Das Wunder von Mals - Alexander Schiebel - E-Book

Das Wunder von Mals E-Book

Alexander Schiebel

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Beschreibung

Pestizide! Überall auf der Welt sind sie auf dem Vormarsch. Überall? Nein! Ein von unbeugsamen Vinschgern bewohntes Dorf in Südtirol hört nicht auf, diesem Eindringling Widerstand zu leisten. Umgeben von industriellem Apfelanbau will Mals zur ersten pestizidfreien Kommune Europas werden. In einer Volksabstimmung entscheiden sich 76 Prozent der Bewohner gegen Glyphosat & Co. und für biologische Landwirtschaft und Naturschutz. Eine 5000-Seelen-Gemeinde, angeführt von einem Dutzend charismatischer Querdenker, fordert damit eine übermächtige Allianz aus Bauernbund, Landesregierung und Agrarindustrie zum Kampf heraus. Alexander Schiebel erzählt die Geschichte dieses Aufstandes und enthüllt dadurch das streng geheime Rezept jenes Zaubertrankes, der die mutigen Malser unbesiegbar macht. Eine Inspirationsquelle für Aufständische in aller Welt – und ein lebendiges Porträt jenes kleinen Dorfes, das sein Schicksal selbst in die Hand nehmen möchte.

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Alexander Schiebel
Das WUNDERvon Mals
Wie ein Dorfder Agrarindustriedie Stirn bietet
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2017 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Layout und Satz: Reihs Satzstudio, LohmarKorrektorat: Petra KienleLektorat: Eva Rosenkranz
Bildnachweis:Farbbogen: Gianni Bodini, außer Bild 1 (Torbogen), Bild 15 (Fähnchenbeschriftung), Bild 16 (Menschenkette): Christof Stache, Umweltinstitut München; Bilder 12, 13 und 14 (Transparente, Ja), Bild 17 (Strohpuppe): Malser AktivistenPorträts (s/w): Wolfgang Schmidt
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96006-226-4

Inhalt

1  Ein unbeugsames Dorf
Wie alles begann
2  Der weite Blick geht verloren
Erste Begegnungen
3  »Konflikte muss man ausfechten!«
Auf dem Weg zur pestizidfreien Gemeinde
4  Spuren der Verwüstung in Natur und Gesellschaft
Monokulturen und Massenproduktion: eine Bestandsaufnahme
5  »Lei net roggeln«
Gespräch mit Johannes Fragner-Unterpertinger, Apotheker von Mals und Kopf des Widerstands
6  Totenköpfe überall
Arsenal des Schreckens
7  Mörderische Zivilisation
Klösterliche Gedanken zu den Belastungsgrenzen der Erde
8  Es wird Zeit, etwas zu tun
Die Frauen von Mals
9  Mit der Natur arbeiten
Eckpfeiler einer Lösung
10  »Der Verzicht auf Pestizide ändert das System nicht.«
Gespräch mit Hans Rudolf Herren, Landwirtschafts- und Entwicklungsexperte
11  »Mir geht es darum, Mut zu machen.«
Begegnung mit Alexander Agethle, Biobauer und Vordenker einer agrarökologischen Landwirtschaft
12  »Wir führen keinen Kampf.«
Begegnung im Paradiesgarten von Robert und Edith Bernhard
13  »Ich habe großes Vertrauen in die Natur.«
Begegnung mit Ägidius Wellenzohn, Biobauer mit moderierter Wildnis
14  Der Malser Weg
Triumph bei der Volksabstimmung
15  Widerstand säen und wachsen lassen
Vom Umgang mit Niederlagen
16  Öffentlichkeit für die Wahrheit
Ein Facebook-Kanal für das »Wunder von Mals«
17  Zum Glück nicht gefoltert
Strafverfolgung und Wirtschaftssanktionen
18  Das Wunder geht weiter!
Politische Macht für das Votum der Malser
19  Die große Depression
Was uns zerstört, wächst schneller
20  Mein Wunder von Mals (Teil 1)
Alles fügt sich wie von selbst
21  Mein Wunder von Mals (Teil 2)
Rückenwind für die Pestizidgegner
22  Niemals lockerlassen (Teil 1)
Denn wir sind viele
23  Niemals lockerlassen (Teil 2)
Mit Eigensinn, Ausdauer und Vertrauen
1
Ein unbeugsames Dorf

Wie alles begann

In Österreich ist das Benzin viel günstiger«, sagt Gianni Bodini auf dem Weg zur Kassa. »Deshalb fahren viele Südtiroler extra hier herauf, um zu tanken.« Mit »hier herauf« meint Gianni Bodini den Reschenpass an der Grenze zwischen Österreich und Italien, zwischen Tirol und Südtirol. Mein Blick fällt auf ein Schild, das den »höchstgelegenen Campingplatz Österreichs« anpreist. Er liegt direkt hinter der Tankstelle und sieht wenig einladend aus. An der Kassa bestehe ich darauf, das Benzin bezahlen zu dürfen. Schließlich gebe es für die Teilnahme an unserem Filmprojekt kein Honorar. Gianni lässt sich schließlich überreden.
Bevor wir wieder in den Wagen steigen, sehe ich im ersten Stock des Tankstellengebäudes eine Schneewittchenfigur in einem der Fenster. Hinter den anderen Fenstern stehen die dazugehörigen Zwerge. Ich zähle nur sechs. Der siebte Zwerg fehlt. Doch er ist nicht der einzige Mangel. Alles an diesem Ort strahlt eine eigenartige Trostlosigkeit aus. Vielleicht weil die meisten der Gebäude nicht mehr benötigt werden. Wehmütig erzählen sie von einer anderen Zeit, ihrer früheren Bedeutung. Sie scheinen darüber zu klagen, dass heute niemand mehr anhält. Niemand kurbelt das Seitenfenster herunter, um seinen Reisepass vorzuweisen. Niemand wechselt hier Schilling in Lire oder umgekehrt. Niemand steigt hundert Meter nach dem Grenzübertritt aus, um feierlich den ersten italienischen Espresso zu trinken.
Auch Gianni Bodini und ich steigen nicht aus. Wir parken unseren Wagen zwar vor einem flachen Gebäude mit der Aufschrift Bar Spaghetteria Daniel, neben dessen Eingang eine italienische Flagge lustig im Wind flattert, aber nicht, um den Grenzübertritt zu zelebrieren, sondern um die vor uns liegende Arbeit zu besprechen. Im Inneren der Bar ist es so dunkel, dass man auf Kunstlicht angewiesen ist. In einer Ecke des Raums sitzt ein dicker Mann mit heruntergezogenen Mundwinkeln und einem Bart, der an einen Seehund erinnert. Er starrt auf ein Glas Bier, das vor ihm auf dem Tisch steht. Sonst ist die Bar menschenleer. Wir gehen zum Tresen und bestellen einen Espresso und eine heiße Schokolade bei einer etwa 30-jährigen Frau, die nur italienisch spricht. Gianni bringt in Erfahrung, dass diese Frau von Bologna hier heraufgekommen ist, weil sie weiter unten keine Arbeit gefunden hat. Mein Italienisch reicht aus, um Giannis Gespräch mit der Frau in groben Zügen zu folgen, doch es reicht nicht aus, um selbst auch nur einen Satz hervorzubringen. Es reicht übrigens auch nicht aus, um den italienischen Radiosprecher zu verstehen, der seine Moderationen in atemberaubender Geschwindigkeit vorträgt.
Zur Zeit der Römer führte die wichtigste Nord-Süd-Verbindung hier über den Reschenpass: die Via Claudia Augusta. Jahrhundertelang wurden hier Menschen und Waren vom Süden in den Norden und vom Norden in den Süden transportiert. Erst im 14. Jahrhundert, mit dem Bau einer Straße durch das Eisacktal, verlor der Reschenpass einen Teil seiner Bedeutung. Zum Glück, möchte man heute sagen. Während nämlich an diesem Morgen des 17. Oktober 2014 endlose Fahrzeugkolonnen über den Brennerpass und die Autostrada A22 durch das Eisacktal rollen, passiert den Reschenpass nur dann und wann ein vereinzeltes Fahrzeug.

The main ingredient is love

»Der Film soll eine Art Road-Movie werden«, erkläre ich Gianni. »Wir folgen dem Verlauf der Via Claudia Augusta durch ganz Südtirol, vom Reschenpass bis zur Salurner Klause, und halten unsere Augen offen, warten ab, was uns widerfährt.«
»Wie zum Beispiel unsere Begegnung mit einer Frau aus Bologna, die nur am Reschenpass Arbeit findet?«, fragt Gianni.
»Genau.«
Ich bestelle ein Croissant, das parfümiert schmeckt, und plaudere mit Gianni über die Hintergründe des Filmprojekts, dessen Dreharbeiten gerade beginnen. Produziert wird dieser Film für die aktuelle Kampagne der Südtirol-Werbung. Als Regisseur war ich ausgewählt worden, weil ich als Spezialist für einfühlsame Filmporträts gelte. Seit ich nämlich vor rund drei Jahren von Wien nach Südtirol übergesiedelt war, hatte ich Monat für Monat ein solches Filmporträt gedreht und auf der Website »Südtirol erzählt« veröffentlicht. Im Mittelpunkt standen jeweils besonders interessante Menschen, die mir ihre Geschichten ausführlich erzählten.
Im ersten Porträt der Serie ging es um den Bozner Eismacher Paolo Coletto. Das Interview hatte ich damals auf Englisch geführt, da ich noch kein Wort Italienisch verstand. Das Englisch von Paolo Coletto klang ziemlich genau wie das Englisch von Roberto Begnini im Film Down by Law. Und irgendwann sagte Paolo dann mit unnachahmlichem Akzent einen Satz, den ich nie vergessen werde: »Let’s face it – the main ingredient is love.«
Ich glaube, das trifft nicht nur auf das Handwerk des Eismachers zu, sondern auf jedes Handwerk. Ganz speziell auf mein eigenes. Immer wenn mein Herz bei einer Kameraeinstellung höher schlägt, immer wenn ich innerlich in Jubel ausbreche, während ich durch den Sucher der Kamera blicke, dann entstehen besondere Bilder. Andrej Tarkovsky sagte einmal über die Bilder, die er bei den Dreharbeiten seines Filmes Nostalgia machte, dass diese am Ende viel düsterer wirkten, als sie eigentlich dürften. Als ob sich Tarkovskys Gefühle damals in geheimnisvoller Weise auf die Bilder ausgewirkt hätten. »Ich glaube auch an die Übertragung von Gefühlen auf Zelluloid«, sage ich zu Gianni. »Obwohl es natürlich heute kein Zelluloid mehr ist. Was man mit Liebe tut, enthält diese Liebe schließlich auch.« Ich schaue ihm geradewegs in die Augen, um zu sehen, ob er mich nun für verrückt hält.
Gianni Bodini ist Fotograf. Seit Jahren erscheint Woche für Woche eines seiner Bilder in der Lokalzeitung des Vinschgau. Diese Bilder produziert er sehr aufwendig. Oft kehrt er zu einem Ort immer und immer wieder zurück, um mit großer Geduld auf den richtigen Augenblick zu warten. Er lächelt mich an. »Ich bin meine Bilder!« So werde er seine nächste Ausstellung nennen. »›Ich bin meine Bilder!‹ Das wird ihr Titel sein«, wiederholt Gianni Bodini. Er hält mich also nicht für verrückt. Und ich erinnere mich daran, dass eine seiner Ausstellungen der Grund für unsere Reise ist.
Gianni Bodini hatte nämlich eine Fotoausstellung über die Via Claudia Augusta zusammengestellt, die an verschiedenen Orten entlang der alten Römerstraße zu sehen war. Als ich diese Ausstellung vor einigen Monaten besuchte, kam mir die Idee zu diesem Filmporträt. Denn in gewisser Weise ist Gianni Bodini selbst ein Produkt der alten Römerstraße, die Norden und Süden verbindet. Ohne erkennbaren Grund war er als junger Italiener vor Jahren nach Südtirol gekommen, um sich im Vinschgau niederzulassen.
Als wir aus der Bar heraustreten, hat es zu regnen begonnen. Im Gegenlicht der aufgehenden Sonne sehen die Regentropfen wie silbrig-glänzende Fäden aus. Wir fahren los und überqueren nach kurzer Zeit den höchsten Punkt der Passstraße. Unser Blick fällt nun auf einen langgezogenen See. »Der Reschensee«, erklärt Gianni. »Ein künstlicher See. Ein Stausee.« Dahinter, in weiter Ferne, wird das Tal durch einen majestätischen Gebirgszug begrenzt. »Das Ortler-Massiv«; Gianni zeigt mit dem Finger auf einen hochaufragenden, schneebedeckten Gipfel an der östlichen Flanke des Gebirgszugs. »Und da auf der rechten Seite, das ist der Ortler selbst. König Ortler, wie die Einheimischen sagen. Mit einer Höhe von 3.900 Metern ist er der höchste Berg in Tirol.«

Zerstörte Kulturlandschaft für ein Überraschungsei

Die Straße schlängelt sich am Ufer des Sees entlang. In einiger Entfernung sehe ich die Spitze eines Kirchturms aus dem Wasser ragen. Ich kenne dieses Motiv schon von Ansichtskarten und aus Südtirol-Bildbänden. Am Ufer, dort, wo der Turm aus dem Wasser ragt, wurde ein Parkplatz für Touristen angelegt. Wir halten an und steigen aus. Gianni geht hinunter zum Ufer. Ich schlendere inzwischen zu einer großen Glasvitrine, die sich genau auf der Höhe des Kirchturms befindet. Sie enthält ein Modell, das zeigt, wie es hier früher aussah. Man sieht eine weite Hochebene mit zwei kleinen Naturseen: dem Reschensee, der am Nordrand des heutigen Stausees lag, und dem Mittersee an dessen Südrand. Genau unterhalb von mir, wo jetzt der Kirchturm aus dem Wasser ragt, befand sich das Dörfchen Graun. Auf der gegenüberliegenden Seite erstreckten sich die Weiler Arlund, Piz und Gorf. Eingebettet waren diese Ansiedlungen in rund 500 Hektar Kultur- und Naturlandschaft, entstanden in 1.000-jähriger Siedlungsgeschichte.
Ein kurzer Begleittext erklärt, dass es bereits in den 20er-Jahren Pläne gab, das Niveau der Naturseen durch einen Staudamm um fünf Meter anzuheben. 1939 wurden diese Pläne von der faschistischen Regierung geändert. Der Wasserspiegel sollte nun um 27 Meter steigen. Dies lag, so lese ich, im nationalen Interesse zur Stärkung der Industrie.
Durch den Krieg verzögerte sich der Baubeginn für den Stausee bis zum Jahr 1949. Die Bevölkerung wurde enteignet und umgesiedelt. 181 Wohnhäuser und landwirtschaftliche Gebäude wurden gesprengt. Nur den romanischen Kirchturm aus dem 14. Jahrhundert ließ man stehen. Denkmalschutz.
Die betroffenen Gemeinden, so lese ich, waren dagegen machtlos. Denn unter dem faschistischen Regime in Italien hatten die Gemeinden Südtirols von 1923 bis in das Nachkriegsjahr 1952 keine gewählten Volksvertreter, weder Gemeinderäte noch Bürgermeister. Im Spätsommer 1950 wurde schließlich das gesamte Gebiet unter Wasser gesetzt, und ein riesiger Stausee mit 677 Hektar Fläche entstand.
Ich lese nicht mehr weiter und lasse stattdessen meinen Blick schweifen. Etwa zwei Dutzend Touristen spazieren vom Parkplatz zum See oder vom See zum Parkplatz. Direkt vor mir posiert eine Familie mit Kindern fürs Erinnerungsbild. Sie sehen entspannt und glücklich aus. Auf der anderen Seite der Straße gibt’s ein Café mit Sonnenterrasse. Kuchen, Eis und kleine Imbisse. Es nennt sich »Kaffee zum Turm«.
Bevor ich nach Südtirol gekommen bin, habe ich in Wien beinahe zwei Jahre lang an einem Projekt mitgearbeitet, bei dem es darum ging, den ökologischen Fußabdruck von privaten Haushalten durch Grafiken sichtbar zu machen. Wie viel CO2-Ausstoß verursachen unsere verschiedenen Aktivitäten als Konsumenten? Wir verglichen Wäschetrockner, Waschmaschine, Geschirrspüler, Tiefkühlfächer, Wasserboiler, Fernsehgeräte usw., um herauszufinden, wo eine Veränderung unseres Lebensstils die größten Effekte haben würde. Die Liste der Elektrogeräte ist dabei nur als Beispiel zu verstehen. Es ging uns natürlich nicht nur um unseren direkten Energieverbrauch. Wir untersuchten auch verschiedene Formen der Mobilität, der Ernährung und des Konsums. Die Ergebnisse waren oft sehr naheliegend, hin und wieder aber auch verblüffend.
Unser Fußabdruck wird zum Beispiel dramatisch reduziert, wenn wir frische, regionale und saisonale Lebensmittel essen, am besten aus dem eigenen Garten, und damit auf die Tiefkühlpizza verzichten, deren Kühlung beim Produzenten, Händler und Konsumenten viel Energie verbraucht. Auch empfiehlt es sich, gegenüber dem Wäschetrockner der guten alten Wäscheleine den Vorzug zu geben. Im Bereich der Mobilität ist es am besten, so viele Fahrten wie möglich zu vermeiden und, wo das nicht geht, auf Muskelkraft zu setzen (zum Beispiel durch Fahrradfahren) und, wo auch das nicht geht, mit anderen gemeinsam zu fahren (im Autobus oder in der Bahn).
Und natürlich erwiesen sich auch zahlreiche Formen des Konsums als äußert fragwürdig. Zum Beispiel der Kauf eines Überraschungseis. Hier verschlingt bereits die Herstellung der Aluverpackung eine Menge Energie, ebenso wie die Produktion des Plastikeis und die Produktion jener seltsamen Gegenstände, die es in seinem Inneren verbirgt und die nach längstens zwei Tagen im Müll landen.
Es gibt unzählige Formen des Fortschritts, die gar keinen Fortschritt bedeuten, denke ich, als Gianni fragt: »Sollen wir weiterfahren?«
»Ja bitte, so schnell wie möglich.« Es gefällt mir nicht, dass eine über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft versenkt und ausgelöscht wurde für ein bisschen mehr Strom, für ein Überraschungsei und eine Tiefkühlpizza.

Wenn die Zeit stillsteht

Wir fahren durch eine Reihe von Galerien. Sie scheinen ziemlich alt zu sein, und ich vermute, dass sie die Straße vor Lawinen, Steinschlag oder Muren schützen sollen. Ihre Bauweise aus grobem Beton erinnert mich an Bunkeranlagen. Auf der rechten Seite sind diese Galerien zum See hin geöffnet. Das Wechselspiel von Licht und Schatten, das Auftauchen und das neuerliche Eintauchen in diese Galerien hat eine hypnotisierende Wirkung auf mich. Ich zähle sieben Galerien, habe das Gefühl, sieben Pforten zu durchschreiten und durch sieben Pforten in eine andere Welt zu gelangen. Und diese andere Welt taucht tatsächlich einige Augenblicke später im gleißenden Licht des Morgens auf, als wir eine weitere Hügelkuppe passieren. Unter uns liegt nun ein gewaltiger Talkessel.
»Hier beginnt das Gebiet der Gemeinde Mals«, sagt Gianni. »Mit mehr als 24.000 Hektar Fläche ist die Gemeinde Mals die zweitgrößte Gemeinde in Südtirol.«
Links und rechts von uns erstrecken sich hügelige Wiesen, Weideland für Kühe und Schafe. Ich sehe niedrige Holzzäune, Hecken und Buschwerk, vereinzelt auch Bäume und denke an die versunkene Kulturlandschaft am Grund des Reschensees. So muss es früher auch dort ausgesehen haben. Wenigstens hier unterhalb ist diese uralte Kulturlandschaft noch weitgehend intakt.
Serpentine um Serpentine fahren wir talwärts. Ich bestaune die Bäume links und rechts der Straße, wahrscheinlich sind es Maulbeerbäume. Schief, alle Zweige talwärts gerichtet. Als ob ein heftiger Wind sie peitschte. Dabei ist es heute Morgen windstill. Gianni scheint meine Gedanken zu lesen. »Hier auf der Malser Haide weht ein konstanter Oberwind. Sogar die Bäume wachsen schief.« Er lacht.
Auf der Malser Haide weht ein konstanter Oberwind. Sogar die Bäume wachsen schief.
Immer wieder hält Gianni den Wagen nun an. Dann wiederholt sich ein seltsames kleines Ritual: Gianni springt aus dem Wagen, holt seine Kamera von der hinteren Sitzbank und beginnt zu fotografieren. Ich steige auf der anderen Seite aus dem Wagen, hole meine Filmkamera und mache Filmaufnahmen von ihm, während er Bilder von der Welt macht. Gemeinsam bestaunen wir das große Geheimnis des Lebens, seine Schönheit und Vielfalt. Ein Fotograf und ein Filmemacher. Der eine liebt die Welt. Der andere liebt die Tatsache, dass der eine die Welt liebt.
Gianni richtet seine Kamera auf eine sonderbare Szenerie, einige Kilometer von uns entfernt. Aus dem zarten Frühnebel, der immer noch über den Feldern liegt, erheben sich fünf Türme. Drei uralte romanische Kirchtürme, ein mächtiger halbverfallener Bergfried und der Kirchturm der Pfarrkirche von Mals.
»Eigentlich nur ein kleines Bauerndorf«, bemerkt Gianni. »Aber irgendetwas Besonderes muss es hier gegeben haben. Wieso wurden sonst genau hier so viele Kirchen errichtet? Eigentlich sind es sogar sieben Türme, zwei davon sehen wir aus dieser Perspektive nur nicht.«
Als er den Wagen wieder startet, wechselt er unvermittelt das Thema: »Es gibt keinen größeren Experten für Süßspeisen als mich«, behauptet er selbstbewusst. »Ich kenne jedes Kaffeehaus und jede Konditorei zwischen Verona und Augsburg. Und in Mals essen wir jetzt eine Kastanientorte.« Er verkündet diesen Beschluss in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. »Es stimmt nämlich nicht, dass man von Süßspeisen dick wird«, ergänzt er, während wir nach Mals hineinfahren. »Von Süßspeisen wird man glücklich.«
Mals ist der Hauptort des Oberen Vinschgau. Der Vinschgau ist ein lang gezogenes Tal im äußersten Westen von Südtirol. Ein Tal mit einer Besonderheit: Während viele Alpentäler von Norden nach Süden verlaufen, erstreckt sich der Vinschgau von Osten nach Westen, sodass die Sonne frühmorgens am einen Ende des Tals erscheint und spätabends am anderen Ende untergeht. Die angenehme Begleiterscheinung dieser geografischen Lage: Die Bergkette am nördlichen Rand dieses Tals liegt beständig im Sonnenlicht. Sie wird daher Sonnenberg genannt. Und Mals liegt an einem der sonnigsten Flecken dieses sonnigen Berges.
Gianni führt mich in ein Kaffeehaus mit fantastischer Aussicht. Mit sichtlichem Vergnügen widmet er sich seiner Kastanientorte, während er gleichzeitig über deren Vorzüge doziert. Aus einem Lautsprecher direkt über uns plätschert triviale Musik. Ich kann keinen Unterschied zwischen den einzelnen Musikstücken erkennen.
Gianni erzählt mir, dass er vor einigen Jahren an der Gründung einer Wochenzeitschrift beteiligt war. Diese Zeitschrift sollte ein Gegengewicht zum Meinungsmonopol von Südtirols allmächtiger Tageszeitung bilden – und endete mit dem Verkauf an eben diesen Konkurrenten. »Damals ist mir klar geworden, dass alle Menschen käuflich sind.«
»Diese Ansicht ist schrecklich«, wende ich ein. »Wie kannst du mit einem solchen Menschenbild leben?«
»Ich erhole mich auf den Bergen«, antwortet er. »Ich verbringe ohnehin die meiste Zeit in der Natur und auf den Bergen.«
Nach dieser kleinen Kaffeepause will Gianni mir den Tartscher Bichel zeigen. Einen kleinen Hügel, der sich unweit von Mals genau in der Mitte des Tals befindet. »Man nennt ihn auch den Nabel des Vinschgau.« Um auf direktem Weg die Hügelkuppe zu erreichen, klettert er über einen Holzzaun. Als ich mein Equipment endlich auf die andere Seite des Zauns gebracht habe, ist Gianni bereits einige hundert Meter von mir entfernt. Auf der Hügelkuppe baut er mit schnellen Bewegungen sein Stativ auf. Ich mache inzwischen Aufnahmen der kleinen romanischen Kirche und von der eigenartigen, kargen und gleichzeitig zarten Vegetation auf dem Hügel. Doch ich kann mich nicht recht auf meine Arbeit konzentrieren. Zum ersten Mal habe ich jenes Gefühl, das ich dort noch oft haben sollte. Es fühlt sich an, als ob die Zeit stillstehen würde. Für den Augenblick ist nichts mehr zu tun und nichts mehr zu erstreben.
»Endlose Reihen von Apfelbäumchen, gehüllt in giftige Pestizidnebel.«
Was ich sehe, erreicht ohne Umwege und ohne Ablenkung mein Herz. Diese ungewöhnliche Fülle von Grüntönen, die an manchen Stellen ins Braun des Erdreichs übergehen, an anderen Stellen ins Grau des felsigen Untergrunds und an wieder anderen Stellen in einen hellen Gelbton, der den Eindruck vermittelt, als würden diese helleren Flächen, ich weiß nicht wie, von hinten oder unten beleuchtet. Dann die Schafe im Tal, wie mit einem Pinsel in die Landschaft getupft. Da und dort sind vollkommen harmonisch kleine Baumgruppen verteilt, erstrecken sich Bäche, Wege, niedrige Hecken. In den Gärten der Häuser: Apfel- und Birnbäume. Zwischen den Weiden wogende Kornfelder. Was für eine Vielfalt! Und was für eine Schönheit!

Ein medialer Schutzschirm für Mals und seine Menschen

»Schau dir die Landschaft nur gut an«, höre ich Gianni sagen, »denn in ein paar Jahren wird das alles verschwunden sein.« Langsam wende ich meinen Kopf und blicke ihn entgeistert an. »Warum?«
»In ein paar Jahren wird es hier aussehen wie überall sonst in Südtirols Tälern. Endlose Reihen von Apfelbäumchen, von zigtausend Betonpfeilern gestützt. Dazu Traktoren, die zwischen diesen Apfelbaumreihen auf und ab fahren und sie in giftige Pestizidnebel hüllen.« Immer noch schaue ich ihn fragend an. »Aber es gab doch in Mals vor einigen Wochen eine Volksabstimmung, bei der eine große Mehrheit der Bevölkerung sich gegen diese Form der Landwirtschaft ausgesprochen hat.«
»76 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent«, bestätigt Gianni; »aber davon werden sich die Obstbauern und ihre Lobby nicht aufhalten lassen. Solange man mit dieser Form der Landwirtschaft Geld verdienen kann, wird nichts und niemand sie aufhalten.« Ich antworte nicht. »Jeder ist käuflich«, sagt Gianni leise und wiederholt damit den deprimierenden Satz aus unserer Diskussion im Kaffeehaus. »Ich nicht!«, widerspreche ich innerlich und überlege gleichzeitig, ob das überhaupt stimmt oder ob es wirklich nur eine Frage des Preises ist.
In Südtirol entstand nach dem Zweiten Weltkrieg das größte zusammenhängende Apfelanbaugebiet Europas.
Als wir etwas später wieder Richtung Süden unterwegs sind, der alten Römerstraße folgend, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Obwohl ich schon seit zwei Jahren in Südtirol lebe, ist es mir noch nie so deutlich aufgefallen: überall Apfel-Monokulturen, so weit das Auge reicht. Auf jedem noch so schmalen Streifen Land. Äpfel und nichts als Äpfel. »In Südtirol ist nach dem Krieg das größte zusammenhängende Apfelanbaugebiet Europas entstanden«, sagt Gianni, der meine Gedanken zu lesen scheint. Neben den Straßen das immer gleiche Bild: lange Reihen von Betonpfeilern, Apfelbäumchen und Hagelnetzen. Die kleinen Dörfer entlang der Straße versinken buchstäblich in diesem Meer von Apfelbäumen und mit ihnen alle anderen Formen der Landwirtschaft, die es hier früher einmal gab. Ich denke an das Schicksal von Graun. An die Ohnmacht seiner Bewohner. Zwischen 1923 und 1952 gab es keine gewählten Gemeindevertreter in Südtirol, geht es mir durch den Kopf. Heute jedoch gibt es sogar Referenden auf Gemeindeebene! Kann es sein, dass sich dennoch nichts geändert hat? Gibt es tatsächlich keine Möglichkeit, die Vielfalt der gewachsenen Kulturen vor Industrie und industrieller Landwirtschaft zu schützen?
Am Abend desselben Tages wühle ich mich bis lange nach Mitternacht durch einen großen Stapel Zeitschriften. Ich rekonstruiere die Geschichte des Malser Widerstands, so gut dies aus Medienberichten möglich ist. Denn mein Entschluss steht fest: Ich will einen Film über Mals machen, einen medialen Schutzschirm über dieses Tal und seine Menschen spannen.
Dieser Entschluss gerät auch dann nicht ins Wanken, als ich einige Wochen danach, am zweiten Adventssonntag, dem Leiter der Tourismuswerbung für das Meraner Land in der Küche meiner Wohnung gegenübersitze. Wir plaudern und essen Kekse. Wie alle anderen, mit denen ich bisher über dieses Projekt gesprochen habe, findet er das Thema wichtig. »Allerdings musst du wissen, dass du, wenn du diesen Film tatsächlich machst, ziemlich sicher keine Aufträge mehr vom Land Südtirol erhalten wirst. Und auch keine Aufträge mehr von all jenen Unternehmen und Institutionen, die es sich mit dem Land nicht verscherzen wollen.« Ich schaue ihn ungläubig an. »Also eigentlich überhaupt keine Aufträge mehr in Südtirol«, ergänzt er. Kann er das tatsächlich ernst meinen? Reicht die Macht der Obstlobby so weit? Hat die Furcht vor persönlichen Nachteilen eine Art Denk- und Diskussionsverbot in Südtirol errichtet?
Am Donnerstag, dem 6. November 2014, beginne ich mit den Recherchen zum Dokumentarfilm »Das Wunder von Mals«. Mein Ziel: Ich möchte möglichst viele Informationen über das unbeugsame Dorf im Vinschgau sammeln.
2
Der weite Blick geht verloren

Erste Begegnungen

Günther Wallnöfer sitzt entspannt in seiner hellen Zirbenholzstube auf der Ofenbank. Seine Beine hat er angezogen vor sich auf die Bank gestellt. Er trägt legere Hosen und einen roten Sweater. Wären da nicht seine großen, von harter Arbeit schweren Hände, könnte man ihn in diesem Outfit auch für einen Surfer halten. Tatsächlich ist er Biobauer.
»Bis 2010 haben wir hier eigentlich vor Pestiziden Ruhe gehabt«, sagt er. »Danach tauchten die ersten Apfelplantagen auf. Und mit den Apfelanlagen die Pestizidwolken. Direkt neben meinen Feldern.«
Während er spricht, schaut er mir direkt in die Augen.
»Deshalb habe ich mein Heu auf Pestizidrückstände untersuchen lassen. Die Ergebnisse waren schockierend.« Wieder sieht er mich ruhig an, als ob er mir Zeit lassen möchte, seine Worte richtig zu verstehen.
»Es kamen neue Anlagen – und neue Rückstandsmessungen. Auch konventionelle Bauern haben Proben gezogen. Doch wo immer das Feld auch lag, ob windgeschützt oder nicht, über 90 Prozent der Proben waren mit Rückständen belastet.«
Günther Wallnöfer (Laatsch), Biobauer
Der Biobauer:»Wir wollen eine andere Landwirtschaft!«
Günther Wallnöfer bewirtschaftet rund 20 Hektar. 14 Hektar davon liegen so, dass daneben Apfelanbau möglich wäre. »Wenn ich auf all diesen Feldern Pestizidrückstände habe, dann ist biologische Landwirtschaft nicht mehr möglich. Was soll ich dann machen? Ich kann auswandern!«
Und nach einer Pause: »Wenn ich die Rückstände hier vergleiche mit dem, was auf Lebensmitteln erlaubt ist, dann ist das schon krass … Und dieses Zeug liegt da draußen jetzt überall herum. Auch auf den Wegen und Radwegen.«
Sein kräftiger Körper bleibt nahezu reglos, während seine Augen zornig funkeln. »Also, ich würde dort mit meiner Tochter nicht mehr spazieren gehen. Garantiert nicht.«
Günther Wallnöfer ist eine rhetorische Naturgewalt. Er legt seine ganze Leidenschaft und Energie in seine Worte. Er weiß, wann er Pausen machen muss. Und er weiß, wann es Zeit ist, eine Rede zu beenden.
In seiner Stube herrscht jenes liebenswerte Chaos, das man oft antrifft, wo kleine Kinder ihre Hände im Spiel haben. Günther erzählt mir nun von seiner Tochter und mir wird klar, dass er sich wirklich Sorgen um ihre Gesundheit macht. »Man sollte neben jedem konventionell hergestellten Apfel ein Plakat mit einer Warnung anbringen: Für kleine Kinder nicht geeignet! Denn die Rückstände auf diesen Äpfeln und auf den meisten anderen konventionell hergestellten Lebensmitteln übersteigen bei Weitem die zulässigen Höchstwerte für Babynahrung.«
Ich begleite Günther in den Stall, wo er seine Kühe versorgt. Er trägt jetzt einen kecken Strohhut. Vielleicht um seine Halbglatze zu verbergen. Wenn er eine neue Idee habe, erzählt er, dann müsse er sie sofort umsetzen. Deswegen baue er jetzt auch Gemüse an. Und vor einigen Monaten habe er sich ein paar Schweine zugelegt. Stolz führt er mich durch einen schmalen Gang zu den Schweinen, denen er eine Handvoll Futter gibt. Durch die Art, wie er sie tätschelt und hinter den Ohren krault, begreife ich, dass er Tiere gern hat.
Was er wisse, sagt er beim Weitergehen, habe er hier gelernt, und nicht in der Schule. Lachend fügt er hinzu, dass er deshalb keinen Satz ohne Rechtschreibfehler schreiben könne. Aber das sei ohnehin nicht so wichtig.
»Was aber ist wichtig?«, will ich, nun wieder ernst, von ihm wissen.
»Wir hätten hier noch die Möglichkeit, das, was an vielen anderen Orten falsch gelaufen ist, nicht zuzulassen! Viele Leute aus anderen Teilen von Südtirol sprechen uns an und ermutigen uns: ›Wehrt euch! Bei uns ist es zu spät. Wir sitzen jetzt mitten in den Apfelanlagen drin, aber ihr könnt euch noch wehren.‹«
»Und?«, frage ich. »Habt ihr euch gewehrt?«
»Ja«, sagt Günther nachdrücklich. »Wir sind zum Bauernbund gegangen und haben angefragt, wie es nun weitergehen soll.«
Wieder macht er eine eigenartig lange Pause.
»Und?«
»Man hat nicht auf uns gehört. Teils hat man über uns gelacht, teils gespottet. Doch wir bleiben dabei. Wir wollen hier eine andere Landwirtschaft.«
»Wir wollen eine andere!«, wiederholt er.
Günthers Haus ist das letzte Haus vor dem Waldrand. Es liegt an einem Hang etwas oberhalb von Laatsch. Neben dem Hauptort Mals gehören neun weitere Orte zum Gemeindegebiet von Mals. Einer dieser Orte ist Laatsch, mit rund 1.000 Metern Seehöhe der am tiefsten gelegene Ort der Gemeinde. Schlinig ist mit 1.700 Metern der höchstgelegene Ort. Ich lasse meinen Blick über das Tal schweifen, das sich vor mir erstreckt. Gegenüber von Laatsch, am nordöstlichen Rand des Tals, am sogenannten Sonnenberg, liegt der Hauptort Mals. Wie eine Eidechse döst die 2000-Seelen-Gemeinde im gleißenden Licht der Mittagssonne. Hat Gianni nicht sieben Türme erwähnt? Auch aus dieser Perspektive sehe ich nur fünf.

Die Friseurin:»Schade, dass das alles nicht mehr da ist.«

Die Turmuhr schlägt, und ein Blick auf meine Armbanduhr erinnert mich, dass es Zeit ist, mich auf die Suche nach dem Frisiersalon von Beatrice Raas zu machen. Während ich durch das Dorf schlendere, denke ich an eine Bibelstelle. Lukas 17, 20–21: Die Pharisäer fragten Jesus, wann das Reich Gottes komme. Darauf antwortete er: »Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren Anzeichen erkennen kann. Man wird auch nicht sagen können: ›Seht, hier ist es!‹ oder: ›Es ist dort!‹ Nein, das Reich Gottes ist mitten unter euch.«
Ich denke oft an diese Bibelstelle. Eigentlich fast immer, nachdem ich auf meine Armbanduhr geblickt habe. Denn auf dem Zifferblatt dieser Armbanduhr, genau in der Mitte, steht der Schriftzug »Lk 17,21«. Ich habe diese Uhr vor vielen Jahren direkt von dem österreichischen Künstler Leo Zogmayer erworben. Der hatte eine limitierte Auflage von Uhren herstellen lassen, in deren Mitte das Wort »Jetzt« zu lesen war. Wie es dann zur Produktion einer zweiten Serie kam, bei der das Wort »Jetzt« durch den Schriftzug »Lk 17,21« ersetzt worden war, weiß ich allerdings nicht mehr.
Der Frisiersalon von Beatrice Raas liegt etwas versteckt im Erdgeschoss eines Einfamilienhauses, das sie zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern bewohnt. Vom Salon aus kann man über eine Veranda in den liebevoll angelegten und gepflegten Garten hinausgehen. Die Glastür zu dieser Veranda steht heute offen, und von Zeit zu Zeit hört man, wie ein Windstoß in die Blätter eines Strauches fährt und damit für einen Augenblick die Stimmen der spielenden Kinder übertönt.
Beatrice arbeitet hier allein, ohne Mitarbeiterinnen. Deshalb befinde sich nie mehr als ein Kunde in ihrem Salon. Für jeden Kunden nehme sie sich ausführlich Zeit. Denn hier gehe es nicht nur um Schönheit, hier gehe es auch um Gesundheit: um gesunde Kopfhaut und gesundes Haar. Deshalb arbeite sie ausschließlich mit natürlichen Produkten. Sie sei die erste Naturfriseurin Italiens. Mir imponiert, dass sie vor diesem Hintergrund auch hin und wieder die Wünsche ihrer Kunden zurückweisen muss. Sie sagt »ja« zum Tönen der Haare, doch »nein« zum Färben. »Nein« auch zu Dauerwellen und vielen anderen konventionellen Praktiken eines herkömmlichen Frisiersalons.
Ich schildere Beatrice nun meine Eindrücke vom Obervinschgau und staune darüber, wie sehr sie meine Begeisterung teilt: »Die Landschaft hier ist einfach wunderschön. Die Weite! Die Freiheit! Das Ortler-Massiv! Wenn man über die Malser Haide schaut, ist das traumhaft!«
»Und wenn wir die Zeit um zwanzig Jahre zurückdrehen könnten«, ergänzt sie, »dann würdest du hier auf allen Wiesen noch Waale sehen.«
»Was sind Waale?«
»Das sind von Menschen angelegte Bäche zur Bewässerung der Felder. Etwas ganz Besonderes. Doch heute sind die meisten von ihnen verschwunden. Durch Beregnungsanlagen ersetzt. Ich erinnere mich noch an jenen letzten Sommer, als es hier zwischen Laatsch und Mals noch viele Waale gab. Wir wussten damals, die Planierungsarbeiten würden in Kürze beginnen. Wir wussten also, dass die Waale im nächsten Jahr verschwunden sein würden. Da bin ich mit meinem Mann an einem wunderschönen Sommerabend bei Vollmond über die Wiesen spaziert. Und …« Sie schluckt und kann nicht weitersprechen. Tapfer kämpft sie gegen ihre Tränen an. »Schade, dass das alles nicht mehr da ist.« Nun kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Schließlich erzählt sie weiter.
»Als Kind musste ich meiner Oma oft beim Bewässern helfen. Zu warten, bis das Wasser von der oberen Wiese zur unteren geflossen war, das ist mir damals wirklich auf die Nerven gegangen. Doch ich habe die Zeit genutzt. Ich habe mir die Blüten angesehen oder das Krabbeln der Käfer. Die Lerchen haben gezwitschert. Die Sonne brannte heiß herunter. Und wenn man dann so über die Wiesen spaziert ist, begleitet vom Geräusch des Wassers, das war einfach schön. Gut für die Seele.«
Beatrice Raas hat zwei Kinder im Alter von zehn und acht Jahren, doch in gewisser Hinsicht scheint sie selbst noch ein Kind zu sein. Und zum zweiten Mal an diesem Tag muss ich an ein Bibelwort denken. Wieder geht es um das Reich Gottes: »Ich sage euch, sagt Jesus im Markus-Evangelium, wer das Reich Gottes nicht wie ein Kind annimmt, wird nicht hineinkommen.«

Die Kindergärtnerin:»Ich bin mir so hilflos vorgekommen.«

»Die Kinder können nicht mehr unbeschwert auf den Wiesen herumtollen.«
Beatrice hat sich die Fähigkeit zum Mitgefühl bewahrt. Sie liebt nicht nur die Natur. Sie liebt auch die Menschen. Das ist unübersehbar, als sie Margit Gasser begrüßt, die für den heutigen Nachmittag einen Friseurtermin vereinbart hat. Halb, um einen Haarschnitt zu erhalten, halb, um mit mir über mein Projekt zu sprechen. Denn ich recherchiere hier im Oberen Vinschgau für einen Dokumentarfilm. Einen Dokumentarfilm über den Widerstand der Gemeinde Mals gegen das Vorrücken der Apfel-Monokulturen auf ihr Gemeindegebiet. »Zunächst war den meisten Menschen hier gar nicht bewusst, was sie erwartet, wenn die Apfel-Intensivkulturen tatsächlich hierher kommen«, erzählt Margit mir. »Die Kinder können nicht mehr unbeschwert auf den Wiesen herumtollen. Wenn du spazieren gehst, dann siehst du nur mehr Bäume, Bäume, Bäume. Der weite Blick geht verloren und die Gesundheit, durch die Pestizide. Ich glaube, wenn man das nicht selbst erlebt hat, dann dauert es schon eine Zeitlang, bis man das im vollen Umfang begreift.«
»Warum hast du selbst es früher begriffen?«, möchte ich wissen.
»Ich komme ja aus dem Obstanbaugebiet«, erklärt Margit. »Aus dem Mittelvinschgau. Ich bin in Schlanders aufgewachsen und habe dort miterlebt, wie sich der Apfelanbau in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Dann habe ich jedoch das Glück gehabt, nach Mals zu ziehen, wo die Landschaft noch offen war.«
»Und jetzt kommt der Obstbau auch nach Mals«, ergänze ich.
»Ja. Und das hat mich traurig und betroffen gemacht. Es war so deprimierend, so enttäuschend. Ich bin mir so hilflos vorgekommen.«
Auch Margit leidet, so wie Beatrice. Und sie schämt sich kein bisschen, dieses Leid mit mir zu teilen. Als ich sie frage, woran das wohl liege, dass sie ihre Gefühle so unverstellt zeigen könne, erzählt sie mir, dass sie das vielleicht von den Kindern gelernt habe. Sie arbeite nämlich in einem Kindergarten. Die Lebensfreude und Kreativität der Kinder sei ansteckend, ebenso deren Übermut und auch deren Fähigkeit, Schmerz und Trauer zu zeigen.
»Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht ins Himmelreich kommen«, geht es mir abermals durch den Kopf. Das ist der Wortlaut derselben Textstelle im Matthäus-Evangelium. Wer sich wenig mit diesen Texten beschäftigt, denkt wahrscheinlich, dass man hier erfährt, was zu tun sei, damit man sich nach dem Ableben eine schöne Zeit im Himmel machen kann. Doch darum geht es nicht. Matthäus verwendet den Begriff Himmelreich lediglich, weil er als frommer Jude den Namen Gottes nicht aussprechen will. Es geht auch hier um das Gottesreich, das ja, wie wir gehört haben, mitten unter uns ist. Manche Philologen ziehen übrigens die Übersetzung Gottesherrschaft vor.
»Gut ist: Leben fördern und erhalten. Schlecht ist: Leben behindern und zerstören.« Mit diesen Worten hat Albert Schweitzer seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zusammengefasst. Wo Gott herrscht, bemühen sich die Menschen darum, so denke ich, Leben zu fördern und zu erhalten. Und das wäre dann wohl jenes Gottesreich, das nur betritt, wer sich sein Mitgefühl auch als Erwachsener bewahren konnte.

Der Tierarzt:»Es schert sich niemand um schöne Worte.«

Am Nachmittag desselben Tages stehe ich vor einem ansehnlichen Haus im Zentrum des Hauptorts Mals. Ich habe einen Termin mit Margits Ehemann: Peter Gasser. Er arbeitet als Tierarzt. Margit öffnet mir und führt mich in den ersten Stock. Alles ist hier mit Geschmack arrangiert, gediegen, jedoch nicht museal. Peter erwartet mich an einem wuchtigen Küchentisch. Das Fenster hinter ihm gewährt einen weiten Blick auf die Türme von Mals und das gesamte Tal. Peter legt die Zeitung beiseite, erhebt sich gemächlich und begrüßt mich mit einem festen Händedruck und einer tiefen Bassstimme. Margit macht Tee und stellt uns ein paar Kekse auf den Tisch.
Peter erzählt mir, dass er vor vielen Jahren über die Bergsteigerei zum Naturschutz gekommen sei. Damals ging es um die Erschließung von Hochtälern durch Skilifte. Seit jener Zeit habe er im Verlauf von dreißig Jahren zahlreiche Kämpfe auf diesem Feld ausgefochten. Er spricht langsam und formuliert sorgfältig. Viele seiner Sätze würzt er mit einer feinen Dosis Ironie.
In den letzten Jahren habe sich eine zentrale Frage herauskristallisiert: »Wie gehen wir damit um, dass der Obstbau mit seinen Pestiziden immer näher an unsere Wiesen und damit an die Futtergrundlagen unserer Kühe heranrückt? Wie können wir einen Weg finden, dass Obstanbau und Viehwirtschaft nebeneinander bestehen können?«
»Günther Wallnöfer hat mir erzählt, dass ihr versucht habt, diese Frage mit dem Südtiroler Bauernbund zu diskutieren.«
»Nicht nur mit dem Südtiroler Bauernbund. Auf Anregung der Umweltschutzgruppe Vinschgau«, zu deren Gründungsmitgliedern Peter zählt, »wurde ein runder Tisch eingerichtet, an dem verschiedene Vereinigungen und Institutionen Platz nahmen: neben dem Südtiroler Bauernbund das Landwirtschaftsinspektorat, die Landwirtschaftsschule Fürstenburg, der Beratungsring für Obstbau und natürlich die Gemeinde Mals und die Umweltschutzgruppe Vinschgau selbst. In zähen Verhandlungen wurde an diesem runden Tisch ein Leitfaden ausgearbeitet, wie Viehzucht und intensiver Obstbau nebeneinander existieren können. Dieser Leitfaden wurde schließlich als schöne bunte Broschüre veröffentlicht. Viele schöne Worte, mit nur einem kleinen Haken … Kaum war dieser Leitfaden gedruckt, wurde klar: Es schert sich eigentlich niemand um dieses ganze schöne, theoretische Konstrukt.«
Ich verlasse Peter und Margit und spaziere hinunter zur Pfarrkirche. Kurz bevor es dunkel wird, zeigt sich am Himmel ein Blauton, der mich jedes Mal in Begeisterung versetzt. Im warmen Lichtkegel einer Straßenlaterne halte ich plötzlich an, weil all das mich an eine Szene erinnert, die sich vor dreißig Jahren in Salzburg abgespielt hat.
Ich hatte damals gerade die Schule abgeschlossen und unterhielt mich im Licht einer Straßenlaterne mit meinem Lieblingslehrer. Ich erzählte ihm, dass er der Grund gewesen sei, warum ich mich für chinesische Philosophie interessierte. In seiner Tasche hatte ich nämlich das Buch »Das Tao der Physik« gesehen und es mir kurz danach gekauft. Fridjof Capra, der Autor des Buches, zog darin Parallelen zwischen dem Weltbild der chinesischen und indischen Philosophie und dem Weltbild der Atom- und Quantenphysik.
Mein Lieblingslehrer sah mich durchdringend an, legte den Kopf leicht zur Seite und sagte: »In ethischer Hinsicht«, hier machte er eine kurze Pause, »haben die chinesischen und indischen Religionen allerdings nichts hervorgebracht, das mit der Bergpredigt vergleichbar wäre.«
Bergpredigt?! Christentum?! Das waren Themen, die mich bis dahin nicht im Geringsten interessiert hatten. Als Protestant war ich im katholischen Salzburg damit auch wenig konfrontiert worden. Meine Mutter glaubte an einen Gott, der es gut mit den Menschen meinte. Mein Vater glaubte, dass man über Gott nichts Genaues in Erfahrung bringen könnte. Und für mich und meine Geschwister waren die Geschichten rund um Jesus von Nazareth nichts weiter als Folklore aus Kindertagen.
Nach dem Gespräch mit meinem Lehrer warf ich jedoch, auf einer Bahnfahrt von Salzburg nach Wien, einen Blick in das Matthäus-Evangelium. Gefangen von diesem Text las ich es von Anfang bis Ende durch. Und weder davor noch danach hat mich jemals ein Text so beeindruckt. Aus dem Zug stieg, glaube ich, ein anderer Mensch, als eingestiegen war. Ich habe bis heute nicht aufgehört, diese Texte immer wieder zu lesen.
Von Anfang an rezipierte ich sie jedoch durch die Brille anderer Weltreligionen. Ich las sie ohne Leseanleitung, sozusagen auf eigene Faust. Ob Jesus nun Gottes Sohn war oder nicht, interessierte mich seltsamerweise gar nicht. Ob ich selbst oder irgendwer anderer durch seinen Tod am Kreuz erlöst worden war, war mir gänzlich einerlei. Mich faszinierte dieser Mensch, der mir durch seine Worte und Taten klar und deutlich vor Augen stand. Mich interessierte der Glaube des Jesus und nicht der Glaube an Jesus. Im Laufe der Jahre wurde mir dann klar, dass ich glaubte, was Juden glauben.

Die Rückkehrerin:»Ich konnte nie woanders zuhause sein.«

Am nächsten Morgen setze ich mich auf eine Bank in der Fußgängerzone von Mals. Ein Vogel wird nicht müde, sich zu wiederholen, und ich beschäftige mich damit zu atmen. Dabei steigt mir die Bergluft zu Kopf wie ein Glas Champagner zum Frühstück.
Schließlich gehe ich in gemächlichem Tempo die Hauptstraße hinab. Licht ist hier Licht und Schatten Schatten. Klar und eindeutig sind Formen und Farben und Strukturen voneinander getrennt.
Ich sehe auch einige leerstehende Lokale und einige ungeschminkte Häuser, von denen der Putz schon vor langer Zeit abgefallen ist. Es war und es ist eine arme Gegend, geht es mir durch den Kopf, und ich erinnere mich daran, was ich gestern Abend in einem Buch über Mals gelesen habe. Hier erbt nicht nur der älteste Sohn, sondern jedes Kind einen gleichen Anteil vom elterlichen Besitz. Man nennt diese Form des Erbrechts »alemannische Realteilung«. Am Ende sind alle gleichmäßig arm, doch niemand ist völlig besitzlos. Diese relative Armut, so erfuhr ich aus dem Buch, sei auch einer der Gründe dafür, dass es hier so viele romanische Kirchen gebe. Denn Armut sei ein guter Konservator. In reicheren Regionen würden die Gotteshäuser in jeder neuen Epoche im Stil der Zeit überarbeitet. Nicht so im Oberen Vinschgau, wo dafür ganz einfach das Geld fehlte.
Martina Hellrigl bewohnt ein Haus zwischen der Pfarrkirche und dem Turm von St. Martin, dem höchsten der drei romanischen Türme. Davor hatte sie, nach dem Studium in Innsbruck, für einige Jahre mit ihrem Mann und den Kindern in Zürich gelebt. »Doch aus irgendeinem Grund«, sagt Martina jetzt, »konnte ich nie woanders zuhause sein als hier. Also sind wir vor ein paar Jahren mit der ganzen Familie hierher zurückgekommen.«
Während Martina spricht, blicke ich über ihre Schulter hinaus in den Garten, der das Haus umgibt. Zwischen schönen alten Obstbäumen liegen da und dort Spielsachen im halbhohen Gras. Aus der Sicht von Kindern, denke ich, ist das der perfekte Garten. Und aus meiner Sicht eigentlich auch.
In Zürich, erzählt Martina weiter, habe sie die Malser Diskussion nur aus der Ferne mitbekommen. »Erst im März 2013 habe ich das Ganze zum ersten Mal live miterlebt. Ich besuchte damals eine Informationsveranstaltung. Der Saal war brechend voll, und ich habe einen der letzten Plätze ergattert. Ein Biokräuterbauer hat erzählt, wie im Jahr zuvor neben seinem Feld eine Obstplantage aufgetaucht war. Ich weiß nicht mehr, ob Kirschen oder Erdbeeren. Und danach waren seine Kräuter plötzlich nicht mehr bio. Der Nachbar hat sich jedoch nicht bemüßigt gefühlt, an seiner Spritzpraxis irgendetwas zu ändern. Also musste der Biobauer weichen und sein Feld räumen. Er hat ein anderes Feld gepachtet und noch einmal von vorne begonnen. Nur um schließlich zu erfahren, dass auch hier im kommenden Jahr eine Obstplantage entstehen würde.«
Während Martina spricht, bestaune ich den schnellen Wechsel des Ausdrucks auf ihrem Gesicht. Ein strenger, missmutiger, abweisender Ausdruck kann in nur einem einzigen Augenblick in ein strahlendes, warmherziges Lächeln umschlagen.
»Diese Geschichte ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Die Veranstaltung war an einem Freitag, und ich war mir sicher, dass diese Sache am Montag in allen Zeitungen stehen würde. Denn solche Sachen gehen einfach nicht! Die Leute werden auf die Barrikaden gehen! Da war ich mir sicher. Doch am Montag geschah einfach nichts. Gar nichts. In den Medien nicht. Und auch sonst nirgends.«
Martina ist eine wunderbare Geschichtenerzählerin. Wenn sie eine Geschichte erzählt, versetzt sie sich buchstäblich in die Vergangenheit zurück. Sie sieht dann, was sie damals sah, hört, was sie damals hörte, und fühlt, was sie damals fühlte.
»Das alles hat mir keine Ruhe gelassen. Meine Tochter war gerade erst ein halbes Jahr alt, und die Nächte waren noch sehr unruhig. Also lag ich oft wach und dachte nach. Ich glaube, ich habe wochenlang im Kopf Leserbriefe geschrieben. Ganze Romane habe ich geistig verfasst.«
Sie erinnert sich daran und lacht über sich selbst.
»Und dann?«, frage ich.
»Und dann ging ich zur Friseurin«, sagt Martina und lacht noch mehr.
Diese Friseurin war Beatrice Raas.
Ich möchte unbedingt noch mehr erfahren. Doch zunächst muss ich zurück nach Meran. Meran liegt rund 60 Kilometer westlich und 800 Meter tiefer als Mals. Nach ungefähr zehn Kilometern, als ich den Oberen Vinschgau verlasse, tauche ich in das Meer der Betonpfeiler ein, das Meer der Apfelplantagen.
Das geht dann mehr als 100 Kilometer lang so weiter. Bis hinab nach Meran, ohne Unterbrechung, und danach weiter bis nach Bozen und von dort hinunter bis zur Salurner Klause. Plötzlich erinnern mich diese Anlagen an eine Krebserkrankung, die sich unbarmherzig im Körper ausbreitet. Verkehrsinseln ausgenommen, gibt es wirklich kein Fleckchen Erde mehr, ohne Betonpfeiler oder Hagelnetze.

Der Kräuterbauer:»Passiert ist effektiv nichts!«

Auf halbem Weg nach Meran habe ich noch ein Gespräch mit Urban Gluderer vereinbart. »Wenn du wissen willst, wovor wir uns fürchten, dann besuch das Kräuterschlössl in Goldrain«, hatte Günter Wallnöfer zu mir gesagt. Die Fassade von Urbans Hof erinnert nämlich an ein kleines Schlösschen, daher der Name Kräuterschlössl.
Urban Gluderer führt mich herum und zeigt mir seinen Hof. »Ich kann mich noch gut erinnern«, sagt er; »als ich ein Kind war, gab es rund um unseren Hof nur Wiesen. Und Kühe auf den Wiesen! Aber nach und nach sind dann die Äpfel gekommen. Und bis heute ist daraus diese gewaltige Monokultur entstanden. Im Herbst sieht man hier nur noch Betonsäulen, soweit das Auge reicht.«
Das Kräuterschlössl galt jahrelang als Südtiroler Vorzeigebetrieb. Es erhielt viel Aufmerksamkeit von in- und ausländischen Medien und war eine Touristenattraktion – bis vor einigen Jahren Spritzmittelrückstände auf Urbans Biokräutern auftauchten. Urban konnte dadurch Teile seiner Ernte nicht mehr als Bioware verkaufen. Er begann, sich zu wehren und zu prozessieren. Diese Prozesse, die er alle gewann, haben viel Zeit und Geld gekostet. Doch an der Spritzpraxis seiner Nachbarn haben sie nichts geändert.
»Unsere Nachbarn hatten null Verständnis dafür, dass wir hier Kräuter anbauen. Daher mussten wir unsere Kräuter schließlich durch einen Folientunnel schützen«, berichtet Urban weiter.
»Aber hier werden nicht nur Kräuter angebaut«, fügt er nach einem Augenblick des Nachdenkens hinzu, »hier leben auch Menschen! Und diese Menschen haben ein Recht darauf, saubere und unbelastete Luft zu atmen.«
»Auch meine Enkel«, fügt er trotzig hinzu.
Auf Urbans Hof wohnen vier Generationen unter einem Dach. Seine Enkelkinder, seine Kinder, seine Eltern und Urban selbst mit seiner Frau Annemarie. Er erzählt uns, dass seine Kinder vor einigen Jahren vor der Entscheidung standen, ob sie in den Betrieb des Vaters einsteigen wollten. Sie haben sich dafür entschieden. Darum fühle er sich nun dafür verantwortlich, sein Erbe wohlbehütet an die nächste Generation weiterzugeben.
Für Urban geht es also nicht nur um die Schönheit und Vielfalt seiner Heimat. Er will und muss seinen Hof und seine Familie schützen.
»Mein Folientunnel«, sagt er mit unterdrücktem Zorn in der Stimme, »ist vielleicht der einzige Ort im Tal, wo meine Enkel in Sicherheit spielen können. Unbehelligt von der Gefahr, durch Pestizide vergiftet zu werden.«
»Dieser Spritznebel aus Pestiziden steigt ungefähr 50 Meter hoch auf.«
Vom Dach seines Hofes aus hat Urban in den letzten Jahren einige hundert Verstöße gegen die Regeln der Pestizidausbringung beobachtet und mit einer Videokamera aufgezeichnet. Als er mir diese Videos zeigt, bin ich fassungslos.
»Dieser Spritznebel da«, sagt Urban und zeigt auf den Bildschirm seines Computers, »steigt ungefähr 50 Meter hoch auf. Und das ist nur, was man sieht. Die feinen Aerosole, die man nicht sieht, gehen noch zwei- bis dreimal so weit hinauf. Das belastet effektiv das ganze Tal!«
Im nächsten Video weist er mich auf einen Baum hin: »Dieser Baum da ist rund drei Meter hoch. Siehst du die Pestizidwolke dahinter? Als ob es brennen würde, oder? Siehst du, wie lang sich der Spritznebel in der Luft hält? Und wie er durch die Thermik immer weiter aufsteigt?« Es scheint ihm selbst den Atem zu verschlagen, obwohl er die Bilder bereits kennt. »Man meint, eine Bombe hat eingeschlagen.«
»Und diese Aufnahme hier habe ich am Palmsamstag gemacht«, kommentiert Urban sein nächstes Video. »Die Windstärke hat an diesem Tag sicher 30 Stundenkilometer betragen. Schau mal, wie weit die Spritzwolken hier über die Felder verweht werden. Ich schätze 15 bis 20 Baumzeilen weit.«
»Was sagen die Politiker dazu?«, will ich wissen.
»Du weißt ja, wie Politiker sind. Unter vier Augen sprechen sie anders als in der Öffentlichkeit. Unter vier Augen versprechen sie dir, dass sich bald etwas ändern wird, dass nächstes Jahr alles besser wird. ›Wir ändern die Sprühtechnik. Wir passen in Zukunft besser auf.‹ Und das geht jetzt schon seit Jahren so. Passiert ist effektiv nichts. Meines Erachtens wird es sogar schlimmer.«

Die Malser: »In unserer Gemeinde spritzt ihr überhaupt nicht mehr!«

Ist dieses ewige Vertrösten eine perfide Strategie?, frage ich mich am Heimweg. Die Freunde der industriellen Landwirtschaft geben sich verbindlich, schütteln dir die Hand, versprechen dir das Blaue vom Himmel und denken doch nicht im Traum daran, ihren Worten Taten folgen zu lassen. »Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein«, geht mir ein Shakespeare-Zitat durch den Kopf. In Südtirol kann’s so sein.