Gift und Wahrheit - Alexander Schiebel - E-Book

Gift und Wahrheit E-Book

Alexander Schiebel

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Beschreibung

Ein mutiges kleines Dorf in Südtirol und eine machtvolle Agrarlobby, die sich das lukrative Geschäft mit Pestiziden nicht verderben lassen will – für Alexander Schiebel wurde dies zum Albtraum: Weil er die Geschichte in seinem Film und Buch »Das Wunder von Mals« publik machte, wurde er vor Gericht gezerrt. Als SLAPP (Strategic Lawsuit Against Public Participation) sind derartige Einschüchterungsversuche bekannt, bei denen so lange geklagt wird, bis kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft verstummen. Schiebel erzählt von seinem und anderen Fällen und bringt die Machenschaften der Mächtigen dadurch aufs Tableau.

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Alexander Schiebel
Gift und Wahrheit
Wie Konzerne und Politik ihre Macht missbrauchen, um Umweltaktivist*innen mundtot zu machen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2023 oekom verlag, München oekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Waltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Lukas ElslerKorrektorat: Petra KienleUmschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MünchenUmschlagabbildung: shutterstock, igor kisselev
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-821-8
INHALT
1Der Auftakt zum Pestizidprozess
1.372 Strafanzeigen
2Pestizide und intensive Landwirtschaft
Eine kurze Geschichte der Monokulturen / Wie das Gift zu dir gelangt und dich krank macht / Konzerne, Gewinne und Zulassungsverfahren
3Worin mein Verbrechen bestand
Das »gallische Dorf« ins Kino bringen / Mit Konzernen in den Ring steigen. / Widerstand in Bewegung setzen / Wirksame Bilder erzeugen / Der Angriff der Agrarlobby / Der Umweg über Deutschland / Die Kinotour
4Eine Welt am Abgrund
Der größte Umweltzerstörer von allen / Ein Leben ohne Ackergifte / Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit / Die Springquelle aller Probleme / Über die Unfähigkeit zur angemessenen Reaktion
5Der Pestizidprozess in Bozen
Plötzlich vor Gericht / Die Arbeit an der Solidarität / Debatte oder Strafexpedition? / Ein Feuerwerk zünden / Der Rückzug vom Rückzug vom Rückzug / Im Namen des italienischen Volkes / Auf alle erdenklichen Arten gewinnen und verlieren
6Gewalt gegen Kritiker:innen und Aktivist:innen
Die Waffe der Willkürprozesse / Weltweite Gewalt gegen Aktivist:innen
7Was nun?
Die langen Beine der größeren Lügen / Schützt eure Hoffnung! / Wir müssen kämpfen / »Die Geschichte geht gut aus.«
Quellen
1
Der Auftakt zum Pestizidprozess

1.372 Strafanzeigen

Am Morgen des 29. September 2017 saß ich im Zug von Innsbruck nach Bozen. Vor meinem Fenster zogen die Dörfer des Wipptals vorbei. Gerade als wir den Brenner passiert hatten, riss mich der Klingelton meines Mobiltelefons aus meinen Gedanken. Eine Journalistin aus Südtirol war am Apparat und kam ohne Umschweife zur Sache: »Herr Schiebel, was sagen Sie zu der Strafanzeige gegen Sie?«
Ich verstand nur Bahnhof. Als die Journalistin das merkte, legte sie nach: »Haben Sie es noch nicht gehört? Landesrat Arnold Schuler hat bei der Bozner Staatsanwaltschaft Strafanzeige gegen Sie erstattet.«
Landesrat Arnold Schuler war in Südtirol für die Landwirtschaft zuständig. Außerdem war er Landeshauptmann-Stellvertreter.
»Davon habe ich tatsächlich noch nichts gehört«, sagte ich zögernd.
»Der Landesrat meint, er habe es sich lange und gut überlegt, aber es müsse nun ein Zeichen gesetzt werden.«
Mit einer Strafanzeige setzt man doch keine politischen Zeichen, ging es mir durch den Kopf. Stattdessen fragte ich: »Was wirft er mir denn vor, der Herr Landesrat Schuler?«
»Er behauptet, Sie hätten in Ihrem Buch Das Wunder von Mals, ich zitiere, ›schwerwiegende Vorwürfe und unwahre Behauptungen in Umlauf gebracht‹.«
»Und welche wären das, wenn ich fragen darf?«
»Dort sei von ›vorsätzlicher Tötung‹ die Rede. Die Südtiroler Obstwirtschaft könne sich das nicht länger widerspruchslos gefallen lassen.«
Jetzt verschlug es mir wirklich die Sprache. Die Journalistin setzte unbarmherzig nach: »Was sagen Sie nun dazu, Herr Schiebel?«
»Ich sage dazu, dass der Herr Landesrat die Passage aus meinem Buch, auf die er sich vermutlich bezieht, offenbar nicht verstehen kann oder will.«
»Wieso?«
»In der Passage, auf die Sie anspielen, geht es gar nicht um den Straftatbestand der ›vorsätzlichen Tötung‹, sondern um ein Verbrechen, das noch keinen Eingang ins Strafgesetzbuch gefunden hat. Es geht um das ›vorsätzliche Ignorieren von Fakten mit Todesfolge‹.«
Mein Buch Das Wunder von Mals war Anfang September 2017 erschienen. Die Passage, die man ausgewählt hatte, um mich vor Gericht zu zerren, befand sich in einem Kapitel über die gesundheitlichen Auswirkungen von Pestiziden. Darin berichtete ich, dass die Obstbauern in Südtirol sich wegen der Kritik an ihrem massiven Pestizideinsatz an den Pranger gestellt fühlten. Sie seien doch keine Mörder, sagten sie. Das nicht, schrieb ich, doch es gebe Todesopfer und einen Vorsatz gebe es auch. Zwar nicht den Vorsatz zu töten, aber immerhin den Vorsatz, die Gefahren und Folgen des hohen Pestizideinsatzes zu übersehen: ein vorsätzliches Ignorieren von Fakten mit Todesfolge eben.
So sehr mich die Nachricht über die Strafanzeige des Landesrats erstaunt hatte, diese erste Überraschung war gar nichts im Vergleich zu jenen Überraschungen, die mir in den folgenden Tagen bevorstanden. Zunächst schloss sich der Vorstand der VI.P (des Verbands der Vinschgauer Produzenten von Obst und Gemüse) der Strafanzeige des Landesrats an. Die VI.P ist der zweitgrößte Apfel-Produktions- und Vermarktungskonzern in Südtirol. In einer Aussendung forderte deren Vorstand seine Mitglieder dazu auf, sich der Strafanzeige von Landesrat Schuler ebenfalls anzuschließen.
Beinahe zeitgleich versandte auch die größte Vermarktungsorganisation für Äpfel in Südtirol (und in Europa), die VOG (Verband der Südtiroler Obstgenossenschaften), ein Schreiben an ihre 16 Mitgliedsgenossenschaften und deren rund 5.200 Genossenschaftsmitglieder. Der Brief wurde auch in Südtirols Medien veröffentlicht. Darin wurden die Angriffe auf die Südtiroler Obstwirtschaft beklagt, die ein Ausmaß angenommen hätten, das man nicht mehr hinnehmen könne. Deswegen seien nun Strafanzeigen wegen Rufschädigung durch üble Nachrede gegen Alexander Schiebel und gegen dessen Verleger eingebracht worden. Außerdem auch gleich gegen das Umweltinstitut München, das Schiebels »Angriffe« geteilt und unterstützt hätte. Als Zeichen der Solidarität und um geschlossenes Auftreten zu demonstrieren, mögen sich nun möglichst viele Südtiroler Obstbauern diesen Strafanzeigen anschließen.
Der letzte Satz des Aufrufs lautete: »Für die teilnehmenden Mitglieder entstehen keine Kosten; sie haben die Möglichkeit im Falle einer Anklage durch den Staatsanwalt als Nebenkläger aufzutreten.«
Als ich diese letzte Zeile las, zuckte ich zusammen. Sollte es zu einem Gerichtsprozess kommen und sollten die Kläger diesen Prozess gewinnen, könnte jeder einzelne Nebenkläger Schadensersatz von mir fordern. Obwohl ich mir sicher war, nichts Unrechtes getan zu haben, sah ich mich im Geiste bereits auf Lebenszeit mit hohen Geldforderungen und mit unliebsamen Besuchen von Gerichtsvollziehern konfrontiert. Ich wusste damals noch nicht, dass bei »Rufschädigung durch üble Nachrede« in Italien daneben auch bis zu einem Jahr Gefängnis droht.
Noch in derselben Woche erstattete auch der Vorstand des Südtiroler Bauernbundes Strafanzeige. Bis Oktober 2017 folgten insgesamt 1.372 Obstbauern dem Aufruf der Apfelwirtschaft und schlossen sich als Nebenkläger der Strafanzeige gegen Karl Bär vom Umweltinstitut München und gegen mich an. Dass auch mein Verleger Jacob Radloff sowie der gesamte aktuelle und ehemalige Vorstand des Münchner Umweltinstituts angezeigt worden waren, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich wusste auch noch nicht, dass dieser Strafanzeige tatsächlich ein Strafprozess folgen sollte, der auf Wikipedia später als das »in Deutschland bekannteste SLAPP-Verfahren« bezeichnet werden würde. In Wirklichkeit wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, was ein SLAPP-Verfahren eigentlich war.
Bevor der Prozess zu Ende war, würden führende Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz darüber zur Primetime und auf ihren Titelseiten berichtet haben. Über 100 NGOs, fast 500.000 Petitionen-Unterzeichner:innen und Abgeordnete aus regionalen und nationalen Parlamenten im deutschsprachigen Raum würden sich zu Wort gemeldet haben, ja sogar eine EU-Kommissarin und einige Abgeordnete aus dem Europaparlament. Ein Sturm zog auf und ich würde ihn auf eine Weise erleben wie kein anderer der Beteiligten.
An jenem Tag im September war ich mit gutem Grund beunruhigt. Hätte ich jedoch auch nur geahnt, wie nah die Ereignisse der kommenden Jahre mich und meine Familie an den Abgrund bringen würden, dann wären Angst und Entsetzen vielleicht das angemessenere Gefühl gewesen.
2
Pestizide und intensive Landwirtschaft

Eine kurze Geschichte der Monokulturen

Um zu verstehen, wie ich in diese Lage geraten konnte, müssen wir weit ausholen. Vor etwa 200 Jahren begann eine gewaltige Transformation unseres Wirtschaftslebens, bei der kein Stein auf dem anderen blieb – und die auch vor der Landwirtschaft in Südtirol nicht Halt machte: die industrielle Revolution. Menschen wurden durch Maschinen ersetzt, Handwerksbetriebe wandelten sich in Manufakturen und dann in Fabriken. Innerhalb dieser Fabriken und zwischen ihnen nahm die Arbeitsteilung zu. Produkte wurden standardisiert, Verfahren wurden optimiert. Durch den unaufhaltsamen Aufstieg der industriellen Massenproduktion wurden immer neue Produkte in immer kürzeren Intervallen auf den Markt geworfen. Gleichzeitig nahm der Warenverkehr zwischen den verschiedenen Weltregionen zu, sodass jede Region sich auf die Herstellung jener Produkte spezialisieren konnte, die am betreffenden Standort besonders gut produziert werden konnten. Durch diesen Handel zwischen den Regionen und durch technologische Innovationen, die immer schneller aufeinanderfolgten, wuchs auch der Wettbewerbsdruck. Unternehmen, die wirtschaftlich überleben wollten, waren gezwungen, sich ständig zu erneuern. Auch in der Landwirtschaft.
Davor war die Landwirtschaft in Europa über viele Jahrhunderte hinweg eine reine Subsistenzwirtschaft gewesen. Die Bauern produzierten, was sie selbst brauchten, und versorgten vielleicht noch die nächstgelegene Stadt. Davon wurden sie nicht reich – im Gegenteil. Eine Dürre oder eine Überschwemmung genügte, um viele von ihnen in existenzielle Not zu stürzen.
Vor diesem Hintergrund war verständlich, warum viele Landwirte sich für neue technologische Möglichkeiten begeisterten. Maschinen erleichterten ihnen die harte Arbeit auf dem Feld und steigerten gleichzeitig den Ertrag. Die neuen Transportmöglichkeiten mit Eisenbahn und Dampfschiff sorgten dafür, dass Güter zuverlässig und schnell auch über weite Strecken transportiert werden konnten. Auch die Landwirte konnten sich nun spezialisieren. Und zwar auf jene Produkte, für die ihre Böden und ihr Klima am besten geeignet waren. Überall auf der Welt entstanden dadurch gewaltige Monokulturen – Fabrikanlagen unter freiem Himmel, wenn man so will.
So auch in Südtirol, dessen Täler sich hervorragend für den Anbau hochwertiger, köstlicher Früchte eignen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden bei der Obstgenossenschaft Meran über 200 verschiedene Apfel- und Birnensorten angeliefert. Diese Vielfalt konnte dank der modernen Verkehrsmittel in alle Welt exportiert werden: Die neuen Bahnverbindungen der österreichischen Südbahn dienten nicht nur dem Transport von Fahrgästen zum »Südbalkon der k.u.k.-Monarchie«, sie ermöglichten auch den raschen Transport von Obst in den Norden. Im Gleichschritt mit der steigenden Nachfrage wurde auch die Obstproduktion in Südtirol ausgeweitet. Auf gleichbleibender Fläche pflanzte man immer mehr Bäume, erntete immer mehr Früchte.
Bis ins späte 19. Jahrhundert prägten in Südtirol noch Streuobstwiesen das Landschaftsbild. Riesige Apfelbäume mit weit ausladenden Kronen wuchsen im Abstand von rund 20 Metern voneinander. Prächtige, langlebige, beeindruckende Baumgiganten. So hoch, dass man zur Erntezeit hohe Leitern benötigte. Zwischen diesen Apfelbäumen fand sich reichlich Platz zur Heugewinnung für das Vieh. Denn auf einem Hektar Land standen selten mehr als 60 solcher Baumriesen. Auch zwischen diesen Obstwiesen entdeckte man noch Vielfalt: Hecken, Baumgruppen, Bäche, Hügel.
Doch Anfang des 20. Jahrhunderts begann sich das Landschaftsbild zu wandeln. Die Logik der Ertragssteigerung setzte sich durch. Vielfalt wurde eingeebnet, Felder wurden begradigt. Nun wurden schon 200 bis 400 Apfelbäume auf einem Hektar gepflanzt. Ein halbes Jahrhundert später, in den 1960er-Jahren, war die Anzahl bereits auf 400 bis 600 Bäume pro Hektar angestiegen. Und als sich schließlich niedrige, strauchartige Apfelbäumchen durchsetzten, stieg die Anzahl der Bäume pro Hektar auf 1.500 bis 3.000.
Da diese strauchartigen Bäumchen ohne Stütze umfallen würden, band man sie an langen Reihen von Betonpfeilern fest. Dazwischen wurden »Fahrgassen« für Traktoren angelegt, um die Bäumchen mit Geräten und Maschinen leicht erreichen zu können.
Heute findet man bis zu 20.000 dieser »Apfelsträucher« auf einem einzigen Hektar Land. Zur Erntezeit benötigt man nun keine Leitern mehr. Ein Heer von Erntehelfern pflückt die reifen Äpfel jetzt einfach und schnell von automatisierten Hebebühnen aus und füllt damit Kiste um Kiste.
Zeitgleich mit der explosionsartigen Zunahme der Quantität kam es im 20. Jahrhundert zu einem dramatischen Rückgang der Vielfalt. In den 30er-Jahren hatte sich die Arten- und Sortenvielfalt in Südtirol bereits mehr als halbiert. Ein Obsthändler aus Lana führte im Jahre 1936 immerhin noch 57 Apfel- und 24 Birnensorten in seinem Sortiment.
Diese 57 Apfelsorten trugen wohlklingende und vielversprechende Namen. Neben dem »Maschanzger«, dem »Weißen Rosmarin« und dem »Köstlichen« bot man auch den »Lachenden Mantuaner«, den »Böhmer«, den zierlichen »Schlatterer«, den »Lederer«, den »Blattling« und den »Härtling« an. Dazu den »Kaiserapfel« und den »Muskatellapfel«. Die meisten dieser Sorten gab es schon seit dem Mittelalter. Andere Sorten wurden im 19. Jahrhundert in Südtirol gezüchtet. Wie zum Beispiel der prachtvoll gefärbte »Edelrote« oder der »Wintercalville«, der als »König der Äpfel« gepriesen wurde. Ihn exportierte man nach Deutschland und Russland, in die Türkei und nach England, ja sogar bis nach China und Japan.
Doch die Vielfalt der Südtiroler Apfelwelt begann zu schwinden, als Äpfel aus den USA die Weltmärkte zu erobern begannen. Eine kleine Anzahl von Apfelsorten wurde nun weltweit von den Konsumenten bevorzugt. Die Sorten »Golden Delicious«, »Morgenduft« und »Jonathan« machten Ende der 60er-Jahre zusammen bereits 68 Prozent der Südtiroler Apfelernte aus. Anfang der 90er- Jahre erreichte der »Golden Delicious« allein einen Anteil von 45 Prozent an der Gesamternte.
Im Gegenzug schrumpfte der Anteil der »diversen« Sorten von 85 Prozent in den 1920er-Jahren auf nur noch 1 Prozent in den 1990ern. Und zusammen mit Südtirols Apfelsorten verschwanden auch Südtirols Birnen. Ihr Anteil an der Gesamternte fiel von rund 20 Prozent in den 60er-Jahren auf nur noch 1 Prozent in den 90ern.
Heute umfasst Südtirols Apfelsortiment nur mehr wenige (beinahe ausschließlich überseeische) Apfelsorten. Die neuen amerikanischen Sorten brachten zwar größere Ernteerträge, aber sie hatten auch große Nachteile. Da sie viel weniger haltbar waren, waren von nun an große Obstmagazine mit Kühlzellen nötig, um sie das ganze Jahr über verkaufen zu können. Der Energieeinsatz stieg dadurch enorm. Die haltbaren heimischen Wintersorten waren vom Markt verschwunden.
Kühlzellen und Traktoren waren wichtige Innovationen für Südtirols Apfelanbau. Doch die wichtigsten Innovationen für die Landwirtschaft kamen von den Chemiekonzernen. Zwischen 1905 und 1908 entwickelte der Chemiker Fritz Haber die katalytische Ammoniak-Synthese. Dem Industriellen Carl Bosch gelang es daraufhin, ein Verfahren zu erfinden, das die massenhafte Herstellung von Ammoniak ermöglichte. Dieses Haber-Bosch-Verfahren bildete die Grundlage der Produktion von synthetischem Stickstoff-Dünger. Die Böden konnten nun mit »Kraftnahrung« versorgt werden. Der Ernteertrag stieg dramatisch an und die Böden blieben trotz Dauerbelastung fruchtbar.
Der Siegeszug der Monokulturen schien unaufhaltsam. Doch er brachte eine Reihe von Problemen mit sich, die nur im intensiven Anbau auftraten und mit denen sich die Landwirtschaft bis heute herumschlägt. Eines davon ist die Abnahme der biologischen Vielfalt in Monokulturen.
Das Zusammenspiel verschiedener Arten in einem Ökosystem ist komplex. Stark vereinfacht passierte Folgendes: Stellen wir uns vor, ein Landwirt kultiviert 100 verschiedene Pflanzenarten auf 100 Hektar Fläche. Von diesen Pflanzen leben 100 verschiedene Insektenarten und von diesen Insekten wiederum 100 Vogelarten. Was geschieht, wenn der Landwirt sich entscheidet, nur noch 10 Pflanzenarten anzubauen? Das Resultat ist so vorhersehbar wie verheerend: 90 von 100 Insektenarten finden nichts mehr zu fressen. Und 90 von 100 Vogelarten ebenfalls. Sie ernährten sich von den 90 verschwundenen Insektenarten.
Die verbliebenen Insektenarten wähnen sich jedoch im Paradies. Sie haben nun ein endloses Nahrungsangebot und die meisten ihrer natürlichen Feinde sind verschwunden. Für die Blattlaus, die nun zum Nachbarbaum blickt, ist das eine erfreuliche Aussicht. Früher lebten dort viele Marienkäfer, die im Laufe ihres Lebens Unmengen von Blattläusen verzehrten. Doch dieses Korrektiv existiert nicht mehr. Das Resultat: eine unkontrollierte Vermehrung der Blattlaus. Diese Überpopulation schwächt die Bäume und reduziert den Ernteertrag. Die Blattlaus wird zum »Schädling«, genau wie einige andere Insekten, die ihr Leben in diesem Monokultur-Paradies in vollen Zügen genießen.
Was also tun gegen diese Bedrohung der Pflanzen, der Ernte und des bäuerlichen Einkommens? Unser Bauer sucht nach einer Lösung für dieses bedrohliche Problem – und die Chemiekonzerne liefern sie: Von nun an »behandelt« er seine Pflanzen mit Insektiziden und vernichtet die »Schädlinge« mit der chemischen Keule.
Dabei vernichtet er leider auch einige der noch verbliebenen anderen Insektenarten. Und gleichzeitig einige der letzten verbliebenen Vogelarten, die von diesen Insektenarten gelebt hatten. Die Vielfalt nimmt immer weiter ab. Das »Schädlingsproblem« verschärft sich dadurch. Der Landwirt befindet sich in einem Teufelskreis.
Doch es kommt noch schlimmer: Das Problem verschärft sich abermals, als unser Bauer feststellt, dass mit den globalen Warenströmen auch Schädlinge aus fernen Weltregionen eingeschleppt wurden. Die lokalen Pflanzen kennen keine Abwehr gegen diese Angreifer.
Mit jeder neuen schlechten Nachricht spritzt unser Bauer immer neue Gifte in immer größeren Mengen. Einige der »Schädlinge«, gegen die er buchstäblich Krieg führt, bilden bereits Resistenzen gegen die von ihm eingesetzten Insektizide. Er benötigt neue und wirksamere Mittel, um die Schädlingsplage zu bekämpfen.
Ohne es zu bemerken, hat der Bauer ein System geschaffen, in dem er von den Giften der Agrochemie abhängig ist. Er benötigt diese »Pflanzenschutzmittel« zum Betrieb seiner »Fabrikanlage unter freiem Himmel« wie die Luft zum Atmen.
Nun setzt unser Bauer nicht nur Insektizide ein. Er bringt auch Fungizide aus, zur Bekämpfung des Pilzbefalls in seinen Apfelmonokulturen. Er bekämpft damit ein Problem, das er durch diese Monokultur zum Teil selbst geschaffen hat. Die übermäßige Feuchtigkeit, die durch zu dicht stehende »Baumsträucher« in Monokulturen entsteht, führt nämlich zu erhöhtem Pilzbefall, auch weil die Früchte auf den Baumsträuchern viel zu tief hängen. Auf hochstämmigen Apfelbäumen ist Pilzbefall weniger häufig, da die Früchte dort viel weiter vom Boden entfernt sind. Dort oben ist es nicht nur weniger feucht, dort werden die Äpfel auch, etwa nach einem Regenguss, viel schneller wieder trocken, da viel mehr Sonnenstrahlen ihre Oberfläche erreichen.
Doch damit nicht genug: Um die Erträge in Monokulturen weiter zu optimieren, verwendet unser Bauer Herbizide. Er bekämpft damit jene Pflanzen, die möglicherweise um Nährstoffe mit seiner Kulturpflanze konkurrieren. Er bezeichnet diese Pflanzen als »Unkraut«. In Südtiroler Apfelanlagen wird dieses Unkraut im Wurzelbereich der Bäume mit Herbiziden bekämpft, zum Beispiel mit Glyphosat. Unter den Bäumen entstehen dadurch braune Streifen verbrannter Erde.
Die Herbizid-Behandlungen führen nicht nur zu Ertragssteigerung, Kostensenkung und Gewinnmaximierung, sondern auch zu einer weiteren Reduktion der Pflanzenvielfalt. Dies erhöht wiederum die Instabilität solcher Monokulturen. Denn mit der Pflanzenvielfalt verschwinden weitere Insektenarten, wie Bienen oder Wildbienen, die auf das Nahrungsangebot bestimmter Pflanzen angewiesen waren.
Ein weiterer Teil der Probleme im intensiven Obstbau entsteht durch die Wahl der Sorten. Viele der genannten Probleme würden beim Anbau lokaler Apfelsorten entweder gar nicht auftreten oder in viel geringerem Ausmaß. Die vom Konsumenten bevorzugten amerikanischen Sorten sind hingegen anfällig und müssen besonders oft mit Pestiziden behandelt werden. Da überdies nur sehr wenige Sorten angebaut werden, nimmt auch die genetische Vielfalt ab, was zu einer weiteren Abnahme der Widerstandskraft dieser Pflanzen führt.
Es ist also kein Wunder, dass der Gifteinsatz im Apfelanbau höher ist als bei jeder anderen Kulturpflanze in Europa: Keine andere Kulturpflanze wird häufiger mit Insektiziden, Fungiziden und Herbiziden »behandelt«.1
Der Apfelanbau in Südtirol ist nur ein Beispiel für den Anbau in Monokulturen, der sich weltweit auf dem Vormarsch befindet. Monokulturen versprechen reiche Ernten und Gewinne, müssen jedoch durch den massiven Einsatz von Pestiziden stabilisiert werden. Die Übertragung der Idee der Massenproduktion auf die Felder der Bauern war nur auf Basis der Agrochemie durchführbar. Auf der Basis von Kunstdünger und Pestiziden.
Lange Zeit konnte man die ökologischen Folgen dieses ökonomisch so erfolgreichen Modells ignorieren. Doch im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann dieses Bild zu bröckeln, als die negativen Folgen dieser Anbauweise immer klarer zu Tage traten. Heute, im 21. Jahrhundert, ist es offensichtlich, dass diese Form der Landwirtschaft uns in eine Sackgasse geführt hat. Das mechanistische, reduktionistische Verständnis von Landwirtschaft beruht auf einem unzureichenden Verständnis von Ökosystemen und natürlichen Zusammenhängen.
Je länger wir diese Art der Landwirtschaft praktizieren, desto offensichtlicher werden die teils verheerenden Nebenwirkungen. Monokulturen zerstören die Vielfalt in der Natur, weshalb eine auf diese Weise betriebene Landwirtschaft niemals nachhaltig sein kann, sondern sich selbst und unsere Lebensgrundlagen zugrunde richtet.

Wie das Gift zu dir gelangt und dich krank macht

Wenige Wochen, nachdem ich von der Welle der Strafanzeigen in Südtirol erfahren hatte, war ich in Süddeutschland unterwegs, um aus meinem Buch vorzulesen. Ich hatte nicht vor, mich einschüchtern zu lassen. Jeden Abend erzählte ich von dem ungleichen Kampf zwischen einem kleinen Dorf in den Alpen und der mächtigen Agrarlobby. Ich berichtete vom »Wunder von Mals«.
Mals liegt südlich des Hauptkammes der Alpen, an der Grenze zwischen Italien, Österreich und der Schweiz, am oberen Ende des Vinschgau. Mit nur etwa 5.000 Einwohnern ist die Bevölkerungszahl überschaubar. Dennoch erstreckt sich das Gemeindegebiet über beachtliche 24.000 Hektar (also 240 Quadratkilometer), was Mals zu einer der größten Gemeinden Südtirols macht. Die Landschaft hier ist vielfältig, ebenso wie die landwirtschaftliche Nutzung. In dieser Welt von atemberaubender Schönheit ist der Lauf der Zeit noch kein reißender Strom, sondern eher ein gemächlich dahinplätschernder Bach.
Nur wenige Kilometer südlich von Mals sieht die Landschaft und Landwirtschaft hingegen ganz anders aus. Dort beginnt das größte zusammenhängende Apfelanbaugebiet Europas. Es zieht sich durch das gesamte Etschtal, vom Vinschgau im Norden bis zur Salurner Klause im Süden. So weit das Auge reicht, steht Betonpfeiler an Betonpfeiler. Diese Betonpfeiler stützen endlose Reihen kleiner, strauchartiger Apfelbäumchen, überspannt von braunen, grauen oder schwarzen Hagelnetzen. Besteigt man einen der Berghänge, so wird das volle Ausmaß dieser Landschaftszerstörung sichtbar. Und noch etwas sieht man von dort oben: Von Anfang März bis Ende September tuckern Traktoren durch die Fahrgassen zwischen den Betonpfeilern und Apfelbäumchen. Aus den Tanks, die sie hinter sich herziehen, steigen dabei meterhohe Pestizidwolken auf. Und nicht selten verweht der Wind diese giftigen Nebel über das ganze Tal.
In den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrtausends begann sich auch im oberen Vinschgau das Bild allmählich zu wandeln. Jahr für Jahr rückten die Apfelplantagen näher an Mals heran. Wie Soldaten in Reih und Glied marschierten junge Apfelbäume, begleitet von ihren Betonpfeilern, auf das idyllische Dörfchen zu. Hagelnetze breiteten sich aus wie Flecken in der Landschaft. Metastasen einer unheilbaren Krankheit.
Sollte nun ganz Südtirol von Monokulturen überrannt und in Pestizidwolken gehüllt werden? Nein! Denn eine mutige Gruppe von Dorfbewohnern aus Mals leistete den Eindringlingen aus dem Süden tapfer Widerstand. Im September 2014 organisierten die Malser eine lokale Volksabstimmung gegen die Zerstörung ihres Lebensraums. Beeindruckende 76 Prozent der Einwohner:innen stimmten für ein Verbot von chemisch-synthetischen Pestiziden auf dem gesamten Gemeindegebiet und damit auch gegen die Intensivierung der Landwirtschaft.
Mals sollte zur ersten echten pestizidfreien Gemeinde Europas werden. Pestizidfrei nicht nur in einigen Parkanlagen oder auf gemeindeeigenen Flächen. Nein! Pestizidfrei auch auf allen landwirtschaftlich genutzten Flächen! Die Menschen in Mals wollten und wollen ein giftfreies Dorf – saubere Luft, sauberes Trinkwasser und unbelastete Lebensmittel.
Die Obstwirtschaft in Südtirol zeigt dafür wenig Verständnis. Eines ihrer Argumente lautet: »Es gibt Spritzdüsen, die wahre Wunder bewirken. Unsere Pestizide bleiben genau dort, wo wir sie ausbringen. Dort werden sie von der Natur abgebaut. Daher besteht kein Grund zur Sorge.«
Aber stimmt das auch? In manchen Fällen ja. In anderen nein. Denn es gibt Pestizidwirkstoffe, die erstaunlich langsam abgebaut werden und erstaunlich lange nachwirken. Eine Eigenschaft, die als hohe »Persistenz« bezeichnet wird. Diese langlebigen Pestizide finden ihren Weg in Bäche und Flüsse, ins Grundwasser und ins Trinkwasser. Sie werden durch die Luft verweht und sie befinden sich auch auf oder in nahezu jedem Lebensmittel, das wir im Supermarkt kaufen – sofern es nicht aus biologischem Anbau stammt.
Zahlen dazu gibt es zum Beispiel aus Deutschland, wo zwar fast keine Äpfel angebaut, aber ähnliche Pestizide eingesetzt werden.2 Kleine Bäche, nicht breiter als drei Meter, bilden einen Großteil der Fließgewässer in Deutschland und weiten Teilen (Mittel)Europas. Laut Umweltmonitoring sind sie stark mit Pestiziden belastet, da sie häufig durch landwirtschaftlich genutzte Flächen verlaufen. Die »regulatorisch akzeptable Konzentration von Pestizidrückständen« wird in 80 Prozent der Bäche überschritten, in jedem dritten Bach sogar bei mehreren Pestiziden gleichzeitig. Über die Bäche gelangen die langlebigen Pestizide in die Flüsse und Meere. Durch Versickern erreichen sie auch das Grundwasser, wo sie oft über Jahrzehnte nicht abgebaut werden.
Schon 1991 wurde das wassergefährdende Pestizid Atrazin vom Markt genommen. 25 Jahre später, im Jahr 2016, findet man es immer noch an jeder fünften Grundwasser-Messstelle. Etwa ein Drittel des Grundwassers in Deutschland ist belastet, und zwar nicht nur durch Pestizide, sondern auch durch deren Abbauprodukte. Einzig die Nitratbelastung des Grundwassers, ebenfalls eine Folge der Intensivlandwirtschaft, ist noch gravierender als die durch Pestizide. Der Hauptverursacher dafür ist die Milch- und Fleischproduktion, genauer gesagt die Ausbringung von 188 Millionen Kubikmetern Gülle pro Jahr auf Deutschlands Feldern.
Doch Pestizide finden nicht nur über den Wasserkreislauf, sondern auch durch die Luft ihren Weg an Orte, an denen wir sie nicht haben wollen. Die feinen Sprühnebel, die bei der Ausbringung entstehen, werden vom Wind auf benachbarte Gebiete verweht. Dieses Phänomen nennt man »Abdrift« – und es betrifft nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft, sondern kann sich in bis zu tausend Kilometern entfernten Orten auswirken. Zu solchen »Ferntransporten« kommt es, wenn Pestizidwirkstoffe in hohe Luftschichten aufsteigen. Luftströmungen verteilen die feinen Partikel, Aerosole genannt, in alle Himmelsrichtungen. Sobald es regnet, fallen sie auf den Boden zurück und gelangen so praktisch überall hin.
Ein eindrückliches Beispiel für das Abdrift-Problem stammt aus Südtirol. Hier wurden Grasproben auf Spielplätzen und in Schulhöfen gesammelt. Die Ergebnisse waren alarmierend: 96 Prozent der Proben waren mit Pestizidwirkstoffen belastet. In 79 Prozent wurden sogar mehr als ein Pestizid nachgewiesen. Drei Viertel aller Proben enthielten hormonaktive Substanzen, die schon in geringsten Dosen wirksam sein können. Darunter befand sich auch das in der EU inzwischen verbotene Insektizid Chlorpyrifos, das neurotoxisch wirkt und die Gehirnentwicklung von Kindern und Ungeborenen beeinträchtigen kann.3
Zum Thema Ferntransport von Pestiziden ist eine Studie aus dem Jahr 2020, die das Umweltinstitut München zusammen mit dem Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft durchgeführt hat, aufschlussreich.4 Über mehrere Jahre hinweg wurde dabei die Pestizidbelastung der Luft gemessen und an 163 Standorten in ganz Deutschland – einschließlich Schutzgebieten, Städten und biologisch bewirtschafteten Feldern – wurden Spuren von insgesamt 138 Pestiziden entdeckt, die auf dem Luftweg dorthin gelangt sein müssen. Drei Viertel aller Messstationen zeichneten mehr als fünf Pestizide gleichzeitig auf. Der Höchstwert lag bei 35 Pestiziden an einer einzigen Messstation.
An allen Stationen fand man dabei auch das Pestizid Glyphosat (das laut Herstellerangaben nicht über die Luft transportiert werden kann). Dieser Befund ist umso erschreckender, da die Auswirkungen der Aufnahme von Pestiziden über die Luft und über die Lunge im Zulassungsverfahren für Pestizide keine Berücksichtigung finden. Sie wurden bisher wenig untersucht. Die Risiken für unsere Gesundheit sind weitgehend unbekannt.
Besonders beunruhigend waren die Ergebnisse im Nationalpark Harz, auf dem Brocken, wo zwölf verschiedene Pestizide in erheblichen Mengen nachgewiesen wurden. Im Bayerischen Wald, der ebenfalls in weiten Teilen unter Naturschutz steht, fanden die Forscher fünf Pestizide, darunter zwei, die in Deutschland nicht mehr zugelassen sind (insgesamt waren 30 Prozent aller gefundenen Wirkstoffe in Deutschland nicht oder nicht mehr zugelassen).
Doch wir kommen nicht nur durch unsere Atemluft und unser Trinkwasser in dauernden Kontakt mit »gefährlichen« und »sehr gefährlichen« Pestiziden, sondern auch durch unsere Nahrung.5 Etwa 27 Prozent der von der Europäischen Union untersuchten Lebensmittel weisen Mehrfachrückstände von Pestiziden auf. Einige Werte aus dem Jahr 2019 verdeutlichen die Dimensionen des Problems: In der EU waren 98 Prozent aller Erdbeeren und 98 Prozent aller Weintrauben mit mehr als einem Pestizid belastet. Ähnlich sah es bei Äpfeln aus (96 Prozent), bei Paprika waren es 87 Prozent, bei Tomaten 84 und bei Eisbergsalat 82 Prozent.
Der Gesamtrückstand aller Pestizide auf einem Lebensmittel liegt oft weit über den Grenzwerten für die einzelnen Wirkstoffe. Daher kritisieren Gesundheitsfachleute zu Recht, dass es in Europa noch keinen kumulierten Höchstgehalt für Pestizidrückstände auf Lebensmitteln gibt.
In anderen Teilen der Welt ist die Situation noch dramatischer. So wurden beispielsweise in Kenia auf Tomaten- und Grünkohlproben aus verschiedenen Regionen insgesamt 75 verschiedene Pestizid-Wirkstoffe nachgewiesen, rund die Hälfte dieser Wirkstoffe sind in Europa aufgrund ihrer Gefährlichkeit bereits verboten. Auf den einzelnen Proben fanden die Forscher bis zu 10 Rückstände gleichzeitig, 60 Prozent der Proben überschritten die zugelassenen Rückstands-Höchstmengen. In Brasilien, einem Land, in dem die Höchstgrenzen für Pestizide das Zwei-, Drei- und in einigen Fällen sogar Hundertfache der europäischen Grenzwerte betragen, haben laut staatlichem Rückstandsbericht 25 Prozent aller Proben diese hohen Grenzwerte überschritten.
Der weltweite Handel mit Lebensmitteln führt dazu, dass diese Giftstoffe wieder nach Europa gelangen. Eine Untersuchung von importierten Lebensmitteln in der Schweiz ergab, dass 33 Prozent der Importe aus den USA mit verbotenen Substanzen belastet waren, bei Lebensmitteln aus Lateinamerika (Ecuador) betrug der Wert sogar 60 Prozent.6
Der fortwährende Kontakt mit Pestizidrückständen – sei es durch unsere Nahrung, unser Trinkwasser oder die Luft, die wir atmen – steigert das Risiko für eine Vielzahl ernster Erkrankungen.