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Es war zwar verboten, aber wir haben es trotzdem gemacht! Unter diesem Motto ist in Ostdeutschland zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 Geschichte geschrieben worden. Den erstarrten Verhältnissen in der DDR war nur beizukommen, wenn man sich über alte Regeln hinwegsetzte und das Neue mutig wagte. So wurden kurzerhand Bürgermeister und Betriebsleiter entmachtet, Kasernen und Gefängnisse belagert, Geheimdienstzentralen besetzt und Redakteursräte organisiert, Bürgerbewegungen und neue Parteien gegründet. Plötzlich spürten viele ihre Kraft und starteten in die spannendste Zeit ihres Lebens.
Dutzende dieser Erinnerungen sind im vorliegenden Buch zusammengetragen worden, die das überraschende Ausmaß an Phantasie und kreativem Potential jener Zeit verdeutlichen, aber auch die Absurdität und Komik mancher Situation belegen.
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Seitenzahl: 323
Christoph Links, Sybille Nitsche Antje Taffelt
Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90
Mit Beiträgen von Annemarie Franke, Bernd Hahlweg, Sebastian Pflugbeil, Franz Poppe, Helgard Schiebert, Volly Tanner und Klaus Wolfram.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage, Mai 2012 (entspricht der 2. Druck-Auflage von März 2009)
© Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH, 2004
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32–0
www.linksverlag.de; [email protected]
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,
unter Verwendung eines Fotos von Andreas Schoelzel:
Protestdemonstration am 7. Oktober 1989 in Ostberlin
während der Staatsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag
der DDR im Palast der Republik
eISBN: 978-3-86284-176-9
Es war verboten, aber wir haben es trotzdem gemacht
Vorwort
Aktion gegen die Wahlfarce
In einer Nacht vor den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 kleben in Berlin drei junge Leute Protestplakate.
Willis Eiland
In der Müritz improvisiert das Volk ein kleines Südseeparadies – sehr zum Ärger der Staatsmacht.
Ein ketzerisches Flugblatt
Im September 1989 folgen die Einwohner im thüringischen Arnstadt einem anonymen Aufruf zu einer illegalen Kundgebung.
Das schwarze Kreuz
Am Tag vor dem 40. Jahrestag der DDR setzen eine Frau und ein Mann in Berlin ein Zeichen der Trauer. Das ruft den Geheimdienst auf den Plan.
Der Tag der Angst
Als am 9. Oktober 1989 die Situation in Leipzig in blutige Gewalt umzuschlagen droht, verfassen sechs Leipziger Persönlichkeiten einen Appell zu Besonnenheit und friedlichem Dialog.
Von der Kolonie zur Selbstbestimmung
Im sächsischen Kurort Gohrisch erzwingen die Einwohner die Öffnung eines Gästeheims des Ministerrates und stellen eine lokale Parallelregierung auf.
Neue Räume für alternative Kunst
Junge Künstler eröffnen in den besetzten Räumen eines Mietshauses in Berlin-Prenzlauer Berg die Galerie ACUD.
Zu Besuch am Hofe eines sozialistischen Feudalherrn
Hunderte Menschen ziehen zum Jagdsitz des einstigen Regierungschefs Willi Stoph und fordern während einer Bürgerversammlung in Waren die Abschaffung der Staatsjagd.
Dorfrepublik Rüterberg
Die Bürger einer kleinen Gemeinde im nördlichen Grenzgebiet an der Elbe erklären ihren Ort zur freien Republik nach eidgenössischem Vorbild.
Gerechtigkeit für die Heilige Elisabeth
In Freyburg an der Unstrut ertrotzen sich Bürger Einlass in die seit Jahren abgeriegelte Neuenburg. Es ist der Beginn einer atemberaubenden Rettungsaktion.
Redakteursräte und Doppelherrschaft
Im staatlichen Rundfunk erzwingen die Redakteure ein Mitspracherecht und bilden eigene Kontroll- und Entscheidungsgremien.
Auf den Spuren des KoKo-Chefs
Eine junge Frau initiiert die Gründung einer unabhängigen Untersuchungskommission, um die Machenschaften des Imperiums von Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski aufzuklären.
Knast-Revolte
In Bautzen II, dem Gefängnis für politisch Inhaftierte, treten die Häftlinge in einen Hungerstreik und gründen einen Gefangenenrat.
Vom Info-Blatt zur unabhängigen Zeitung
Vier Aktive gründen aus dem Nichts eine Zeitung und einen Verlag, die Bürgerbewegungen erhalten eine eigene Öffentlichkeit und unabhängige Medien.
Den Geheimdienst aus dem Ort gejagt
Das Bürgerkomitee in Gosen löst die weit verzweigten Stasi-Dienststellen auf und gründet die erste lokale GmbH.
Befreiungsschlag einer Genossin
Eine Lehrerin weigert sich, vor den Karren der alten Parteikader gespannt zu werden.
Sturm auf die Stasi-Festung
In Frankfurt (Oder) organisieren zwei Frauen den Widerstand gegen die Vernichtung von Geheimdienstakten.
Von einem der auszog, Verbotenes zu tun
Der Christdemokrat Werner Henning schafft die alte Macht im Eichsfeld kurzerhand ab, öffnet Grenzübergänge und verhandelt über einen separaten Anschluss an den Westen.
Herausforderung eines Giganten
In Leipzig erzwingen zwei Bürgerinitiativen die Stilllegung des Tagebaus Cospuden. Da, wo die Bagger aufhörten zu schaufeln, ist heute das Ufer eines großen Sees.
Handel im Wandel
Der Gemüsehändler Voigt aus Erfurt setzt bereits im Januar 1990 sein Recht auf Gewerbefreiheit durch und vollzieht allein die Währungsunion.
Das Vergehen eines Ministers
Der Physiker und Oppositionelle Sebastian Pflugbeil verschafft sich Zugang zu geheimen Unterlagen über die Atomkraftwerke in der DDR.
Kalaschnikows zu Kirchenglocken
In der Bauhausstadt Dessau haben es sich fünf Männer in den Kopf gesetzt, Panzerbüchsen und Gewehre zu vernichten. Den Abgesandten der Regierung zwingen sie zur Kapitulation.
Protokoll mit kirchlichem Siegel
In dem kleinen Ort Mildensee vollzieht sich lange vor der Volkskammerwahl im März 1990 ein wahrhaft historisches Ereignis – die erste wirklich freie Wahl in der DDR.
Die Belagerung
In Prenzlau legen sich Bürger mit der allmächtigen sowjetischen Besatzungsmacht an. Sie demonstrieren vor der Kaserne und verlangen die Einlösung eines Versprechens.
Schluss mit Strammstehen
Matrosen der Volksmarine unterwandern die Befehlsgewalt und gründen den »Ersten Matrosen- und Soldatenrat«.
Der mühsame Weg zum Recht
Detlef Grabert, Mitbegründer des Neuen Forums in Strausberg, erkämpft die Rehabilitierung von zu Unrecht Verurteilten.
Vertreibung aus dem Amt
In Rostock lässt sich der Runde Tisch auf einen Machtkampf mit dem alten Regime ein – und gewinnt. Oberbürgermeister und Stadtschulrat müssen zurücktreten.
Witz kontra Betonköpfe
Ein Ingenieur des VEB Chemieanlagenbaus Leipzig-Grimma verarbeitet die Vergangenheit in einer Glosse für die Betriebszeitung.
Hungerstreik in Erfurt
Drei junge Männer wollen mit einem radikalen Protest die Überprüfung der Parlamentsabgeordneten auf eine Stasi-Mitarbeit erzwingen.
Vom Leichenwäscher zum Armeeauflöser
Der Wehrdienstverweigerer Werner Ablaß wird über Nacht zum Staatssekretär im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung und muss ungewohnte Entscheidungen treffen.
Enthüllung eines Verbrechens
Mit der Wende deckt eine Frau eines der dunkelsten Kapitel der DDR-Geschichte auf: die Vertreibung Tausender Menschen aus den Grenzgebieten.
Aktion Lupine
Drei Berliner wollen entlang der Mauer eine blühende Landschaft erschaffen und bringen die Grenzsoldaten dazu, säend über den Schutzstreifen zu ziehen.
Der Mann, der Züge stoppt
Der Eisenbahner Christian Bormann erzwingt den Halt des ersten Intercity von West nach Ost in Weimar, der Stadt der deutschen Klassik.
Die Blockade
Die Schönwalder legen eine Fernverkehrsstraße lahm, um das einstige Gästehaus des Stasi-Chefs Mielke in eine sprudelnde Geldquelle für die Gemeinde zu verwandeln.
Kampf um Nationalparks
Naturschützern gelingt es, in einem schier aussichtslosen Wettlauf mit der Zeit einmalige Landschaften zu retten.
Vom kurzen Glück vollkommener Freiheit
Ein Lehrer in Berlin lässt das entmündigende Erziehungssystem der DDR hinter sich und gründet eine unabhängige Schule, die nach der Vereinigung mit den Gesetzen der Bundesrepublik kollidiert.
Einmischung als Bürgerpflicht
Mit der Besetzung von Archivräumen des MfS verhindern Bürgerrechtler im Herbst 1990, dass die Stasi-Akten im Bundesarchiv weggeschlossen werden.
Anhang
Chronik der wichtigsten Ereignisse in der DDR 1989/90
Abkürzungsverzeichnis
Angaben zu den Autoren
Der Zustand der Herrschafts- und Gesetzlosigkeit ist den Deutschen eher suspekt. Statt Anarchie lieben sie klare Regelungen und genau definierte Verantwortlichkeiten, wollen wissen, was ihnen zusteht und bis wohin eine Behörde gehen darf. Und doch gibt es ein Jahr in der deutschen Geschichte, das ziemlich anarchisch verlaufen ist und an das sich die Beteiligten dennoch mit großer Begeisterung erinnern. In Gesprächen mit vielen Zeitzeugen über die Monate des Umbruchs in der DDR zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 hörten wir immer wieder: »Das war die aufregendste Zeit meines Lebens!« Während der Debatte um Ostalgie formulierte ein Ostdeutscher zugespitzt: »Ja, ich sehne mich zurück nach der DDR, aber nach der von 1989.«
Gerade weil es keine klare Machtverteilung im Land gab, war plötzlich sehr viel möglich. Die alte SED-Führung hatte das Vertrauen des Volkes verspielt und verfügte selbst über kein funktionierendes Kon zept zur Überwindung der verkrusteten Verhältnisse, zu einer glaubwürdigen Demokratisierung. Die Ostdeutschen wollten auch nicht länger darauf warten, sondern nahmen ihr Herz selbst in die Hand, entmachteten Bürgermeister, Schuldirektoren und Betriebsleiter, belagerten Kasernen und Gefängnisse, besetzten Geheimdienstzentralen, organisierten Soldaten-, Gefangenen- und Redakteursräte, gründeten Interessenverbände und Bürgerbewegungen. Plötzlich spürten viele ihre Kraft, fanden den Mut, bisherige Grenzen zu überschreiten und auch mal das Verbotene zu wagen. Und siehe da, der zivile Ungehorsam trug Früchte. Das Alte ließ sich nur überwinden, indem das Neue ausprobiert wurde, gegen alle Vorschriften. »Es war eine Ahnung vom freien Fliegen«, beschrieb uns eine junge Frau aus Thüringen ihr damaliges Gefühl. Über Monate gab es keine Partei oder Organisation, die einen neuen Kurs vorgab. In langen Debatten und praktischen Experimenten mussten andere Wege erst gefunden werden. Manches davon entbehrte nicht einer gewissen Komik, doch jede Idee war gefragt.
Auch wenn von den konkreten Vorstellungen aus der damaligen Zeit wenig überlebt hat, da im Herbst 1990 ein anderes, selbst dringend reformbedürftiges Gesellschaftskonzept an die Stelle des alten trat, und manch einer resigniert hat, haben viele den Geist jener Tage bewahrt. Widerspruchsgeist ist auch für eine demokratische Gesellschaft unerlässlich.
Über ein Jahr lang sind wir durch die fünf ostdeutschen Bundesländer gereist und haben Menschen getroffen, die uns von ihren Erlebnissen berichteten oder sie auch selbst aufschrieben. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Entstanden ist ein Buch über ein ungewöhn liches Jahr deutscher Geschichte, einer Geschichte, die zeitweilig mehr auf den Straßen und in den Versammlungsräumen geschrieben wurde als in den Amtsstuben der Ministerien. Es sind Geschichten, die auch heute noch Mut machen können.
Berlin, im Juli 2004
Auch fünf Jahre nach Erscheinen des Buches und dem Fortgang der Zeit haben unseres Erachtens die Geschichten, so wie wir sie 2004 aufgeschrieben haben, nichts von ihrer Aussagekraft verloren. Das hat uns bewogen, die denkwürdigen historischen Ereignisse jüngster deutscher Geschichte im 20. Jahr des Mauerfalls mit einer 2. Auflage wieder in Erinnerung zu rufen.
Berlin, im Januar 2009
Christoph Links
Sybille Nitsche
Antje Taffelt
Kio, Johnson und Raimar, alle um die Mitte der 60er Jahre geboren, sind echte Kinder der DDR. Im Kindergarten lernten sie mit anschaulichen Farbtafeln, wie schlagkräftig die Nationale Volksarmee im Verbund mit den sowjetischen Waffenbrüdern den Sozialismus gegen Angriffe der imperialistischen Feinde verteidigen würde; in der Schule legten sie in Pioniergruppenversammlungen Rechenschaft über ihre Taten zum Wohle der sozialistischen Gesellschaft ab, als FDJ-Mitglieder trugen sie am 1. Mai Blauhemd und -bluse und demonstrierten für den Sieg der internationalen Arbeiterklasse.
Trotzdem wollte in all den Jahren keine rechte Liebe zum sozialistischen Vaterland aufkommen. Das Vaterland war träge und langweilte oder reglementierte und belehrte. Die drei wurden erwachsen, das Vaterland nicht. Sie lernten, was ging im Lande und was nicht. Beruf und Studium – Vater Staat lenkte; die Welt mit eigenen Augen anschauen – das verhinderten Grenzen und eine Mauer.
Aber die DDR bot Nischen: Als sich die drei Ende der 80er in Berlin begegnen, hat Kio einen Job bei der »Volkssolidarität« und fährt Essen für alte Leute aus, ist Johnson Kinokartenabreißerin, hat Raimar ein ungeliebtes Studium geschmissen und arbeitet schwarz auf dem Bau. Sie wollen sich nicht einrichten in diesem Staat, der »wenig Spaß versteht« (Raimar); sie sind Anfang zwanzig, feiern Feten und leben unbeschwert. Aber es bleibt das Gefühl, die Zeit stünde still – eine Grundstimmung, die sie latent unzufrieden macht.
Im Frühjahr ’89 ist klar, dass die Kommunalwahlen am 7. Mai nach dem gleichen Schema wie eh und je ablaufen werden. Wieder soll das Volk nur die Kandidaten der Einheitsliste abnicken. Unbeeindruckt vom zunehmenden Unwillen des Volkes und ungerührt von Reformen, die sich sogar im großen »Bruderland« Sowjetunion unter Gorbatschow abzeichnen. Das ist für die drei – wie für viele andere im Land auch – der Punkt, an dem es ihnen reicht. Der Frust auf die Gesamt situation ist so groß, dass sie nicht länger darauf warten wollen, dass sich etwas verändert. Ihre Motivation zu handeln ist nicht vordergründig politisch – sie sind keine Bürgerrechtler. Sie empfinden sich auch nicht als Widerständler, denken eher an: Zivilcourage zeigen. »Wir wollten einfach nicht länger still sein.« (Raimar)
Die bevorstehende Wahlfarce soll gestört werden. Es sind keine wirklichen Wahlen, wenn das Ergebnis vorher schon feststeht, finden die drei. In einer Stehbierkneipe in Prenzlauer Berg, wo sie wohnen, entstehen erste Entwürfe für ein Flugblatt. Doch ihr Protest soll auf der Straße sichtbar sein, deshalb entscheiden sie später anders: Ein Plakat muss her, wenigstens ein kleines. Aber selbst das ist schwierig; denn Kopiergeräte oder andere Vervielfältigungsmöglichkeiten gibt es nicht, oder sie sind in staatlicher Hand – aus gutem Grund.
Also müssen die drei auf Raimars alte Linolschnittausrüstung zurückgreifen, einige Reste Linoleum sind noch da, und so schneiden sie an einem Abend Ende April drauflos. Ein Miniplakat im DIN-A4-Format entsteht, ein kleiner Comic mit Figuren à la Mordillo. Im Keller eines Freundes vervielfältigen sie die Blätter mit Linolschnittfarbe und einer alten Wäschemangel. Ein mühseliges Verfahren, es dauert die halbe Nacht, bis sie 100 Stück fertig haben.
Am 27. April nachts verstauen sie die Plakate in Taschen, füllen Tapetenkleister (der musste 24 Stunden quellen) in Marmeladengläser, ziehen durch Prenzlauer Berg und Mitte und kleben die Blätter an Litfaßsäulen, Häuserwände und überall dort an, wo man sie gut sehen kann. Unterwegs treffen sie jemanden, den sie kennen und der sie begeistert auf die kleinen Plakate hinweist, auf denen statt »wählen« »kwählen« zu lesen ist. Sie können sich nicht zurückhalten und outen sich. Es bleibt aber die einzige Begegnung mit Freunden an diesem Abend.
Am nächsten Morgen wollen Raimar und Kio zur U-Bahn. Sie treten aus dem Haus am Senefelderplatz und treffen auf eine Gruppe von Männern in Zivil, dazu Polizei, mit Autos und Motorrädern. Sie haben die Litfaßsäule umstellt, und ein Mann mit Kapuze versucht, ein Blatt der nächtlichen Klebeaktion von der Säule zu kratzen, ohne es zu beschädigen. Den beiden ist sofort klar, dass die Stasi ein Beweisstück sichern will. Es klebt gleich neben einem Plakat, das den Film »Schrei nach Freiheit« ankündigt, damals in Ost und West besonders wegen Peter Gabriels Musik geschätzt. Die anzügliche Nähe zum Filmtitel war beabsichtigt.
Das Herz schlägt ihnen bis zum Hals, als sie an den Männern und den Autos vorbei müssen. Sie glauben, man müsse ihnen auf zehn Meter Entfernung ansehen, dass sie hinter der Aktion stehen.
Aber erst einmal passiert nichts. Etwa zwei Wochen vergehen, dann findet die Polizei zufällig, als sie wegen zu lauter Musik die Party eines Freundes »aushebt«, ein Exemplar des »Wahl-Comics«. Alle Anwesenden werden eingesammelt und zum Polizeiprä sidium in der Keibelstraße transportiert, wo man sie verhört und ihre Personalien aufnimmt. Keiner verrät die drei, obwohl mehrere Freunde um die Urheberschaft des Plakates wissen.
Die Angst verfliegt wieder. Aus einer Mischung aus Trotz und Naivität machen sie weiter. Das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz in Peking am 4. Juni »verdirbt« ihnen »die gute Laune« (Kio). Mit anderen »Untergrund-Aktivisten« planen sie eine neue Aktion. Sie stellen Flugblätter her und werfen sie vom Dach eines Hauses an der großen Kreuzung Dimitroffstraße/Schönhauser Allee und entrollen selbst gemalte Laken-Transparente »Demokratie in China und hier!« Anschließend flüchten sie über die Dächer der Berliner Mietskasernen.
Wirkliche Angst kommt erst nach dem Besuch einer Fete in der Fachschule für Erzieher in Hohenprießnitz bei Delitzsch in Sachsen auf, wo ein Freund studiert. Johnson schreibt mit Kreide einen flammenden Aufruf für Glasnost und Perestroika an die schöne große Wandtafel eines Unterrichtsraums. Und das in Hohenprießnitz, wo die künftigen Volksbildungskader herangebildet werden! Wieder in Berlin, erreicht die Freunde am nächsten Tag ein aufgeregter Anruf von dort. »Die Stasi ist da. Wir kriegen alle acht Jahre!« brüllt die, die dort studiert, durchs Telefon. Und die Stasi greift durch, hängt die Tafel ab, lässt alle Ausbilder und Studenten Schriftproben abgeben, prüft das Besucherbuch und zitiert sämtliche Gäste von Rostock bis Jena auf die örtlichen Polizeidienststellen »zur Klärung eines Sachverhalts«, auch Raimar muss eine Schriftprobe anfertigen und Fingerabdrücke machen lassen. Er fürchtet, seine Fingerabdrücke könnten von der Plakataktion bereits bekannt sein und die Stasi in die Lage versetzen, Zusammenhänge herzustellen. Aber er hat Glück. Johnson auch, sie entwischt ihren Jägern, weil sie sich nicht ins Gäste buch eingetragen hat. Und weil niemand der Stasi einen Hinweis gibt.
Kathrin Berger, genannt Johnson, damals Kinokartenabreißerin, machte eine Schriftsetzerlehre und ist heute Webdesign-& Systemadministratorin.
Annette Wilhelm, genannt Kio, damals bei der »Volkssolidarität«, studierte Europäische Ethnologie in Berlin und ist heute Gewerberaumbörsenfee bei einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft.
Raimar Fritsch brach in der DDR sein Informatikstudium ab, studierte nach der Wende Kultur- und Theaterwissenschaften und arbeitet heute freiberuflich unter anderem als Fotograf, Grafiker und Projektmanager.
Antje Taffelt
Der Sommer 1989 war reich an Ereignissen. Für die Wassersportler der Müritz hatte er sich sogar etwas ganz Besonderes ausgedacht. Der See bekam in jenen Tagen Zuwachs. Am Ostufer hatte sich in der Müritz eine circa 1000 Quadratmeter große Insel gebildet.
Sonst waren die Staatsorgane der DDR von geradezu »prophetischer Voraussicht«. Hier versagten sie kläglich. Der Ministerpräsident der DDR, Willi Stoph, hatte sich in der Kernzone des Naturschutzgebietes recht komfortabel eingenistet. Um nun mit seinem Boot auch auf die Müritz fahren zu können, ließ er den Herrmannsgraben, eine Verbindung zwischen der Müritz und dem Specker See, an dem sein Anwesen lag, tiefer spülen. Natürlich auf Staatskosten, und, da es ein »Arbeiter-und-Bauern-Staat« war, auf unsere Kosten.
Der Sand aus dem Graben wurde in der Müritz aufgespült, und so entstand diese Insel. Im Volksmund »Willis Eiland« genannt.
Wenn man am Morgen im Bolter Kanal fragte: »Wohin segelt ihr heute?«, bekam man fast immer in diesen Tagen des Sommers ’89 die Antwort: »Zu Willis Eiland.« Aber »Willis Eiland« war in einem Gebiet entstanden, das zum Jagdsitz des Ministerpräsidenten gehörte. Diese Zone zu betreten, war dem Volk strengstens verboten, und das wusste es auch. Doch in diesem Sommer kümmerte es sich nicht darum.
Irgendwann hatte ein Spaßvogel etwas aufgestellt, was entfernt an eine Palme erinnerte. Ein prächtiger Ort, um Ball zu spielen, sich zu sonnen und die Staatsmacht zu lobpreisen, die für ihr Volk mit so viel Aufwand einen kleinen Südseetraum geschaffen hatte.
Die Zahl der Boote nahm von Tag zu Tag zu, und das blieb natürlich der wachsamen Mannschaft von »Horch und Guck« nicht verborgen. Am nahen Ufer tauchten Trabant-Kübelwagen auf. Man schaute durch teure Ferngläser, und es wurden viele Filme belichtet. Eines Tages dümpelte ein Angelkahn in der Nähe der Insel, und die »Angler« an Bord begannen eifrig zu angeln.
Die meisten der Inselbesucher waren auch erfahrene Angler und wussten: So angelt man nicht, und hier angelt man auch nicht. Es sei denn, man will wie Petrus Menschen fischen. So war es schließlich auch. Nachdem einige der Segler übermütig geworden waren und auf der Insel übernachteten, schien die Sicherheit des teuren Ministerpräsidenten doch aufs Höchste gefährdet zu sein. Als noch ein harmloser Paddler eines Tages sein Zelt auf dieser Insel aufbaute, war das Maß voll.
Am letzten Sonntag im August 1989 tauchte am Nachmittag ein Boot der Wasserschutzpolizei auf. Mit dem Megafon wurden die »Inselbesetzer« aufgefordert, sofort das Sperrgebiet zu verlassen. Der »Staatsmacht« musste man weichen. Die »Genossen der Wasserschutzpolizei« gaben erst Ruhe, nachdem auch das letzte Boot Kurs auf die Außenmüritz genommen hatte. Das Volk war an diesem Ort unerwünscht.
Ein paar Wochen konnte man »Willis Eiland« noch im Fernglas sehen. Dann kamen die Herbststürme. Sie beseitigten in wenigen Tagen die Insel und einige Wochen später auch den gesamten Spuk der »Roten Korsaren«.
Franz Poppe
Günther Sattler ist das jüngste von sechs Geschwistern. Das Nesthäkchen. Der Vater säuft. Als kleiner Junge war er einmal stolz auf ihn, aber das ist lange her. Jetzt hasst er ihn nur noch. Viel später wird er auf die Frage, ob sein Vater noch lebt, sagen: »Der ist, Gott sei Dank, vor Jahren gestorben.«
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