücke kamen in Brillen, und dann ging es schlecht, wenn die Leute diese Brillen aufsetzten, um recht zu sehen und gerecht zu sein; der Böse lachte, daß ihm der Bauch wackelte und das kitzelte ihn so angenehm. Aber draußen flogen noch kleine Glasscherben in der Luft umher. Nun, wir werden's hören!
Ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen.
Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, daß dort nicht Platz genug ist, damit alle Leute einen kleinen Garten besitzen können, und wo sich deshalb die Meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen müssen, waren zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten, als einen Blumentopf, besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich eben so gut, als wenn sie es wären. Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern. Da, wo das Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß, und die Wasserrinne zwischen den Dächern entlang lief, war in jedem Hause ein kleines Fenster; man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen Fenster zu dem andern gelangen.
Beider Eltern hatten draußen einen großen hölzernen Kasten, und darin wuchsen Küchenkräuter, die sie gebrauchten, und ein kleiner Rosenstock; in jedem Kasten stand einer; die wuchsen herrlich! Nun fiel es den Eltern ein, die Kasten quer über die Rinne zu stellen, sodaß sie fast von dem einen Fenster zum andern reichten und zwei Blumenwällen ganz ähnlich sahen. Erbsenranken hingen über die Kasten herab, und die Rosenstücke schössen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und einander entgegen bogen; es war fast einer Ehrenpforte von Blättern und Blumen gleich. Da die Kasten sehr hoch waren und die Kinder wußten, daß sie nicht hinauf kriechen durften, so erhielten sie oft die Erlaubniß, zu einander hinaus zu steigen und auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen zu sitzen; da spielten sie dann prächtig.
Im Winter hatte dieses Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz zugefroren; aber dann wärmten sie Kupferschillinge auf dem Ofen und legten den warmen Schilling gegen die gefrorene Scheibe; dadurch entstand ein schönes Guckloch, so rund, so rund; dahinter blitzte ein lieblich mildes Auge, eins vor jedem Fenster; das war der kleine Knabe und das kleine Mädchen. Er hieß Kay und sie hieß Gerda. Im Sommer konnten sie mit einem Sprunge zu einander gelangen, im Winter mußten sie erst die vielen Treppen herunter und die Treppen hinauf; draußen stob der Schnee.
»Das sind die weißen Bienen, die schwärmen,« sagte die alte Großmutter.
»Haben sie auch eine Bienenkönigin?« fragte der kleine Knabe, denn er wußte, daß unter den wirklichen Bienen eine solche ist.
»Die haben sie!« sagte die Großmutter. »Sie fliegt dort, wo sie am dichtesten schwärmen! Es ist die größte von allen, und nie bleibt sie still auf der Erde; sie fliegt wieder in die schwarze Wolke hinauf. Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann frieren diese so sonderbar und sehen wie Blumen aus.«
»Ja, das haben wir gesehen!« sagten beide Kinder und wußten nun, daß es wahr sei.
»Kann die Schneekönigin hier hereinkommen?« fragte das kleine Mädchen.
»Laß sie nur kommen!« sagte der Knabe; »dann setze ich sie auf den warmen Ofen und sie schmilzt.«
Aber die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere Geschichten.
Am Abend als der kleine Kay zu Hause und halb entkleidet war, kletterte er auf den Stuhl am Fenster und guckte durch das kleine Loch; einige Schneeflocken fielen draußen, und eine derselben, die größte, blieb auf dem Rande des einen Blumenkastens liegen; die Schneeflocke wuchs mehr und mehr und wurde zuletzt wie eine ganze Jungfrau, in den feinsten weißen Flor gekleidet, der aus Millionen sternartigen Flocken zusammengesetzt war. Sie war so schön und fein, aber von Eis, von blendendem, blinkendem Eise. Doch sie war lebendig; die Augen blitzten, wie zwei klare Sterne; aber es war keine Ruhe oder Rast in ihnen. Sie nickte dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle herunter; da war es, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbeiflöge.
Am nächsten Tage wurde es klarer Frost – und dann kam das Frühjahr; die Sonne schien, das Grün keimte hervor, die Schwalben bauten Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die kleinen Kinder saßen wieder in ihrem kleinen Garten hoch oben in der Dachrinne über allen Stockwerken.
Wie prachtvoll blühten die Rosen diesen Sommer! Das kleine Mädchen hatte einen Psalm gelernt, in welchem auch von Rosen die Rede war; und bei den Rosen dachte sie an ihre eigenen; und sie sang ihn dem kleinen Knaben vor, und er sang mit:
»Die Rosen, sie verblüh'n und verwehen, Wir werden das Christ-Kindlein sehen!«
Und die Kleinen hielten einander bei den Händen, küßten die Rosen, blickten in Gottes hellen Sonnenschein hinein und sprachen zu demselben, als ob das Jesuskind da wäre. Was waren das für herrliche Sommertage; wie schön war es draußen bei den frischen Rosenstöcken, welche zu blühen nie aufhören zu wollen schienen! Kay und Gerda sahen in das Bilderbuch mit Thieren und Vögeln, da war es – die Uhr schlug gerade Fünf auf dem großen Kirchthurme, – als Kay sagte: »Au! es stach mich in das Herz, und mir flog etwas in das Auge!«
Das kleine Mädchen fiel ihm um den Hals; er blinzelte mit den Augen; nein, es war nichts zu sehen.
»Ich glaube, es ist weg!« sagte er; aber weg war es doch nicht. Es war gerade so eins von jenen Glaskörnern, welche vom Spiegel gesprungen waren, dem Zauberspiegel, – wir entsinnen uns seiner wohl – dem häßlichen Glase, welches alles Große und Gute, das sich darin abspiegelte, klein und häßlich machte; aber das Böse und Schlechte trat recht hervor und jeder Fehler an einer Sache war gleich zu bemerken. Der arme Kay hatte auch ein Körnchen gerade in das Herz hinein bekommen. Das wird nun bald wie ein Eisklumpen werden. Nun that es nicht mehr weh, aber das Körnchen war da.
»Weshalb weinst Du?« fragte er. »So siehst Du häßlich aus!« »Mir fehlt ja nichts!« »Pfui!« rief er auf einmal, »die Rose dort hat einen Wurmstich! Und sieh, diese da ist ganz schief! Im Grunde sind es häßliche Rosen! Sie gleichen dem Kasten, in welchem sie stehen!« Und dann stieß er mit dem Fuße gegen den Kasten und riß die beiden Rosen ab.
» Kay, was machst Du?« rief das kleine Mädchen; und als er ihren Schrecken gewahrte, riß er noch eine Rose ab und sprang dann in sein Fenster hinein von der kleinen, lieblichen Gerda fort.
Wenn sie später mit dem Bilderbuche kam, sagte er, daß das für Wickelkinder wäre; und erzählte die Großmutter Geschichten, so kam er immer mit einem aber: – konnte er dazu gelangen, dann ging er hinter ihr her, setzte eine Brille auf und sprach ebenso, wie sie; das machte er ganz treffend, und die Leute lachten über ihn. Bald konnte er die Sprache und den Gang aller Menschen in der ganzen Straße nachahmen. Alles, was an ihnen eigenthümlich und unschön war, das wußte Kay nachzuahmen; und die Leute sagten: »Das ist sicher ein ausgezeichneter Kopf, den der Knabe hat!« Aber es war das Glas, welches ihm in dem Herzen saß; daher kam es auch, daß er selbst die kleine Gerda neckte, die ihm von ganzem Herzen gut war.
Seine Spiele wurden nun anders, als früher; sie wurden ganz verständig. – An einem Wintertage, wo es schneite, kam er mit einem großen Brennglase, hielt seinen blauen Rockzipfel heraus und ließ die Schneeflocken darauf fallen.
»Sieh nun in das Glas, Gerda!« sagte er; und jede Schneeflocke wurde viel größer und sah aus wie eine prächtige Blume oder ein zehneckiger Stern; es war schön anzusehen. »Siehst Du, wie künstlich!« sagte Kay. »Das ist weit interessanter, als die wirklichen Blumen! Und es ist kein einziger Fehler daran; sie sind ganz regelmäßig. Wenn sie nur nicht schmelzen!«
Bald darauf kam Kay mit großen Handschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken; er rief Gerda in die Ohren: »Ich habe Erlaubniß erhalten, auf dem großen Platze zu fahren, wo die anderen Knaben spielen!« und weg war er.
Dort auf dem Platze banden die kecksten Knaben oft ihre Schlitten an den Wagen der Landleute fest, und dann fuhren sie ein gutes Stück Wegs mit. Das ging recht schön. Als sie im besten Spielen waren, kam ein großer Schlitten; der war ganz weiß angestrichen, und darin saß Jemand, in einen rauhen, weißen Pelz gehüllt und mit einer rauhen, weißen Mütze auf dem Kopfe; der Schlitten fuhr zwei Mal um den Platz herum, und Kay band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest, und nun fuhr er mit. Es ging rascher und rascher, gerade hinein in die nächste Straße. Der, welcher fuhr, drehte sich um, nickte dem Kay freundlich zu; es war, als ob sie einander kannten; jedesmal, wenn Kay seinen kleinen Schlitten abbinden wollte, nickte der Fahrende wieder, und dann blieb Kay sitzen; sie fuhren zum Stadtthore hinaus. Da begann der Schnee so dicht niederzufallen, daß der kleine Knabe keine Hand vor sich erblicken konnte; aber er fuhr weiter; nun ließ er schnell die Schnur fahren, um von dem großen Schlitten loszukommen, doch das half nichts, sein kleines Fuhrwerk hing fest, und es ging mit Windeseile vorwärts. Da rief er ganz laut, aber Niemand hörte ihn, und der Schnee stob, und der Schlitten flog von dannen; mitunter gab es einen Sprung; es war, als führe er über Gräben und Hecken. Der Knabe war ganz erschrocken; er wollte sein Vater unser beten, aber er konnte sich nur des großen Ein-Mal-Eins entsinnen.
Die Schneeflocken wurden größer und größer; zuletzt sahen sie aus wie große, weiße Hühner; auf einmal sprangen sie zur Seite, der große Schlitten hielt, und die Person, die ihn fuhr, erhob sich; der Pelz und die Mütze waren ganz und gar von Schnee; es war eine Dame, hoch und schlank, glänzend weiß; es war die Schneekönigin. »Wir sind gut gefahren!« sagte sie; »aber wer wird wohl frieren! Krieche in meinen Pelz!« Und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten und schlug den Pelz um ihn; es war als versänke er in einem Schneetreiben.
»Friert Dich noch?« fragte sie und küßte ihn auf die Stirn. O! das war kälter, als Eis; das ging ihm gerade hinein bis ins Herz, welches ja schon zur Hälfte ein Eisklumpen war; es war als sollte er sterben; aber nur einen Augenblick, dann that es ihm recht wohl; er spürte nichts mehr von der Kälte rings umher.
»Meinen Schlitten! Vergiß nicht meinen Schlitten!« Daran dachte er zuerst, und der wurde an einem der weißen Hühnchen festgebunden, und dieses flog hinterher mit dem Schlitten auf dem Rücken. Die Schneekönigin küßte Kay nochmals, und da hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und Alle daheim vergessen.
»Nun bekommst Du keine Küsse mehr!« sagte sie; »denn sonst küßte ich Dich todt!«
Kay sah sie an; sie war so schön! ein klügeres, lieblicheres Antlitz konnte er sich nicht denken; nun erschien sie ihm nicht von Eis, wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte; in seinen Augen war sie vollkommen; er fühlte gar keine Furcht. Er erzählte ihr, daß er kopfrechnen könne, und zwar mit Brüchen; er wisse des Landes Quadratmeilen und die Einwohnerzahl; und sie lächelte immer. Da kam es ihm vor, als wäre es doch nicht genug, was er wisse; und er blickte hinauf in den großen Luftraum; und sie flog mit ihm hoch hinauf auf die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste; es war, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meer und Länder; unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee knisterte; über ihnen flogen die schwarzen, schreienden Krähen; aber hoch oben schien der Mond groß und klar, und dort betrachtete Kay die lange, lange Winternacht; am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.
Der Blumengarten bei der Frau, welche zaubern konnte.
Aber wie erging es der kleinen Gerda, als Kay nicht zurückkehrte? Wo war er geblieben? – Niemand wußte es, Niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, daß sie ihn seinen Schlitten an einen andern großen hätten binden sehen, der in die Straße hinein und aus dem Stadtthore gefahren wäre. Niemand wußte, wo er geblieben; viele Thränen flossen, und besonders die kleine Gerda weinte sehr viel und lange; – dann sagte sie, er sei todt; er wäre im Fluß ertrunken, der nahe bei der Schule vorbei floß; o, das waren recht lange, finstere Wintertage!
Nun kam der Frühling mit wärmerem Sonnenschein.
» Kay ist todt und fort!« sagte die kleine Gerda.
»Das glaube ich nicht!« antwortete der Sonnenschein.
»Er ist todt und fort!« sagte sie zu den Schwalben.
»Das glauben wir nicht!« erwiderten diese, und am Ende glaubte die kleine Gerda auch nicht.
»Ich will meine neuen, rothen Schuhe anziehen,« sagte sie eines Morgens, »die, welche Kay nie gesehen hat, und dann will ich zum Flusse hinunter gehen und den nach ihm fragen!«
Und es war noch sehr früh; sie küßte die alte Großmutter, die noch schlief, zog die rothen Schuhe an und ging ganz allein aus dem Stadtthore nach dem Flusse.
»Ist es wahr, daß Du mir meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will Dir meine rothen Schuhe schenken, wenn Du ihn mir wiedergeben willst!«
Und es war ihr, als nickten die Wellen ganz sonderbar; da nahm sie ihre rothen Schuhe, die sie am liebsten hatte, und warf sie beide in den Fluß hinein; aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land; es war gerade als wollte der Fluß das Liebste, was sie hatte, nicht, weil er den kleinen Kay nicht hatte; aber sie glaubte nun, daß sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe; und so kroch sie in ein Boot, welches im Schilfe lag; sie ging bis an das äußerste Ende desselben und warf die Schuhe von da in das Wasser; aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, welche sie verursachte, glitt es vom Lande ab; sie bemerkte es und beeilte sich, herauszukommen; doch ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Elle vom Lande, und nun trieb es schneller von dannen.
Da erschrak die kleine Gerda sehr und sing an zu weinen; allein Niemand außer den Sperlingen hörte sie, und die konnten sie nicht an das Land tragen; aber sie flogen längs des Ufers und sangen, gleichsam um sie zu trösten: »Hier sind wir, hier sind wir!« Das Boot trieb mit dem Strome; die kleine Gerda saß ganz still, nur mit Strümpfen an den Füßen; ihre kleinen rothen Schuhe trieben hinter ihr her; aber sie konnten das Boot nicht erreichen; das hatte schnellere Fahrt.
Hübsch war es an beiden Ufern; schöne Blumen, alte Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen; aber nicht ein Mensch war zu erblicken.
»Vielleicht trägt mich der Fluß zu dem kleinen Kay hin,« dachte Gerda, und da wurde sie heiterer, erhob sich und betrachtete viele Stunden die grünen, schönen Ufer; dann gelangte sie zu einem großen Kirschgarten, in welchem ein kleines Haus mit sonderbaren, rothen und blauen Fenstern war übrigens hatte es ein Strohdach, und draußen waren zwei hölzerne Soldaten, die vor der Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.
Gerda rief nach ihnen; sie glaubte, daß sie lebendig wären; aber sie antworteten natürlich nicht; sie kam ihnen ganz nahe; der Fluß trieb das Boot gerade auf das Land zu.
Gerda rief noch lauter, und da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückstock stützte; sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.
»Du armes, kleines Kind!« sagte die alte Frau; »wie bist Du doch auf den großen, reißenden Strom gekommen, und weit in die Welt hinausgetrieben!« Und dann ging die alte Frau in das Wasser hinein, erfaßte mit ihrem Krückstucke das Boot, zog es an das Land und hob die kleine Gerda heraus.
Und Gerda war froh, wieder auf das Trockene zu gelangen, obgleich sie sich vor der fremden alten Frau ein wenig fürchtete.
»Komm doch und erzähle mir, wer Du bist, und wie Du hierher kommst!« sagte sie.
Und Gerda erzählte ihr Alles; und die Alte schüttelte mit dem Kopfe und sagte: »Hm! Hm!« Und als ihr Gerda Alles gesagt und sie gefragt hatte, ob sie nicht den kleinen Kay gesehen, habe, sagte die Frau, daß er nicht vorbeigekommen sei; aber er komme wohl noch; sie solle nur nicht betrübt sein, sondern ihre Kirschen kosten und ihre Blumen betrachten; die wären schöner, als irgend ein Bilderbuch; eine jede könne eine Geschichte erzählen. Dann nahm sie Gerda bei der Hand, führte sie in das kleine Haus hinein und schloß die Thüre zu.
Die Fenster lagen sehr hoch, und die Scheiben waren roth, blau und gelb; das Tageslicht schien mit allen Farben gar sonderbar herein; auf dem Tische standen die schönsten Kirschen, und Gerda aß davon, so viel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Wahrend sie aß, kämmte die alte Frau ihr das Haar mit einem goldenen Kamme, und das Haar ringelte sich und glänzte herrlich gelb rings um das kleine, freundliche Antlitz, welches so rund war und wie eine Rose aussah.
»Nach einem so lieben, kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt,« sagte die Alte. »Nun wirst Du sehen, wie gut wir mit einander leben werden!« Und so wie sie der kleinen Gerda Haar kämmte, vergaß Gerda mehr und mehr ihren Pflegebruder Kay; denn die alte Frau konnte zaubern; aber eine böse Zauberin war sie nicht; sie zauberte nur ein Wenig zu ihrem Vergnügen und wollte gern die kleine Gerda behalten. Deshalb ging sie in den Garten, streckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträuche aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie doch alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, wenn Gerda die Rosen erblickte, möchte sie an ihre eigenen denken, sich dann des kleinen Kay erinnern und davonlaufen.
Nun führte sie Gerda hinaus in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen, und zwar für jede Jahreszeit, standen hier im prächtigsten Flor; kein Bilderbuch, konnte bunter und schöner sein. Gerda sprang vor Freuden Hochauf und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirschbäumen unterging; da bekam sie ein schönes Bett mit rothen Seidenkissen, die waren mit Veilchen gestopft; und sie schlief und träumte da so herrlich, wie nur eine Königin an ihrem Hochzeitstage.
Am nächsten Tage konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenscheine spielen, und so verflossen viele Tage. Gerda kannte jede Blume; aber wie viele deren auch waren, so war es ihr doch, als ob eine fehlte, allein welche, das wußte sie nicht. Da sitzt sie eines Tages und betrachtet den Sonnenhut der alten Frau mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hute wegzuwischen, als sie die andern in die Erde zauberte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht beisammen hat! »Was! sind hier keine Rosen?« sagte Gerda und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte; ach, da war keine zu finden. Da setzte sie sich hin und weinte, aber ihre Thränen fielen gerade auf eine Stelle, wo ein Rosenstrauch versunken war, und als die warmen Thränen die Erde benetzten, schoß der Strauch auf einmal empor, so blühend, wie er versunken war, und Gerda umarmte ihn, küßte die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Kay.
»O, wie bin ich aufgehalten worden!« sagte das kleine Mädchen. »Ich wollte ja den kleinen Kay suchen! – Wißt Ihr nicht, wo er ist?« fragte sie die Rosen. »Glaubt Ihr, er sei todt?«
»Todt ist er nicht,« antworteten die Rosen. »Wir sind ja in der Erde gewesen; dort sind alle Todten, aber Kay war nicht da.«
»Ich danke Euch!« sagte die kleine Gerda und ging zu den andern Blumen hin, sah in deren Kelch hinein und fragte: »Wißt Ihr nicht, wo der kleine Kay ist?«
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen; davon hörte Gerda so viele, viele; aber keine wußte etwas von Kay.
Und was sagte denn die Feuerlilie?
»Hörst Du die Trommel: bum! dum! Es sind nur zwei Töne; immer: bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang, höre den Ruf der Priester. – In ihrem langen rothen Mantel steht das Hinduweib auf dem Scheiterhaufen; die Flammen lodern um sie und ihren todten Mann empor; aber das Hinduweib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer als die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt, als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?«
»Das verstehe ich durchaus nicht,« sagte die kleine Gerda.
»Das ist mein Märchen!« sagte die Feuerlilie.
Was sagt die Winde?
»Ueber den schmalen Fußweg herüber hängt eine alte Ritterburg; das dichte Immergrün wächst um die morschen, rothen Mauern empor, Blatt an Blatt, um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und sieht den Weg entlang. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen, als sie; keine Apfelblüthe, wenn der Wind sie dem Baume entführt, schwebt leichter dahin, als sie; wie rauschte das prächtige Seidengewand! »»Kommt er noch nicht?««
»Ist es Kay, den Du meinst?« fragte die kleine Gerda.
»Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traume,« erwiderte die Winde.
Was sagt die kleine Schneeblume?
»Zwischen den Bäumen hängt an Seilen das lange Brett; das ist eine Schaukel; zwei niedliche, kleine Mädchen – die Kleider sind weiß wie der Schnee; lange grüne Seidenbänder flatterten von den Hüten – sitzen darauf und schaukeln sich; der Bruder, welcher größer ist, als sie, steht in der Schaukel; er hat den Arm um das Seil geschlungen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hat er eine kleine Schale, in der andern eine Thonpfeife; er bläst Seifenblasen; die Schaukel stiegt, und die Blasen steigen mit schönen, wechselnden Farben; die letzte hängt noch am Pfeifenstiele und wiegt sich im Winde. Die Schaukel schwebt; der kleine schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüßen und will mit in die Schaukel; sie stiegt; der Hund fällt, bellt, und ist böse; er wird geneckt, die Blasen platzen. – Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!«
»Es ist möglich, daß es hübsch ist, was Du erzählst; aber Du sagst es so traurig und erwähnst den kleinen Kay nicht.«
Was sagen die Hyacinthen?