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Mit »Das Winterwunder von Dublin« legt SPIEGEL-Bestsellerautorin Nicola Förg, bekannt durch ihre äußerst erfolgreiche Alpen-Krimi-Reihe um Kommissarin Irmi Mangold (u. a. »Tod auf der Piste«, »Rabenschwarze Beute« und »Wütende Wölfe«), ihren ersten Weihnachtsroman vor. Sie verknüpft dabei eine Versöhnungsgeschichte unter Schwestern und die Story einer dramatischen Pferderettung mit ganz viel winterlicher Atmosphäre. Anfang Dezember kehrt Stella zu ihrer Familie nach Irland zurück: voller Vorfreude auf deutsch-irische Familienbräuche und stimmungsvolle Weihnachtstraditionen, aber auch in Erwartung eines anstrengenden Tauziehens mit ihrer erfolgreichen Schwester Luna. Vor allem freut sich Stella auf die gescheckte Stute Puzzle, ihr Halt in Jugendtagen. Doch Puzzle ist weg, womöglich ausgesetzt, wie viele irische Pferde, wenn sie zu kostspielig werden. Unterstützt von dem TV-Reporter Daniel, der einen Beitrag über Pferdeschicksale dreht, macht sich Stella auf die Suche. Sie findet sich an magischen Plätzen an der Westküste wieder, zweifelt an ihren Gefühlen, ihrer Intuition und ihrer Mission – bis die Weihnachtsfeiertage ihren vollen Zauber entfalten …
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Cover & Impressum
Zitat
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Glossar
Rezepte
Lunas Punsch
Phoebes Spiced Beef
Grace’ Mince Pie
But the game never endswhen your whole world dependsOn the turn of a friendly card
The Alan Parsons Project
Puzzle kam langsam über den Hügel. Sie sank immer wieder tief im morastigen Untergrund ein. Sie war müde, die Flucht letzte Nacht hatte viel Energie gekostet. Es war schwierig, in Ruhe und in Gelassenheit zu fressen. Zu groß war die Angst, immer noch zu neu die Geräusche. Sie erreichte das Plateau des Hügels, unten grasten die anderen. Puzzle ging zögerlich hinunter, fast tastenden Schrittes. Die Herde nahm sie wahr. Eine große dunkle Stute, hochbeinig mit edlem Kopf, löste sich aus der Gruppe, jede Körperfaser gespannt. Aber Puzzles Sehnsucht war größer. Sie lief weiter auf die Herde zu, verharrte kurz. Aus der Herde, die aus ein paar Shetlandponys, zwei, drei Connemaras und einigen rassigeren Pferden bestand, stürzte die große Stute auf sie zu. Bleckte das Gebiss, warf die Vorderhand, Puzzle flüchtete jählings. Ihre Flanken bebten. Doch dann war da ein Gefühl, ein Wissen, ein Lichtstrahl … Eine andere Stute, eine von den Connemaras, kam langsam näher. Puzzle verharrte wie eine Statue. Machte ein paar zögerliche Schritte, dann ein leises Schnobern, ein Blubbern fast. Die beiden Pferde senkten die Köpfe, begrüßten sich. Rihany war mager geworden. Knochig. Diese zwei kannten sich. Aus einem Leben, das von menschlicher Obhut, Reiterei, Futter und Ställen geprägt war. Und nur weil sie sich kannten, ließ die Leitstute die Neue in die Herde.
Freitag, 14. Dezember
Es war der Geruch. Stella empfand es immer wieder: Irland konnte man riechen. Schon Dublin Airport roch anders als jeder Flughafen der Welt. Sie selber roch aber auch anders. Ihrem Gepäck entstieg der Geruch von Würze und Wald. Sie hatte einen in Netz und Packpapier eingewickelten Weihnachtsbaum als Sperrgepäck aufgegeben, es war gut, eine Mutter zu haben, die bei der Airline arbeitete.
»Madel, hat’s keine Bäume in Irland?«, fragte der Mann am Counter in München.
Inzwischen schon, aber eine Münchner Familie, die in Irland lebte, musste einen urdeutschen Baum haben, den Stella jedes Jahr, seit sie nun in München studierte, mitbrachte. Immergrüne Nadelbäume kamen an Weihnachten in Irland erst seit Queen Victorias Zeit zum Einsatz. Die Iren hatten früher Stechpalmen und Efeu als Dekoration verwendet. Manche taten das noch heute. Stellas Familie pflegte einen munteren Mix an Weihnachtbräuchen aus der alten und neuen Heimat. Stella würde wie jedes Jahr mit ihrer Schwester den traditionellen Stechpalmenkranz basteln, mit vielen Beeren, je mehr daran hingen, desto mehr Glück würde das neue Jahr bringen.
Stella zuckelte mit ihrem Gepäckwagen durch die Halle, die Geschäfte hatten schon ein weihnachtliches Gewand angelegt. Lichterketten, Sterne, vor einem Laden hockte ein gewaltiges Plüschrentier. Driving home for Christmas, schallte aus einem Lautsprecher. Stellas Gefühle waren gemischt, sie freute sich, alle wiederzusehen, und wusste auch, dass dieses »alle« über einen längeren Zeitraum nicht aufrechtzuerhalten war. Und doch würde sie bis zum 27. Dezember hier sein, vor allem wegen des St. Stephen’s Day, dem 26. Dezember – denn da war das Rennen! Ein Pferderennen am Strand, das sicher wieder ein großes Familienfest werden würde.
Sie verfrachtete ihren Wagen in einen Aufzug, parkte ihn dann in einem Gang und traf ihre Mutter im Büro. Eine eher linkische Umarmung folgte.
»Stella, du bist so blass und so dünn!«
»Mum, es ist Winter. Ich studiere, die haben keine Höhensonne in Hörsälen!«
»Aber eine Mensa. Isst du denn gar nichts?«
»Doch, jede Menge.«
Was nicht so ganz stimmte. Stella vergaß das Essen öfter mal, wenn sie allerdings zuschlug, konnte sie gute Portionen verdrücken, sie neigte einfach nicht zum Zunehmen.
»Müssen wir dich an Weihnachten etwas rausfüttern«, meinte ihre Mutter, und dann kam ein Anruf. Sie ging zum Telefon, unterbrach das Gespräch kurz, drückte Stella den Autoschlüssel in die Hand und flüsterte wie immer die eindrückliche Warnung, das Linksfahren zu beachten. Das kam so sicher wie das Amen in der Kirche, in die Stella nur selten ging. Und wie immer musste Mum weitertelefonieren, war auf dem Weg in ein Meeting.
»Stella, Herz, am Abend dann alles Weitere!« Sie winkte Stella zu und sie damit auch hinaus.
Seit Stella in München studierte, liefen die Treffen am Airport immer gleich ab. Ihre Mutter war stets busy, immer perfekt gestylt und auf Absätzen unterwegs, mit denen sich Stella den Knöchel gebrochen hätte. Aber sie war eben auch der Familientrampel, nach wem sie eigentlich kam, konnte auch mehrere Generationen zurück in der Familie nicht festgemacht werden. Als Teenager hatte Stella öfter mal gedacht, sie wäre adoptiert. Was definitiv nicht stimmte, dazu war die Ähnlichkeit zu ihrem Vater zu groß. Die schmale Gestalt, die blasse Haut, das dunkle Haar, die dunklen Augen, die ihn und seine Tochter immer etwas melancholisch aussehen ließen. Luna kam nach ihrer Mutter. Blond, blauäugig, üppiger in Optik und Auftreten. Luna studierte in London Mode, machte gerade ein Praktikum in Vancouver, Luna war mit fünfundzwanzig Jahren schon eine Kosmopolitin. Stella blieb der Trampel, ihre große Schwester, die nur knapp zwei Jahre älter war, hatte den falschen Namen bekommen: Luna hätte Stella heißen müssen, der Stern, der Star. Die Eltern hatten sich vertan bei der Namensgebung, sie, Stella, war viel eher der bleiche Mond …
Mit Mums kleinem Renault SUV verließ Stella das Parkhaus – Mum würde auf Luna warten, die am späten Nachmittag einzuschweben gedachte. Sie würden Pa treffen, der gerade einen Termin in der Stadt absolvierte, und Stella kam dafür wieder in die Innenstadt zurück. Es war Familientradition, die Weihnachtszeit Mitte Dezember in der George’s Street Arcade zu beginnen. Ein viktorianisches Shoppingcenter, das alljährlich in weihnachtlichem Glanz ertrank. Sie genehmigten sich dort in der Market Bar alljährlich den »Wir-läuten-Weihnachten-ein«-Drink. Mum und Luna ein Glas Champagner, sie ein Glas Weißwein und Pa ein Guinness.
Stella fuhr auf die Eins und nordwärts, durch unschöne Vororte; Dublin, die dirty old town, war keine Schicki-Metropole. Immer wenn sie direkt aus München angeflogen kam, wurde ihr das noch viel deutlicher: die Bayernhauptstadt so adrett, Dublin so kantig. Und wie immer verließ sie die Eins und bog auf die R 128 durch Lusk ab. Es war eklatant, dass der Speckgürtel von Dublin immer fetter wurde. Früher hatten die begüterten Leute auf der Halbinsel Howth gewohnt, und viel gediegenes alteingesessenes Volk lebte da immer noch in großen Villen. Aber Lusk und Rush zogen die Menschen aus der Hauptstadt an, zu Recht, zu schön waren die Strände. Der Speckgürtel von Dublin wurde immer fetter.
Zu Beginn, als ihre Eltern die Mädchen quasi entführt hatten, Stella war dreizehn, Luna fünfzehn gewesen, hatte sich Stella schwergetan. Was sie dann aber für ihre neue Heimat eingenommen hatte, waren all diese Geschichten gewesen, die imposanten Monumente, die mystischen Orte, die von der naturgewaltigen und rätselhaften Kultur der Bronzezeit und der Kelten lebten. Die Wurzeln wirkten so mächtig aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, und Stella war ziemlich empfänglich für Schwingungen. Selbst gänzlich rationale Menschen wie ihre Eltern erlagen dem Zauber solcher Orte. Ihr neuer Wohnort Skerries lag nicht weit weg von den größten Attraktionen des Landes: Monasterboice mit dem schönsten Hochkreuz der Insel und Newgrange. Als sie zum ersten Mal dort gewesen waren, hatten sie nach Erwerb der Tickets zwei Stunden auf den Einlass warten müssen. Ihr Vater Thomas war nahe dran aufzugeben, er maulte und zeterte, die Mutter Anita hielt ihn unter Kontrolle, und schließlich konnten sie die Anlage betreten. Das megalithische Ganggrab, fünfhundert Jahre älter als die Pyramiden, tausend Jahre älter als Stonehenge. Die Menhire außen herum, die wie Wächter die Welt der Toten abzuschirmen schienen. Am kürzesten Tag des Jahres und zwei Tage davor und danach fiel ein Lichtspot durch die Roof Box und erhellte die hintere Grabkammer. Vater hatte geschwiegen und dann etwas Physikalisches gemurmelt. Stella war wie verzaubert, und in diesem Moment spürte sie eine Verbindung zu ihrer neuen Heimat, so zart, dass sie sie in ihrer Zartheit erschütterte. Stella hatte Newgrange noch viele Male besucht, der Vater einer Mitschülerin arbeitete bei Heritage Ireland. Sie war ganz alleine, und die Mauern raunten ihr etwas zu. Stella liebte die Geschichte, dass die DeLorean-Autofabrik hatte schließen müssen, weil man für ihren Bau einen Feenbaum gefällt hatte! Stellas Welt war voller Elfen, Feen und dem waterhorse, das sie ab und zu aus den Wellen auftauchen sah.
Stella hielt den Wagen an, stieg aus und ging in Lusk an den Strand hinunter. Es roch nach Salz, nach Algen, von irgendwoher wehte ein Hauch von Fish and Chips heran, und da war noch etwas, das Stellas Herz hüpfen ließ. Am Strand lagen Pferdeäpfel. Sie würde endlich wieder am Strand galoppieren können, schwerelos, zeitenlos, frei. Diese Freiheit war das, was sie im Studium in München am meisten vermisste. Sie hatte zu Beginn mal eine Reitstunde in der Universitätsreitschule gebucht, Pferdepo an Pferdepo, im Café feixende Zuschauer. Selten war sich Stella so gefangen vorgekommen. Und auch die Pferde in der Klinik, die dann manchmal draußen in kleinen Paddocks etwas Luft schnuppern konnten, erbarmten sie. Sie hatten nie den Strand von Skerries gesehen und waren nie mit ihren Hufen darüber geflogen. Es ging ein scharfer Wind, der Wolken über den Himmel jagte. Ab und zu schaffte es ein Sonnenstrahl hindurch und kitzelte eine Muschel im Sand. Irisches Wetter, alle Wetter an einem Tag. Es war Dezember, ihr deutsch-irisches Weihnachten stand vor der Tür, deshalb kam Stella jedes Jahr heim. Und vor allem wegen Puzzle.
Als Stella mit dreizehn in die neue Schule gekommen war, hatte sie erstmals eine Schuluniform tragen müssen. Vom altehrwürdigen gutbürgerlichen städtischen Münchner Theodolinden-Gymnasium in die Welt eines irischen College in Skerries geworfen zu werden war hart. Ihr Englisch war furchtbar gewesen. Die Lehrer hatten zwar immer versucht, sie aufzubauen und zu fördern, doch waren die ersten zwei Jahre hart. Was Stella dann gerettet hatte, waren zwei neue Freundinnen, die ihre Pferdebegeisterung teilten. Sie hatten Stella mitgenommen zu Darragh, einem brummigen Farmer, der einige eigene Pferde hielt und bei dem reiche Dubliner ihre Pferde untergestellt hatten, die nur am Wochenende zum Reiten kamen. Erin, eine ihrer beiden neuen Freundinnen, zwei Jahre älter als Stella, hatte eine Reitbeteiligung an einem Connemara-Wallach namens Luke. Stella und Zoe misteten Ställe aus und durften dafür die Pferde von Darragh reiten. Sie waren entzückt, als zwei junge Stuten auf dem Hof auftauchten. Darragh hatte sie durch irgendwelche dubiosen Geschäfte von einem Nachbarn bekommen, eine Tinkerstute und eine Connemara-Stute, die Rihany hieß. Der Tinker hatte noch keinen Namen, aber für die Mädchen war klar: Das schwarz-weiß gescheckte Pferdchen konnte nur Puzzle heißen, denn seine Fleckung sah genauso aus wie ein Puzzlespiel. Die beiden Stuten waren erst vierjährig und kaum ausgebildet. Für Stella und Zoe waren das immer ihre Pferde gewesen, sie lehrten die Ponys springen, sie hatten mit zwei Stallbesen und einem Fußball Polo gespielt und endlose Sommer am Strand verbracht. Die Pferde hatten stacheliges Gras gezupft, die Mädchen Wolkenbilder geraten und eine Zukunft erträumt.
Erin hatte immer Lehrerin werden wollen, Stella und Zoe Tierärztinnen. In Zoes Fall zerplatzte der Traum an schlechten Schulnoten und der Tatsache, dass ihre Mutter starb, sie auf zwei kleine Brüder aufpassen musste und schließlich den Pub der Mutter übernahm. Stellas Noten waren immer gut gewesen, ohne dass sie sich sonderlich anstrengte, und dann bekam sie sogar einen ersehnten Studienplatz in München. Zwei Dinge ließen sie zögern: Zoe und Puzzle. Ihre Eltern und ihre Schwester zu verlassen fiel ihr deutlich leichter. Aber Zoe schien mit ihrem Leben zufrieden zu sein, und in Alex hatte sie einen unerschütterlichen Freund und späteren Mann gefunden. Und Puzzle konnte Stella besuchen, im Sommer und jedes Jahr an Weihnachten. Wenn die Bauers zusammenkamen: Anita, Thomas, Stella und Luna.
Stella ging zum Auto zurück, außer einer Frau mit einem großen Mischlingshund war kein beseeltes Wesen unterwegs. Sie fuhr die letzten Kilometer nach Skerries und überlegte, ob sie gleich bei Zoe vorbeischauen sollte. Aber sie zog es vor, erst nach Hause zu kutschieren. War das Cottage ihrer Eltern ihr Zuhause oder doch eher ihre Souterrainwohnung in Omas altem Haus in Harlaching?
Als das Haus in München verkauft wurde, behielt Stellas Familie eine der Wohnungen. Die quadratische Villa von 1890 verfügte über eine Wohnung im Hochparterre, eine im ersten Stock und im großen Speicher. Und eine Gesindewohnung, die nicht so richtig sous-terrain war, eher im Erdgeschoss, ein bisschen in den Boden versenkt. Ihre Mutter hatte die Wohnung nicht aus der Verkaufsmasse genommen, weil eine der Töchter mal hätte studieren können, sondern weil sie sich ein Schlupfloch bewahren wollte. Stella gab sich da keiner Illusion hin. Sollten sie in Irland scheitern, hätten sie eine erste Basis gehabt, um in München wieder neu zu starten und in Ruhe etwas Bewohnbares zu suchen. Nun aber genoss Stella den Luxus einer Dreizimmerwohnung in Harlaching, während sich ihre Kommilitonen zu Fabelpreisen in winzige WG-Zimmer quetschen mussten. Ein Zimmer war Gästezimmer für Familienmitglieder. Darüber hinaus verfügte Stella über eine große Küche, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer mit Tür in einen Garten, der bei den Bodenpreisen in München so wertvoll war, als würde man über Diamantsplitter wandeln. Aber das hatte Oma zur Bedingung in ihrem Testament gemacht: Hausverkauf nur, wenn der Garten niemals bebaut würde. Die Käufer, die ja nun über Stellas Kopf wandelten, waren reizend. Deren Kinder lebten nicht mehr zu Hause, und Stella betreute die vier Katzen, wenn ihre »Dosenöffner« am Gardasee Urlaub machten. Da besaßen sie eine Wohnung in Bardolino. Stella war trotz ihrer Jugend bewusst, welchen Luxus sie da pflegte. Ein Gartenidyll am Isarhochufer, während viele ihrer Kommilitonen unentwegt jobben mussten, um das Leben in München zu finanzieren.
Das Haus ihrer Familie in Skerries war auch nicht gerade klein, kein windschiefes Cottage, sondern ein zweistöckiges Haus mit einem Wintergarten, der über das Meer blickte. Ein Nebengebäude fungierte als Thomas’ Büro, ein weiteres war Garage und Depot für Garten- und Sportgeräte. Rund fünftausend Quadratmeter eigener Grund umspielten das Haus, aber die Eltern hatten es nicht so mit dem grünen Daumen. Rasen plus gepflegte Wildnis lautete die Devise. Grace, eine Nachbarin, rümpfte darüber gleich zu Beginn die Nase. The Germans are not keen on gardening. Nein, diese Germanen arbeiteten einfach zu viel.
Stella ließ das Auto in der Einfahrt stehen, wuchtete den Christbaum aus dem Fond und legte ihn vor dem Haus ab. Sie hatte einen Schlüssel, sperrte die blau gestrichene Tür auf. Für ihre Mutter musste es eine typisch irische Tür sein. Deren royalblaue Farbe biss sich etwas mit dem eher Türkisblau der Fensterläden, das hatte style addict Luna immer schon bemängelt. Aus dem großen Flur trat Stella in die Küche, die in den Wintergarten überging. Das Meer war in Wallung, große Wellen schlugen an den Strand von Skerries, ihren Strand voller Poesie. Um die ganze Küste rankten sich Schmugglergeschichten aus dem 18. Jahrhundert, als die Engländer unerträglich hohe Zölle auf eine große Anzahl von Gütern erhoben hatten. Jack Connor, eine Art Robin Hood, war der Oberschmuggler, der von Smugglers Cave zwischen Loughshinny und Skerries aus operiert hatte. Stella hatte dort mit Zoe immer Gangsterbraut gespielt. Sie war eine Art Lady Marian gewesen. Es war immer so gewesen: In Irland lebte man mitten in Geschichte und Geschichten.
Stella ging hinauf in den ersten Stock und kam an Lunas Zimmer vorbei. Noch immer klebte ein Spruch von Oscar Wilde an der Tür. Der Dandy und Bürgerschreck, der einst am Trinity College studiert hatte, erklärte gnadenlos selbstbewusst: I have nothing to declare but my genius. Einen passenderen Spruch hätte Luna nicht finden können.
An Stellas Tür klebte ein verblichenes Keep Out. Noch immer war ihr Mädchenzimmer dekoriert mit vielen Pferdebildern. Ihre Jugendbücher, auch Pferdeliteratur sowohl in Deutsch als auch in Englisch, standen in einem Regal, das sich gefährlich zur Seite neigte. Mum hatte ihr Bett frisch bezogen mit Rentierbettwäsche. Anita hatte trotz ihres Business-Woman-Auftretens einen Hang zu Kitsch. Die Hauptdekorationsarbeiten standen noch aus, das war die Aufgabe der Töchter.
Stella lächelte und beschloss, ein Bad zu nehmen. Denn die Badewanne in Irland war schöner als ihre in München. Diese hier stand auf gusseisernen Füßen mitten im Raum. Mum hatte schon Rentierfigürchen, die Pudelmützen trugen, auf dem Fensterbrett dekoriert. Und sie ließ es sich nicht nehmen, ihre Badezimmerteppiche den Festen anzupassen. Sie hatten eine Osteredition mit Hasen, eine Sommergarnitur mit Sonnenblumen und eine für Weihnachten – mit Rudy, the red-nosed reindeer. Natürlich gab es passende Handtücher. Stella schmunzelte erneut. Doch, sie war zu Hause und genoss es, allein zu sein.
Der Wind draußen frischte weiter auf. Stella zog einen Aran Sweater an, eine Wachsjacke aus dem Schrank und eine giftgrüne Mütze, die hässlich war und doch so geliebt wurde. Zoe hatte sie ihr geschenkt. Die uralten gefütterten Chelsea Boots komplettierten ein Outfit, das Luna in freundlichen Zeiten als »verwegen« bezeichnet hätte, in unfreundlicheren als »Gammelweib-Look«. Stella lief dorfeinwärts, der North Strand Road und The Hoar Rock folgend, bis in die Strand Street. Vor dem Pub lehnte eine Leiter, Alex versuchte sich gerade an Weihnachtsbeleuchtung.
»Fall nicht runter!«, brüllte Stella gegen den Wind an.
Er drehte sich um, wäre wirklich fast abgestürzt und kletterte hinunter. »Stell! Du bist schon da?«
»Ja, alles wie immer. Alles auf Anfang. Ich war kurz daheim, nun schnappe ich schnell Seeluft, bevor ich in Lunas Parfümdüfte gerate.«
Alex lachte. »Immer noch die Modeprinzessin?«
»Klar, sie war sechs Monate in Vancouver, jetzt kann man sie wahrscheinlich gar nicht mehr ertragen.«
»Ist Zoe zu Hause?«, fragte Stella.
Alex schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist wegen einiger Einkäufe nach Drogheda gefahren. Dann verpasst ihr euch heute. Du fährst ja später in die Stadt, oder?«
»Same procedure as every year«, antwortete Stella und verzog das Gesicht.
»Komm, wir trinken einen Poteen«, meinte Alex und zog Stella ins Pub.
»Auf nüchternen Magen? Alex, ich sterbe.«
»Quatsch, das hat Tradition.«
»Aber bitte einen mit Etikett, nicht einen von deiner Schwarzbrenner-Familie.«
Alex stammte aus Connemara, er war wegen Zoe an die Ostküste gezogen, aber er hatte eine weitläufige Verwandtschaft, die genauso versprengt war wie Schafe über die Hänge der Maumturk Mountains. Alex zog eine Flasche aus einer der Kühlschubladen unter dem Tresen, die vergleichsweise vertrauenerweckend aussah, mit Etikett von TWC. Und das Getränk hatte demzufolge auch nur 61,5 Prozent.
Nach dem zweiten Glas flüchtete Stella. Zoe würde sie dann am nächsten Tag treffen.
Ihr Weg zurück wurde lang, sie traf einige Bekannte, die alle etwas über ihr Studium wissen wollten, es lag Wärme über diesem windigen Tag. Stella sah auf die Uhr. Es war zu spät geworden, um noch zu den Pferden zu gehen, sie musste den letzten Zug um 17:22 Uhr erwischen. Und ihrer Familie zu Ehren tauschte sie vorher die Jeans gegen eine schwarze Strumpfhose, zog einen grauen Cordrock an und einen schwarzen Pullover. Weil ihre Haare unter der Mütze noch feucht gewesen waren, klebten sie etwas platt am Kopf. Ein paar Luftstöße mit dem Föhn, etwas Lippenbalsam – das musste reichen. Die Wachsjacke blieb.
Der Zug ratterte durch eine beschauliche Landschaft, wo Kühe und Schafe noch immer die letzten Wiesen übersprenkelten. Dann kamen Häuser, Dublin wucherte wirklich in die Umgebung; irische Bebauungspläne – sofern es welche gab – waren keine Glanzleistung, fand Stella.
Sie stieg an der Tara Station aus und ging am Liffey entlang. Er fischelte etwas. Die Menschen hasteten vorüber wie in anderen Großstädten auch, es herrschte Vorweihnachtshektik. Doch der typische Dubliner Geruch lag in der Luft. Und der style. Zwei junge Frauen trugen Miniröcke, sie wurden umtanzt von drei Jungs mit sehr kurzen Haaren, den unvermeidlichen Rugbyshirts, der eine sogar in kurzer Hose, Iren hatten überhaupt kein Temperaturempfinden! Die anderen beiden hingen in verbeulten Joggingpants. Nun mochte das zurzeit ja sogar stylish sein, aber hier war es jene Optik, die die Straßen immer schon regiert hatte. Dublin war ehrlich, litt noch immer unter dem nicht mehr gutzumachenden städtebaulichen Kahlschlag der Sechzigerjahre und wieder unter Geldmangel. Selbst als Dublin 1991 Kulturhauptstadt Europas gewesen war, hatte die Stadt nur zehn Millionen – damals in D-Mark gerechnet – zur Verfügung. Das reichte gerade mal, um die Veranstaltungen zu bezahlen.
Dublin könnte immer noch Schminke vertragen, aber ebendiese Ungeschminktheit liebte Stella. Dublin hatte kein kompaktes Zentrum, Dublin war keine herausgeputzte Vorzeigemetropole, wo sich die kunsthistorischen Highlights wie Perlen aneinanderreihten. Dublin musste man sich erarbeiten, und man brauchte Fantasie, um die berühmten Dubliner zu sehen, wie sie damals über das Gelände des Trinity College schlenderten. Oscar Wilde oder Swift, der Zyniker, dessen Kinderbuch Gullivers Reisen eigentlich eine böse Satire auf die englischen Unterdrücker war. Als Kolumnist schlug er als Lösung der bitteren irischen Armut vor, man möge zarte irische Kinder den reichen englischen Aristokraten und Gutsbesitzern als Delikatesse vorsetzen. Die Armen könnten so die Pacht bezahlen, die Kinder fielen den Eltern und dem Staat nicht zur Last … Sie hatten in der Schule darüber gesprochen. The great famine, die große Hungersnot, war nun mal das irische Thema, das ganze Schuljahre in Geschichte beherrscht hatte. Stella hatte Albträume bekommen, in denen fette Fratzen in bukolischen Gelagen vor Kinderfleisch gesessen hatten. Sie war eine wohlbehütete Deutsche und weit weg von den irischen Familiengeschichten, die alle Hungertote und USA-Auswanderer zu bieten hatten.
Wie jedes Jahr würde Stella bei diesem Besuch einmal in die Old Library im Trinity College gehen und sich anstellen, um einen Blick auf das Book of Kells zu erhaschen, diese visuelle Datenbank allen Wissens der damaligen Zeit. Stella stellte sich die Mönche vor, die mit dem wertvollen Buch von der Hebrideninsel Iona vor den plündernden, mordenden Wikingern ins irische Kells geflüchtet waren – eine Triebfeder im Herzen: das Buch unter allen Umständen zu retten. Das Book of Kells war das Heidnischste, was die katholische Kirche je hervorgebracht hat. Katzensymbole, Dämonen und Fratzen verteidigten die erotische, sinnliche Welt der Kelten gegen die geradlinige, autoritäre katholische Kirche.
Stellas Lehrerin Sinead, die auch noch ein bisschen wie Sinead O’Connor ausgesehen hatte, hatte immer gehofft, Stella würde Schriftstellerin werden, zumindest Journalistin, aber Stella hatte zu wenig Zutrauen in ihre schreiberischen Qualitäten gehabt. Fantasie zu haben war das eine, aber die Vorstellungen in Worte umzusetzen traute sie sich nicht zu. Natürlich, sie hatte immer einmal Gedichte geschrieben und diese peinlich berührt verborgen. Es war gar nicht so leicht, mit all den Bildern zu leben, und seltsamerweise gelang ihr das im Tiermedizin-Studium recht gut. Man sah Blut und Verderbnis, aber damit konnte sie umgehen. Das war konkret. Stella hatte mehr Probleme mit Dingen, die auf einer Ebene passierten, die anderen verborgen blieb.
Stella hatte ihr Ziel erreicht. Last Christmas vermischte sich mit The Power of Love, Lichtergirlanden überspannten die Arkaden. Es roch nach Zimt, und aus einem Shop für Kosmetik wogten Vanille und Moschus, aus der Bäckerei etwas Kuchiges – die Gerüche des Winters. Stella schob sich durch die Menschenmenge, sah sich suchend um und erspähte ihre Familie an einem Tisch. Mum winkte. Luna saß neben ihr, sie hatte ihr dickes, glattes blondes Haar schulterlang abschneiden lassen und trug einen schrägen Pony. Graublauer Lidschatten lag über ihren Augen. Sie folgte Mums Blick, winkte auch. Etwas lasch vielleicht, wie Stella fand. Ihr Pa, der mit dem Rücken zu ihr gesessen hatte, stand auf und kam ihr ein paar Schritte entgegen. Er strahlte, drückte sie, was bei ihm nie besonders kräftig war.
»Stella, Sternchen, ich freu mich so. Meine kleine Münchnerin!«
Ihr Vater wirkte immer etwas abwesend, Stella begriff bis heute nicht ganz, was er eigentlich beruflich machte. Irgendetwas mit IT, er konnte Netzwerke wieder zum Laufen bringen, er war ein moderner Magier, ein Druide, den Firmen riefen, wenn bei ihnen nichts mehr ging. Und dann hackte ihr Vater in die Tasten, er flog darüber, er redete merkwürdige Worte, er erklärte seinen Kunden eine Welt, die nur die seine war. Seine Kunden nickten dann alle artig und dankten ihm frenetisch, weil er den Totalabsturz abgewendet hatte.
Mum stand auf, es gab zwei Küsschen auf die Wange, Luna hatte sich auch erhoben. Sie trug eine Marlenehose mit einem extrem breiten Bund und ein Shirt, das weich floss und doch ihre Brüste in Szene setzte. Was drei Jungs am Nachbartisch auch aufgefallen zu sein schien.
»Stell, hast du die Jacke immer noch nicht weggeworfen?«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen.«
»Stell, sei nicht immer so mimosenhaft.« Luna betrachtete ihre kleine Schwester genau. »Du siehst aus wie eine Elfe in einem fettigen Regenmantel, du bist so schön, beton das doch!«
»Dafür haben wir ja dich, fürs Betonen«, sagte Stella und umarmte ihre Schwester. Es war, wie es eben war.
Die Getränkeregel wurde eingehalten und Stellas Chardonnay sofort kommentiert.
»In Vancouver sagen sie ja ABC.«
Stella wollte ihrer Schwester den Triumph gönnen und wartete.
»All but Chardonnay«, kicherte die. »Es gibt doch wirklich bessere Sorten.«
»Mir schmeckt er.«
»Genau«, sagte Thomas. »Und mir schmeckt das Guinness. Cheers, Prost, Sláinte!«
Sie hoben die Gläser, bestellten ein paar Kleinigkeiten, eine Art Meze-Teller und hörten Luna zu, die von Vancouver erzählte, wo sie eine Modenschau oben auf dem Grouse Mountain inszeniert hatte, dem Hausberg der schönen Stadt am Pazifik. Sie zeigte dort ihre Shirt-Kollektion und hatte einen kanadischen Nachwuchsdesign-Preis dafür erhalten. Darauf gab es eine zweite Runde. Thomas fragte immer wieder nach Stellas Studium, aber Luna gelang es, auch aus einem Wortfetzen das Gespräch wieder auf Vancouver zu lenken. Sie machte das nicht aus Böswilligkeit, sie sah sich einfach als Zentrum eines wichtigen Universums. Stella hatte eigentlich resigniert. Als Luna und Mum dann zum Shoppen loszogen, blieben sie und ihr Vater sitzen. Sie waren sich nahe, weil sie beide zu viel Nähe gerne vermieden.
»Hast du Zoe schon getroffen«, fragte ihr Vater gerade.
»Nur Alex. Zoe war in Drogheda.«
»Sie machen das gut, mit dem Pub, diese beiden.«
Das stimmte wohl, wobei Stella immer mal wieder fand, Zoe hätte mehr aus sich machen können. Sie hatte so ein grandioses Händchen für Tiere. Weit mehr als Stella selbst.
»Ja, ich denke schon. Es ist nur …«
Ihr Vater lachte. »Solche Gedanken sollte ich eigentlich haben. Sie hätte mehr aus ihrem Leben machen müssen. Das ist adult talk, also nicht, dass du nicht erwachsen wärst.« Er lächelte seine Tochter voller Liebe an.
»Ich bin eben eine Spießerin«, sagte Stella.
»Nein, du bist nur sehr klar in dem, was du tust.«
Ob das so stimmte? Stella hatte immer den Eindruck, sie sei anfechtbar durch Schwingungen und Stimmungen, andererseits lernte sie immer schon sehr leicht, aber auch sehr planmäßig. Das kam ihr im Studium zugute. Sie war bislang nie gestrauchelt.
»Und du warst noch nicht bei den Pferden?«
»Nein, zu wenig Zeit, alles dann morgen.«
Sie saßen da und nippten an den Getränken. Stella tauchte ein Stückchen Weißbrot in Hummus. Es war gut, mit ihrem Vater so zu sitzen, mit ihm konnte man schweigen. Schließlich kamen Mum und Luna zurück, Anita hatte eine zerrissene Jeans gekauft und einen schreiend bunten Schal.
»Nice!«, sagte Luna. »Oder, Pa?«