Das Wunder vom Leben und Sterben - Julie Yip-Williams - E-Book

Das Wunder vom Leben und Sterben E-Book

Julie Yip-Williams

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Beschreibung

Julie Yip-Williams‘ Geschichte beginnt mit dem Ende. Als junge Mutter mit Krebs im Endstadium konfrontiert, beschließt sie, über ihr Leben zu schreiben. „Das Wunder vom Leben und Sterben“ ist ihr bewegendes Memoir, mit dem sie uns an ihren innersten Gefühlen teilhaben lässt. Dass sie ihre Kindheit überlebte, gleicht bereits einem Wunder. Blind geboren in Vietnam, einem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land, entgeht sie nur knapp der aktiven Sterbehilfe ihrer Großmutter. Ihre Familie flieht Ende der 1970er Jahre über China in die USA, wo sie schlussendlich ein Jurastudium aufnimmt, sich verliebt, Anwältin wird und eine Familie gründet. Die Gewissheit ihres nahenden Todes verleiht ihren Worten besondere Kraft und Authentizität. Sie schreibt über ihre Krebsdiagnose, die Angst vor dem Tod, ihren Schmerz und ihre Wut, aber auch über die Liebe zu ihren Kindern, über Geborgenheit, Familie und Freundschaft. Was als Chronik eines bevorstehenden Todes begann, wird so zu etwas sehr viel Bedeutungsvollerem: einem dringenden Appell an uns, die Lebenden. Dass auch wir das Wunder vom Leben und Sterben begreifen und es voll und ganz ausschöpfen. Jeden Tag. Bis zum Ende. „Julie Yip-Williams lebte ein unglaublich eigenständiges Leben. Ihr Memoir handelt nicht nur von ihrer Krankheit, sondern von Liebe, Authentizität, Hoffnung, Egoismus und sogar von Wut. Ich kannte Julie nicht, aber durch diese Seiten begann ich, sie immer mehr zu lieben.“ - Lucy Kalanithi, Witwe des Arztes und Autors Paul Kalanithi

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JULIE YIP-WILLIAMS

Das Wunder vom Leben und Sterben

EIN BEWEGENDES MEMOIR VOLLER HOFFNUNG UND KRAFT

Impressum

Julie Yip-Williams

Das Wunder vom Leben und Sterben

Ein bewegendes Memoir voller Hoffnung und Kraft

1. deutsche Auflage 2020

ISBN 978-3-96257-151-1

© Narayana Verlag, 2020

Titel der Originalausgabe:

The unwinding of the miracle: a memoir of life, death, and everything that comes after

Copyright © The Williams Literary Trust

Book design by Jo Anne Metsch

Übersetzung aus dem Englischen: Bärbel und Velten Arnold

Coverlayout: Jo Anne Metsch

Coversatz: Narayana Verlag GmbH

Herausgeber:

Unimedica im Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2, D-79400 Kandern

Tel.: +49 7626 974 970–0

E-Mail: [email protected]

www.unimedica.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.

Sofern eingetragene Warenzeichen, Handelsnamen und Gebrauchsnamen verwendet werden, gelten die entsprechenden Schutzbestimmungen (auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind).

Die Empfehlungen in diesem Buch wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Dieses Buch widme ich Josh, Mia und Isabelle – den Lieben meines Lebens,

Lyna, Nancy und Caroline – meinen geliebten Schwestern,

meinen Eltern葉世福und林桂英

und meinem Bruder Mau, der mich sicher über die Straße begleitet hat.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Tod, Teil 1

2. Leben

Sommer und Herbst 2013

3. Wie stehen die Chancen?

4. Gespenster

5. Die Kriegsführung und die Waffen

6. Abmachungen mit Gott

7. CEA, PET, MRI …

8. Die Bereicherung, die Reise allein zu machen

9. Das Geheimnis

10. Glücksmomente

11. Ein Abenteuer mit dem chinesischen Medizinmann

2014

12. Die hässlichen entfesselten Kräfte der Natur

13. Der Knotenpunkt der Welt

14. Hoffnung

15. Ich bin verloren

16. Ein Albtraum

17. Die Hand Gottes

18. Eine Liebesgeschichte

19. Schicksal und Glück

20. Zahlen, eine Neubewertung

21. Jeden Sieg mitnehmen

22. Der Krebs ist in meiner Lunge

2015

23. Aus der Finsternis zu neuer Kraft

24. „Es im Bauch behalten”

25. Ein Tag in meinem Leben

26. Unbesiegbarkeit

27. Wiedergeborene Träume

28. Einsamkeit

29. Ein kompliziertes Spiel

30. Das Geschenk der Trauer

2016

31. Wie die Yips nach Amerika kommen

32. Leben

33. Wahnsinn

34. Chipper

35. Mut und Liebe

36. Hass

2017

37. Eine Lektion der Geschichte

38. Zu Hause

39. Glaube

40. Schmerzen

41. Tod, Teil zwei

42. Vorbereitung

43. Liebe

2018

44. Das Wunder vom Leben und Sterben

Epilog

Danksagungen

Über die Autorin

Über die Schriftart

Prolog

Hallo, willkommen.

Ich heiße Julie Yip-Williams. Ich bin dankbar und fühle mich zutiefst geehrt, dass Sie dies lesen. Meine Geschichte beginnt mit dem Ende. Was bedeutet, dass ich nicht mehr da bin, wenn Sie diese Zeilen lesen. Aber das ist in Ordnung.

Mein Leben war gut und ausgefüllt. Es ist so viel mehr daraus geworden, als ich es je für möglich gehalten hätte oder aufgrund meines äußerst bescheidenen Lebensanfangs hätte erwarten dürfen. Ich war eine Ehefrau, Mutter, Tochter, Schwester, Freundin, Immigrantin, Krebspatientin, Anwältin, und jetzt bin ich auch noch eine Autorin. Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, mich an meine guten Vorsätze zu halten und ein gutes Herz zu haben, aber ich habe trotzdem bestimmt irgendwann jemanden verletzt. Ich habe mich mit aller Kraft bemüht, ein erfülltes, befriedigendes Leben zu leben, die unvermeidlichen Prüfungen mit Anstand zu bewältigen und dabei meinen Sinn für Humor und meine Liebe zum Leben zu behalten. Das ist alles. Obwohl ich mit Anfang Vierzig sterbe und meine über alles geliebten Kinder zurücklasse, bin ich glücklich.

Mein Leben war nicht einfach. Dass ich meine früheste Kindheit überlebt habe, war in gewisser Weise ein Wunder, und dass ich es nach Amerika geschafft habe, war es ebenso. Arm und blind in Vietnam auf der Seite der Verlierer eines grausamen Bürgerkriegs auf die Welt gekommen zu sein, hätte mein Leben bestimmen und mein Schicksal besiegeln können. Diese Ereignisse haben mich gezeichnet, aber sie haben mich nicht aufgehalten. Sterben zu müssen, hat mich eine Menge über das Leben gelehrt. Es hat mich gelehrt, harten Wahrheiten bewusst ins Gesicht zu sehen und mich dem Leiden genauso zuzuwenden wie den Freuden. Die schweren Zeiten anzunehmen, war vielleicht die große befreiende Erfahrung in meinem Leben.

Direkt oder indirekt durchleben wir alle schwierige Zeiten. Die Ereignisse, von denen wir in den Nachrichten oder von Freunden hören, die tödlich endenden Tragödien, die anderen Menschen an anderen Orten widerfahren, die uns traurig machen, aber zugleich auch dankbar innehalten lassen: Mein Gott, das hätte auch mich treffen können. Zerstörerische Hurrikane und Erdbeben, brutale Schießereien und Explosionen, Autounfälle und natürlich heimtückische Krankheiten. All diese Dinge erschüttern uns bis ins Mark. Sie erinnern uns an unsere Sterblichkeit und daran, wie machtlos wir angesichts der Kräfte sind, die die Erde zum Beben bringen oder unsere Zellen veranlassen zu mutieren und unseren Körper dazu bringen, gegen sich selbst zu rebellieren.

Ich habe mir vorgenommen, über all meine Erfahrungen zu schreiben. Und zwar sowohl über das Leben, das ich gelebt habe, als auch über die Prüfungen, die mir dabei gestellt wurden. Natürlich nicht umfassend, wie Sie verstehen werden. Aber ausführlich genug, um Ihnen umfassend den Weg nachzuzeichnen, den ich zurückgelegt habe, und Ihnen die Welt vor Augen zu führen, in der ich mich bewegt habe. Und was als Chronik eines frühen und unmittelbar bevorstehenden Todes begann, entpuppte sich – wenn ich mir diese Vermessenheit gestatten darf – zu etwas sehr viel Bedeutungsvollerem: einem dringenden Appell an Sie, die Lebenden.

Leben Sie Ihr Leben, liebe Leserinnen und Leser.

Vom Beginn des Wunders des Lebens an, jeden Tag, bis zum Ende.

JULIE YIP-WILLIAMS

Februar 2018

1

Tod, Teil 1

März 1976, Tam Ky, Südvietnam

Als ich zwei Monate alt war, brachten mich meine Eltern auf Anordnung meiner Großmutter väterlicherseits zu einem Kräuterheiler in Da Nang. Sie boten dem alten Mann Goldbarren an, damit er mir ein Gebräu verabreichte, das mich in den ewigen Schlaf versetzen würde. Da ich blind zur Welt gekommen war, war ich für meine chinesische Großmutter wertlos. In ihren Augen war ich eine Last und eine Schande für meine Familie. Unverheiratbar. Außerdem, so argumentierte meine Grußmutter, erweise sie mir Barmherzigkeit, da sie mir ein elendes Dasein erspare.

An jenem Morgen zog meine Mutter mir alte Babysachen an, die mit bräunlich-gelben Flecken verunreinigt waren, Hinterlassenschaften der Kacke meiner Schwester oder meines Bruders, die meine Mutter trotz vielfachen Waschens nicht rausbekommen hatte. Meine Großmutter, die meine Mutter angewiesen hatte, mir diese Lumpen anzuziehen, stand in der Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern und sah zu, wie meine Mutter mich ankleidete. „Alles andere wäre eine Verschwendung“, sagte sie, als meine Mutter fertig war, als wollte sie die Richtigkeit ihrer Anordnung noch einmal bekräftigen.

Das war also die Kleidung, in der ich sterben sollte. In hoffnungslosen Zeiten, wie sie damals in Vietnam herrschten, galt es als unsinnig, ein gut erhaltenes Baby-Outfit für einen Säugling zu opfern, der bald eine Leiche sein sollte.

Unser Familiendrama spielte sich mitten im explosiven Zentrum des Kalten Krieges ab. Südvietnam war elf Monate zuvor durch den Norden „befreit“ worden, und die geopolitischen Machtspiele brachen auch über die Leben der Yips herein.

1972 hatte sich der Krieg entscheidend gegen den Süden gewendet. Mein Vater hatte eine Höllenangst, seine wenigen Besitztümer zu verlieren, weil er sein Leben für ein Land aufs Spiel gesetzt hatte, für das er als ethnischer Chinese wenig bis gar keinen Nationalstolz empfand. Während der vier Jahre, die er Militärdienst geleistet hatte, hatte er bei seinen kurzen Heimaturlauben nie auch nur einem einzigen Familienmitglied erzählt, was für grausame Dinge er gesehen oder getan hatte. Die Versuche seiner Mutter, ihm die Hässlichkeiten des Kriegs zu ersparen, indem sie ihm durch Bestechung eine Position als Fahrer eines Offiziers besorgt hatte, waren nicht so erfolgreich gewesen, wie alle gehofft hatten. Er musste in feindliches Territorium hineinfahren, nicht wissend, wo Heckenschützen und Landminen lauerten, nachts im Dschungel in ständiger Angst vor sich heimlich anschleichenden Vietcong-Guerilleros auf dem Boden schlafen, die ihm womöglich im Schlaf die Kehle aufschlitzten, immer wieder aufgerüttelt von Explosionen, die die angespannte Stille zerrissen. Am Ende war seine permanente Todesangst – oder, schlimmer noch, die Angst davor, eine Gliedmaße zu verlieren, was einigen seiner Freunde passiert war – stärker als jegliche ihm innewohnende Vorstellung von Ehre und stärker als die Furcht, als Feigling zu gelten. Eines Tages verließ er das Lager unter dem Vorwand, Vorräte aus seinem Jeep zu holen, und kehrte nicht mehr zurück. Er marschierte und trampte eine Woche lang und kämpfte sich bis nach Saigon durch, der Hauptstadt von Südvietnam, wo er sich in Cho Lon versteckte, einem alten Stadtviertel, in dem mindestens eine Million ethnische Chinesen lebten. In Cho Lon herrschte ein derart geschäftiges, hektisches Treiben und es wimmelte nur so von Menschen, die, was die Kriegsanstrengungen anging, nicht loyal waren. So konnte er sich in dieser Gemeinschaft frei bewegen, obwohl er untergetaucht war.

Meine Großmutter, die mein Vater heimlich darüber hatte informieren können, wo er sich befand, hatte kein großes Vertrauen in die Fähigkeit eines Mannes, seiner Frau die Treue zu halten. Das galt auch für ihren eigenen Sohn, weshalb sie meiner Mutter riet, zu ihm nach Saigon zu ziehen. Und so machte sich meine Mutter mit meiner zweijährigen Schwester Lyna auf dem einen Arm und meinem Bruder Mau, der ein Säugling war, auf dem anderen, auf den Weg nach Saigon. Dort lebten sie zusammen mit meinem Vater bis zum Ende des Krieges im Ungewissen und warteten, bis es für ihn sicher war, wieder nach Tam Ky zurückzukehren. Erst dann musste er keine Angst mehr haben, , verhaftet oder, noch schlimmer, gezwungen zu werden, seinen Militärdienst in der sich schnell verschlechternden Situation fortzusetzen. Es war nicht die Zeit, ein weiteres Kind zu bekommen.

Als Saigon am 30. April 1975 fiel, jubelten meine Eltern zusammen mit den übrigen Bewohnern der Hauptstadt Südvietnams. Nicht, weil sie an das neue kommunistische Regime glaubten, sondern weil der Krieg endlich zu Ende ging. Sie feierten den Wechsel der Machthaber, indem sie sich den berauschten Banden anschlossen, die die verlassenen Läden und Lagerhäuser plünderten, Tankfüllungen, Reissäcke und alles an sich nahmen und wegschleppten, was ihnen in die Hände fiel. Sie feierten auch die Neuigkeit, dass ich unterwegs war, und nach dem Fall von Saigon kehrten sie schließlich zurück nach Hause nach Tam Ky, wo ich acht Monate später an einem ansonsten nicht weiter bemerkenswerten Januarabend zur Welt kam. Ich wog etwas mehr als 3000 Gramm, was für vietnamesische Verhältnisse viel war, aber auch nicht so viel, dass meine Mutter und ich Gefahr liefen, während der Geburt zu sterben. Krankenhäuser waren damals schmuddelig und Kaiserschnitte keine Option, denn niemand konnte sie durchführen, außer vielleicht ein Arzt in Saigon. Mein Vater nannte mich 莉菁, was in Mandarin-Chinesisch „Lijing“ und in Hainanesisch „Lising“ ausgesprochen wird und wörtlich übersetzt „Quintessenz des Jasmins“ bedeutet. Mein Name sollte einen Hauch von Dynamik, Lebhaftigkeit und Schönheit vermitteln. Meine Mutter, die so lange auf ein neues Baby gewartet hatte, freute sich riesig. Und auch meine Großmutter war voller Freude, zumindest am Anfang. Zwei Monate später lag ich in den alten Babysachen meiner Geschwister in den Armen meines Vaters, unterwegs im Bus auf der zweistündigen Fahrt ins nördlich gelegene Da Nang, zum Tode verurteilt.

2

Leben

14. Juli 2017, Brooklyn, New York

Liebe Mia, liebe Isabelle,

ich habe alle logistischen Probleme gelöst, die infolge meines Todes anstehen werden und mir in den Sinn gekommen sind. Ich habe eine bezahlbare Köchin angestellt, die für euch beide und Daddy kochen wird. Außerdem habe ich eine Liste erstellt, auf der steht, wer euer Zahnarzt ist, wann euer Schulgeld fällig ist, wann der Mietvertrag für die Geige verlängert werden muss und wie unser Klavierstimmer heißt. In den kommenden Tagen werde ich in unserer Wohnung Videos aufnehmen, damit ihr alle über die Besonderheiten Bescheid wisst, also zum Beispiel, wo die Luftfilter sind und welches Hundefutter Chipper frisst. Aber mir ist klar geworden, dass dies die einfachen Dinge sind, die leicht zu lösenden, aber relativ unwichtigen, ach so alltäglichen Probleme.

Mir ist klar geworden, dass ich euch als Mutter schwer im Stich gelassen hätte, wenn ich nicht versuchen würde, euren Schmerz zu lindern, den der Verlust eurer Mutter für euch bedeutet. Wenn ich also nicht zumindest versuchen würde, das anzusprechen, was wahrscheinlich die größte Frage in euren jungen Leben sein wird. Ihr werdet für immer die Kinder sein, deren Mutter an Krebs gestorben ist und die von den Leuten mit einer Mischung aus Mitgefühl und Mitleid angesehen werden (was ihr ihnen bestimmt übel nehmen werdet, auch wenn es alle nur gut meinen). Die Tatsache, dass eure Mutter gestorben ist, wird sich in euer beider Leben einweben wie ein greller Fleck auf einem ansonsten makellosen Gemälde. Wenn ihr euch all die anderen Menschen anschaut, die noch Eltern haben, werdet ihr euch fragen: Warum musste unsere Mutter krank werden und sterben? Das ist ungerecht, werdet ihr weinend hervorbringen. Ihr werdet meine Umarmung so schmerzlich vermissen, wenn eine Freundin gemein zu euch ist, ihr werdet meine Anwesenheit vermissen, wenn ihr euch Ohrlöcher stechen lasst, wenn ich nicht in der ersten Reihe sitze und laut klatsche, wenn ihr eure Musikstücke vorspielt, wenn ich nicht die nervige Mutter bin, die darauf besteht, noch ein Foto von sich und ihren frischgebackenen Hochschulabsolventinnen schießen zu lassen, wenn ich nicht da bin, um euch an eurem Hochzeitstag beim Ankleiden zu helfen, und wenn ich euch nicht eure Neugeborenen abnehmen kann, damit ihr schlafen könnt. Und jedes Mal, wenn ihr euch nach mir sehnt, wird es immer wieder von Neuem wehtun, und ihr werdet euch fragen: „Warum?“

Ich weiß nicht, ob meine Worte euren Schmerz je werden lindern können. Aber es wäre nachlässig von mir, es nicht zumindest zu versuchen.

Meine Geschichtslehrerin in der siebten Klasse, Mrs Olson, eine verrückte Exzentrikerin, aber auch eine hervorragende Lehrerin, pflegte unsere „Das-ist-ungerecht“-Teenager-Proteste (zum Beispiel, wenn sie uns mit einem unangekündigten Test überfiel oder wir das Spiel spielten, das wir das „ungerechte“ Quiz nannten) mit den Worten zu kontern: „Das Leben ist ungerecht. Gewöhnt euch daran!“ Aus irgendeinem Grund wachsen wir in dem Glauben auf, dass es gerecht zugehen sollte, dass Menschen fair behandelt werden sollten, dass es Gleichbehandlung und Chancengleichheit geben sollte. Diese Erwartungshaltung muss ihren Ursprung darin haben, in einem reichen Land aufzuwachsen, in dem Rechtsgrundsätze so fest verankert sind. Schon im zarten Alter von fünf Jahren schriet ihr beide nach Gerechtigkeit, als ob es sich dabei um ein grundlegendes Menschenrecht handeln würde (ihr fandet es zum Beispiel ungerecht, dass Belle einen Film sehen durfte, Mia jedoch nicht). Vielleicht sind diese Gerechtigkeits- und Gleichheitsansprüche also fest in der menschlichen Psyche und in unserem moralischen Kompass verankert. Ich bin mir nicht sicher.

Was ich jedoch sicher weiß, ist, dass Mrs Olson recht hatte. Das Leben ist ungerecht. Ihr wärt töricht, wenn ihr Gerechtigkeit erwarten würdet, zumindest wenn es um Fragen von Leben und Tod geht. Um Angelegenheiten außerhalb des Geltungsbereichs des Rechts, um Dinge, die nicht durch menschliche Anstrengung bewirkt oder beeinflusst werden können, um Dinge, die eindeutig in den Zuständigkeitsbereich Gottes gehören oder dem Glück, dem Schicksal oder dem Einfluss einer anderen unbekannten, unbegreiflichen Macht zuzuschreiben sind.

Ich bin zwar nicht ohne Mutter aufgewachsen, habe jedoch auf andere Weise gelitten und schon, als ich noch jünger war als ihr, begriffen, dass das Leben nicht gerecht ist. Ich sah all die anderen Kinder, die Fahrrad fahren und Tennis spielen konnten und die keine Lupe zum Lesen benötigten. Das schmerzte mich auf eine Weise, die ihr jetzt vielleicht verstehen könnt. Mich sahen die Leute auch mitleidig an, was ich gehasst habe. Mir waren auch Chancen verwehrt. Im Sportunterricht war ich immer die Punktezählerin und habe bei den Spielen nie mitgespielt. Meine Mutter hielt es nicht für lohnenswert, dass ich wie meine Geschwister im Anschluss an die englischsprachige Schule Chinesisch lernte, weil sie glaubte, dass ich die Schriftzeichen sowieso nicht würde erkennen können. (Später, als ich auf dem College war und während meines Studiums im Ausland, habe ich natürlich Chinesisch gelernt und konnte die Sprache schließlich besser als meine Geschwister.) Für ein Kind gibt es nichts Schlimmeres, als in negativer, bemitleidenswerter Weise anders zu sein als die anderen. Ich war oft traurig und habe in meiner einsamen Wut geweint. Wie ihr habe ich unter einem Verlust gelitten, dem Verlust meiner Sehkraft, was den Verlust von so viel mehr bedeutete. Ich war voller Kummer. Ich fragte nach dem Warum. Ich hasste die Ungerechtigkeit, als die ich all das empfand.

Meine süßen Kleinen, ich weiß keine Antwort auf die Frage nach dem Warum, zumindest jetzt nicht und nicht in diesem Leben. Aber ich weiß, dass dem Leiden und dem Schmerz ein unglaublicher Wert innewohnt, wenn ihr diese Gefühle zulasst, wenn ihr weint, wenn ihr Trauer und Kummer empfindet und euch verletzt fühlt. Geht durchs Feuer und ihr werdet am anderen Ende unversehrt und gestärkt herauskommen. Das verspreche ich euch. Letztlich werdet ihr Wahrhaftigkeit, Schönheit, Weisheit und Frieden finden. Ihr werdet begreifen, dass nichts für immer fortbesteht, kein Schmerz und keine Freude. Ihr werdet begreifen, dass Freude nicht ohne Traurigkeit existieren kann. Erleichterung kann nicht ohne Schmerz existieren. Mitgefühl nicht ohne Grausamkeit. Ohne Angst gäbe es keinen Mut. Ohne Verzweiflung gäbe es keine Hoffnung. Weisheit kann nicht ohne Leiden existieren. Dankbarkeit nicht ohne Entbehrung. Das Leben ist voller paradoxer Widersprüche. Zu leben heißt, sich durch diese Widersprüche hindurch zu manövrieren.

Ich war meiner Sehkraft beraubt. Und dennoch hat mich dieses absolut bedauernswerte Leiden zum Besseren verändert. Anstatt dafür zu sorgen, dass ich mich in Selbstmitleid ergehe, hat meine Blindheit mich dazu angehalten, ambitionierter zu sein. Sie hat mich einfallsreicher und findiger gemacht. Sie hat mich gelehrt, um Hilfe zu bitten und mich nicht für meine körperliche Unzulänglichkeit zu schämen. Sie hat mich gezwungen, ehrlich zu mir selbst zu sein, meine Grenzen zu erkennen und letztlich auch anderen gegenüber ehrlich zu sein. Sie hat mich gelehrt, stark und belastbar zu sein.

Ihr seid eurer Mutter beraubt. Als eure Mutter wünschte ich, dass ich euch vor dem Schmerz bewahren könnte. Aber als eure Mutter möchte ich auch, dass ihr den Schmerz zulasst, dass ihr ihn durchlebt, annehmt und letztendlich durch ihn lernt. Seid stärkere Menschen durch euren Schmerz, denn ihr wisst, dass ihr von meiner Kraft erfüllt seid. Seid einfühlsamere Menschen durch den Schmerz. Versetzt euch in die hinein, die auf ihre eigene Weise leiden. Erfreut euch dadurch, dass ihr den Schmerz kennengelernt habt, erfreut euch am Leben und an seiner Schönheit. Lebt für mich mit besonderer Lust und Begeisterung. Seid in einer Weise dankbar, in der nur jemand dankbar sein kann, der so früh seine Mutter verloren hat, in dem Wissen, wie unsicher und kostbar das Leben ist. Das ist meine Herausforderung an euch, meine beiden Süßen: Nehmt die hässliche Tragödie an und verwandelt sie in eine Quelle der Schönheit, der Liebe, der Kraft, des Muts und der Weisheit.

Viele mögen mir nicht zustimmen, aber ich habe immer geglaubt, wirklich immer, auch als altkluges kleines Mädchen, das allein in seinem Bett geweint hat, dass unsere Bestimmung in unserem Leben darin besteht, jede Erfahrung zu machen, die wir nur machen können. Nur so können wir so viel von dem menschlichen Dasein verstehen, wie es in einem Leben nur irgend möglich ist, egal, wie lang oder kurz unser Leben auch sein mag. Wir sind auf dieser Welt, um die komplexe Palette der Gefühle zu empfinden, die das Menschsein mit sich bringt. Und aus diesen Erfahrungen heraus weitet sich unsere Seele und wächst und lernt und verändert sich, und wir verstehen ein bisschen besser, was es wirklich bedeutet, ein Mensch zu sein. Ich nenne das die Evolution der Seele. Ihr sollt wissen, dass eure Mutter ein unglaubliches Leben gelebt hat, das mit mehr als dem „gerechten“ Anteil an Schmerz und Leid erfüllt war, erst durch die Blindheit und dann durch den Krebs. Und ich habe zugelassen, dass der Schmerz und das Leid mich geprägt und verändert haben, aber zum Besseren.

In den Jahren nach meiner Diagnose habe ich in einem Maße Liebe und Mitgefühl kennengelernt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich habe die intensivsten Dimensionen menschlicher Zuwendung erlebt und erfahren. Das hat mich durch und durch demütig gemacht und mich dazu gezwungen, ein besserer Mensch zu werden. Ich habe eine Todesangst kennengelernt, die mich erdrückt hat. Dennoch habe ich diese Angst überwunden und Mut gefunden. Die Lektionen, die mich erst meine Blindheit und dann der Krebs gelehrt haben, sind zu zahlreich, als dass ich sie hier ausbreiten könnte. Aber ich hoffe, dass ihr, wenn ihr das Folgende lest, verstehen werdet, wie es möglich ist, sich durch eine Tragödie in positiver Hinsicht zu verändern, und dass ihr erfahrt, was der wahre Wert des Leidens ist. Der Wert des Lebens eines Menschen wird nicht durch die Anzahl der gelebten Jahre bestimmt. Was zählt, ist vielmehr, wie gut dieser Mensch die Lektionen seines Lebens gelernt hat und wie gut er die vielfältigen unerfreulichen Aspekte der menschlichen Erfahrung begriffen und das Wesentliche für sich herausgezogen hat. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, hätte ich mich dafür entschieden, noch viel länger bei euch zu bleiben. Doch wenn ihr aus meinem Tod lernt, wenn ihr die Herausforderung annehmt und aufgrund dessen, dass ihr den Tod eurer Mutter erleben musstet, zu besseren Menschen werdet, dann würde das meiner Seele unendlich viel Freude bereiten und Frieden schenken.

Ihr werdet allein und einsam sein, aber begreift trotzdem, dass ihr nicht allein seid. Es stimmt, dass wir allein durchs Leben gehen, weil nur wir empfinden, was wir empfinden, und jeder von uns seine eigenen Entscheidungen trifft. Aber es ist möglich, die Hand auszustrecken und diejenigen zu finden, die so sind, wie ihr seid, und indem ihr das tut, werdet ihr euch nicht mehr so einsam fühlen. Dies ist ein weiterer Widerspruch des Lebens, mit dem ihr lernen werdet klarzukommen. Vor allem habt ihr beiden euch gegenseitig als Stütze. Ihr seid Schwestern und das gibt euch ein Band der Blutsverwandtschaft und gemeinsame Erfahrungen, die einzigartig sind. Tröstet euch. Vergebt einander immer und liebt euch. Und ihr habt euren Daddy. Außerdem habt ihr Titi, Onkel Mau, Tante Nancy, Tante Caroline und Tante Sue und so viele andere liebe Freunde, die mich alle so gut kannten und geliebt haben – und die an euch denken, für euch beten und sich um euch kümmern. All die liebevolle Energie, die von diesen Menschen ausgeht, umgibt euch, sodass ihr euch nicht so einsam fühlen werdet.

Und nicht zu vergessen – wohin auch immer ich gehen werde, ein Teil von mir wird immer bei euch sein. Mein Blut fließt in euren Adern. Ihr habt die besten Eigenschaften von mir geerbt. Auch wenn ich physisch nicht anwesend bin, werde ich über euch wachen.

Manchmal, wenn ihr auf euren Instrumenten übt, schließe ich die Augen, damit ich besser hören kann. Und wenn ich das tue, überkommt mich oft dieses absolute Wissen, dass, wann immer ihr Geige oder Klavier spielt, wenn ihr euch dem Musizieren mit Leidenschaft und Engagement hingebt, die Musik und die spezielle Kraft, die ihr innewohnt, mir ein Zeichen geben werden und ich bei euch sein werde. Ich werde bei euch sitzen, euch dazu anhalten, die Stücke noch mal und noch mal zu spielen, zu zählen, die Ellbogen richtig zu halten und korrekt zu sitzen. Und dann werde ich euch umarmen und euch sagen, wie toll ihr gespielt habt und wie stolz ich auf euch bin. Versprochen. Sogar lange, nachdem ihr beschlossen haben werdet, nicht mehr zu musizieren, werde ich in jenen außergewöhnlichen und gewöhnlichen Momenten des Lebens, in denen ihr etwas mit absoluter Leidenschaft und Hingabe tut, zu euch kommen. Vielleicht, wenn ihr auf einem Berggipfel steht und die einzigartige Schönheit genießt und stolz darauf seid, es bis ganz nach oben geschafft zu haben. Oder wenn ihr zum ersten Mal euer Baby in den Armen haltet. Oder wenn ihr weint, weil jemand oder etwas euer zartes Herz gebrochen hat. Oder vielleicht auch, wenn ihr schlecht gelaunt die ganze Nacht durcharbeitet, sei es für die Schule oder später im Beruf. Ihr sollt wissen, dass eure Mutter einmal das Gleiche empfunden hat, was ihr empfindet, und dass ich da bin und euch an mich drücke und euch ansporne weiterzumachen. Ich verspreche es.

Ich habe oft geträumt, dass ich, wenn ich sterbe, endlich wissen werde, wie es ist, die Welt ohne Sehbehinderung zu sehen, weit in die Ferne zu blicken, die kleinen Details eines Vogels zu erkennen, ein Auto zu fahren. Oh, wie sehr ich mich selbst nach all den Jahren, in denen mir mein Sehvermögen nicht vergönnt war, danach sehne, perfekt sehen zu können. Ich sehne den Tod herbei, damit er mich vollständig macht, damit er mir gibt, was mir in diesem Leben versagt war. Ich glaube, dass dieser Traum wahr werden wird. Genauso werde ich auf euch warten, wenn eure Zeit gekommen ist, sodass auch ihr bekommt, was euch versagt war. Aber bis es so weit ist, lebt, meine geliebten kleinen Mädchen. Lebt ein Leben, das es wert ist, gelebt zu werden. Lebt in vollen Zügen, schöpft das Leben voll aus, lebt es mit Bedacht und in Dankbarkeit, mutig und klug. Lebt!

Ich liebe euch beide für immer, bis in die Ewigkeit, durch Raum und Zeit. Vergesst das nie.

Mommy

Sommer und Herbst 2013

3

Wie stehen die Chancen?

Es sollte eine Hochzeit im Familienkreis werden. Im Hochsommer 2013 kamen alle in Los Angeles zusammen, um gemeinsam den glücklichsten Tag meiner großartigen jüngeren Cousine zu feiern. Ich habe es nicht zur Feier geschafft. Josh und ich waren mit Mia und Belle von New York rübergeflogen und wollten etwa eine Woche bleiben. Seit ungefähr einem Monat vor unserem Abflug verspürte ich ein Unwohlsein im Magen, irgendwie unbestimmbar, es fühlte sich einfach nicht normal an. Übelkeit, Krämpfe und Verstopfung hatten mich veranlasst, einen Gastroenterologen aufzusuchen, aber es schien nichts Ernsthaftes zu sein. In L. A. bekam ich dann heftige Brechanfälle, die dafür sorgten, dass ich die Hochzeit in der Notaufnahme verbringen musste.

Eine Darmspiegelung ergab, dass sich in der Mitte meines Querkolons eine Masse befand; der Dickdarm war fast vollständig blockiert. Im Diagnoselexikon ist eine „Masse“ so ziemlich das Letzte, das man von einem Arzt in seinem Inneren entdeckt haben möchte. Schon bevor eine Biopsie gemacht wurde, waren sich die Ärzte ziemlich sicher, dass ich Krebs hatte. Aber ganz sicher seien sie erst, wenn sie meinen Bauch öffneten.

Ich werde nie den Moment vergessen, als ich nach meiner Hemikolektomie im Aufwachraum zu mir kam. Josh wurde von Tim, dem Krankenpfleger, und Dr. D.C., dem Chirurgen, der mich operiert hatte, getröstet. Sie sagten ihm, dass er auf sich achten müsse, um sich um mich kümmern zu können. Tim fragte ihn, ob er schon etwas zu Abend gegessen habe, und bevor Josh antworten konnte, reichte er ihm ein Stück Pizza von seinem eigenen Abendessen. Selbst in meinem noch halbwegs narkotisierten Dämmerzustand war mir klar, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmen konnte, wenn alle so einen Wirbel um Josh machten, anstatt um mich, die Person, die gerade operiert worden war.

Als also Dr. D.C.s jugendliches Gesicht vor mir erschien, brachte ich krächzend hervor: „Ist es aussichtslos?“ Angesichts der Stimmung im Raum rechnete ich fest damit, dass die Antwort Ja lauten würde.

Doch stattdessen erwiderte Dr. D.C.: „Nein, aussichtslos nicht. Es ist sehr ernst, aber aussichtslos ist es nicht.“ Er erklärte mir, dass er den Tumor erfolgreich entfernt habe, jedoch am Bauchfell oberhalb der Blase eine „Abtropfmetastase in der Größe einer Erbse“ entdeckt habe, eine Absiedelung des Haupttumors. Ich dachte mir, okay, das klingt doch gar nicht so schlimm – eine Absiedelung in der Größe einer Erbse, die ebenfalls entfernt worden war. Warum war Josh dann so durch den Wind?

Ich lag benebelt da, ließ mich von den um mich herum geführten Gesprächen berieseln und bemühte mich, meine Sinne zu schärfen. Dr. D.C. sagte, dass ich mich an nichts würde erinnern können, was an diesem Abend besprochen werde. Josh entgegnete darauf, dass er sich da mal nicht so sicher sein solle. Ich lächelte in mich hinein. Die Jahre unseres Zusammenseins hatten Josh gelehrt, dass ich ein Gedächtnis wie ein Elefant hatte und nichts vergaß, ob ich nun von Betäubungsmitteln benommen war oder nicht (insbesondere, wenn es sich um etwas handelte, das ich gegen ihn verwenden konnte).

Ich erinnere mich tatsächlich an viele Details jenes Abends. Abgesehen davon, dass ich mich an die typischen körperlichen Beschwerden erinnere, die einem zu schaffen machen, wenn man gerade eine schwere Operation hinter sich hat, erinnere mich daran, gedacht zu haben, dass die Operation viel länger gedauert haben musste als die geschätzten zweieinhalb Stunden, da es draußen bereits dämmerte. Ich weiß noch, dass mein Bruder und meine Cousine mich in meinem Krankenzimmer besucht haben. Vor allem aber erinnere ich mich daran, dass alle Anwesenden in dem Raum mit Zahlen um sich warfen. Eine Abtropfmetastase. Stadium IV. Sechs Prozent, 8 Prozent, 10 Prozent, 15 Prozent. Dreißig Jahre alte Zahlen.

Da in einem anderen Teil meines Körpers eine Absiedelung meines Haupttumors gefunden worden war, wurde ich, ungeachtet der Größe der Metastase, in die Kategorie Stadium IV eingestuft. Dickdarmkrebs im Stadium IV wird mit sehr geringen Überlebensraten assoziiert; sie liegen zwischen 6 und 15 Prozent. Dr. D.C. erklärte Josh an jenem Abend mehrmals, dass die Statistiken zur Überlebensquote auf dreißig Jahre alten Studien basierten und deshalb nicht zwingend aussagekräftig seien.

Als ich begriffen hatte, dass sich alle wegen der Zahlen Sorgen machten, verstand ich, warum Josh so beunruhigt war. Josh liebt Zahlen. Er kann komplizierte Berechnungen im Kopf lösen. Als wir frisch verliebt waren, hat er mich immer wieder gefragt: „Was glaubst du, wie stehen wohl die Chancen, dass wir heiraten?“ Er hat sich jedes Super-Bowl-Ergebnis seit der ersten Austragung des Super Bowl eingeprägt. Er kann sich erinnern, dass Roger Federer 2009 beim zweiten Satz der dritten Runde in Wimbledon 5:3 zurücklag. Für ihn, wie auch für viele andere, bringen Zahlen Ordnung in eine ansonsten chaotische Welt der Willkür. Deshalb war es für ihn verständlicherweise niederschmetternd, erfahren zu müssen, dass seine Frau Dickdarmkrebs im Stadium IV hatte und die Wahrscheinlichkeit, dass sie in fünf Jahren noch leben würde, im einstelligen Prozentbereich lag.

Josh schluchzte in jener Nacht und in den frühen Morgenstunden, während er in seinem Liegesessel, der ihm als Bett diente, immer wieder die Überlebensraten für Dickdarmkrebs im Stadium IV googelte. In der Dunkelheit meines Krankenhauszimmers tauchte der leuchtende Bildschirm seines iPads sein Gesicht in ein schauriges Licht. Um mich nicht aufzuregen, wollte er nicht mit mir über die Statistiken reden, aber Josh kann nie etwas vor mir verbergen – das ist einer der Gründe, warum ich ihn so liebe.

Und dann konnte er es kaum glauben, dass die Zahlen mich nicht wirklich aufregten. „Na und?“, entgegnete ich. „Begreifst du es denn nicht?“, entgegnete er. Er wollte, dass ich den Ernst der Lage erfasste.

So sehr Josh mich auch liebt – eine fundamentale Wahrheit über mich kann er nicht verstehen. Das liegt einfach daran, dass er nicht mein Leben gelebt hat. Er versteht nicht, dass meine bloße Existenz auf diesem Planeten ein Beweis dafür ist, wie wenig Bedeutung Zahlen für mich haben. Zahlen bedeuten nichts. In jener Nacht forderte ich ihn auf, in Gedanken in das Jahr 1976 zurückzugehen, in die Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit des kommunistischen Vietnams. Er sollte sich vor Augen führen, wie hoch in dieser Situation wohl die Wahrscheinlichkeit gewesen war, dass ein blindes Mädchen es aus dieser unvorstellbaren Armut heraus schaffen würde. Dass es dem Stigma, mit einem körperlichen Mangel belastet zu sein, aufgrund dessen kein Mann es je würde heiraten wollen und der es unwürdig machte, je Mutter eines Kindes zu werden, entkommen würde, und dass dieses Mädchen die Schande ausgehalten hat, für immer die Bürde einer stolzen Familie zu sein, die sich, solange sie lebte, um sie würde kümmern müssen wie um eine Behinderte.

Ich forderte Josh auf zu berechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass dieses kleine Mädchen auf dem Meer überleben würde, wo so viele erwachsene Männer ertranken. Wie groß war wohl die Chance, trotz seiner jahrelangen Schädigung des Sehnervs ein wenig Sehkraft zu erlangen, später trotz der niedrigen familiären Erwartungen, die auf Immigrantenunkenntnis zurückzuführen waren, schulischen Erfolg zu haben, einen Abschluss an der Harvard Law School zu schaffen und Karriere als Juristin in einer der angesehensten internationalen Anwaltskanzleien zu machen? Und wie groß war schließlich die Wahrscheinlichkeit, einen gut aussehenden, klugen Mann aus dem Süden der USA zu heiraten und zwei hübsche Töchter mit ihm zu bekommen? Dies alles konnte Josh natürlich nicht berechnen.

Josh verbrachte viele Stunden mit dem Lesen medizinischer Studien, mit dem Ziel, meine Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Wie in meinem Fall statt vieler Metastasen nur eine einzige zu haben, brachte mir ein paar zusätzliche Prozentpunkte, genauso wie mein Alter, mein Fitnesslevel und die Tatsache, dass ich Zugang zu der besten medizinischen Versorgung der Welt und wunderbare Unterstützung hatte. Laut Josh sorgte all dies dafür, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich in fünf Jahren noch lebte, auf ungefähr 60 Prozent anstieg, was für ihn entschieden besser klang als 6 Prozent.

Um ehrlich zu sein, klangen 60 Prozent in meinen Ohren auch nicht gerade so toll. Alles unter 100 Prozent war zu wenig. Aber wie wir alle wissen, trifft im Leben nichts mit einer 100-prozentigen Wahrscheinlichkeit ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau unter vierzig Dickdarmkrebs bekommt, liegt laut einer Veröffentlichung der Mayo Clinic bei 0,08 Prozent. Josh erzählt mir solche Dinge, weil ich selber nichts googele, was mit Statistiken zu tun hat. Diese Zahl berücksichtigt sowohl Frauen, bei denen die Ursache der Krebsentstehung genetisch bedingt ist als auch solche, bei denen die Krankheit nicht auf eine Erbschädigung zurückzuführen ist. Bei meinem Tumor ließen sich keine genetischen Marker feststellen, was bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich an Dickdarmkrebs erkrankte, bei weniger als 0,08 Prozent lag. Mein phänomenaler Internist sagte mir, dass er in seinen siebenunddreißig Berufsjahren noch keinen einzigen Fall gehabt habe, bei dem jemand, der so jung war wie ich, aufgrund nicht genetischer Ursachen an Dickdarmkrebs erkrankt war. Sollte ich mich da nicht als etwas Besonderes fühlen? Immerhin lag die Wahrscheinlichkeit, keinen Dickdarmkrebs zu bekommen, zu jenem Zeitpunkt meines Lebens bei 99,92 Prozent, und es hat mich trotzdem erwischt.

Zahlen bedeuten also nichts. Sie verleihen weder Zuversicht noch verschärfen sie die Situation. Klar, es wäre besser gewesen, wenn bei mir Krebs im Stadium I festgestellt worden wäre und der Tumor nicht gestreut gehabt hätte, aber selbst wenn die Chancen gut für dich stehen, kannst du am Ende doch verlieren. Trotz Joshs Besessenheit, was statistische Wahrscheinlichkeiten anbelangt, sagte er mir immer, wenn entgegen allen Erwartungen eine Außenseiter-Mannschaft ein Football- oder Basketball-Spiel gewann: „Deshalb müssen diese Spiele gespielt werden.“

Tja, ich bin hier und spiele das Spiel und beschließe, nicht nach den Vorhersagen der Wahrscheinlichkeitsberechner zu leben und zu sterben. Ich beschließe, den Prozentzahlen keinen Glauben zu schenken, die von irgendwelchen anonymen Forschern auf der Suche nach einem Haufen Daten zusammengetragen wurden. Stattdessen beschließe ich, an mich selbst zu glauben, an meinen Körper, meinen Verstand, meinen Geist, an all die Teile von mir, die schon so geübt darin sind, den Wahrscheinlichkeiten zu trotzen. In der Serie Friday Night Lights pflegte Trainer Taylor seiner zusammengewürfelten Football-Mannschaft, den Dillon High School Panthers, zu sagen: „Klare Augen, volle Herzen können nicht verlieren!“

Ich habe klare Augen und ein volles Herz.

4

Gespenster

In den ersten vierundzwanzig Stunden nach meiner Diagnose wurde mein Körper jedes Mal, wenn ich an meine Kinder dachte, von unerbittlichen Schluchzern geschüttelt. Ich hatte mir oft ausgemalt, zu was für Frauentypen meine beiden Mädchen wohl eines Tages heranwachsen würden. Der Gedanke, nicht mehr da zu sein, um zu sehen, ob aus Mia tatsächlich eine kluge, sensible, unnahbare Schönheit und aus Belle ein geselliger, charismatischer Hitzkopf werden würde, sorgte dafür, dass mein ohnehin geplagter Magen noch mehr schmerzte und es mir das Herz zerriss wie nichts anderes je zuvor in meinem Leben. Vor meinem geistigen Auge zu sehen, wie die beiden untröstlich und vergeblich weinend nach mir riefen, damit ich mich in der Nacht zu ihnen legte und ihre Wehwehchen wegküsste, zu sehen, wie sie weinend nach irgendjemandem verlangten, nach wem auch immer, damit er sie so innig lieben möge wie ich, zerriss mein Inneres in eine Million Stücke.

Also hörte ich aus Selbstschutz auf, an sie zu denken. Ich bat Josh, sie nicht ins Krankenhaus mitzubringen, und wenn er es trotzdem tat, hielt ich die seltenen Besuche sehr kurz. Es waren ausnahmslos unerfreuliche Besuche. Mia drängte kurz nach dem Eintreffen schon wieder zum Aufbruch, weil die Schläuche, die aus ihrer Mommy ragten, sie zweifelsohne verängstigten, und Belle wurde zwangsweise meines Zimmers verwiesen, weil sie uns alle ihrem herzzerreißenden Geschrei aussetzte. Meine beiden Kleinen wurden die Kinder von anderen. Ich wusste, dass meine Eltern und meine Schwester sich gut um sie kümmerten und sie von einer ganzen Schar von Verwandten bespaßt wurden. Das reichte mir. Während jener Tage im Krankenhaus, als ich vom Schock der Diagnose noch total durch den Wind war, daran arbeitete, mich damit abzufinden, und mich von der Operation erholen musste, hatte ich meinen Kindern nichts zu bieten.

In jenen ersten Tagen konnte ich meine Kinder nur als Opfer des Krieges sehen, den ich begonnen hatte, eines Krieges, den ich mir nicht ausgesucht hatte. Wir waren alle Opfer des Krebses, und die beiden hatten es am wenigsten verdient.

Und dann sorgte meine süße, verrückte, unartige Isabelle, das Kind, das zur gleichen Zeit in meinem Körper herangewachsen war wie der Krebs, dafür, dass ich anfing, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen.

Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, blieben wir noch zwei Wochen in einem gemieteten, möblierten Ferienhaus in der Nähe von Beverly Hills, anstatt direkt nach New York zurückzufliegen. Ich wollte noch ein wenig länger in Los Angeles bleiben, um bei den Ärzten, die mich behandelt hatten, Nachuntersuchungen durchführen zu lassen, mich zu erholen und mit Angehörigen und Freunden zusammen zu sein, die ich sonst nicht oft sehen konnte. Das Haus meiner Eltern lag ungünstig auf der Ostseite der Stadt. Das Haus, das wir mieteten, war günstig und erfüllte seinen Zweck, aber es war alt, schmutzig und dringend renovierungsbedürftig. Und zu alledem spukte es auch noch in dem Haus.

Am zweiten Abend nach unserem Einzug in unser gemietetes Haus sagte Belle auf dem Weg durch den üblichen Verkehr auf dem Olympic Boulevard plötzlich mit ihrer Babystimme: „Mommy, ich habe Angst vor der Dunkelheit.“ Es war das erste Mal, dass meine ungewöhnlich redegewandte jüngere Tochter, die noch nicht einmal zwei Jahre alt war, gesagt hatte, dass sie Angst vor der Dunkelheit habe. Aber, um ehrlich zu sein, hatte ich aufgehört, mich über die Dinge zu wundern, die aus ihrem Mund kamen, denn ich war zu dem Schluss gekommen, dass viele ihrer altklugen Bemerkungen der Tatsache geschuldet waren, dass sie die jüngere Schwester einer Dreieinhalbjährigen war, die selbst ziemlich scharfsinnig war. „Da sind doch ganz viele Lichter, Belle. Also musst du doch vor der Dunkelheit keine Angst haben“, beruhigte ich sie.

Später an diesem Abend bestanden die Mädchen darauf, dass ich mich zu ihnen ins Bett legte, vor allem Belle. Also legte ich mich an die Kante. Belle lag neben mir und Mia neben ihr. Nach ein paar Minuten der Stille richtete Belle sich auf und sagte erneut: „Mommy, ich habe Angst vor der Dunkelheit.“ In dem Zimmer war es wirklich dunkel, aber immerhin fiel von der Straßenbeleuchtung in schwaches Licht herein. „Mommy ist doch bei dir, Belle. Ich passe auf dich auf. Du musst dich vor nichts fürchten. Jetzt leg dich hin und schlaf!“ Sie gehorchte, richtete sich aber ein paar Sekunden später wieder auf und sah sich mit ihren dunklen, durchdringenden Augen in dem Raum um. „Aber Mommy, ich sehe Gespenster.“ Das war definitiv eine Premiere. Mia gestand, dass sie ihrer Schwester etwas über Gespenster erzählt hatte, und ich glaubte ihr. Einige Monate zuvor hatten sie sich beim Spielen mal Decken über den Kopf gezogen, waren bei helllichtem Tag herumgelaufen und hatten „Buh!“ gerufen. Aber dass Belle von Gespenstern redete und diese mit Angst vor der Dunkelheit assoziierte, überstieg doch ein wenig das, was ich von ihr erwarten konnte. Mir lief ein Schauer über die Arme.

In Anbetracht dessen, dass ich eine Woche zuvor operiert worden war und mir intensiv dessen bewusst war, wie viel näher der Tod an mich herangerückt war, fragte ich mich, ob der Todesengel in dem Zimmer war und ob mein hellsehendes Kind ihn sehen konnte.

In den darauffolgenden zehn Tagen hielt Belle immer mal wieder inne, egal, was sie gerade in dem Haus tat, und starrte mit diesem Blick in ihren Augen, der uns sagte, dass sie etwas sah, das wir nicht sehen konnten, auf eine bestimmte Stelle. Einmal fragte sie das, was sie sah: „Warum bist du zurückgekommen?“

Ein anderes Mal, als unsere langjährige Babysitterin Belle das Telefon ans Ohr hielt, damit sie deren Schwester Hallo sagte, was sie zuvor schon Dutzende Male getan hatte, erzählte Belle ihr, bevor sie etwas sagen konnte: „Ich sehe in diesem Zimmer ein Gespenst.“ Nachdem wir das Haus verlassen hatten, starrte Belle nie wieder irgendwo eine bestimmte Stelle an und redete nie wieder von Gespenstern. Aber ich habe keinerlei Zweifel daran, dass mein Kind in diesem gemieteten Haus irgendetwas gesehen hat. Ob es der Todesengel, ein Schutzengel oder ein anderer zufällig erschienener Geist war, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass meine Belle besonders ist, dass ihr etwas Magisches innewohnt.

Und nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus änderte sich Belles Verhalten mir gegenüber. Sie wurde eine Zeit lang ungewöhnlich anhänglich. Ich führte das auf die lange Trennung durch meinen Krankenhausaufenthalt zurück. Irgendwann ließ ihr intensiver Drang, mir nahe zu sein, schließlich nach. Jetzt kommt sie zum Beispiel plötzlich von hinten, schlingt ihre Arme um meinen Hals und drückt mich gut zehn Sekunden fest an sich, und zehn Sekunden sind für ein zweijähriges Kind eine lange Zeit. Manchmal drückt sie mir auch unvermittelt einen dicken, nassen Kuss auf den Mund und umarmt mich fest. Dann blicke ich ihr in dem Augenblick, bevor sie wieder weglaufen will, in die Augen und frage sie: „Wird es Mommy wieder gut gehen, Belle?“

Darauf antwortet sie immer „Ja“.

Belle ist zu jung, um zu verstehen, dass ihre Mommy krank ist, aber ich glaube, dass ein Teil ihrer alterslosen Seele begreift, was los ist. Wenn Belle mich umarmt, fühlt es sich an, als ob sie mir etwas von sich selbst gibt: von ihrer Hoffnung, ihrer Freude, ihrer Lebenskraft.

Als Belle anfing, Gespenster zu sehen, erinnerte ich mich an ein Gedicht, das ich in der Highschool gelesen hatte: „Ode: Hinweise auf die Unsterblichkeit“ von William Wordsworth, dem Dichter der Romantik. In dem Gedicht bringt er die Vorstellung zum Ausdruck, dass Kinder mit ihrer Unschuld, ihrer Reinheit und dem Wissen, dass sie einfach nur von Gott abstammen, bei ihrer Geburt „Wolkenglanz und Glorienschein“ nach sich ziehen. Erst der Prozess des Heranwachsens und der korrumpierende Einfluss der Gesellschaft und des Lebens beraubt sie, so Wordsworth, ihrer angeborenen engelsgleichen Güte, ein Stadium, das er in seinem Gedicht beschreibt als ihre „Zeit, wo auf den Gräsern und den Blumen lag der Glanz der Herrlichkeit“.

Und was ist mit uns Erwachsenen, deren Momente, in denen wir Wolkenglanz und Glorienschein nach uns zogen und auf den Gräsern und den Blumen der Glanz der Herrlichkeit lag, längst vergangen sind? Was ist mit denen von uns, die durch geplatzte Träume plötzlich bleibende Narben davongetragen haben und die vielleicht angesichts einer Krankheit und eines drohenden Verlusts von der eigenen Bitterkeit zerfressen werden? Was sollen wir tun? Wordsworth hat einen Rat für uns:

„Auch wenn das Licht, das mal so strahlend war,

mir immer nun ist unsichtbar,

auch wenn mir nichts kann wiederbringen jene Zeit,

wo auf den Gräsern und den Blumen lag der Glanz der Herrlichkeit,

so wollen wir vergessen jetzt die Kümmernis

und finden eher Kraft in dem, was bleibt und ist:

Im Mitgefühl, dem Grundvertrauen,

erfahren mal, auf die Erfahrung ist zu bauen, –

in tröstenden Gedanken, die uns quellen,

sobald wir Leid und Not uns müssen stellen, –

im Glauben, dessen Blick die Wand des Todes kann durchdringen, –

und in den Jahren, die uns Weisheit bringen.“

In der Tat wollen wir nicht dem nachtrauern, was verloren ist, sondern die Kraft in dem finden, was bleibt und ist, durch die Bindungen menschlichen Mitgefühls, das gemeinsamem Leid entspringt, und im Glauben daran, dass es etwas Größeres gibt, als wir es uns vorstellen können. Und die Kraft in dem zu finden, was bleibt und ist, bedeutet zweifellos auch, dass wir die Magie und das Wunderbare unserer starken Kinder wiederentdecken und uns beim Durchschreiten unserer dunkelsten Stunden von ihnen helfen lassen.

5

Die Kriegsführung und die Waffen

D as Absurde bei dem Ganzen ist, dass ich vor dieser verdammten Diagnose so gut in Form war wie nie zuvor in meinem Leben. Ich trainierte an fünf Tagen die Woche. Exakt drei Wochen nach meiner Operation rannte ich schon wieder zwanzig Minuten auf dem Laufband. Während des Trainings wuchs meine Wut auf den Krebs. Ich schrie die Krebszellen an: „Wie könnt ihr es wagen, meinen Körper zu verraten! Wie könnt ihr es wagen, mich meinem Mann, meinen kleinen Mädchen und allen anderen wegzunehmen, die mich lieben und brauchen! Ich werde euch aufspüren und euch zerstören!“ Ich schrumpfte auf die Größe der Krebszellen und begann sie mit bloßen Händen zu würgen und in ihre DNA selbst hineinzugreifen. Dann stellte ich mir vor, wie die Chemotherapie mir ein Schwert gab, mit dem ich die Krebszellen in Milliarden Stücke zerschmetterte. Andere Male hatte ich ein Gewehr. Aber nichts war so befriedigend, wie sie mit bloßen Händen zu zerquetschen.

Die Chemotherapie beginnt bald, denn es gibt Grund zur Annahme, dass sie umso effektiver ist, je früher man damit startet. Mein FOLFOX genanntes Therapieschema besteht aus einer Kombination von drei Wirkstoffen, von denen einer – Oxaliplatin – sehr stark ist. Häufig auftretende Nebenwirkungen sind: Neuropathie (Taubheitsgefühl und Kribbeln, einschließlich extremer Kälteempfindlichkeit in den Händen und Füßen), Übelkeit, Durchfall, Müdigkeit, ein geschwächtes Immunsystem, Schmerzen im Mund, Haarverlust. Ja, Haarverlust. Schrecklich! Also werde ich mir eine Perücke kaufen.

Ich gehe alle zwei Wochen ins Krankenhaus. Dort wird mir über einen Portkatheter (der mir im oberen Brustbereich implantiert wird) zwei Stunden lang intravenös als Infusion Oxaliplatin verabreicht. Anschließend gehe ich mit einer Pumpe nach Hause, mittels der mir während der folgenden zwei Tage die anderen beiden Wirkstoffe als Infusion zugeführt werden.

Der Arzt hat mir zudem dringend geraten, meine Ernährung auf eine pflanzenbasierte Kost umzustellen und jeglichen raffinierten Zucker von meinem Speiseplan zu streichen. Er hat zwar gesagt, es gebe keine fundierten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Annahme stützen, dass eine solche Ernährungsweise das Krebsrisiko oder das Risiko eines Wiederauftretens von Krebs verringere, aber ich dachte, dass es ja nicht schaden könnte, mich an den Rat zu halten. Das Wichtigste sei, so teilte uns der Arzt mit, dass es wirklich guten Grund zur Hoffnung gebe. Mein Alter, meine körperliche Verfassung, die Tatsache, dass alle sichtbaren Anzeichen meiner Krebserkrankung chirurgisch entfernt worden seien, und die Fortschritte bei der Chemotherapie seien alles Faktoren, die sich zu meinen Gunsten auswirkten. Angesichts nagender Selbstzweifel und Unsicherheit nicht den Glauben zu verlieren und zuversichtlich zu bleiben, ist definitiv der schwierigste Part, mit einer Krebserkrankung umzugehen. Doch meinen Verstand zu überlisten, ist nicht gerade meine Stärke. Das Leben, das ich gelebt habe, hat mich gelehrt, eine ziemlich schonungslose Realistin zu sein.

6

Abmachungen mit Gott

I ch bin nicht als Mitglied einer Religionsgemeinschaft aufgewachsen. Am nächsten kam ich religiösen Angelegenheiten, wenn meine Mutter den seit Generationen in unseren angestammten chinesischen Dörfern verehrten buddhistischen Göttern Opfer darbrachte oder am ersten und fünfzehnten Tag eines jeden Mondmonats die Geister meiner Vorfahren mit Opfergaben bedachte. Ich stand dann vor den Früchten – und bei besonderen Anlässen wie dem chinesischen Neujahrsfest vor dem pochierten Hühnchen, gebratenen Fisch und Reis –, hielt den brennenden Weihrauch und bat die Götter und meine Vorfahren um Dinge wie gute Schulnoten, die Möglichkeit, das College meiner Wahl besuchen zu dürfen, und natürlich um Gesundheit und Wohlstand für meine Familie.

Während der Beerdigung meiner Urgroßmutter, als ich zehn war, und der Beerdigung meiner Großmutter, als ich zwanzig war, habe ich die Sprechgesänge, die Verbeugungen und das Knien meiner Eltern, Onkel, Tanten, Großonkel und Großtanten, die alle ihre weißen Gewänder und Kopfschmuck trugen, einfach so imitiert und mitgemacht. Die philosophische Bedeutung dieser Rituale verstand ich nicht. Und die paar Male, bei denen ich mir die Mühe machte, meine Mutter zu fragen, konnte sie es mir auch nicht erklären. Niemand in unserer Familie ging in den Tempel, außer vielleicht am Neujahrstag, und niemand las religiöse Texte. Unsere quasi-religiösen Praktiken hatten ihre Wurzeln eher in den jahrhundertealten kulturellen und mythischen Traditionen des Dorflebens als in den esoterischen Lehren Buddhas und seiner Schüler, waren also nicht so geprägt, wie das religiöse Leben der jüdisch-christlichen Glaubensgemeinschaften des Westens. Doch in der Schule kam ich nicht darum herum, auch einige Lehren dieser anderen Religionen aufzunehmen, da in fast allen Gedichten, Theaterstücken, Kurzgeschichten und Romanen, die wir im Englischunterricht lasen, biblische Anspielungen vorkamen. Im Geschichtsunterricht erfuhr ich schließlich, dass der Judaismus und das Christentum die Entwicklung und den Weg der westlichen Zivilisation geprägt hatten.

Mit der Zeit glaubte ich also ein bisschen an alles und entwickelte meine eigene spirituelle und philosophische Herangehensweise ans Leben. Ich glaube an meine Vorfahren und daran, dass ihre Seelen über mich wachen. Und ich glaube an Gott, vielleicht nicht unbedingt an das Bild von Gott, wie es in der Bibel dargestellt wird, aber dennoch an ein allwissendes und allmächtiges Wesen. Ich glaube, dass Gott jenseits dessen ist, was mein kleines, beschränktes menschliches Gehirn begreifen kann, aber vielleicht ist meine grenzenlose Seele in Momenten größter Klarheit, in Momenten, die Buddha als die äußeren Grenzen der Erleuchtung bezeichnet, so gerade in der Lage, etwas zu erfassen. Der Einfachheit halber nenne ich all diese unsichtbaren Mächte Gott.

Während meiner Kindheit und Jugend habe ich viel mit Gott gesprochen (und ihn angeschrien), vor allem in schlaflosen Nächten, in denen ich wütend Antworten auf meine Fragen verlangte, die im Grunde alle auf eine einzige Frage hinausliefen: Warum ausgerechnet ich? Natürlich hat sich seit Menschengedenken jeder diese Frage gestellt. Aber bei jedem stecken unterschiedliche Dinge dahinter. In meinem Fall lautete die Frage: Warum bin ich mit einem angeborenen Grauen Star zur Welt gekommen? Warum war ich gezwungen, ein durch Blindheit eingeschränktes Leben zu leben? Warum war ich für immer dazu verdammt, nicht mein volles Potenzial entfalten zu können? Immerhin hätte aus mir eine erfolgreiche Tennisspielerin werden können oder eine Spionin im Dienst der CIA oder eine legendäre Taucherin, so berühmt wie Jacques Cousteau. Warum durften alle meine Cousins, Cousinen, Freunde und Freundinnen Auto fahren und ich nicht? Warum waren all diese hübschen, wenn auch hirnlosen Mädchen immer von den attraktivsten Jungs umgeben, während ich wegen meiner dicken Brillengläser gemieden wurde? Ja, all diese Dinge, die einem beim Erwachsenwerden mit einer Sehbehinderung so wehtun, wurden zu einem gefundenen Fressen für meine wütenden Tiraden, die ich Gott entgegenschleuderte. Gott hatte mir viele Fragen zu beantworten.

Ich hörte genau zu, was er mir antwortete. Ich suchte mit meinem Verstand und meinem Herzen nach den Antworten auf meine Fragen. Ich fand sie schließlich im Laufe vieler Jahre. Ich gab mich dem Glauben an ein universelles Gleichgewicht hin, etwas, an das die Chinesen stark glauben und das sich in dem Prinzip des Yin und Yang manifestiert (zum Beispiel Mann und Frau, Erde und Himmel, Sonne und Mond, Gut und Böse). Nach dem karmischen Prinzip ist das Universum so geordnet, dass alle Dinge ins Gleichgewicht zurückkehren, und dieses Gleichgewicht wird – und muss sogar – eintreten.

Und so traf ich in meinen vielen schlaflosen Nächten eine Abmachung mit Gott. „Okay, Gott, wenn du mir diese Last aufbürdest, verlange ich eine Kompensation. Ich möchte, dass das Gleichgewicht meines Lebens wiederhergestellt wird. Für alles, was schlecht ist – und du musst zugeben, dass so eine starke Sehbehinderung eine starke Beeinträchtigung ist –, musst du mir etwas Gutes geben. Und das ist das ‚Gute‘, durch das ich dafür, dass du mir diese Bürde auferlegt hast, kompensiert werden will: Ich möchte die großartigste Liebe finden, die es auf dieser Welt gibt. Ich möchte jemanden finden, der mich bis ans Ende meiner Tage kompromisslos und beispiellos liebt.“ Das war meine einseitige Abmachung, die ich immer wieder mit Gott traf.

Ich glaube, ich war wie die meisten Teenager-Mädchen erfüllt von romantischen Vorstellungen, inspiriert durch Romane von Barbara Cartland und Groschenheftromanzen. Mein Vater verbat mir, irgendetwas zu lesen, das er in seinem gebrochenen Englisch als „Ich-liebe-dich-Bücher“ bezeichnete. Also überklebte ich die kitschigen Buchumschläge mit weißem chinesischem Kalenderpapier, und er ließ mich in Ruhe von meinem Traummann träumen. Es hatte durchaus gewisse Vorteile, Eltern zu haben, die kein Englisch lesen konnten. Von all den Dingen, die ich mir im Rahmen meines Deals mit Gott hätte wünschen können, entschied ich mich für die Liebe, denn Liebe zu finden, erschien mir als etwas Unerreichbares. Liebe zu finden, erschien mir als etwas, das sich meiner Kontrolle entzog, als etwas, das absolut vom richtigen Timing und vom Schicksal abhängt. Liebe zu finden war nicht so wie ein gutes Schulzeugnis zu bekommen, das man sich durch persönlichen Willen und eigene Anstrengungen erarbeiten kann. Doch vor allem hielt ich es für unerreichbar, die Liebe meines Lebens zu finden, weil ich mich für nicht liebenswert hielt. Ich meine, wer würde mich angesichts der körperlichen Beeinträchtigung, unter der ich litt, je haben wollen? Wer würde sich mich mit meiner Beeinträchtigung schon freiwillig auf den Hals laden und sich damit selbst das Leben schwer machen? Welcher begehrenswerte Mann wäre wohl gern gezwungen, mich durch die Gegend zu fahren, mir Speisekarten vorzulesen, mir die Treppen hinunterzuhelfen, von Paarsportarten wie Tennis ausgeschlossen zu sein und ertragen zu müssen, wie die Mitglieder seiner Familie und seine Freunde dieses unbeholfene Mädel mit den dicken Brillengläsern, das er sich zur Frau genommen hat, anstarren? Niemand, dachte ich.

Aber Gott ließ sich auf meine Abmachung ein!

Er ließ diesen großen, (irgendwie) dunklen, gut aussehenden und brillanten Mann in mein Leben treten: Josh. So unwahrscheinlich es auch sein mochte, dass dieser protestantische typische Mittelschicht-Südstaatler vor all den Jahren ahnungslos in das Büro dieser jungen vietnamesischen Einwanderin mit der Sehbehinderung stapfte, das sich im dreiundvierzigsten Stock eines noblen Wolkenkratzers in Lower Manhattan befand – die Kräfte des Universums (alias Gott) ließen es geschehen. Ich weiß, dass viele Menschen diese Art von Liebe, die Josh und mich verbindet, niemals finden, eine Liebe, die von Anfang an durch unglaubliche Herausforderungen auf die Probe gestellt und gestärkt wurde (die den lebensbedrohlichen Herausforderungen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, nicht unähnlich waren). Ich fand von Anfang an, dass Josh das gütigste und großzügigste Herz hatte, das ein Mensch nur haben kann (so makelbehaftet wir auch beide sein mögen), und ich habe mich immer nach Kräften bemüht und bemühe mich immer noch, sein Herz vor jedem und allem zu beschützen, das ihn bedroht. Das ist das Mindeste, was ich für diesen Mann tun kann, der mich so hingebungsvoll liebt. Für diesen Mann, der immer dafür sorgt, dass meine Wasserflasche gefüllt ist und der mich ins Bett bringt, wenn ich auf dem Sofa eingeschlafen bin. Für diesen Mann, der mir immer die Speisekarten vorgelesen hat, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Für diesen Mann, der mich einfach so liebt, wie ich bin.

Aber vor Krebs und all den schlechten Dingen, die sich meiner Kontrolle entziehen, kann ich ihn nicht beschützen. Ich kann ihn nicht vor der ihn inzwischen ständig begleitenden Angst beschützen, ohne mich leben zu müssen. Ich kann ihm dieses Gefühl der absoluten Hilflosigkeit nicht nehmen. Ich kann ihm nicht versprechen, dass ich diesen Krieg gewinnen werde. Ich hasse es zutiefst, was dieser Krebs ihm antut. Ich hasse es, wie er ihn zum Weinen bringt, ihn wütend macht und verzweifeln lässt. Ich hasse den Krebs stärker für das, was er Josh zufügt, als für das, was er mir zufügt.

Seit meiner Diagnose scheint sich die Angst um Josh und um meine Lieben in jedem Molekül meines Körpers eingenistet zu haben. Warum hat er am Wochenende so viel geschlafen? Könnte er Krebs haben? Was hat es mit den Handgelenkschmerzen und den Verdauungsbeschwerden auf sich, über die er klagt? Um meine Kinder mache ich mir ähnliche Sorgen. Hat Belle einen Gehirntumor, weil sie einmal das Gleichgewicht verloren hat? Hat Mia Krebs, weil ihr Stuhl neulich merkwürdig aussah? Krebs ist so heimtückisch, dass er deine Gedanken in jedem wachen Augenblick attackiert. Krebs ist weniger eine Krankheit als der Feind unserer Existenz, indem er dafür sorgt, dass unser Körper sich gegen uns wendet. Jedes noch so kleine Quäntchen Sicherheitsgefühl, das ich je verspürt habe, ist völlig zerstört. Wenn Krebs und schlimmer Mist einmal zugeschlagen haben, können und werden sie wieder zuschlagen. Das weiß ich.

Deshalb liege ich jetzt nachts wach, höre die Stimmen in meinem Kopf diese Fragen schreien und frage mich, was für furchtbare Dinge mir und meiner Familie als Nächstes widerfahren werden. Und dabei finde ich mich dabei wieder, eine andere Abmachung mit Gott zu treffen, wobei ich mich auf meine vor langer Zeit gehegten Vorstellungen über das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse besinne. Was bleibt mir in einer Welt, in der ich nichts unter Kontrolle habe, anderes übrig, als zu reden, zu schreien, zu schimpfen und Gott anzuflehen? Ich sage zu ihm: „Wenn du mir wieder diesen Mist antust, wenn du mir noch mehr Übel antust, mit dem ich in meinem Leben klarkommen muss, von mir aus. Ich komme damit zurecht. Das weißt du ja. Aber meinen Mann, meine Kinder, meine Geschwister, alle, die ich liebe – verschone sie! Verdammt! Lass sie in Ruhe! Mach mit mir, was du verdammt noch mal willst, aber wag es nicht, dich an ihnen zu vergreifen!“

In einer Selbsthilfegruppe sagte mir eine Frau, dass meine Abmachungen mit Gott meine Art und Weise seien zu beten. Ich habe sie nie als solches betrachtet, denn ich hatte immer ein angespanntes Verhältnis zu Gott. Aber egal, ob es nun Gebete oder Abmachungen waren, er hat mich erhört und seinen Teil des Deals bereits einmal eingehalten. Natürlich kann ich Gott nicht sagen, was er zu tun hat, und ganz offensichtlich gibt es gewisse Unvermeidlichkeiten im Leben wie Krankheit und Tod im fortgeschrittenen Alter, aber Gott weiß, wovon ich rede, und ich hoffe, dass er seinen Teil der Abmachung auch dieses Mal erfüllt.

7

CEA, PET, MRI …

W ie bereits erwähnt, dreht sich in meinem Leben jetzt alles um Zahlen. Wahrscheinlichkeiten, Datenpunkte, Lebenserwartungsquoten. Aber wenn man Darmkrebs hat, bestimmt vielleicht keine Zahl stärker darüber, wie man sich fühlt, als die Zahl, die aufgrund einer Blutuntersuchung Aufschluss über das Stadium der Krankheit gibt. Dieser Wert heißt CEA, und die Abkürzung steht für carcinoembryonales Antigen, ein schickes Wort für ein spezifisches Protein, das von Tumoren freigesetzt wird, insbesondere von Darm- und Rektumtumoren.

Sinkt dein CEA-Wert, sorgt der menschliche Hoffnungstrieb dafür, dass du dich besser fühlst. Steigt dein CEA-Wert, spürst du vielleicht noch intensiver als sonst, wie sehr sich dein Weg von dem Pfad der Lebenden abzuzweigen beginnt.

Vier Monate nach meiner Diagnose hatte ich einen CEA-Wert von 19,8 ng/ml. Das bedeutete, dass er während des zweiten Monats der Chemobehandlung um 1 ng/ml gesunken war, wohingegen er im ersten Behandlungsmonat um 6 ng/ml gefallen war. Obwohl in den Dickdarmkrebsforen und in den Selbsthilfegruppen alle sagen, dass der CEA-Wert bekanntermaßen ein unzuverlässiger Tumormarker sei und während der Chemotherapie sogar ansteigen könne, war ich aufgebracht, was sicher auch daran lag, dass ich generell immer alles perfekt machen will, also immer die Bestnote anstrebe, die vollen 100 Prozent. Als ich unter Schwangerschaftsdiabetes litt, habe ich wie besessen daran gearbeitet, meinen Zuckerspiegel durch Ernährung, Sport und schließlich Insulinspritzen in den optimalen Bereich zu bekommen und am Ende zwei vollkommen gesunde und nicht zu große Babys zur Welt gebracht.