Das Wunder von Marseille - Fahim Mohammad - E-Book

Das Wunder von Marseille E-Book

Fahim Mohammad

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Beschreibung

Für seinen Traum geht er bis ans Ende der Welt

Kinostart in Deutschland: 7.11.2019

Schach-Weltmeister Fahim Mohammad erzählt seine unglaubliche Lebensgeschichte: Er ist acht, als er Hals über Kopf mit seinem Vater aus Bangladesch fliehen muss. Sie stranden in Paris – ohne Wohnung, ohne Papiere und immer in Gefahr, abgeschoben zu werden. Doch bald schon wird seine außergewöhnliche Begabung für Schach bemerkt. Und dann kommt seinem Trainer eine Idee, die Fahims Leben die entscheidende Wendung geben könnte . . .

Mitreißend und bewegend – Die wahre Geschichte hinter dem berührenden Kinodrama mit Ahmed Assad und Gérard Depardieu in den Hauptrollen

Regie: Pierre-François Martin-Laval, Besetzung: Gérard Depardieu, Isabelle Nanty, Ahmed Assad, Mizanur Rahaman

Das Buch erschien erstmals 2015 unter dem Titel »Spiel um dein Leben, Fahim!«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 215

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Die Autoren

Fahim Mohammad wurde im Jahr 2000 in Bangladesch geboren und lebt heute in Frankreich.

Xavier Parmentier trainiert seit über 20 Jahren die französische Jugendschachmannschaft. Immer wieder setzt er sich für junge Talente aus den Pariser Vororten ein.

Die Anthropologin und Schriftstellerin Sophie Le Callennec unterrichtete Fahims Vater in Französisch. Sie gab Fahim mit ihrer Schreibfeder eine Stimme.

Fahim Mohammad

und Xavier Parmentier

mit Sophie Le Callennec

DAS WUNDER VON MARSEILLE

Spiel um dein Leben, Fahim!

Aus dem Französischenvon Andrea Kunstmann

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Un roi clandestine« bei Les Arènes, Paris.

Die deutsche Erstausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Spiel um dein Leben, Fahim!« bei Heyne.

© Éditions des Arènes, Paris, 2014 © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Angela Kuepper Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung des Filmwartworks, Rechte bei TOBIS Film.

ISBN: 978-3-641-25902-0 V001

www.heyne.de

Vorwort

Am 4. Mai 2012, einen Tag vor der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen, ist der damalige Premierminister François Fillon zu Gast im Morgenmagazin von France Inter. Eine Hörerin spricht ihn auf den Fall eines elfjährigen Jungen an, der gerade französischer Schachmeister geworden ist. Das Kind ist obdachlos, hat keine Papiere, lebt mit seinem Vater illegal in Créteil, einer Gemeinde im Großraum Paris. Es läuft Gefahr, jeden Augenblick ausgewiesen zu werden. Seit ein paar Tagen geht der Fall durch alle Medien und erregt die Gemüter. Auf Sendung verspricht François Fillon, sich um das Problem zu kümmern … und es wird innerhalb weniger Tage gelöst sein.

Dieses Kind heißt Fahim. Zu der Zeit, als sein Schicksal für Aufmerksamkeit sorgte, wohnte ich in Créteil. Ich kannte Fahims Vater, weil ich zum Unterstützerkreis der beiden gehörte, und schon ewig kannte ich Fahims Schachlehrer Xavier. Als es darum ging, Fahims Geschichte zu Papier zu bringen, wandten sie sich ganz selbstverständlich an mich: Ich sollte Fahim zuhören, deuten, was er dachte und was er verschwieg, und ihn durch den Schreibprozess begleiten.

Ich hätte allerdings nie erwartet, dass wir uns in den gemeinsam verbrachten Monaten so nahekommen würden. Dass Fahim meine Kinder und mich so häufig zu Hause besuchen würde. Dass er mich nicht nur bitten würde, seine Vergangenheit aufzuschreiben, sondern ihm darüber hinaus zu helfen, sich eine Zukunft aufzubauen.

Die Geschichte handelt von einem Fünfjährigen, der in einem fernen Land lebt, ein kluger, behüteter Junge, der wie alle Kinder seines Alters seine Zeit mit Spielen und Träumen verbringt. Bis plötzlich Erwachsene in sein Leben eingreifen …

Es ist die bewegende Geschichte von Fahim, der von zu Hause flüchten und die Menschen, die er liebte, verlassen musste, der mit gerade einmal acht Jahren alles verlor. Sie handelt davon, wie das Schicksal ihn versehrte und beinahe zerstörte, bevor er sich das Recht zurückeroberte, ein normales Leben zu führen. Sie handelt auch von seiner Begegnung mit einem ungewöhnlichen Menschen. Vor allem Letzterem ist es zu verdanken, dass in diesem modernen Märchen die Solidarität und die Hoffnung den Sieg davontragen.

Ich habe dieses Buch zusammen mit Fahim geschrieben. Es sind seine Worte und seine Gefühle. Hiermit schenke ich sie den Lesern, und zugleich gebe ich sie Fahim zurück.

Sophie Le Callennec

Für meinen Vater

Für alle, die mir geholfen haben

und mir weiterhin helfen

Fahim

1Ich kann Schach spielen

Mein Vater war gut, richtig gut. Er war ein leidenschaftlicher Schachspieler, und er gewann immer. Nicht nur zu Hause spielte er stundenlang, er ging auch mehrmals die Woche in den Schachklub und kam dann immer erst spät nachts zurück.

Bei uns zu Hause standen überall Schachspiele, Bretter in allen möglichen Größen, Figuren in allen Formen und ganz viele Schachbücher – eine eigene Welt ganz in Schwarz-Weiß. Wenn mein Vater mit seinen Freunden spielte, saß ich manchmal daneben und schaute zu, aber ich sagte nichts und verstand noch weniger. Ich ging dann lieber raus, um mit meinen Freunden zu spielen.

Ich war fünf, als mein Vater mich eines Tages fragte, ob ich mit ihm in den Schachklub gehen wolle. Er hatte mich noch nie zuvor mitgenommen. Auch wenn ich ehrlich gesagt fürchtete, dass mir langweilig würde, sagte ich Ja, weil ich zugleich auch stolz darauf war, ihn begleiten zu dürfen. Quer durch Dhaka fuhren wir zu einem schönen Gebäude im Bankenviertel. Wir gingen durch einen langen Flur, in dem Männer standen und sich unterhielten, bis zu einer großen Halle voller Leute. Alle kannten meinen Vater und begrüßten ihn, und dann fragten sie mich, wie ich heiße und ob ich etwas trinken wolle.

Als sie anfingen zu spielen, wurde es sehr ernst im Saal, die Luft wurde richtig stickig. Die Spieler steigerten sich hinein, bewegten schnell ihre Figuren, und es machte Klick und Klack, wenn sie auf ihre Schachuhren drückten. Ich hörte sie immer wieder aufschreien, überrascht, freudig oder verzweifelt. Das war etwas ganz anderes als das ruhige Schachspiel meines Vaters zu Hause. Anfangs war es ganz lustig, die Spieler zu beobachten, doch schnell wurde mir langweilig. Weil ich es nicht wagte, meinen Vater zu stören, blieb ich auf einem Stuhl sitzen, schlenkerte mit den Beinen und wartete. Bis ein Mann auf mich zukam. »Willst du, dass ich es dir beibringe?«, fragte er.

Weil ich ihn nicht enttäuschen wollte, sagte ich schüchtern Ja. Er holte ein großes Brett aus Holz, stellte nach einer geheimnisvollen Regel die Figuren auf und fing an zu erklären. Ich fand das alles sehr kompliziert. Also schwieg ich und unterdrückte aus Höflichkeit ein Gähnen.

Wieder zu Hause, ging mir das Schachspielen nicht mehr aus dem Kopf. Ich brachte zwar vieles durcheinander, wollte es aber unbedingt verstehen. Mein Vater war sehr überrascht, als ich begann, ihm Fragen zu stellen, denn im Schachklub hatte er den Eindruck gehabt, dass mich das alles nicht interessiere. Doch ich ließ nicht locker, und so stellte er ein Schachspiel auf den niedrigen Tisch im Wohnzimmer. Ich versuchte, mir die Aufstellung der Figuren zu merken, die er mir zeigte: »Der hier mit dem Kreuz ist der King, der König, und die hier mit der Zackenkrone ist die Queen, die Dame. Und das sind die Rooks, die Türme, das die Knights, die Springer, und das sind die Bishops, die Läufer.«

»Warum haben sie englische Namen?«

»Weil die Engländer unser Land kolonisiert haben und uns das Schachspiel in ihrer Sprache beigebracht haben.«

Ich fand sie sehr lustig, diese seltsamen Figuren.

Am nächsten Tag wollte ich weitermachen: »Abu (das ist Bengali für Papa), wozu sind denn die Türme gut?«

Mein Vater erklärte es mir und zeigte mir, wie man zieht und die Figuren des Gegners schlägt. Der König, der sich nur ein Feld weiterbewegt, die Dame, die das ganze Schachbrett in einem Satz überqueren kann, die Bauern, die ein oder zwei Felder gehen, aber auf einem Umweg … ganz schön knifflig. Aber auch sehr spannend. Also kam ich die nächsten Tage immer wieder angelaufen und hakte nach.

»Abu, wie zieht man den Springer?«

»Abu, wie schlägt man denn Figuren mit dem König?«

»Abu, wer ist stärker, die Springer oder die Türme?«

Mein Vater erklärte mir alles sehr geduldig, korrigierte und ermunterte mich. Nach einer Weile seufzte er und beendete seine Lektion mit dem Versprechen: »Wir sehen morgen, ob du das alles verstanden hast.«

Am nächsten Tag machten wir weiter. Mein Vater brachte mir bei, wie man die eigenen Figuren beschützt und den Gegner einschüchtert. Ich fand Schach großartig, aber in meinem Kopf herrschte Chaos, und ich spielte immer irgendwelchen Unsinn. Ich hatte offenbar kein Talent. Mein Vater merkte das wohl auch, und irgendwann stieß er einen tiefen Seufzer aus: »Wir hören auf, Fahim, und machen morgen weiter.«

Vielleicht war dieses Spiel einfach zu schwierig für mich. Vielleicht war ich ja der schlechteste Spieler der Welt. Aber das war mir egal, ich machte weiter, denn ich wollte es unbedingt kapieren. Ich gab mir große Mühe, Fortschritte zu machen, auch wenn es sehr langsam voranging.

Eines Tages zeigte mein Vater mir einen Trick, um den Gegner zu überraschen und dessen König in eine Falle zu locken. Und da plötzlich erwachte das Schachbrett zum Leben, die Figuren erhoben sich und gingen in Position, die Türme marschierten schnurstracks ins Feld des Gegners, die Läufer wichen aus, die Springer rannten hin und her, und die Infanterie gehorchte aufs Wort, auch wenn ich ihnen befahl, sich zu opfern, um einen im gegnerischen Lager gefangenen General zu befreien. Der langsame, schwache, unbedeutende König war lammfromm, er flehte mich an, ihn vor dem Tode zu bewahren. Und die Königin, meine starke, schnelle, kluge Königin, wirbelte herum, um die Schlacht zu lenken.

Das war keine Schachpartie mehr, das war eine Schlacht. Das war kein Spiel mehr, das war ein Krieg. Ich versammelte meine Truppen, ich entsandte Boten, ich stellte Fallen, ich entschied, wen ich rettete und wen ich opferte, ich gab ihnen Befehle und beschützte sie, ich führte sie zum Sieg.

Vor einer Woche erst hatte ich damit angefangen, und schon hatte ich begriffen: Ich kann Schach spielen!

2Das Leben ist schön

Ich bin seit mehr als dreißig Jahren Schachlehrer. Bevor mir Fahim begegnete und er mein Schüler wurde, hätte ich Bangladesch zumindest auf einer Weltkarte verorten können, als ein Land, das an Indien grenzt. Ich wusste auch, dass es eines der ärmsten Länder der Erde ist, aber nicht, dass die Hauptstadt Dhaka heißt und dass ständig Taifune, Zyklone und Tsunamis Bangladesch heimsuchen, weswegen es bis zum Ende des Jahrhunderts im Meer versunken sein wird, wenn wir die Erderwärmung nicht aufhalten können.

Über das Interesse an Fahim habe ich das Land entdeckt, in dem er geboren wurde und die ersten acht Jahre seines Lebens verbrachte. Eine Fläche, kleiner als Tunesien, für eine Bevölkerung, größer als die Russlands; eine Gegend, in dem jedes fünfte Kind schon hungert, bevor es auf die Welt kommt. Bevor dieser Kleine in dem Schachklub auftauchte, in dem ich Trainer bin, hätte ich Bangladesch wohl niemals mit der Schachwelt in Verbindung gebracht.

Ich habe ziemlich schnell gemerkt, dass Fahim nicht in das Bild passte, das man sich üblicherweise von Einwanderern aus der Dritten Welt macht. Er hatte in Dhaka nicht in einem Elendsviertel gelebt, war nicht in Lumpen gehüllt an staubigen Straßen entlanggeschlichen, Autos und Fahrradrikschas ausgewichen, um gleichgültigen Passanten ein paar Münzen abzubetteln. Er hat sein Land auch nicht verlassen, um der Armut zu entgehen. Im Gegenteil, seine Mittelstandsfamilie lebte zwar nicht im Überfluss, hatte aber doch ihr Auskommen.

Früher war mein Vater Feuerwehrmann. Er rettete Menschenleben. Wenn es einen Unfall gab, raste er in seinem roten Feuerwehrauto mit heulenden Sirenen los. Wenn es brannte, löschte er das Feuer. Wenn jemand am Ertrinken war, stürzte er sich in den Fluss.

Abends erzählte er uns dann, wen er gerettet hatte, welche Dramen er verhindert hatte und welche er nicht hatte verhindern können. Ich erinnere mich an die Geschichte von einem Mann, der mitten in der Nacht in seinem brennenden Haus aufwachte, und weil er so arm war, brachte er zuerst sein einziges Hab und Gut in Sicherheit – den Fernseher. Als er in das Haus zurückwollte, um seine Söhne zu retten, war es zu spät: Da stand schon alles in Flammen. Er schrie beim Anblick des brennenden Hauses, aus dem seine Kinder nicht entkommen konnten, und warf dann den Fernseher ins Feuer. Mein Vater erzählte uns auch, dass sein Chef ihn aus dem Rettungsdienst geworfen hatte, weil Papa es nicht übers Herz brachte, von einer sehr armen Frau, die in die Notaufnahme gefahren werden musste, Geld zu verlangen; sie stand kurz vor der Entbindung.

Nun war mein Vater schon alt: über vierzig und pensioniert. Er rettete keine Menschen mehr, ging aber trotzdem noch jeden Tag in die Feuerwehrkaserne – weil wir direkt nebenan wohnten, weil die Feuerwehrleute seine Freunde waren und weil er sich gern um den Garten der Kaserne kümmerte. Inzwischen hatte er auch einen neuen Beruf: Er hatte eine Autovermietung aufgemacht. Und den Rest der Zeit spielte er Schach. Zusammen mit einem Freund hatte er einen Schachklub gegründet. Am Anfang hatten sich die Leute darüber lustig gemacht, aber inzwischen taten sie das nicht mehr: Der Klub war nämlich sehr gut und weithin bekannt!

Wir waren reich. Wir wohnten in einem großen Haus mit zwei Zimmern: eines mit einem Bett für meine Schwester und mich, und das andere war das Wohnzimmer, wo in einer Ecke das Bett meiner Eltern stand. Und das Bett des Babys.

Es war ein schönes Haus, musste aber oft renoviert werden. Einmal war ein riesiges Stück Decke direkt neben mir heruntergekracht. Ich erschrak damals ganz schön. Wenn ein Zyklon kam, fürchtete ich mich. Das klang so, als würde der Wind die Mauern niederreißen. Ich war aber nicht der Einzige, der Angst hatte – die Nachbarn kamen dann immer zu uns rüber und sprachen Gebete auf Arabisch. Der Monsun dagegen brachte mich nicht aus der Ruhe. Es regnete in Strömen, das Wasser lief überall rein, und alle waren davon genervt, aber Angst machte es mir nicht. Wenn der Hof überschwemmt war, stapelten die Leute Sandsäcke, um ihn überqueren zu können, ohne nasse Füße zu bekommen. Einmal stieg das Wasser so hoch, dass es über die Eingangstufen in unser Haus drang.

Dass wir reich waren, merkte ich daran, dass mein Vater der Einzige in unserer Verwandtschaft und in unserem Viertel war, der zum Opferfest eine Kuh kaufen konnte – die anderen konnten sich nur Schafe oder Hühner leisten. Ich durfte die Kuh dann nach Hause führen, und mein Vater schlachtete sie zusammen mit einem Freund. Es war überall Blut, aber das war ich gewohnt. Ich schaute nur nicht so gern in die Augen der Kuh, wenn sie starb. Man sah, dass sie Angst hatte, und ich fragte mich, ob das bei einem Menschen genauso wäre.

Am Tag des Opferfests machten meine Eltern dann für alle Essen, für die Verwandten, die Nachbarn und die Feuerwehrleute. Meine Mutter kochte so gut, dass jeder mitessen wollte. Sie breitete dann große, bunte Tücher auf dem Boden aus, und alle Gäste setzten sich darauf. Dann konnte das Festessen losgehen. Es war köstlich!

Mir gefiel einfach alles an meinem Leben. Außer der Schule. Morgens mussten meine Eltern mich wachrütteln, erst sachte, dann fester. Wenn ich endlich aufstand, war ich schlecht gelaunt. Ich hatte keine Lust zu reden, bevor ich in der Schule ankam. Dort, mit meinen Freunden, ging es mir dann gleich viel besser.

Im ersten Schuljahr war ich an einer leichten Schule: Immer war ich der Beste. Dann meldeten mich meine Eltern an einer Privatschule an, die sehr teuer war. Ich war ein guter und gehorsamer Schüler. Na ja, mir blieb auch nichts anderes übrig. In Bangladesch sind die Lehrer sehr streng: Wer nicht mitarbeitet, bekommt Schläge mit dem Stock. Wir waren 70 in der Klasse, und alle reihum bekamen Schläge ab. Zumindest die Jungen, denn die Mädchen arbeiteten brav mit und wurden deshalb nie geschlagen. Einmal verprügelte ein Lehrer einen Jungen dermaßen, dass er eine Woche zu Hause bleiben musste, bis seine Wunden verheilt waren.

Wie alle Schüler ging ich vormittags zur Schule und lernte nachmittags mit Nachhilfelehrern. Manche in meiner Klasse tricksten: Sie nahmen Privatstunden bei den Lehrern unserer Schule und wussten deshalb immer, was sie für die Prüfungen lernen mussten. Aber die Nachhilfelehrer von mir und meiner Schwester kannten die Prüfungsfragen nicht, also machten sie mit uns die Hausaufgaben und gaben uns dann andere Übungen. Zu den Gebetsstunden behauptete ich manchmal, dass ich in die Moschee müsse, flitzte aber zum Spielen zu meinen Freunden.

Wir spielten Kricket und manchmal Badminton im Hof vor dem Haus. Dort stand ein großer Baum, dessen Zweige uns störten, aber keiner wusste, wem er gehörte; die Nachbarn stritten immer darüber, wer ihn gepflanzt hatte, und weil sie sich nicht einigen konnten, durfte keiner ihn zurückschneiden. Wenn der Baum uns zu sehr nervte, suchten wir uns einen anderen Platz zum Spielen. Als ich klein war, badeten wir gern im See. Später gingen wir selbst bei größter Hitze nicht mehr hin, denn es war dort inzwischen sehr schmutzig, und im hohen Gras gab es Schlangen. Also trieben wir uns anderswo rum: auf dem Weg hinter der Kaserne oder vor der Moschee. Einmal hatten unsere Eltern uns überall gesucht. Als mein Vater mich schließlich fand, war er so wütend, dass seine großen schwarzen Augen vor Zorn blitzten. Er befahl mir, ab sofort immer im Hof oder in der Kaserne zu bleiben.

Manchmal ging ich mit meiner Mutter und meiner Schwester ins Kino. Wir mussten anstehen, um in den brechend vollen Saal zu kommen. Immer wurden Liebesfilme gezeigt: Hopsasa, mit einem Tänzchen geht es los, und hopsasa, mit einem Tänzchen kommt das Happy End, und auch wenn zwischendurch der Held stirbt, hopsasa, taucht er am Ende – hopsasa, mit einem Tänzchen – wieder auf. Ich mochte jedenfalls lieber Zeichentrickfilme.

Meine Schwester ist vier Jahre älter als ich. Sie heißt Jhorna, das bedeutet Wasserfall. Ich stritt oft mit ihr, und das nervte meine Eltern.

»Papa hat mir das Geld gegeben, damit ich mir was zu essen kaufen kann.«

»Nein, er hat gesagt, dass wir es uns teilen sollen.«

»Das stimmt gar nicht, er hat gesagt, ich kann mir kaufen, was ich will!«

Morgens gab es immer ein Wettrennen ins Badezimmer:

»Ich will jetzt duschen.«

»Nein, ich habe gesagt, dass ich zuerst dran bin.«

»Zu spät!«

Wenn ich bei meiner Mutter petzte, bestrafte sie uns beide: »Ich habe genug von eurem Gezänk!«

Wir schrien uns zwar oft an, aber wir hatten uns sehr lieb. Auch meinen kleinen Bruder hatte ich sehr gern. Er heißt Fahad, und an dem Tag, als er zur Welt kam, wollten ihn im Krankenhaus alle in den Arm nehmen: die Mutter von meinem Vater und die Mutter von meiner Mutter, die so aussah wie die Ministerpräsidentin von Bangladesch, meine Tanten, meine Onkel, meine Cousins. Sogar ich durfte ihn halten. Ich war sehr glücklich, aber auch erstaunt, weil ich noch nie zuvor ein so kleines Baby gesehen hatte.

Ich verbrachte immer mehr Zeit mit Schachspielen. Mein Vater zeigte mir jeden Tag etwas Neues: die Züge im Voraus zu planen, Fehler zu vermeiden, den Fallen auszuweichen. Wie Stücke eines Puzzles fügte sich alles zusammen, das Chaos lichtete sich, ich kam voran, und bald bekniete ich meinen Vater, mich bei einem Turnier anzumelden – ich hatte gehört, dass die dreizehn Besten dieses Turniers Unterricht bei einem Lehrer der FIDE, dem internationalen Schachverband, gewinnen würden. Obwohl ich erst seit zwei Monaten spielte, willigte mein Vater ein.

Am Turniertag war ich sehr aufgeregt, kämpfte aber wie ein Löwe. Ich gewann drei von sechs Partien. In der letzten Runde – in Bangladesch sagt man round – ließ mein Gegner es ruhig angehen: Weil er wusste, dass ich Anfänger war, dachte er wohl, dass ich nicht sonderlich gut spielen würde. Das nutzte ich aus und gewann.

Überrascht stellte ich fest, dass ich Dreizehnter geworden war. Mein Vater schloss mich voller Freude in die Arme. Seine Freunde, die extra gekommen waren, um mir zuzusehen, gratulierten mir mit strahlendem Lächeln. Zu Hause überbrachte ich meiner Mutter die gute Nachricht. Sie war ganz schön beeindruckt.

Von der ersten Kursstunde an weihte mich der Lehrer der FIDE in immer neue Schachgeheimnisse ein: Dieses Spiel war wie ein Urwald, in dem Gefahren lauern, es gab Raubtiere und Beute, Verstecke und Fallen. Ich durchstreifte und erforschte ihn. Dabei machte ich solche Fortschritte, dass meine Eltern beschlossen, mir Privatunterricht erteilen zu lassen. Bald schlug ich sogar meinen Vater, der doch seit 30 Jahren jeden Tag spielte.

Ich nahm an einigen Turnieren in Dhaka teil, sowohl gegen Jugendliche als auch gegen Erwachsene. Ich gewann Pokale, manchmal auch Medaillen, die ich dann glücklich meiner Mutter präsentierte. Bis auf den Tag, als ich meine Medaille im Bus vergaß und mir die Wut Tränen in die Augen trieb. Meine Eltern waren begeistert, wenn ich gewann, und wenn ich gegen Schwächere verlor, runzelte mein Vater die Stirn. Einmal war er deswegen so wütend, dass er sich weigerte, mich zu den nächsten Spielen zu begleiten. Meine Mutter musste ihren Bruder bitten, mich hinzufahren. Beleidigt, wie ich war, gewann ich daraufhin die letzten fünf Runden. Ein Minister überreichte mir den Pokal. Die Zeitungen schrieben inzwischen über mich, und ich kam sogar ins Fernsehen.

Als ich sechs war, fragte ich meinen Vater, ob ich an einem Turnier in Indien teilnehmen dürfe. Er war einverstanden, aber meine Mutter regte sich auf: »Das ist doch viel zu weit weg! Zu lang! Die Reise wird ihn müde machen. Er wird sich in Kalkutta verlaufen.«

»Amu (das heißt Mama), das ist doch nur für eine Woche. Ich passe auch auf!« Ich bettelte so lange, bis sie nachgab.

»Wirst du auch keine Dummheiten machen? Und genügend essen? Und schön schlafen? Und geh bloß nicht allein auf die Straße!«

Ich versprach es, und dann lief ich los, um dem ganzen Viertel die Neuigkeit zu verkünden. Ich konnte es kaum erwarten und zählte die Tage. Dann ging es endlich los.

Kalkutta! Ich war begeistert! So eine reiche Stadt! Es gab ein riesiges Einkaufszentrum, überall Lichter, eine U-Bahn, und die Hotels waren in Klassen eingeteilt. In unserem Hotelzimmer gab es sogar einen Fernseher und ein Badezimmer.

Die Stadt war aber auch seltsam. Die Leute sprachen Bengali mit einem komischen Akzent, den ich nachzuahmen versuchte. Wie bei uns gab es Staus, aber nicht wegen der Autos, sondern wegen Leuten auf der Fahrbahn – und wegen Kühen, die überall frei herumliefen! Man sah auch andere erstaunliche Dinge, zum Beispiel Straßenverkäufer, die seltsame rote Früchte anpriesen, »Stlobellis« (strawberries, Erdbeeren also). Und ich fiel fast um vor Verblüffung, als ich eine Frau erblickte, die auf der Straße auf und ab ging und dabei rauchte wie ein Mann!

Bei der Meisterschaft errang ich den zweiten Platz, und so konnte ich meinen Vater mühelos davon überzeugen, wieder hinzufahren. Einige Monate später gewann ich das Turnier. Als ich mitten in der Nacht nach Hause kam, lief mir meine Mutter entgegen und schloss mich in die Arme.

»Mama, stell dir vor, ich habe gewonnen! Gegen Erwachsene! Noch dazu gegen Inder!«

Am nächsten Tag erzählte meine Mutter allen Nachbarn von meinem Sieg. Sie sagte, dass ich eines Tages ganz sicher Weltmeister würde. Alle kamen mir gratulieren. Ich war sehr stolz.

Am Abend kam mein Vater mit den Zeitungen nach Hause, in denen über mich berichtet wurde: »Ein siebenjähriger Bengale hat das Schachturnier von Kalkutta gewonnen« – »Der Champion ist ein Teufelskerlchen«, lauteten die Schlagzeilen.

Das Leben war schön.

3Mein Leben ist vorbei

Bangladesch ist ein junges Land, hervorgegangen aus der zweimaligen Teilung Indiens am Ende der Kolonialzeit 1947 und Pakistans 1971. Das politische Leben dort wird bestimmt von Staatsstreichen und Attentaten vor dem Hintergrund der blutigen Rivalität zweier großer politischer Parteien. Kurz vor einer Präsidentschaftswahl, in einem Klima extremer politischer Spannungen, stellten eher private Ereignisse das bisher ruhig verlaufende Leben Fahims auf den Kopf.

Im Radio war von der nächsten Wahl die Rede, die ständig verschoben wurde, und von Demonstrationen. Bald hörte man auf der Straße Schüsse: Das Militär schoss auf die Demonstranten. Man konnte meinen, es sei Krieg. Unsere Eltern verboten uns rauszugehen, zuerst nur abends, wegen der sogenannten Ausgangssperre, dann auch tagsüber, weil das zu gefährlich sei. Die Straßen waren wie leer gefegt.

Die Erwachsenen redeten ständig darüber, denn sie hatten Angst. Und je mehr sie darüber redeten, desto mehr Angst bekamen sie. Sie erzählten, dass die Polizei nach Demonstranten suche. Sie würde in die Häuser eindringen, die Bewohner verprügeln, alles durchsuchen und auf den Kopf stellen, um Waffen zu finden, und sie würde Geld stehlen. Wenn die Polizisten die Leute fänden, die sie suchten, behandelten sie sie wie Verbrecher. Sie erfänden Diebstähle und Morde, irgendwas. Dann konnten sie sie verhaften, ins Gefängnis werfen und manche sogar hinrichten lassen.

Mein Vater wirkte sehr besorgt. Er widmete immer weniger Zeit dem Schachspiel und hing stundenlang am Telefon. Er sprach mit Leuten, die ich nicht kannte. Er sah sehr finster drein. Manchmal hörte ich, wie er mit meinen Onkeln und meinem Großvater diskutierte. Einige kleine Gesprächsfetzen bekam ich mit: Geschichten von Leuten, die neidisch waren wegen des Schachklubs und der Turniere, die ich gewann.

Mehrmals kamen Fremde zu uns. Sie tauchten einfach so auf und wollten meinen Vater sprechen. Sie stellten eine Menge Fragen, die ich nicht verstand. Sie durchsuchten die Wohnung, machten viel Lärm. Dadurch wachte mein kleiner Bruder auf und fing an zu weinen. Jhorna und ich versteckten uns hinter Mama. Sie gingen weg und kehrten zurück. Sie schrien rum und fragten immer wieder, wo mein Vater sei, aber meine Mutter antwortete ihnen nicht und blieb ruhig, selbst wenn Fahad ganz laut weinte. Bevor sie gingen, blickten sie mich an, und ich bekam Angst. Ich wusste nicht, was sie von uns wollten. Nachdem sie weg waren, versteckte sich meine Mutter vor uns, und ich überraschte sie dabei, wie sie weinte. Ich wurde furchtbar wütend: Niemand hatte das Recht, meiner Mutter wehzutun. Ich hasste diese Leute. Wenn ich größer wäre, würde ich meine Mutter beschützen. Aber jetzt wusste ich nicht mal, wie ich sie trösten sollte.