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Das Zeichen des Sieges E-Book

Bernard Cornwell

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Beschreibung

England, Anfang des 15. Jahrhunderts. Der junge Nicholas Hook, Sohn eines mittellosen Schäfers, hat eine außerordentliche Gabe: Jeder Pfeil, den er abschießt, trifft sein Ziel. Um der Armut seiner Heimat zu entkommen, tritt er der Armee seines Königs Henry V. bei, die sich zum Kampf gegen die Franzosen rüstet. Doch das Soldatenleben ist hart und gefährlich. Als vor Harfleur die Ruhr ausbricht, sterben die Krieger wie die Fliegen. Nick überlebt mit knapper Not – mit Hilfe der schönen Melisande, die ihm beweist, dass nicht alle Franzosen Feinde sind. Schließlich bereitet sich Henry V. auf die letzte Schlacht vor. Bei Azincourt stehen nur noch 6000 Engländer einer überwältigenden Übermacht von 30 000 französischen Rittern gegenüber – eine aussichtslose Lage. Doch die Angreifer lassen einen unaufhörlichen Pfeilehagel auf ihre Feinde niederprasseln. Und auf dem schlammigen Acker in der Nähe der französischen Kanalküste wird Nick Zeuge eines Wunders ...

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Bernard Cornwell

Das Zeichen des Sieges

Historischer Roman

 

 

Übersetzt von Karolina Fell

 

Über dieses Buch

England, Anfang des 15. Jahrhunderts. Der junge Nicholas Hook, Sohn eines mittellosen Schäfers, hat eine außerordentliche Gabe: Jeder Pfeil, den er abschießt, trifft sein Ziel. Um der Armut seiner Heimat zu entkommen, tritt er der Armee seines Königs Henry V. bei, die sich zum Kampf gegen die Franzosen rüstet. Doch das Soldatenleben ist hart und gefährlich. Als vor Harfleur die Ruhr ausbricht, sterben die Krieger wie die Fliegen. Nick überlebt mit knapper Not – mit Hilfe der schönen Melisande, die ihm beweist, dass nicht alle Franzosen Feinde sind.

Schließlich bereitet sich Henry V. auf die letzte Schlacht vor. Bei Azincourt stehen nur noch 6000 Engländer einer überwältigenden Übermacht von 30 000 französischen Rittern gegenüber – eine aussichtslose Lage. Doch die Angreifer lassen einen unaufhörlichen Pfeilehagel auf ihre Feinde niederprasseln. Und auf dem schlammigen Acker in der Nähe der französischen Kanalküste wird Nick Zeuge eines Wunders ...

Vita

Bernard Cornwell, geboren 1944, machte nach dem Studium Karriere bei der BBC. Er folgte seiner Frau in die USA und schreibt seither außerordentlich erfolgreiche historische Abenteuerromane. Seine Bücher, «Das letzte Königreich», «Der weiße Reiter», «Die Herren des Nordens», «Der Winterkönig» und «Schwertgesang», haben sich in Deutschland über eine halbe Million Mal verkauft und erklimmen regelmäßig die Bestsellerlisten.

Azincourt

ist für meine Enkelin

Esme Cornwell

In Liebe

«Agincourt ist unter all den dramatischen Episoden der englischen Geschichte einer der am unmittelbarsten und anschaulichsten vergegenwärtigten Momente … Es ist ein Sieg der Schwachen über die Starken, des gemeinen Soldaten über den berittenen Edelmann, der entschlossenen Tat über große Reden … und es ist eine Geschichte von grausamen Schlächtern und unvorstellbaren Gräueln.»

 

Sir John Keegan, Das Antlitz des Krieges

 

«… Da liegen viel Erschlagene und große Haufen Leichname, dass ihrer keine Zahl ist und man über die Leichname fallen muss.»

 

Buch Nahum 3.3

Prolog

An einem Wintertag des Jahres 1413, kurz vor Weihnachten, beschloss Nicholas Hook, einen Mord zu begehen.

Es war ein kalter Tag. Über Nacht hatte strenger Frost geherrscht, und noch um die Mittagszeit lag Reif auf den Wiesen. Kein Windhauch regte sich, die ganze Welt war fahl, frostig und still, als Hook auf dem Hohlweg, der vom hochgelegenen Wald zum Mühlengrund führte, Tom Perrill entdeckte.

Nick Hook bewegte sich wie ein Geist. Er war Forstmann, und sogar an Tagen, an denen der vorsichtigste Schritt wie brechendes Eis klingen konnte, ging er lautlos. Langsam arbeitete er sich den Hohlweg hinauf, auf dem Perrill eines von Lord Slaytons Zugpferden an den Stamm einer gefällten Ulme geschirrt hatte. Perrill zog den Baum zur Mühle, um daraus neue Blätter für das Wasserrad zu machen. Er war allein. Das war ungewöhnlich, denn Tom Perrill entfernte sich selten ohne seinen Bruder oder einen anderen Begleiter so weit von zu Hause, und Hook hatte ihn noch nie ohne seinen Bogen über der Schulter in diesem Teil des Waldes gesehen.

Nick Hook blieb an der Baumgrenze stehen und verbarg sich hinter einem Stechpalmengebüsch. Er war noch hundert Schritt von Perrill entfernt, der fluchte, weil die Karrenrillen im Weg gefroren waren, sodass der große Ulmenstamm in den Furchen hängen blieb und das Pferd sich gegen die Anstrengung sträubte. Perrill hatte das Tier blutig geschlagen, aber das hatte nichts geholfen, und jetzt stand er mit der Gerte in der Hand da und verfluchte das unglückliche Geschöpf.

Hook zog einen Pfeil aus der Tasche, die an seiner Seite hing, und überprüfte, ob es der war, den er benutzen wollte. Es war ein Breitkopf mit langer Halterungszunge, dessen Spitze so gearbeitet war, dass sie tief in den Körper eines Hirschs eindringen konnte, ein Pfeil, der die Schlagader aufriss, sodass das Tier verblutete, falls Hook das Herz verfehlte – allerdings verfehlte er es nur selten. Mit achtzehn Jahren hatte er den Drei-County-Wettbewerb gewonnen, ältere, in England weithin berühmte Bogenschützen geschlagen, und auf hundert Schritt verfehlte er sein Ziel niemals.

Er legte den Pfeil über den Bogenschaft. Dabei beobachtete er Perrill, denn auf den Pfeil oder den Bogen musste er keinen Blick verschwenden. Sein linker Daumen hakte sich über den Pfeil, und seine rechte Hand spannte die Sehne leicht an, sodass sie in die kleine, mit Horn verstärkte Kerbe am Ende des befiederten Pfeils rutschte. Dann hob er den Bogen, die Augen immer noch auf den ältesten Sohn des Müllers gerichtet.

Er zog die Sehne ohne erkennbare Anstrengung zurück. Die meisten Männer, die keine Bogenschützen waren, hätten die Sehne nicht halb so weit zurückziehen können. Er dagegen spannte sie bis zu seinem rechten Ohr.

Perrill hatte sich umgedreht und sah in Richtung des Mühlengrundes, in dem sich der Fluss als silbriges Band unter den winterkahlen Weiden dahinwand. Er trug Stiefel, Kniehosen, eine Jacke und darüber einen Mantel aus Hirschleder, und er ahnte nichts davon, dass sein Tod nur noch ein paar Herzschläge entfernt war.

Hook gab den Pfeil frei. Er schnellte glatt davon, die Hanfsehne löste sich ohne das geringste Zittern von Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger.

Der Pfeil beschrieb eine gerade Linie. Hook sah den grauen Federn nach, beobachtete, wie der sich verjüngende Eschenschaft mit der Stahlspitze auf Perrills Herz zuraste. Er hatte die keilförmige Stahlspitze geschärft, und er wusste, dass sie Hirschleder so leicht wie Spinnweben durchdringen würde.

Nick Hook hasste die Perrills, genau wie die Perrills die Hooks hassten. Die Fehde reichte zwei Generationen zurück. Damals hatte Tom Perrills Großvater Hooks Großvater im Dorfgasthaus getötet, indem er ihm einen Schürhaken ins Auge rammte. Der alte Lord Slayton hatte erklärt, es habe sich um einen redlichen Kampf gehandelt, und sich geweigert, den Müller zu bestrafen. Seitdem suchten die Hooks nach einer Gelegenheit zur Rache.

Sie hatten nie eine gefunden. Hooks Vater war bei dem alljährlichen Fußballspiel zu Tode getrampelt worden, und man hatte niemals jemanden dafür zur Verantwortung gezogen, obwohl jeder wusste, dass es einer von den Perrills gewesen sein musste. Der Ball war ins Schilf hinter dem Obstgarten des Herrenhauses geflogen, ein Dutzend Männer waren ihm nachgelaufen, doch nur elf waren zurückgekehrt. Der neue Lord Slayton hatte bei der Vorstellung, das als Mord zu bezeichnen, nur gelacht. «Wenn man jeden aufhängen wollte, der beim Fußball einen umbringt», hatte er gesagt, «dann müssten wir halb England aufknüpfen!»

Hooks Vater war Schäfer gewesen. Er hatte eine Witwe und zwei Söhne zurückgelassen, und die Witwe war nach zwei Monaten bei der Geburt ihrer toten Tochter gestorben. Ihr Tod fiel auf den Tag von Sankt Nikolaus und war zugleich Nick Hooks dreizehnter Geburtstag, und seine Großmutter sagte, dieses Zusammentreffen sei der Beweis dafür, dass auf Nick ein Fluch liege. Sie versuchte diesen Fluch mit ihren eigenen Zauberkünsten zu bannen. Sie stach ihn mit einem Pfeil, trieb die Spitze tief in seinen Oberschenkel und sagte, er solle mit diesem Pfeil einen Hirsch töten, dann würde der Fluch von ihm weichen. Hook hatte mit dem blutverschmierten Pfeil eine von Lord Slaytons Hirschkühen gewildert, doch der Fluch war geblieben. Die Perrills lebten weiter, und die Fehde auch. Als ein schöner Apfelbaum im Garten seiner Großmutter verkümmerte, beharrte sie darauf, dass die alte Mutter Perrill die Braunfäule auf den Baum herabgerufen habe. «Die Perrills waren immer bloß widerliche Scheißefresser», sagte seine Großmutter. Sie belegte Tom Perrill und seinen jüngeren Bruder Robert mit dem bösen Blick, aber die alte Mutter Perrill musste einen Gegenzauber angewendet haben, denn keiner der beiden wurde krank. Die beiden Ziegen, die Hook auf der Gemeindewiese hielt, verschwanden, und im Dorf wurde vermutet, dass die Wölfe sie geholt hätten, doch Hook wusste: Es waren die Perrills gewesen. Aus Rache tötete er ihre Kuh, aber das war nicht dasselbe, wie die Perrills selbst umzubringen. «Es ist deine Pflicht, sie zu töten», erinnerte Nicks Großmutter ihn immer wieder, doch er hatte niemals eine Gelegenheit dazu gefunden. «Der Teufel soll dich Scheiße kotzen lassen», verfluchte sie ihn eines Tages, «und dann soll er dich in die Hölle fahren lassen.» Sie warf ihn aus dem Haus, als er sechzehn Jahre alt war. «Du kannst von mir aus verhungern, du Bastard», knurrte sie dabei. Sie wurde zu dieser Zeit langsam verrückt, und es war zwecklos, mit ihr zu reden, also ging Nick Hook von zu Hause weg, und er hätte wirklich sehr leicht verhungern können, wenn es nicht das Jahr gewesen wäre, in dem er beim Sechs-Dörfer-Wettbewerb den ersten Platz belegt hatte, indem er Pfeil auf Pfeil in die weit entfernte Markierung treffen ließ.

Lord Slayton machte Nick zu einem Forstmann, was bedeutete, dass er den Tisch Seiner Lordschaft stets mit Wildbret versorgte. «Besser, du tötest sie rechtens», hatte Lord Slayton bemerkt, «als dass ich dich für Wilderei aufhängen lassen muss.»

Und jetzt, am Sankt-Winebalds-Tag kurz vor Weihnachten, sah Nick Hook seinem Pfeil auf dem Weg in Tom Perrills Herz nach.

Er würde ihn töten, das wusste er.

Der Pfeil schnellte dahin und senkte seine Bahn leicht zwischen den hohen, frostfunkelnden Hecken. Tom Perrill ahnte nicht, dass er auf ihn zukam. Nick Hook lächelte.

Dann flatterte der Pfeil.

Eine Feder hatte sich gelöst, Leim und Bindung mussten nachgegeben haben, und der Pfeil schwenkte etwas nach links, schlitzte die Flanke des Pferdes auf und bohrte sich in seine Schulter. Das Pferd wieherte, bäumte sich auf, warf sich nach vorn und zerrte dabei den großen Ulmenstamm aus den gefrorenen Furchen des Weges.

Tom Perrill fuhr herum und starrte zum hochgelegenen Wald hinauf, dann begriff er, dass einem ersten Pfeil leicht ein zweiter folgen konnte, drehte sich erneut um und rannte dem Pferd hinterher.

Wieder war Nick Hook gescheitert. Er war verflucht.

 

Lord Slayton ließ sich in seinen Stuhl fallen. Er war in den Vierzigern und litt bitter darunter, dass ihn bei der Schlacht von Shrewsbury ein Schwerthieb ins Rückgrat zum Krüppel gemacht hatte, sodass er niemals mehr in den Kampf würde ziehen können. Schlecht gelaunt betrachtete er Nick. «Wo warst du am Sankt-Winebalds-Tag?»

«Wann war der, Mylord?», fragte Hook anscheinend in aller Unschuld.

«Bastard», zischte Lord Slayton, und der Verwalter zog ihm von hinten den Horngriff einer Pferdepeitsche über.

«Ich weiß nicht, welcher Tag das war, Mylord», sagte Hook starrköpfig.

«Vor zwei Tagen», sagte Sir Martin. Er war Lord Slaytons Schwager und zugleich der Priester des Herrenhauses und des Dorfes. Er war genauso wenig ein Ritter wie Hook, doch Lord Slayton bestand in Anerkennung seiner hohen Geburt darauf, dass er mit «Sir» angesprochen wurde.

«Oh!» Hook täuschte eine plötzliche Erleuchtung vor. «Ich habe die Eschen unter Beggar’s Hill auf den Stock gesetzt, Mylord.»

«Lügner», sagte Lord Slayton sofort. William Snoball, Verwalter und Bogenschützenführer Seiner Lordschaft, schlug Hook erneut. Der Peitschengriff traf hart auf den Hinterkopf des Forstmanns, und Blut tröpfelte an Hooks Schädel herunter.

«Bei meiner Ehre, Mylord», log Hook mit schmerzverzerrter Miene.

«Die Ehre der Hooks», bemerkte Lord Slayton trocken, bevor er seinen Blick Hooks jüngerem Bruder Michael zuwandte, der siebzehn Jahre alt war. «Und wo warst du?»

«Ich habe die Vorhalle der Kirche mit Stroh gedeckt, Mylord», sagte Michael.

«Das hat er wirklich», bestätigte Sir Martin. Der Priester, mager und hoch aufgeschossen in seiner fleckigen schwarzen Robe, ließ Nick Hooks jüngerem Bruder eine Grimasse zuteilwerden, die bei ihm ein Lächeln darstellte. Jeder mochte Michael. Sogar die Perrills schienen ihn von dem Hass auszunehmen, den sie für die gesamte restliche Hook-Sippe hegten. Michael war blond, während sein Bruder dunkelhaarig war, und im Gegensatz zu Nick Hooks düsterem Wesen war seines heiter.

Die Brüder Perrill standen neben den Hook-Brüdern. Thomas und Robert waren groß, dünn und schlaksig, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, ihre Nasen waren lang, und ihr Kinn stand hervor. Ihre Ähnlichkeit mit dem Priester Sir Martin war unverkennbar. Die Dorfleute wahrten, mit der Ehrerbietung, die man einem Kirchenmann von vornehmer Geburt schuldete, den Schein, die Perrill-Brüder seien die Söhne des Müllers, während sie ihnen zugleich mit besonderem Respekt begegneten. Die Perrills besaßen unausgesprochene Privilegien, denn jeder wusste, dass die Brüder sich auf Sir Martins Hilfe verlassen konnten, wann immer sie sich bedroht fühlten.

Und Tom Perrill war nicht einfach nur bedroht, sondern beinahe getötet worden. Der graubefiederte Pfeil hatte ihn nur um eine Handbreit verfehlt, und dieser Pfeil lag nun auf dem Tisch im großen Saal des Herrenhauses. Lord Slayton deutete auf den Pfeil und nickte seinem Verwalter zu, der daraufhin an den Tisch trat. «Das ist keiner von unseren, Mylord», sagte William Snoball, nachdem er den Pfeil in Augenschein genommen hatte.

«Die grauen Federn, meint Ihr?», fragte Lord Slayton.

«Niemand hier in der Gegend benutzt Graugans», sagte Snoball zögernd und warf Nick Hook einen mürrischen Blick zu, «nicht zum Befiedern. Und auch für sonst nichts!»

Lord Slayton ließ seinen Blick auf Nick Hook ruhen. Er kannte die Wahrheit. Jeder im Saal kannte sie, außer vielleicht Michael, diese arglose Seele. «Peitsch ihn aus», schlug Sir Martin vor.

Hook starrte die Tapisserie an, die unter der Galerie des Saales hing. Sie zeigte einen Jäger, der einem Keiler den Speer in die Eingeweide rammte. Eine Frau, die nichts weiter trug als einen Hauch durchsichtigen Stoffes, beobachtete den Jäger, der mit einem Lendenschurz und einem Helm angetan war. Die Eichenstämme, auf denen die Galerie ruhte, hatte der Kaminrauch von hundert Jahren geschwärzt.

«Peitsch ihn aus», wiederholte der Priester, «oder schneid ihm die Ohren ab.»

Hooks Blick glitt zu Lord Slayton zurück, und er fragte sich wie bei tausend anderen Gelegenheiten, ob er gerade seinen eigenen Vater ansah. Hook besaß das grobknochige Gesicht der Slaytons, die gleiche stark gewölbte Stirn, den gleichen breiten Mund, das gleiche schwarze Haar und die gleichen dunklen Augen. Er hatte die gleiche Größe und die gleiche Kraft, die Seine Lordschaft besessen hatte, bevor das Aufrührerschwert in seinen Rücken gefahren war und ihn an die ledergepolsterten Krücken gezwungen hatte, die an seinem Stuhl lehnten. Seine Lordschaft erwiderte den Blick, doch seine Augen verrieten nichts. «Diese Fehde ist beendet», sagte er schließlich, ohne die Augen von Hook zu lösen. «Verstehst du? Es wird nicht mehr getötet.» Er deutete mit der Hand auf ihn. «Wenn einer von den Perrills stirbt, dann töte ich dich und deinen Bruder. Hast du mich verstanden?»

«Ja, Mylord.»

«Und wenn Hook stirbt», Seine Lordschaft ließ den Blick zu Tom Perrill wandern, «dann werdet du und dein Bruder an der Eiche aufgeknüpft.»

«Ja, Mylord.»

«Der Mord müsste zuerst bewiesen werden», warf Sir Martin ein. Ihm war die Entrüstung deutlich anzuhören. Der magere Priester wirkte oft, als lebte er in einer anderen Welt, als sei er mit seinen Gedanken weit fort, und wenn seine Aufmerksamkeit dann plötzlich wieder in die Gegenwart zurückkehrte, platzte er mit seinen Worten so schnell heraus, als wolle er die verlorene Zeit einholen. «Bewiesen», sagte er erneut, «bewiesen.»

«Nein!», widersprach Lord Slayton seinem Schwager, und um seinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen, schlug er mit der Hand auf die hölzerne Armlehne seines Stuhls. «Wenn irgendeiner von euch vieren stirbt, dann hänge ich den Rest von euch! Ganz einfach! Wenn einer von euch in den Mühlenbach fällt und ertrinkt, ist das für mich ein Mord. Habt ihr verstanden? Ich will, dass diese Fehde augenblicklich beendet wird!»

«Es wird keinen Mord geben, Mylord», sagte Tom Perrill demütig.

Lord Slayton sah Hook an, von dem er das gleiche Versprechen erwartete, doch Nick Hook sagte nichts. «Ein paar Peitschenhiebe werden ihn Gehorsam lehren, Mylord», schlug Snoball vor.

«Er ist schon oft genug ausgepeitscht worden!», sagte Lord Slayton. «Wann war das letzte Mal, Hook?»

«An Michaeli, Mylord.»

«Und was hast du daraus gelernt?»

«Dass Master Snoballs Arm schwächer wird, Mylord», sagte Hook.

Ein unterdrücktes Kichern lenkte seinen Blick nach oben, wo Ihre Ladyschaft aus den Schatten der Galerie heraus die Szene beobachtete. Sie war kinderlos. Ihr Bruder, der Priester, zeugte einen Bastard nach dem anderen, doch Lady Slayton war unfruchtbar. Hook wusste, dass sie auf der Suche nach einem Heilmittel heimlich seine Großmutter besucht hatte, doch ihre Zauberkünste hatten es nicht geschafft, ein Baby hervorzubringen.

Snoball hatte bei Hooks Dreistigkeit wütend geknurrt, doch Lord Slayton hatte seine Belustigung durch ein unvermitteltes Grinsen verraten. «Raus!», befahl er jetzt. «Alle raus, bis auf dich, Hook. Du bleibst.»

Lady Slayton sah zu, wie die Männer den Saal verließen, und verschwand in einem Zimmer, das hinter der Galerie lag. Ihr Gatte betrachtete Nick Hook ohne ein Wort, bis er schließlich auf den graubefiederten Pfeil deutete, der auf dem Eichentisch lag. «Woher hast du den, Hook?»

«Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, Mylord.»

«Du bist ein Lügner, Hook. Du bist ein Lügner, ein Dieb, ein Gauner und ein Bastard, und ich habe keinen Zweifel daran, dass du auch ein Mörder bist. Snoball hat recht. Ich sollte dich bis auf die Knochen auspeitschen. Oder vielleicht sollte ich dich einfach hängen. Damit würde ich der Menschheit einen großen Gefallen tun, sie müsste sich dann nämlich nicht mehr mit Nick Hook abgeben.»

Hook sagte nichts. Er sah Lord Slayton einfach nur an. Ein Holzscheit im Kamin zerbrach und ließ einen Funkenregen niedergehen.

«Aber du bist auch der verdammt beste Bogenschütze, den ich je gesehen habe», fuhr Lord Slayton grimmig fort. «Gib mir den Pfeil.»

Hook nahm den graubefiederten Pfeil und reichte ihn Seiner Lordschaft. «Hat sich beim Flug die Befiederung gelöst?», fragte Lord Slayton.

«Sieht danach aus, Mylord.»

«Du bist kein Pfeilmacher, oder, Hook?»

«Ich mache schon welche, Mylord, aber sie werden nicht so gut, wie sie sein sollten. Ich kann die Schäfte nicht ordentlich verjüngen.»

«Dafür brauchst du ein gutes Abziehmesser», sagte Lord Slayton und zupfte an den Federn. «Also, woher hast du den Pfeil?», fragte er noch einmal. «Von einem Wilderer?»

«Ich habe letzte Woche einen getötet», sagte Hook wachsam.

«Du sollst sie nicht töten, Hook, du sollst sie zum Herrenhaus bringen, damit ich sie töten kann.»

«Der Bastard hatte im Drosselwald eine Hirschkuh geschossen», erklärte Hook, «und dann ist er weggelaufen. Also habe ich ihm einen Breitkopf in den Rücken gejagt und ihn hinter Cassell’s Hill begraben.»

«Wer war es?»

«Ein Vagabund, Mylord. Ich vermute, er ist einfach nur hier durchgezogen, und er besaß nichts außer seinem Bogen.»

«Einen Bogen und eine Tasche voll graubefiederter Pfeile», sagte Seine Lordschaft. «Du kannst dich freuen, dass das Pferd nicht draufgegangen ist. Dafür hätte ich dich gehängt.»

«Caesar hat kaum einen Kratzer abbekommen, Mylord», sagte Hook wegwerfend, «er hat nichts als eine kleine Schramme.»

«Und woher weißt du das, wenn du nicht dort warst?»

«Ich höre so manches im Dorf, Mylord», sagte Hook.

«Ich höre auch so manches, Hook», sagte Lord Slayton, «und du lässt die Perrills in Frieden! Hast du verstanden? Lass sie in Ruhe!»

Hook besaß wenige Überzeugungen, doch er lebte in der festen Überzeugung, dass er von dem Fluch erlöst würde, der über seinem Leben lag, wenn es ihm nur gelänge, die Perrills umzubringen. Er war nicht ganz sicher, worin dieser Fluch bestand – vielleicht ja in dem beunruhigenden Verdacht, dass das Leben mehr zu bieten haben müsse als den Dienst auf diesem Herrensitz. Doch schon bei dem Gedanken daran, seinem Dienstherrn Lord Slayton wegzulaufen, überfiel ihn die düstere Angst, von einem unsichtbaren und unbegreiflichen Verhängnis erwartet zu werden. Das war die Wirkung des Fluches, und er wusste nicht, wie er ihn anders loswerden sollte als durch Mord. Dennoch nickte er gehorsam. «Ich habe gehört, was Ihr gesagt habt, Mylord.»

«Du hast es gehört, und du wirst gehorchen», sagte Seine Lordschaft. Er warf den Pfeil ins Feuer, wo er einen Moment lang lag, bevor er hell aufloderte. Ein guter Breitkopf verschwendet, dachte Hook. «Sir Martin mag dich nicht, Hook», sagte Lord Slayton mit gesenkter Stimme. Er sah an die Decke, und Hook verstand, dass Seine Lordschaft sich fragte, ob seine Frau immer noch auf der Galerie war. Hook schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. «Weißt du, warum er dich hasst?», fragte Seine Lordschaft.

«Ich glaube, er mag ohnehin kaum jemanden, Mylord», antwortete Hook ausweichend.

Lord Slayton sah Hook nachdenklich an. «Und was Will Snoball angeht, hast du recht», sagte er schließlich. «Seine Kräfte lassen nach. Wir werden alle alt, Hook, und ich werde einen neuen Centenar brauchen. Verstehst du, was ich meine?»

Ein Centenar war der Mann, der eine Kompanie Bogenschützen befehligte. William Snoball hatte dieses Amt innegehabt, solange sich Hook erinnern konnte. Snoball war zugleich der Verwalter des Herrensitzes, und diese beiden Ämter hatten ihn zum reichsten unter Lord Slaytons Männern gemacht. Hook nickte. «Ich verstehe, Mylord», murmelte er.

«Sir Martin ist der Ansicht, dass Tom Perrill mein nächster Centenar werden soll. Und er befürchtet, dass ich dich ernenne, Hook. Ich kann mir nicht denken, wie er darauf kommt. Kannst du es?»

Hook sah ihm ins Gesicht. Er dachte an seine Mutter und war versucht, danach zu fragen, wie gut Seine Lordschaft sie gekannt hatte, aber dann tat er es doch nicht. «Nein, Mylord», sagte er stattdessen demütig.

«Wenn du also nach London gehst, Hook, dann sei vorsichtig. Sir Martin wird mit euch kommen.»

«London!»

«Ich habe einem Aufruf zu folgen», erklärte Lord Slayton. «Ich soll meine Bogenschützen nach London schicken. Warst du schon einmal in London?»

«Nein, Mylord.»

«Nun, jetzt wirst du hingehen. Der Grund für den Aufruf wurde nicht genannt. Aber meine Bogenschützen gehen, weil der König es befohlen hat. Gibt es vielleicht Krieg? Ich weiß es nicht. Aber wenn es Krieg gibt, Hook, dann will ich nicht, dass sich meine Männer gegenseitig umbringen. Bei Gott, Hook, zwing mich nicht, dich hängen zu lassen.»

«Ich werde mich bemühen, Mylord.»

«Und jetzt geh. Und sag Snoball, dass er zu mir hereinkommen soll. Geh.»

Und Hook ging.

 

Es war ein trüber Tag im Januar und immer noch kalt. Die Wolken hingen tief. Obwohl es erst Vormittag war, herrschte Dämmerlicht. Im Morgengrauen hatte es leicht geschneit, doch der Schnee war nicht liegen geblieben. Auf den Strohdächern lag Reif, und die paar Pfützen, in die noch niemand getreten war, waren mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Nick Hook saß mit seinen langen Beinen, seiner breiten Brust, dem schwarzen Schopf und finsterer Miene zusammen mit sieben Gefährten, zu denen sein Bruder und die Perrill-Brüder gehörten, vor einem Gasthaus an einem Tisch. Hook trug kniehohe Stiefel mit Sporen, zwei Paar Kniehosen gegen die Kälte, ein Wollhemd, eine gefütterte Lederjacke und einen ärmellosen Leinenkittel, der mit Lord Slaytons goldenem Halbmond und drei goldenen Sternen geschmückt war. Alle acht Männer waren mit Ledergürteln ausgerüstet, an denen ein Beutel, ein langer Dolch und ein Schwert hingen, und alle trugen den gleichen Wappenrock, wenn ein Fremder auch genau hinsehen musste, um den Mond und die Sterne zu erkennen, denn die Farben waren ausgeblichen und die Kittel schmutzverkrustet.

Doch es sah keiner genau hin, denn bewaffnete Männer in Uniform bedeuteten Ärger. Und diese acht Männer waren Bogenschützen. Sie hatten weder Bögen noch Pfeiltaschen bei sich, doch ihre breite Brust verriet, dass sie die Sehne eines Kriegsbogens mühelos ein Yard weit zurückziehen und das noch dazu ganz leicht aussehen lassen konnten. Sie waren Bogenschützen, und damit einer der Gründe für die Angst, die auf Londons Straßen herrschte. Diese Angst war so durchdringend wie Jauchegestank und so beißend wie der Rauch von Holzfeuern. Alle Haustüren blieben geschlossen. Sogar die Bettler waren verschwunden. Die paar Menschen, die noch in der Stadt unterwegs waren, gehörten zu denjenigen, die die Angst verbreitet hatten, aber sogar sie wechselten die Straßenseite, wenn sie die acht Bogenschützen sahen.

«Gott im Himmel», stöhnte Nick Hook und brach damit das Schweigen.

«Geh in die Kirche, wenn du beten willst, du Bastard», sagte Tom Perrill.

«Vorher pisse ich aber noch auf deine Mutter», knurrte Hook.

«Ruhig, ihr zwei», ging William Snoball dazwischen.

«Wir sollten nicht hier sein», brummte Hook böse. «Wir haben in London nichts verloren!»

«Tja, du bist aber hier», sagte Snoball, «also hör mit dem Geblöke auf.»

Das Gasthaus stand an einer Ecke, an der eine enge Straße auf einen großen Markplatz führte. Das Wirtshauszeichen, ein aus Holz geschnitzter und bemalter Stier, hing an einem dicken Balken, der weit aus dem Giebel des Gasthauses ragte und an seinem anderen Ende von einem kräftigen Pfosten gestützt wurde, der in den Marktplatz eingelassen war. Auf dem Platz waren noch mehr Bogenschützen, Männer in unterschiedlichen Wappenröcken, alle von ihren Lords nach London geschickt. Zwei Priester huschten mit Pergamentbündeln auf der anderen Straßenseite vorbei. Irgendwo in der Stadt begann eine Glocke zu läuten. Einer der Priester sah flüchtig zu den Bogenschützen mit dem Mond und den Sternen herüber und stolperte dann fast, weil Tom Perrill auf den Boden spie.

«Was in Gottes Namen tun wir hier eigentlich?», fragte sein Bruder Robert.

«Gott wird uns das wohl kaum mitteilen», antwortete Snoball säuerlich, «aber mir wurde versichert, dass wir Sein Werk verrichten.»

Gottes Werk bestand darin, die Ecke zu bewachen, an der die Straße auf den Marktplatz einmündete, und es war den Bogenschützen befohlen worden, weder Mann noch Frau durchzulassen, weder in Richtung des Marktplatzes noch in Richtung der Straße. Der Befehl galt nicht für Priester und auch nicht für berittene Edelleute, nur für das einfache Volk, und dieses einfache Volk besaß genügend Weisheit, um zu Hause zu bleiben. Sieben mit Feuerholz, Fässern, Steinen und langen Holzbalken beladene Handkarren waren von zerlumpten Männern die Straße heraufgezerrt worden, doch sie waren in Begleitung berittener Soldaten in königlicher Uniform gewesen, und die Bogenschützen hatten sich nicht gerührt, als sie vorbeizogen.

Ein dralles Mädchen mit pockennarbigem Gesicht brachte einen Krug Ale aus dem Gasthaus. Sie füllte die Humpen der Bogenschützen und verzog keine Miene, als Snoball ihr unter die grobgewebten Röcke grapschte. Sie wartete, bis er fertig war, und streckte dann die offene Hand aus.

«Nein, nein, mein Schätzchen», sagte Snoball. «Ich habe dir einen Gefallen getan, also solltest eigentlich du mir etwas zahlen.» Das Mädchen drehte sich um und ging wieder hinein. Michael, Hooks jüngerer Bruder, starrte auf den Tisch, und Tom Perrill grinste höhnisch über die Verlegenheit des jungen Mannes, sagte jedoch nichts. Es war wenig unterhaltsam, Michael zu reizen, denn er war viel zu gutherzig, um so etwas übelzunehmen.

Hook beobachtete die königlichen Soldaten, die neben den Handkarren bis zur Mitte des Marktplatzes geritten waren, wo zwei lange Pfähle aufrecht in zwei große Fässer gestellt wurden. Um die Pfähle zu sichern, wurden die Fässer mit Steinen und Kieseln gefüllt. Einer der Soldaten prüfte die Standfestigkeit eines Pfahls, indem er versuchte, ihn umzukippen oder aus der Befestigung zu lösen, doch offenbar war gute Arbeit geleistet worden, denn er konnte den hohen Balken nicht bewegen. Er sprang von dem Fass herunter, und die Handlanger begannen damit, Feuerholz um die beiden Fässer herum aufzuschichten.

«Königliches Feuerholz», sagte Snoball, «brennt viel heller.»

«Wirklich?», fragte Michael Hook. Er hatte einen Hang zur Leichtgläubigkeit und wartete begierig auf eine Antwort, doch die anderen Bogenschützen gingen nicht auf seine Frage ein.

«Endlich», sagte stattdessen Tom Perrill, und Hook sah eine größere Gruppe Menschen auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes aus einer Kirche kommen. Die Gruppe bestand aus gewöhnlichem Volk, wurde aber von Soldaten, Mönchen und Priestern flankiert, und einer dieser Priester kam nun auf das Gasthaus namens The Bull zu.

«Das ist Sir Martin», sagte Snoball, als würden seine Leute den Priester nicht erkennen, auf dessen Gesicht, wie sie bei seinem Näherkommen bemerkten, ein breites Grinsen lag. Ein hasserfüllter Schauder überlief Hook beim Anblick des aaldünnen Mannes mit seinem feierlichen Gang, dem schiefen Gesicht und den merkwürdigen, eindringlichen Augen, von denen manche glaubten, sie könnten ins Jenseits sehen – wenn auch die Meinungen darüber auseinandergingen, ob Sir Martin dabei in die Hölle oder in den Himmel blickte. Hooks Großmutter allerdings hegte keinerlei Zweifel. «Er ist vom Höllenhund gebissen», sagte sie gern, «und wenn er nicht adlig wäre, dann baumelte er schon längst am Galgen.»

Die Bogenschützen erhoben sich mit widerwilligem Respekt, als der Priester an ihren Tisch kam. «Gottes Werk erwartet euch, Leute», grüßte sie Sir Martin. Sein dunkles Haar war an den Schläfen ergraut und oben schon recht dünn. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert, und sein spitzes Kinn war mit weißen Stoppeln bedeckt, die Hook an Raureif erinnerten. «Wir brauchen eine Leiter», sagte Sir Martin, «und Sir Edward bringt die Stricke. Schön, wenn man den Adel auch einmal arbeiten sieht, nicht wahr? Wir brauchen eine lange Leiter. Es wird bestimmt irgendwo eine aufzutreiben sein.»

«Eine Leiter», sagte Will Snoball, als habe er noch nie im Leben von solch einem Ding gehört.

«Eine lange», sagte Sir Martin, «lang genug, um an diesen Balken zu kommen.» Er zuckte mit dem Kinn in Richtung des Holzstieres über ihren Köpfen. «Lang, lang.» Er wiederholte das Wort abwesend, als habe er schon vergessen, was er eigentlich wollte.

«Sucht eine Leiter», befahl Snoball zweien seiner Bogenschützen, «und zwar eine lange.»

«Gottes Werk kann nicht mit kurzen Leitern getan werden», sagte Sir Martin, dessen Aufmerksamkeit plötzlich wieder auf die Bogenschützen gerichtet war. Er rieb sich die knochigen Hände und betrachtete Hook mit seinem Grimassenlächeln. «Du siehst krank aus, Hook», sagte er freudig, als hoffe er auf Nick Hooks baldiges Ableben.

«Das Ale schmeckt merkwürdig», sagte Hook.

«Das liegt daran, dass heute Freitag ist», sagte der Priester, «und du mittwochs und freitags Enthaltsamkeit üben solltest, was das Ale angeht. Dein Namenspatron, der gebenedeite Nikolaus, hat mittwochs und freitags die Milch seiner Mutter abgelehnt, und daraus hast du etwas zu lernen! Für dich, Hook, darf es mittwochs und freitags keine Wonnen geben. Kein Ale, kein Vergnügen, keine Titten, das ist dein Schicksal für alle Zeit. Und warum, Hook, warum?» Sir Martin hielt inne, während sich sein Gesicht zu einem böswilligen Grinsen verzog. «Weil du an den Hängebrüsten des Bösen gesaugt hast! ‹Ich werde kein Mitleid mit ihren Kindern haben›, sagt die Schrift, ‹denn ihre Mutter war eine Metze!›»

Tom Perrill kicherte. «Was haben wir zu tun, Pater?», fragte Will Snoball schicksalsergeben.

«Gottes Werk, Master Snoball, Gottes heiliges Werk. Macht euch daran.»

Sir Edward Derwent überquerte mit vier Stricken, die er über seine breite Schulter gehängt hatte, den Marktplatz. Er war Soldat und trug den gleichen Kittel wie die Bogenschützen, wenn auch sein Wappenrock sauberer und die Farben darauf leuchtender waren. Er war ein gedrungener Mann mit breiter Brust, dessen Gesicht bei der Schlacht von Shrewsbury entstellt worden war. Eine Kampfaxt war in seinen Helm gefahren und hatte dabei einen Wangenknochen zerschmettert und ein Ohr abgerissen. «Glockenseile», sagte er und warf die schweren Tauschleifen auf den Boden. «Müssen oben an den Balken geknotet werden, und ich steige bestimmt auf keine Leiter.» Sir Edward führte den Befehl über Lord Slaytons schwere Reiter, seine stark gerüsteten Feldkämpfer, und seine Männer respektierten ihn ebenso, wie sie ihn fürchteten. «Hook, du machst es», befahl Sir Edward.

Hook stieg auf die Leiter und befestigte die Glockenseile an den Balken. Er benutzte denselben Knoten, mit dem er eine Schlinge in eine Hanfsehne knüpfte, um sie in die Kerbe des Bogens einzuhängen, wenn auch diese Stricke dicker und schwieriger zu handhaben waren. Als er fertig war, glitt er am letzten Strick auf den Boden hinunter, um zu überprüfen, ob der Knoten hielt.

«Machen wir, dass wir mit dieser Sache fertig werden», sagte Sir Edward schlecht gelaunt, «vielleicht können wir dann endlich weg von diesem gottverdammten Ort. Wessen Ale ist das?»

«Meins, Sir Edward», sagte Robert Perrill.

«Ab jetzt ist es meins», sagte Sir Edward und leerte den Krug. Er trug ein Kettenhemd über einer Lederjacke und darüber den Wappenrock mit den Sternen. Ein Schwert hing an seiner Seite. Die Klinge war, wie Hook wusste, nicht verziert. Das Heft bestand aus schlichtem Stahl, auf den Griffstücke aus Walnussholz geschraubt waren. Mit diesem Schwert übte Sir Edward sein Kriegshandwerk aus, und er hatte es benutzt, um den Aufständischen zu töten, dessen Kampfaxt ihm das halbe Gesicht weggeschlagen hatte.

Die Gruppe aus der Kirche war inzwischen von den Soldaten und den Priestern zur Mitte des Marktplatzes getrieben worden, wo die meisten von ihnen niederknieten und beteten. Es waren etwa sechzig Personen, Männer und Frauen, Junge und Alte. «Wir können sie nicht alle verbrennen», sagte Sir Martin bedauernd, «also müssen wir den Rest von ihnen am Strick zur Hölle schicken.»

«Wenn es Häretiker sind», knurrte Sir Edward, «dann sollten sie alle verbrannt werden.»

«Wenn das Gottes Wille wäre», gab Sir Martin scharf zurück, «hätte Gott für genügend Feuerholz gesorgt.»

Nun tauchten immer mehr Leute auf. Immer noch herrschte Angst in der Stadt, doch das Volk spürte, dass die größte Gefahr vorüber war, und so kam es zum Marktplatz, wo Sir Martin den Bogenschützen befahl, es durchzulassen. «Das sollen sie sich mit eigenen Augen ansehen», verkündete der Priester. In der Menge herrschte Missmut. Die Sympathie der Leute galt eindeutig den Gefangenen und nicht den Wachen, obwohl hier und da ein Priester oder Mönch eine unvorbereitete Predigt herunterhaspelte, um die Geschehnisse dieses Tages zu rechtfertigen. Die Todgeweihten seien Gegner Christi. Sie hätten Gelegenheit erhalten zu widerrufen, diese Gnade jedoch abgelehnt, und deshalb mussten sie sich nun ihrer Höllenstrafe stellen.

«Wer sind diese Leute?», fragte Hook.

«Lollarden», antwortete Sir Edward.

«Was ist ein Lollarde?»

«Ein Häretiker, du Schleimbeutel», sagte Snoball heiter. «Diese Bastarde hatten vor, sich hier zu sammeln und einen Aufstand gegen unseren huldreichen König zu führen. Stattdessen fahren sie jetzt zur Hölle!»

«Sie sehen aber gar nicht nach Aufständischen aus», sagte Hook. Die meisten Gefangenen waren mittleren Alters, manche sogar schon alt, und eine Handvoll von ihnen war sehr jung. Auch Frauen und Mädchen befanden sich in der Gruppe.

«Es ist völlig egal, wonach sie aussehen», erklärte Snoball. «Es sind Häretiker, und deshalb müssen sie sterben.»

«So lautet Gottes Wille», sagte Sir Martin.

«Aber was macht sie zu Häretikern?», fragte Hook nach.

«Oh, haben wir heute unseren neugierigen Tag?», knurrte Sir Martin missmutig.

«Ich würde das auch gerne wissen», ließ sich Michael vernehmen.

«Dass die Kirche sie zu Häretikern erklärt hat», schnauzte Sir Martin und besann sich dann darauf, seinen Ton zu mäßigen. «Glaubst du, Michael Hook, dass sich die Hostie in dem Moment, in dem ich sie erhebe, in das allerheiligste Geheimnis, in das geliebte Fleisch unseres Herrn Jesus Christus verwandelt?»

«Ja, Pater, natürlich!»

«Nun, die dort glauben es nicht», sagte der Priester mit einer abfälligen Kopfbewegung zu den Lollarden, die im Dreck knieten. «Sie glauben, das Brot bleibt einfach nur Brot, und damit sind sie dümmer als ein Ziegenschiss. Und glaubst du, dass unser Heiliger Vater, der Papst, Gottes Stellvertreter auf Erden ist?»

«Ja, Pater», sagte Michael.

«Und dafür solltest du Gott danken, denn sonst müsste ich dich verbrennen.»

«Ich dachte, es gibt zwei Päpste?», warf Snoball ein.

Sir Martin ging darauf nicht ein. «Hast du schon mal einen Sünder brennen sehen, Michael Hook?», fragte er stattdessen.

«Nein, Pater.»

Der Geistliche grinste lüstern. «Sie schreien, junger Hook, wie ein Eber beim Kastrieren. Genau so schreien sie!» Unvermittelt drehte er sich um und stach Nick seinen knochigen Zeigefinger in die Brust. «Und diese Schreie solltest du, Nicholas Hook, dir ganz genau anhören, denn sie sind die Liturgie der Hölle. Du wirst nämlich», erneut stieß er mit seinem Finger gegen Nicks Brust, «ganz bestimmt auch bald zur Hölle fahren.» Wieder wirbelte der Priester herum, diesmal mit ausgebreiteten Armen. Er erinnerte an einen großen schwarzen Vogel. «Wehret die Hölle ab!», rief er leidenschaftlich, «wehrt sie ab! Keine Titten mittwochs und freitags, und tuet eifrig jeden Tag Gottes Werk!»

Noch mehr Stricke waren an anderen Balken rund um den Marktplatz befestigt worden, und jetzt wurden die Gefangenen von groben Soldaten in kleinere Gruppen aufgeteilt und zu den Behelfsgalgen getrieben. Ein Mann sprach seinen Gefährten mit lauter Stimme Mut zu. Er rief, sie sollten auf Gott vertrauen und dass sie sich alle im Himmel wiedersehen würden, noch bevor der Tag zu Ende ginge, und so sprach er immer weiter, bis ihm ein königlicher Soldat mit der Faust im Kettenhandschuh den Kiefer brach. Der Mann mit dem gebrochenen Kiefer war einer der beiden Aufständischen, die zum Verbrennen ausgesucht wurden, und Hook, der etwas abseits von seinen Gefährten stand, beobachtete, wie der Mann auf das mit Steinen und Kies gefüllte Fass gehievt und an den Balken gefesselt wurde. Die Soldaten schichteten noch mehr Feuerholz um seine Füße auf.

«Los, Hook, träum nicht», knurrte Snoball.

Die Zuschauer schienen immer noch nicht überzeugt, die meisten sahen finster drein und wirkten aufgebracht. Sie wandten einer Gruppe Mönche in braunen Kutten den Rücken, die einen Lobgesang über die glorreichen Ereignisse dieses Tages angestimmt hatten.

«Heb den Alten hoch», sagte Snoball zu Hook. «Wir müssen zehn töten, also machen wir, dass wir fertig werden.»

Einer der Handkarren, mit denen das Feuerholz gebracht worden war, stand nun leer unter dem Balken, und Hook sollte einen von vier Männern auf die Ladefläche heben. Die anderen sechs Gefangenen, vier Männer und zwei Frauen, warteten an der Seite. Eine der Frauen klammerte sich an ihren Mann, die zweite hatte sich zum Beten niedergekniet. Alle vier Gefangenen auf dem Karren waren Männer, und einer von ihnen war alt genug, um Hooks Großvater zu sein. «Ich vergebe dir, mein Sohn», sagte der alte Mann, als Hook ihm den Strick um den Hals legte. «Du bist Bogenschütze, oder?» Hook antwortete nicht. «Ich war bei der Schlacht von Homildon Hill», sprach er weiter und sah hinauf zu den grauen Wolken, während Hook den Strick straffer zog. «Dort habe ich mit dem Bogen für den König gekämpft. Pfeil auf Pfeil, mein Junge, habe ich in die schottischen Reihen geschickt. Ich habe die Sehne weit gespannt und sie mit gewaltiger Kraft vorschnellen lassen, und Gott verzeih mir, aber ich war gut an diesem Tag.» Er sah Hook in die Augen. «Ich war Bogenschütze.»

Hook war neben seinem Bruder und dem einen oder anderen Mädchen nur weniges im Leben teuer, doch Bogenschützen waren Hooks Helden. Englands Sicherheit bewahrten in seinen Augen nicht die Männer in schimmernden Rüstungen auf Pferden mit gepolsterten Überwürfen, sondern die Bogenschützen, gewöhnliche Männer, die Häuser bauten, Felder pflügten oder ein Handwerk ausübten und die mit dem Eibenbogen einen Pfeil hundert Schritte weit fliegen lassen und ein Ziel von der Größe einer Handfläche treffen konnten. Hook erwiderte den Blick des alten Mannes und sah keinen Häretiker mehr, sondern einen stolzen und kräftigen Bogenschützen. Er sah sich selbst. Und plötzlich wusste er, dass er diesen alten Mann mögen könnte, und diese Erkenntnis ließ seine Hände zittern.

«Du kannst nichts daran ändern, Junge», sagte der Mann leise. «Ich habe für den alten König gekämpft, und sein Sohn will meinen Tod, also zieh den Strang ordentlich fest, Junge, zieh in fest. Und wenn ich tot bin, mein Junge, dann tu etwas für mich.»

Hook nickte beinahe unmerklich.

«Siehst du dort das Mädchen beten?», fragte der alte Mann. «Das ist meine Enkelin. Sarah, sie heißt Sarah. Bring sie für mich von hier weg. Sie ist noch zu jung für den Himmel, also bring sie weg. Du bist jung, mein Sohn, du bist stark, du kannst sie für mich wegbringen.»

Wie?, dachte Hook und zog heftig am Ende des Stricks, sodass sich die Schlinge in den Hals des alten Mannes grub. Dann sprang er vom Karren und glitt im Schlamm halb aus. Snoball und Robert Perrill hatten die anderen Schlingen geknüpft und waren längst vom Karren heruntergeklettert.

«Einfaches Volk ist das», sagte Sir Martin. «Nichts weiter als einfaches Volk, und dennoch glauben sie es besser zu wissen als die Mutter Kirche. Daher muss ihnen eine Lektion erteilt werden, damit ihnen keine anderen einfachen Leute in ihrem Irrtum folgen. Habt kein Mitleid mit ihnen, denn es ist Gottes Barmherzigkeit, die wir vollstrecken, Gottes unendliche Barmherzigkeit!»

Und Gottes unendliche Barmherzigkeit wurde vollstreckt, indem die Männer den Karren mit einem Ruck unter den Füßen der vier Lollarden wegzogen. Sie fielen ein kurzes Stück und wanden sich dann zuckend in der Luft. Hook beobachtete den alten Mann mit der tonnenförmigen Brust eines Bogenschützen. Der Todgeweihte würgte, als er seine Beine anzog, als sie zitterten, sich ausstreckten und er sie erneut anzog, doch selbst im Todeskampf blieben seine hervortretenden Augen auf Hook geheftet, als erwarte er, dass der junge Mann in diesem Moment seine Sarah packen und sie vom Marktplatz wegbringen würde. «Warten wir, bis sie sterben», fragte Snoball Sir Edward, «oder hängen wir uns an ihre Knöchel?» Sir Edward hörte die Frage nicht. Er wirkte unaufmerksam, sein Blick war abwesend, auch wenn man glauben konnte, er betrachte den Mann, der an den nächsten Pfahl gebunden war. Ein Priester hielt vor dem Lollarden mit dem gebrochenen Kiefer eine flammende Predigt, während ein Soldat, dessen Gesicht tief im Schatten seines Helmes lag, eine brennende Fackel bereithielt. «Also lasse ich sie so hängen, Sir», sagte Snoball eher zu sich selbst. Er erhielt keine Antwort.

«Guter Gott.» Sir Martins Stimme klang ehrfürchtig. Es war der gleiche Tonfall, mit dem er in der Gemeindekirche die Messe hielt. «O mein Gott, mein Gott, nun seht euch diese kleine Schönheit an.» Der Priester hatte seinen Blick auf Sarah gerichtet, die sich von den Knien erhoben hatte und mit Entsetzen den Todeskampf ihres Großvaters verfolgte. «Fürwahr, Gott ist wahrhaftig gnädig», sagte der Priester ergriffen.

Nicholas Hook hatte sich schon oft gefragt, wie Engel wohl aussehen mochten. In der Dorfkirche gab es eine Wandmalerei, doch es war ein dürftiges Bild, denn die Gesichter der Engel waren nur grob angedeutet, und ihre Gewänder und Flügel hatten von der Feuchtigkeit, die durch den Wandverputz drang, gelbliche Streifen bekommen. Dennoch hatte Hook verstanden, dass Engel Wesen von überirdischer Schönheit waren. Er glaubte, ihre Flügel müssten sein wie die der Fischreiher, nur viel größer, und aus Federn, die genauso schimmerten wie die Sonne im Morgendunst. Er vermutete außerdem, dass Engel goldenes Haar besaßen und lange, sehr saubere Gewänder aus dem weißesten Linnen trugen. Er wusste, dass sie besondere Wesen waren, heilige Geschöpfe, doch in seinen Träumen waren sie zugleich wunderschöne Mädchen, die einem jungen Mann die Ruhe rauben konnten. Sie waren der schiere Liebreiz mit strahlenden Flügeln, sie waren Engel.

Und dieses Lollardenmädchen war genauso schön, wie sich Hook die Engel vorstellte. Sie hatte zwar keine Flügel, ihr Kittel war schlammverdreckt, und ihr Gesicht war angesichts des Grauens, das sie vor sich sah, und aufgrund der Gewissheit, dass auch sie der Tod am Strang erwartete, zu einer Schreckensmaske erstarrt – aber sie war immer noch bezaubernd schön. Sie hatte blaue Augen, blondes Haar, hohe Wangenknochen, und keine einzige Pockennarbe entstellte ihre Haut. Sie war ein Mädchen, das Männer um den Schlaf bringen konnte – und einen Priester ebenso. «Siehst du das Tor dort, Michael Hook?», fragte Sir Martin. Der Priester sah sich nach den Perrill-Brüdern um, doch sie waren außer Hörweite, also wandte er sich an den nächstbesten Bogenschützen. «Nimm sie und führe sie durch das Tor in den Stall hinter dem Hof. Dort hältst du sie fest.»

Nick Hooks jüngerer Bruder war verwirrt. «Sie nehmen?», fragte er.

«Du sollst sie nicht nehmen! Du nicht, du schwachköpfiger Trottel! Nimm einfach das Mädchen mit in die Stallung des Wirtshauses! Ich will mit ihr beten.»

«Oh, Ihr wollt beten!», sagte Michael lächelnd.

«Ihr wollt mit ihr beten, Pater?», fragte Snoball mit einem höhnischen Auflachen.

«Wenn sie bereut», sagte Sir Martin frömmlerisch, «darf sie am Leben bleiben.» Der Priester zitterte, aber ganz sicher nicht vor Kälte. «Gott in seiner allumfassenden Gnade erlaubt uns das», sagte Sir Martin und blickte mit brennenden Augen auf das Mädchen, «also lasst uns prüfen, ob wir sie zur Reue bewegen können. Sir Edward?»

«Pater?»

«Ich werde mit dem Mädchen beten!», rief der Geistliche. Sir Edwards Blick war immer noch auf den nächsten, noch nicht entzündeten Scheiterhaufen gerichtet, auf dem der Lollardenanführer stand und zum Himmel hinaufsah.

«Bring sie weg, Michael», befahl Sir Martin.

Nick Hook sah zu, wie sein Bruder das Mädchen am Ellbogen nahm. Michael war beinahe ebenso stark wie sein Bruder, doch er besaß eine Sanftheit und Offenheit, mit der er die Schreckensstarre des Mädchens durchdringen konnte. «Komm, Kleine», sagte er leise, «der gute Pater will mit dir beten. Also komm mit. Niemand wird dir etwas tun.»

Snoball lachte in sich hinein, als Michael das Mädchen ohne Widerstand durch das Hoftor zum Stall führte, in dem die Bogenschützen ihre Pferde angebunden hatten. Es war kalt und staubig dort drinnen, und es roch nach Stroh und Dung. Nick folgte den beiden. Er sagte sich, dass er den beiden folgte, um seinen Bruder zu beschützen, doch in Wahrheit trieben ihn die Worte des sterbenden Bogenschützen voran. Als er durch die Stalltür trat, entdeckte er weit darüber ein Giebelfenster. Plötzlich, wie aus dem Nichts, erklang eine Stimme in seinem Kopf. «Bring sie weg», sagte die Stimme. Es war eine Männerstimme, aber Nick kannte sie nicht. «Bring sie weg», sagte die Stimme erneut, «und der Himmel wird es dir lohnen.»

«Der Himmel?», fragte Nick laut.

«Nick?» Michael, der immer noch den Ellbogen des Mädchens umfasst hielt, drehte sich zu seinem älteren Bruder um, doch der sah wie erstarrt zu dem Fenster hinauf, durch das jetzt ein heller Lichtstrahl fiel.

«Rette das Mädchen», ertönte die Stimme wieder. Außer den Brüdern und Sarah war niemand in dem Stall, doch die Stimme war real, zumindest in seinem Kopf, und Hook begann zu zittern. Wenn er das Mädchen doch nur so einfach retten könnte! Ein unbekanntes Gefühl erfüllte ihn. Er hatte sich immer für verflucht gehalten, gehasst sogar vom eigenen Namenspatron, doch plötzlich wusste er: Wenn es ihm gelänge, dieses Mädchen zu retten, würde Gott ihn lieben, und Gott würde alles ungeschehen machen, was Sankt Nikolaus dazu gebracht hatte, ihn zu hassen. Gott bot ihm seine Erlösung an. Von jenseits dieses Fensters versprach er ihm ein neues Dasein. Es würde vorbei sein mit dem Hook, auf dem ein Fluch lag. Er wusste es, doch er wusste nicht, was er tun sollte.

«Was zum Teufel machst du hier?», knurrte Sir Martin.

Er antwortete nicht. Er starrte auf die Wolken jenseits des Fensters. Sein Pferd, ein Schimmel, bewegte sich unruhig und stampfte mit dem Huf auf. Wessen Stimme hatte er da gehört?

Sir Martin schob sich an Nick vorbei und schaute das Mädchen an. Er lächelte. «Hallo, kleine Dame», sagte er mit heiserer Stimme. Dann wandte er sich an Michael. «Zieh sie aus», befahl er knapp.

«Sie ausziehen?», fragte Michael stirnrunzelnd.

«Sie muss nackt vor ihren Schöpfer treten», erklärte der Priester, «so kann unser Herr und Heiland sie nach ihrem wahren Wesen beurteilen. In der Blöße liegt die Wahrheit. Das sagt die Schrift, in der Blöße liegt unsere Wahrheit.» Das stand nirgendwo in der Schrift, doch für Sir Martin hatte sich dieses erfundene Zitat schon häufig als sehr nützlich erwiesen.

«Aber …» Noch immer runzelte Michael die Stirn. Nicks jüngerer Bruder war zwar schon von jeher etwas begriffsstutzig gewesen, doch selbst ihm schwante, dass irgendetwas in diesem winterlichen Stall nicht stimmte.

«Tu es!», fauchte der Priester.

«Das ist nicht recht», sagte Michael widerspenstig.

«Oh, Herr im Himmel», zischte Sir Martin wütend, schob Michael aus dem Weg und packte das Mädchen am Kragen. Sarah stieß einen verzweifelten Laut aus, es war mehr ein Jaulen als ein Schrei, und versuchte sich aus dem Griff des Priesters zu befreien. Michael starrte entsetzt auf die Szene. Durch Hooks Kopf spukte das Echo der geheimnisvollen Stimme, und so trat er einen Schritt vor und rammte dem Priester die Faust mit solcher Kraft in den Magen, dass Sir Martin mit einem erstickten Laut nach vorne kippte.

«Nick!», schrie Michael fassungslos.

Hook hatte das Mädchen am Ellbogen gefasst und sich halb in Richtung des Fensters umgedreht. «Zu Hilfe!», rief Sir Martin. Seine Stimme war rau vor Atemlosigkeit und vor Schmerz. «Hilfe!» Hook machte eine Bewegung, als wolle er ihn zum Schweigen bringen, doch Michael stellte sich ihm in den Weg.

«Nick!», wiederholte Michael, und in diesem Moment stürzten die beiden Perrill-Brüder in den Stall.

«Er hat mich geschlagen!», sagte Pater Martin ungläubig. Tom Perrill grinste, während sein jüngerer Bruder ebenso verwirrt wirkte wie Michael. «Packt ihn!», befahl der Priester und straffte sich. «Packt den Bastard!» Er rang um Atem. «Bringt ihn hinaus», schnaubte er, «und haltet ihn fest!»

Hook ließ sich in den Hof hinausführen. Sein Bruder folgte ihm und starrte unglücklich durch das offene Tor auf den Marktplatz, wo die erhängten Männer an ihren Stricken baumelten. Ein feiner, kalter Regen hatte eingesetzt. Nick Hook fühlte sich plötzlich vollkommen kraftlos. Er hatte einen Priester geschlagen, einen hochgeborenen Priester, einen Edelmann, einen aus Lord Slaytons Familie. Die Perrill-Brüder verhöhnten ihn, doch Hook hörte ihre Worte nicht, stattdessen hörte er, wie Sarahs Kittel zerrissen wurde, und er hörte ihren Schrei, und er hörte, wie der Schrei erstickt wurde, und er hörte das Rascheln von Stroh, und er hörte Sir Martin grunzen und Sarah wimmern, und Hook betrachtete die niedrigen Wolken und den Rauch der Holzfeuer, der wie eine weitere Wolke über der Stadt lag, und er wusste, dass er Gott enttäuscht hatte. Sein ganzes Leben lang hatte man Nick Hook gesagt, er sei verflucht, und dann, an einem Ort des Todes, hatte ihn Gott um eine einzige Tat gebeten, und er hatte versagt. Ein lautes Geräusch erklang vom Marktplatz herüber, wie ein Seufzer, und Nick dachte, dass das Feuer angezündet worden sein musste, um einen Häretiker in die ewigen Flammen der Hölle zu schicken, und er fürchtete, selbst dorthin fahren zu müssen, weil er nichts getan hatte, um einen Engel mit blauen Augen vor einem Priester mit schwarzer Seele zu retten. Dann aber sagte er sich, dass das Mädchen eine Häretikerin war, und er fragte sich, ob es die Stimme des Teufels gewesen war, die in seinem Kopf gesprochen hatte. Das Mädchen keuchte jetzt, und dann ging ihr Keuchen in Schluchzer über, und Hook hob sein Gesicht in den Wind und den Regen.

Sir Martin kam grinsend wie ein sattes Wiesel aus dem Stall. Er hatte seine Robe hoch über die Schenkel gerafft und ließ sie nun wieder fallen. «So», sagte er, «das hat nicht lange gedauert. Willst du sie, Tom?», fragte er den älteren der Perrill-Brüder. «Du kannst sie haben, wenn du willst. Ist ein saftiger Bissen, die Kleine! Schneid ihr einfach die Kehle durch, wenn du fertig bist.»

«Soll ich sie nicht lieber aufhängen, Pater?», fragte Tom Perrill.

«Bring das liederliche Ding einfach um», sagte der Priester. «Ich würde es selbst tun, aber die Kirche tötet keine Menschen. Wir übergeben sie den weltlichen Mächten, und heute bist du das, Tom. Also nimm dir die Häretikerdirne vor, und dann schneidest du ihr die Kehle durch. Und du, Robert, du hältst Hook fest. Michael, geh weg! Du hast mit dieser Sache nichts zu tun, geh!»

Michael zögerte. «Geh», sagte Nick Hook mit schwacher Stimme zu seinem Bruder. «Geh einfach.»

Robert Perrill hielt Hook die Arme auf dem Rücken fest. Hook hätte sich leicht befreien können, doch er war immer noch von der Stimme erschüttert, die er gehört hatte, und von seiner eigenen Dummheit, die ihn dazu gebracht hatte, Sir Martin zu schlagen. Für dieses Vergehen konnte er gehängt werden. Doch Sir Martin genügte sein Tod nicht, und während Robert Perrill Hook festhielt, begann er, ihn zu schlagen. Der Priester hatte nicht viel Kraft, ihm fehlten die Muskeln eines Bogenschützen, doch er war boshaft und hatte spitze Knöchel, die er Hook immer wieder ins Gesicht rammte. «Du elendes Stück Hurenscheiße», spie er und versuchte, ihm die Augen in den Kopf zu drücken. «Du bist ein toter Mann, Hook. Ich sorge dafür, dass du genauso aussiehst wie der dort!» Sir Martin deutete auf das Feuer. Rauch wälzte sich um den Pfahl, und am Fuße des Scheiterhaufens loderten helle Flammen. Durch den grauen Rauch war eine Gestalt zu erkennen, die sich anspannte wie ein Bogen. «Du Bastard!», sagte Sir Martin und schlug wieder zu. «Deine Mutter hat für jeden die Beine breit gemacht, und dann hat sie dich auf die Welt geschissen, wie es eine Hure eben tut.» Der nächste Hieb traf Hooks Gesicht, und dann wuchs eine Feuersäule in den Rauch, der den Pfahl umhüllte, und ein Schrei wie das Kreischen eines Ebers beim Kastrieren erfüllte den Marktplatz.

«Was zum Teufel geht hier vor?» Sir Edward hatte das wütende Brüllen des Priesters gehört und war in den Hof der Stallung gekommen, um den Grund dafür herauszufinden.

Der Priester zitterte vor Wut. Seine Knöchel waren blutig. Er hatte Hook zwar eine Platzwunde an der Lippe beigebracht, und auch seine Nase blutete, aber mehr nicht. Sir Martins Augen waren vor Wut und Empörung weit aufgerissen. Hook glaubte, das Flackern des Wahnsinns darin zu entdecken. «Hook hat mich geschlagen», sagte Sir Martin. «Dafür muss er sterben.»

Sir Edward ließ seinen Blick von dem wütenden Priester zu dem blutenden Bogenschützen wandern. «Das hat Lord Slayton zu entscheiden», sagte er ruhig.

«Und seine Entscheidung wird lauten, dass er hängen muss, oder etwa nicht?», knurrte Sir Martin.

«Hast du Sir Martin geschlagen?», wandte sich Sir Edward an Hook.

Hook nickte. War es Gott gewesen, der im Stall zu ihm gesprochen hatte, oder der Teufel?

«Er hat mich geschlagen», sagte Sir Martin, und dann schnellte er plötzlich vor, packte Hooks Wappenrock und riss ihn mitten zwischen dem Mond und den Sternen entzwei. «Er ist nicht würdig, dieses Wappen zu tragen», sagte der Priester und warf den zerfetzten Überwurf in den Dreck. «Such dir einen Strick», befahl er Robert Perrill. «Einen Strick oder eine Bogensehne, damit fesselst du seine Hände. Und nimm ihm das Schwert ab!»

«Ich nehme es», sagte Sir Edward. Er zog Hooks Schwert, das Lord Slayton gehörte, aus der Scheide. «Ich kümmere mich um ihn, Perrill», sagte er dann und zog Hook zum Eingangstor des Hofes.

«Was ist passiert?», fragte er ihn, als sie außer Hörweite waren.

«Er wollte dieses Mädchen schänden, Sir Edward», sagte Hook. «Er hat sie geschändet!»

«Natürlich hat er sie geschändet», sagte Sir Edward ungeduldig, «so etwas gehört zu Hochwürden Sir Martins Gewohnheiten.»

«Und Gott hat zu mir gesprochen», platzte Hook heraus.

«Was hat er?» Sir Edward starrte Hook an, als habe er gerade behauptet, der Himmel sei zu einem Buttermilchsee geworden.

«Er hat zu mir gesprochen», sagte Hook jämmerlich. Er klang ganz und gar nicht überzeugend.

Sir Edward erwiderte nichts. Er starrte Hook noch einen Moment lang an und drehte sich dann zum Marktplatz um, auf dem der brennende Mann aufgehört hatte zu schreien. Nun hing er reglos am Pfahl, und plötzlich loderte sein Haar wie eine Fackel auf. Die Stricke, mit denen man ihn festgebunden hatte, brannten durch, und der Körper stürzte in ein Flammenmeer. Zwei Waffenknechte stießen die Leiche mit Heugabeln zurück in die Mitte des Feuers.

«Ich habe eine Stimme gehört», sagte Hook eigensinnig.

Sir Edward nickte abweisend, um zu zeigen, dass er Hooks Worte verstanden hatte, aber nichts weiter hören wollte. «Wo ist dein Bogen?», fragte er unvermittelt, während er den Blick auf die brennende Gestalt im Rauch gerichtet hielt.

«In der Schankstube des Wirtshauses, Sir Edward.»

Sir Edward drehte sich zum Hoftor des Wirtshauses um, wo Tom Perrill gerade grinsend und mit blutüberströmten Händen aufgetaucht war. «Ich schicke dich jetzt in die Schankstube», sagte Sir Edward leise, «und dort wartest du. Du wartest dort, damit wir dir die Hände fesseln und dich nach Hause bringen und dich vor das Hausgericht stellen und dich anschließend an der Eiche vor der Schmiedewerkstatt aufknüpfen können.»

«Ja, Sir Edward», sagte Hook in missmutigem Gehorsam.

«Was du nicht tun wirst», fuhr Sir Edward mit gesenkter, nun aber drängender Stimme fort, «ist, das Wirtshaus durch die Vordertür zu verlassen. Du wirst nicht in den Stadtkern gehen und dich nach einer Straße namens Cheapside oder einem Gasthaus namens Two Cranes umsehen. Und du wirst nicht ins Two Cranes gehen und dich nach einem Mann namens Henry von Calais erkundigen. Hörst du mir zu, Hook?»

«Ja, Sir Edward.»

«Henry von Calais wirbt Bogenschützen an», sagte Sir Edward. Ein Mann in den Farben des Königs trug unterdessen ein brennendes Holzscheit zu dem zweiten Scheiterhaufen, auf dem ein anderer Lollardenanführer an den Pfahl gefesselt war. «In der Picardie brauchen sie Bogenschützen», sagte Sir Edward, «und sie zahlen gut.»

«Picardie.» Ausdruckslos wiederholte Hook das Wort. Es musste sich dabei um eine Stadt irgendwo in England handeln.

«Verdien dir in der Picardie ein bisschen Geld, Hook», sagte Sir Edward, «denn Gott weiß, du wirst es brauchen.»

Hook zögerte. «Bin ich jetzt geächtet?», fragte er beunruhigt.

«Du bist tot, Hook», sagte Sir Edward, «und tote Männer stehen außerhalb des Gesetzes. Du bist ein toter Mann, weil mein Befehl lautet, dass du in dem Gasthaus warten und dann zu deiner Anklage vor dem Hausgericht gebracht werden sollst, und weil Lord Slayton keine andere Wahl haben wird, als dich zum Strang zu verurteilen. Also geh und tu, was ich gesagt habe.»

Doch bevor Hook gehorchen konnte, erklang von der nächsten Ecke ein Ruf: «Hüte runter!» Hufgeklapper kündete das Erscheinen einer Reitergruppe an, die auf den weiten Platz sprengte. Dort fächerten sich die Pferde auf, tänzelten ein bisschen herum und blieben dann mit dampfenden Nüstern und stampfenden Hufen stehen. Männer und Frauen rissen sich Hüte und Hauben von den Köpfen und knieten sich auf die Erde.

«Runter, mein Sohn», sagte Sir Edward zu Hook.

Der Reiter an der Spitze war jung, kaum älter als Hook, doch sein Gesicht zeigte stille Entschlossenheit, während er seinen kalten Blick über den Marktplatz schweifen ließ. Sein Gesicht war schmal, die Nase lang, seine Augen dunkel, und sein dünnlippiger Mund wirkte streng. Er hatte glatte Wangen, doch das Schermesser schien seine Haut gereizt zu haben, denn sie wirkte wie roh geschabt. Er ritt auf einem schwarzen Pferd mit prächtigem Zaumzeug aus poliertem Leder und blitzendem Silber. Er trug schwarze Stiefel, schwarze Kniehosen, einen schwarzen Wappenrock und einen wollgefütterten Umhang aus dunkelpurpurnem Stoff. Sein Hut war aus schwarzem Samt und mit einer schwarzen Feder geschmückt, und an seiner Seite hing ein Schwert in einer schwarzen Scheide. Sein Blick wanderte über das gesamte Rund des Marktplatzes, dann trieb er sein Pferd vor, um die Frau und die drei Männer zu betrachten, die sich zuckend an den Glockenseilen wanden, die an den Balken des Bull geknotet worden waren. Ein tückischer Windstoß blies Rauch und Funken gegen seinen Hengst, der wiehernd scheute. Der Reiter klopfte dem Tier mit seiner schwarz behandschuhten Rechten beruhigend auf den Hals, und Hook sah, dass der Mann juwelenbesetzte Ringe über den Handschuhen trug. «Wurde ihnen die Gelegenheit gegeben zu widerrufen?», fragte der Reiter.

«Es wurden ihnen viele Gelegenheiten gegeben, Sire», antwortete Sir Martin salbungsvoll. Der Priester war aus dem Hof des Wirtshauses gehastet und auf die Knie gefallen. Er bekreuzigte sich. Sein hageres Gesicht wirkte beinahe wie das eines Heiligen, eines Mannes, der für seinen Herrn und Gott gelitten hatte. Er besaß die Fähigkeit, aus seinen höllischen Augen auf Abruf Schmerz, Nächstenliebe und Erbarmen sprechen zu lassen.

«Dann», sagte der junge Mann schroff, «ist ihr Tod Gott ein Wohlgefallen, und mir ist er ebenso ein Wohlgefallen. England wird die Häresie vernichten!» Seine wachen braunen Augen ruhten kurz auf Nick Hook, der sofort den Blick senkte und auf den Boden starrte, bis der schwarzgewandete Reiter zu dem zweiten Scheiterhaufen galoppierte, der gerade angezündet worden war. Doch in dem kurzen Moment bevor Nick den Blick gesenkt hatte, war ihm die Narbe in dem Gesicht des jungen Mannes aufgefallen. Sie ließ erkennen, dass sich hier ein Pfeil in den Winkel zwischen Nase und Auge gebohrt hatte. Dieser Pfeil hätte tödlich sein können, doch offenbar hatte Gott beschlossen, dass der Mann weiterleben sollte.

«Weißt du, wer das ist, Hook?», fragte Sir Edward leise.

Hook hatte gerade zum ersten Mal im Leben den Earl von Chester, den Duke von Aquitanien und den Lord von Irland gesehen, das war nicht schwer zu erraten. Er hatte Henry gesehen, durch Gottes Gnade König von England.

Und, all jenen zufolge, die behaupteten, die rätselhaften Verschlingungen königlicher Abstammungslinien zu verstehen, zugleich König von Frankreich.

Die Flammen erreichten den zweiten Mann, der zu schreien begann. Henry, der fünfte König Englands, der diesen Namen trug, beobachtete gelassen, wie die Seele des Lollarden in die Hölle fuhr.

«Geh, Hook», murmelte Sir Edward.

«Warum, Sir Edward?», fragte Hook.

«Weil Lord Slayton nicht will, dass du stirbst», sagte Sir Edward, «und weil Gott vielleicht wirklich zu dir gesprochen hat und weil wir alle Seiner Gnade bedürfen. Ganz besonders am heutigen Tag. Also geh schon.»

Und Nicholas Hook, Bogenschütze und Geächteter, ging.

TEIL EINSSankt Crispin und Sankt Crispinian

Die Aisne wand sich träge durch ein weites Tal, das von niedrigen, bewaldeten Hügeln eingerahmt wurde. Es war Frühling, und die frischen Blätter leuchteten in hellem Grün. Langes Wassergras schwankte in der Strömung einer Flussschleife, in der die Stadt Soissons lag.