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Von Marie Curie bis Max Planck, von Einstein bis Heisenberg – die Neuerfindung der Welt Im goldenen Zeitalter der Physik wurden unser Denken und die Welt revolutioniert. Mitreißend schildert Tobias Hürter diese Epoche und die spektakulären Lebensläufe der großen Genies der Naturwissenschaft. Und er zeigt, wie untrennbar Wissenschaft und Weltgeschehen miteinander verbunden sind. Denn wir können die Welt nicht beobachten, ohne sie zu verändern. Marie Curie, Planck, Bohr, Heisenberg, Schrödinger und Einstein haben nicht nur die Physik revolutioniert, sondern unsere Welt, ja unsere Wirklichkeit neu erfunden. Sie waren intellektuelle Abenteurer, Dandys oder Nerds, die tiefe Freundschaften und erbitterte Feindschaften miteinander verbanden. Die sich vielfach kreuzenden Lebenswege dieser Heroen des Denkens bieten einen reichen Schatz großartiger Geschichten. Und zugleich hat ihr Forschen einen ungeahnten wissenschaftlichen Schub ausgelöst, der zu einem neuen Weltbild der Physik führte, das bis heute nicht völlig verstanden ist. Doch das Zeitalter der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik war auch das Zeitalter von Kriegen und Revolutionen. Die Entdeckung der Radioaktivität hat die Wissenschaft revolutioniert und schließlich in die Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki geführt.
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Seitenzahl: 565
Tobias Hürter
Das Zeitalter der Unschärfe
Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895-1945
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Abbildung von © Christie’s Images/Bridgeman Images
(Paul Cornoyer, Urban Nocturne)
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98712-6
E-Book ISBN 978-3-608-11709-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Prolog
Paris 1903
Die ersten Risse
Berlin 1900
Ein Akt der Verzweiflung
Bern 1905
Der Patentierknecht
Paris 1906
Pierre Curie gerät unter die Räder
Berlin 1909
Das Ende derfliegenden Zigarren
Prag 1911
Einstein lässt Blumen sprechen
Cambridge 1911
Ein Däne wird erwachsen
Nordatlantik 1912
Der Untergangder Unfehlbarkeit
München 1913
Ein Kunstmaler kommtnach München
München 1914
Auf Tournee mit dem Atom
Berlin 1915
Gut in der Theorie, schlecht in Beziehungen
Deutschland 1916
Krieg und Frieden
Berlin 1917
Einstein bricht zusammen
Berlin 1918
Pandemie
Atlantik 1919
Der Mond verdunkelt die Sonne
München 1919
Ein Jüngling liest Platon
Berlin 1920
Die Größten begegnen sich
Göttingen 1922
Ein Sohn findet seinen Vater
München 1923
Der Überflieger fliegt beinah durch die Prüfung
Kopenhagen 1923
Bohr und Einstein fahren Straßenbahn
Kopenhagen 1924
Ein letzter Versuch
Paris 1924
Ein Prinz bringt die Atome zum Klingen
Helgoland 1925
Die Weite des Meeres und die Winzigkeit der Atome
Cambridge 1925
Das stille Genie
Leiden 1925
Der Prophet und die spinnenden Elektronen
Arosa 1925
Ein später erotischer Ausbruch
Kopenhagen 1926
Wellen und Teilchen
Berlin 1926
Besuch bei den Halbgöttern
Berlin 1926
Party bei Plancks
Göttingen 1926
Die Abschaffung der Wirklichkeit
München 1926
Ein Revierkampf
Kopenhagen 1926
Kunstvoll gemeißelte Marmorstatuen, die vom Himmel fallen
Kopenhagen 1926
Ein Spiel mit geschärften Messern
Kopenhagen 1927
Die Welt wird unscharf
Como 1927
Die Generalprobe
Brüssel 1927
Die große Debatte
Berlin 1930
Deutschland blüht auf, Einstein ist krank
Brüssel 1930
K.o. in der zweiten Runde
Zürich 1931
Pauli träumt
Kopenhagen 1932
Dr. Faust in Kopenhagen
Berlin 1933
Manche fliehen, manche bleiben
Amsterdam 1933
Ein trauriges Ende
Oxford 1935
Die Katze, die es nicht gibt
Princeton 1935
Einstein stellt die Welt wieder scharf
Garmisch 1935
Schmutziger Schnee
Moskau 1937
Auf der anderen Seite
Berlin 1938
Zerplatzende Kerne
Atlantik 1939
Die Schreckensnachricht
Kopenhagen 1941
Entfremdung
Berlin 1942
Keine Bombe für Hitler
Stockholm 1943
Die Flucht
Princeton 1943
Einstein wird milder
England 1945
Die Wucht der Explosion
Epilog
Anhang
Ausgewählte Literatur
Bildnachweis
Namens- und Ortsregister
Für Herbert Schmidt
Stellen Sie sich vor, Sie finden eines Tages heraus, dass die Welt, in der Sie leben, ganz anders funktioniert, als Sie bisher glaubten. Die Häuser, Straßen, Bäume und Wolken sind nur Kulissen, bewegt von Kräften, von denen Sie nichts ahnten.
Genau dies ist den Physikerinnen und Physikern vor hundert Jahren widerfahren. Sie mussten einsehen, dass hinter den Begriffen und Theorien, durch die sie die Welt sahen, eine tiefere Wirklichkeit liegt, die so fremdartig auf sie wirkte, dass ein Streit darüber ausbrach, ob sich überhaupt noch von »Wirklichkeit« sprechen lässt.
Wie die Physikerinnen und Physiker in diese Situation kamen und wie sie mit ihr rangen, ist die Geschichte dieses Buches. Am Ende wird die Welt eine andere sein: Die Physiker1 werden sie nicht nur neu erkannt, sondern auch zutiefst verändert haben.
Paris(1) 1903
Paris(1), an einem Sommerabend im Juni 1903. Ein Garten im Boulevard Kellermann im 13. Arrondissement. Licht fällt aus den Fenstern auf den Rasen, eine Tür geht auf, frohe Stimmen dringen heraus, dann strömt eine kleine Festgesellschaft auf die Kieswege, in ihrer Mitte eine Frau in einem schwarzen Kleid: die Physikerin Marie(1) Curie, 39. Ihr sonst oft angespanntes Gesicht ist gelöst und froh. Sie hat zu ihrer Promotionsfeier eingeladen.
Marie(2) ist auf einem Höhepunkt ihrer Karriere. Als erste Frau in Frankreich(1) wurde ihr der Doktortitel in einer Naturwissenschaft verliehen, mit der Auszeichnung »très honorable«.2 Als erste Frau überhaupt ist sie für den Nobelpreis nominiert.
An Maries(3) Seite strahlt ihr Mann Pierre(1) vor Stolz. Sie ist umringt von ihrer älteren Schwester Bronia(1), ihrem Doktorvater Gabriel Lippmann(1), ihren Kollegen Jean Perrin(1) und Paul Langevin(1) und mehreren ihrer Schülerinnen. Der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford(1) feiert mit, er ist gerade mit seiner Frau Mary(1) auf Hochzeitsreise – endlich, die Hochzeit liegt schon drei Jahre zurück. Rutherford und Marie(4) Curie sind Konkurrenten, beide erforschen den Bau der Atome und widersprechen einander vehement. Doch dieser Streit soll heute Abend ruhen. Heute wird gefeiert.
Der Weg, der für Marie(5) in diesen glücklichen Abend mündete, beginnt fernab der französischen(2) Metropole, im Warschau(1) der 1860er Jahre. Polen(1) ist zwischen den Großmächten Preußen(1), Russland(1) und Österreich(1) aufgeteilt, Warschau steht unter der Zwangsherrschaft des russischen Zaren. Niemand darf sein Heimatland laut »Polen« nennen. Am 7. November 1867 wird dort Maria(6) Skłodowska als letztes von fünf Kindern eines Lehrerehepaars geboren. Die Gesinnung der Familie ist gegen die Besatzer gerichtet. Der Vater tut sein Bestes, seine Töchter zu unabhängigem Denken zu erziehen. Als Mania(7), wie Maria zuhause gerufen wird, vier Jahre alt ist, meidet die tuberkulosekranke Mutter den Kontakt zu ihren Kindern. Sie möchte keines ihrer Kinder anstecken und stirbt nach langem Kampf gegen die damals noch unheilbare Krankheit.
Mania(8) braucht mehr als zehn Jahre, um ihre Lebensfreude wiederzugewinnen. Zuerst flüchtet sie sich ins Lernen, vergräbt sich in Bücher, bringt es mit unerbittlichem Fleiß zur Jahrgangsbesten im kaiserlichen Gymnasium. Mit 15 erleidet sie unter dem Druck, unter den sie sich selbst setzt, einen Nervenzusammenbruch. Ihr alleinerziehender Vater schickt sie zur Erholung aufs Land. Dort gelingt es ihr, die Bücher wegzulegen, sie entdeckt die Musik, feiert, flirtet und tanzt die Nacht durch. An einer polnischen(2) Untergrund-Universität, die auch Frauen aufnimmt, beginnt sie zu studieren – und übertrifft mit ihren Leistungen alle ihre Kommilitonen. Um ihre zwei Jahre ältere Schwester Bronia(2), die zum Medizinstudium nach Paris(2) geht, finanziell zu unterstützen, tritt sie eine Stelle als Gouvernante in der Familie eines Zuckerrübenfabrikanten bei Warschau(2) an – und verliebt sich in den Sohn der Familie, den 23-jährigen Mathematikstudenten Casimir. Der Vater ist entsetzt über die Liaison. Casimir leistet ihm zunächst zaghaft Widerstand, fügt sich jedoch nach jahrelangem Hin und Her, und Mania(9) steht allein und verlassen da, mit zutiefst verletztem Herzen, voller Wut auf die Männer: »Wenn sie keine armen jungen Mädchen heiraten wollen, sollen sie doch zum Teufel gehen!«
Die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie erhielt 1903 den Nobelpreis für Physik und 1911 für Chemie; hier ist sie in ihrem Labor in Paris im Jahr 1917 zu sehen.
Im Jahr 1891 folgt Mania(10) ihrer Schwester nach Paris(3). Bronia(3) hat inzwischen geheiratet, ausgerechnet einen Casimir. Er ist Arzt, sie ist Ärztin, und beide sind erfüllt von kommunistischen Idealen. Praktiziert wird in ihrer Wohnung, und bedürftige Patienten werden gratis behandelt. Zu viel Trubel für Mania(11), die sich nun Marie nennt. Sie zieht in eine Dachkammer, in der sie sich buchstäblich vergräbt: in kalten Winternächten unter all den Kleidern, die sie besitzt. Um Geld zu sparen, schleppt sie nur selten einen Eimer Kohle hinauf und ernährt sich ausschließlich von Tee, Obst, trockenem Brot und Schokolade – egal! Sie ist frei. Im Paris der Jahrhundertwende sind Frauen zwar alles andere als gleichberechtigt. Eine »Studentin« (étudiante) kann sowohl eine studierende Frau als auch die Geliebte eines studierenden Mannes sein. Aber immerhin können Frauen unbehelligt studieren, und das tut Marie(12) mit Leidenschaft. Sie verbringt ihre Tage am liebsten in Hörsälen, Labors und Bibliotheken, ihre Nächte mit ihren Büchern, lauscht den Ausführungen des legendären Henri Poincaré(1). Wieder übertreibt sie es und bricht in der Bibliothek zusammen. Bronia(4) holt sie zu sich nachhause und füttert die erschöpfte und unterernährte Marie(13) mit Fleisch und Kartoffeln, bis sie wieder zu Kräften kommt. Sofort eilt sie zurück zu ihren Büchern und wird bei den Abschlussprüfungen wieder Jahrgangsbeste.
Und was nun? Studieren dürfen Frauen zwar, aber als Forscherinnen dulden viele Männer sie nicht gerne neben sich. Marie(14) darf sich glücklich schätzen, ein Stipendium zu erhalten, das sie bei der Erforschung der magnetischen Eigenschaften verschiedener Stahlsorten fördert. Als sie mit dem Laborgerät nicht zurechtkommt, empfiehlt ein Bekannter ihr einen Experten für Magnetismus: Pierre(2) Curie, 35 Jahre alt, jünger aussehend, schüchtern und bedächtig. Er zeigt ihr, wie man mit Elektrometern umgeht, schließlich hat er solche Geräte selbst entwickelt. Marie gibt ihren Vorsatz auf, sich nach der Misere mit Casimir nie mehr zu verlieben: Pierre(3) und Marie werden ein Paar.
Doch der Magnetismus von Stahl entspricht nicht Maries(15) Berufung, es gibt Spannenderes zu erforschen. Gerade hat Wilhelm Conrad Röntgen(1) in Würzburg(1) zufällig die mysteriösen X-Strahlen, die Röntgen-Strahlen, entdeckt, als sie seine Hand durchleuchten, die er vor eine Elektronenröhre hält. Zu Neujahr 1896 schickt er Photos der Knochenkonturen der Hand seiner Frau, samt Ehering, unter Kollegen herum. So etwas hat vorher noch kein Mensch gesehen. Röntgenbilder(2) lösen einen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Hype aus.
Im selben Jahr entdeckt Henri Becquerel(1) in Paris(4) – wiederum zufällig – eine Art von Strahlung, die er rayons uraniques nennt, Uranstrahlen, weil sie von Uran ausgehen, das er mit einer Photoplatte in eine Schublade legt. Das ist aber auch schon alles, was Becquerel(2) über diese Strahlen in Erfahrung bringt. Wie sie entstehen, kann er nicht erklären. Er vermutet und hofft, dass sie irgendetwas mit Phosphoreszenz zu tun haben, denn diesen Effekt haben er und seine Vorläufer seit Generationen erforscht. Seine Strahlen machen weitaus weniger Furore als die von Röntgen(3), und seine verschwommenen Aufnahmen verblassen neben den Röntgenbildern, die auf den Titelseiten der Zeitungen gedruckt und auf Jahrmärkten gezeigt werden.
Marie(16) Curie jedoch ist von Becquerels(3) Entdeckung fasziniert. Sie erkennt, dass die Angelegenheit mit den wenigen Experimenten des nicht gerade arbeitswütigen Becquerel keineswegs erledigt ist, und entwickelt ein neues Verfahren zur Messung der Uran-Strahlen, beruhend auf Pierres(4) Elektrometern. Und sie wagt es, dem mächtigen Becquerel(4) zu widersprechen. Sie nennt die Strahlen »radioactif« statt »uranique«, weil sie überzeugt ist, dass sie eben nicht nur aus dem Element Uran kommen. Um dies zu beweisen, macht sie sich an den Nachweis neuer radioaktiver Elemente und wird in den nächsten Jahren zwei entdecken: Polonium und Radium.
Und mehr noch, Marie(17) Curie behauptet, »dass die unbegreifliche Uran-Strahlung eine Eigenschaft des Atoms ist«, wie sie im Jahr 1898 schreibt – beim damaligen Erkenntnisstand der Wissenschaft eine Provokation. Mit den Atomen kommen die Forscher gar nicht klar. Sie haben einfach zu viele davon. Da sind die Atome der Chemiker, unteilbare und unwandelbare Materiebausteine, die sich in chemischen Reaktionen aus ihren Verbindungen lösen und neu miteinander verbinden. Da sind neuerdings auch die Atome der Physiker, die wie winzige Billardkugeln durchs Vakuum schießen und zusammenstoßen, um Druck und Hitze in Gasen zu erzeugen. Da sind die Atome der Philosophen, seit den Zeiten des Demokrit die unvergänglichen Grundbausteine der Welt. Allerdings gibt es zwischen diesen unterschiedlichen Atomen keinen theoretischen Zusammenhang. Nur dass sie eben »Atome« heißen. Und nun behauptet Marie(18) Curie, dass innerhalb dieser Atome etwas geschieht.
Wie soll das möglich sein? Wie kann der Mechanismus funktionieren, mit dem Atome radioaktiv strahlen? Offenbar, so zeigen die Experimente, ist er unbeeinflusst von den chemischen Prozessen, von Licht und Temperatur, von elektrischen und magnetischen Feldern. Was dann löst ihn aus? Marie(19) Curie hat einen unerhörten Verdacht: nichts. Der Prozess, in dem die Strahlung entsteht, beginnt von selbst – spontan. In einer Abhandlung für den Internationalen Physikerkongress anlässlich der Pariser(5) Weltausstellung im Jahr 1900 schreibt sie einen ominösen Satz: »Die Spontaneität der Strahlung ist ein Rätsel, ein Gegenstand tiefen Staunens.« Radioaktive Strahlung entsteht von selbst, ohne Ursache. Damit rüttelt Curie am Fundament der Physik, dem Kausalitätsprinzip. Sie erwägt sogar, den Energie-Erhaltungssatz zu verwerfen, das eherne Prinzip der Physik, dem zufolge Energie niemals verschwindet oder aus dem Nichts entsteht. Der Mann, der Licht in Curies(20)(5) Rätsel bringt, ist der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford(2). Er entwickelt die »Umwandlungstheorie« der Radioaktivität: Wenn ein Atom radioaktiv strahlt, verwandelt es sich von einem chemischen Element in ein anderes. Damit wankt ein weiteres Dogma der Wissenschaft. Solch eine Umwandlung gilt als unmöglich, als Spinnerei von Alchemisten und Scharlatanen. Selbst Marie Curie sträubt sich lange gegen Rutherfords Theorie, doch am Ende behalten beide recht, Curie(21) mit der Spontaneität, Rutherford mit der Umwandlung. Es ist die alte Physik, die weichen muss.
In einem Schuppen im Innenhof der Ingenieursschule École supérieure de physique et de chimie industrielles im Quartier Latin, dem Gelehrtenviertel der französischen(3) Hauptstadt, richten die Curies(22)(6) ihr Labor ein. Der Wind pfeift durch die Ritzen. Der Boden trocknet niemals ganz. Zuvor haben dort Studenten Leichen seziert – bis es ihnen zu ungemütlich wurde. Nun sind die Obduktionstische seltsamen Geräten gewichen: Glaskolben, Stromkabeln und Vakuumpumpen, Waagen, Prismen und Batterien, Gasbrennern und Schmelztiegeln. Als »eine Kreuzung zwischen Stall und Kartoffelkeller« erlebt der baltisch-deutsche Chemiker Wilhelm Ostwald(1) das Barackenlabor der Curies, als er es auf seine »dringende Bitte« hin besichtigen darf. »Wenn ich nicht die chemischen Apparate auf dem Arbeitstisch gesehen hätte, dann hätte ich das Ganze für einen Witz gehalten.« Hier, im Ambiente einer Alchemistenküche, machen die Curies(23)(7) einige der wichtigsten Entdeckungen des anbrechenden 20. Jahrhunderts. Sie ahnen noch nicht, dass sie in ihrem zugigen Schuppen einen Grundstein zu einem neuen physikalischen Weltbild legen sollten.
In ihrem Schuppen wollen die Curies(24)(8) eine Substanz herstellen, die viele ihrer Fachkollegen bis vor kurzem ebenfalls für Hokuspokus hielten: reines Radium. Aber sie können ja nicht zaubern, das Radium muss irgendwoher kommen, sie brauchen einen Rohstoff. In langwierigen Versuchen ist Marie(25) auf ein strahlendes Mineral namens Pechblende gestoßen. Sie brauchen es tonnenweise, doch in Paris(6) ist es nicht zu bekommen, und die Curies(26) haben kein Geld. Pierre(9) fragt in ganz Europa(1) herum und findet heraus, dass in der Erzmine Joachimsthal(1), tief im Böhmischen Wald, aus der auch die Metalle für die »Thaler«-Münzen kommen, reichlich Pechblende als Abraum anfällt. Er kann den Minendirektor überreden, ihm zehn Tonnen davon zu überlassen. Den Transport finanziert der Baron Edmond James de Rothschild(1), schwerreich durch die Bankgeschäfte seines Vaters, selbst mehr interessiert an Kunst, Wissenschaft und Pferden als an Finanzhandel.
Als im Frühjahr 1899 ein Berg Pechblende im Hof vor der Baracke angeliefert wird, hebt Marie(27) eine Handvoll des »braunen, mit Kiefernnadeln vermischten Staubs« an ihr Gesicht. Nun kann es losgehen.
Es ist buchstäblich eine Knochenarbeit: Marie(28) schleppt schwere Eimer, gießt Flüssigkeiten um, rührt mit Eisenstäben in brodelnden Tiegeln. Die Pechblende muss mit Säure, alkalischen Salzen und hunderten Hektolitern Wasser gewaschen werden. Zur Extraktion haben die Curies(29)(10) eine Technik namens »Fraktionierung« entwickelt. Sie kochen das Material immer wieder auf, lassen es abkühlen und kristallisieren. Leichte Elemente kristallisieren schneller als schwere, daher können die Curies(30)(11) auf diese Weise nach und nach Radium anreichern. Es erfordert feine Messungen und viel Geduld, aber trotz der mörderischen Schufterei sind beide glücklich. Auf ihren nächtlichen Spaziergängen vom Labor nachhause phantasieren sie gemeinsam darüber, wie reines Radium aussehen mag. Immer reiner wird ihr Radiumgemisch, immer stärker das Leuchten, das nachts aus den Glaskolben ins Labor dringt. Im Sommer 1902 sind sie endlich am Ziel und halten ein paar Zehntelgramm Radium in den Händen. Marie(31) bestimmt das Atomgewicht des Elements und gibt ihm die Nummer 88 des Periodensystems.
Nur eine ist unglücklich: Irène(1), ihre Tochter, die zwei Jahre, bevor die Curies(32)(12) ihren Arbeitsplatz im Schuppen einrichteten, zur Welt kam. Sie bekommt Mama und Papa kaum zu Gesicht, kommen die Eltern einmal nachhause, sind sie erschöpft. Opa Eugène(1) kümmert sich um Irène, die alle Merkmale einer Tochter mit Bindungsangst zeigt. Wenn Mama Marie(33) den Raum verlässt, klammert sie sich an ihren Rock und weint. Eines Tages fragt sie ihren Opa, warum Mama so selten da ist. Opa nimmt sie an die Hand und führt sie in die Laborbaracke. Irène ist entsetzt über »diesen traurigen, traurigen Ort«. Wieder eine Tochter, die ihre Mutter vermisst. Drei Jahrzehnte später wird Irène Joliot-Curie(2) den Nobelpreis erhalten, als zweite Frau nach ihrer Mutter, für ihre Forschung zur Radioaktivität. Auch ihre Tochter Hélène(1) wird Kernphysikerin.
An jenem Juniabend im Boulevard Kellermann(2) ahnt Marie(34) Curie noch nichts von dem Unglück, das über ihrer Familie heraufzieht. Für die Feier hat sie sich extra ein neues Kleid nähen lassen, aus schwarzem Tuch, darauf sieht man die Flecken aus dem Labor nicht so deutlich. Und nicht die sich wölbende Rundung ihres Bauches. Marie ist im dritten Monat schwanger. Ein paar Wochen später unternimmt sie mit Pierre(13) eine Fahrradtour. Sie lieben es, übers Land zu rollen, haben auch ihre Hochzeitsreise mit dem Rad gemacht. Doch nun ist Marie(35) im fünften Monat, und ihr Körper verträgt die Stöße des Fahrrads auf den holprigen Schotterstraßen nicht mehr. Sie erleidet eine Fehlgeburt. Auf der Flucht vor der Trauer stürzt sie sich in die Arbeit, immer tiefer, bis sie erneut zusammenbricht. So kann sie nicht nach Stockholm(1) zur Verleihung des Nobelpreises reisen, der ihr und Pierre(14) gemeinsam mit Henri Becquerel(5) für die Entdeckung der Radioaktivität zugesprochen wurde, und die Bühne in Stockholm gehört ganz dem eitlen Becquerel. Er betritt sie in einem grünen, goldbestickten Brokatrock, Orden auf der Brust und Säbel an der Seite(6).
Als Marie(36) an jenem Sommerabend ihrer Promotionsfeier Arm in Arm mit Pierre(15) durch die Salontür(3) hinaus in die Sommernacht tritt, heben die Gäste die Gläser auf sie. Das Paar geht ein paar Schritte aus dem Licht, für einen Augenblick nur zu zweit. Unter dem Sternenhimmel greift Pierre in seine Westentasche und zieht eine Glasphiole mit Radiumbromid hervor. Der Schimmer erleuchtet ihre Gesichter, selig und gerötet vom Alkohol, und die Haut an Pierres(16) Finger, die verbrannt und von Rissen durchzogen ist. Es sind Vorboten der Strahlenkrankheit, an der Marie(37) einst sterben wird, und eine erste Ahnung der Wucht der Erkenntnis, der sie auf der Spur sind.
Berlin(1) 1900
Der 7. Oktober 1900 ist ein Sonntag, und er verspricht, ein langweiliger zu werden. Das Ehepaar Max und Marie (1)Planck(1) hat in seiner großbürgerlichen Berliner(2) Wohnung im Grunewald zum Nachmittagstee das Ehepaar Heinrich und Marie(1) Rubens(1) aus der Nachbarschaft zu Gast. Rubens(2) ist Ordinarius für Experimentalphysik an der Universität Berlin, Planck(2) Ordinarius für Theoretische Physik. Zum Verdruss der Frauen können es die Männer nicht lassen, über ihre Arbeit zu sprechen. Rubens(3) erzählt von seinen neuesten Messungen im Labor der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, davon, dass die von ihm und seinen Kollegen aufgezeichneten Kurven allen bisher erwogenen Formeln widersprechen. Es geht um Wellenlänge, Energiedichte, Linearität und Proportionalität. In Plancks(3) Kopf beginnen sich die Puzzleteile, die er seit Jahren gedanklich hin und her schiebt, zu einem neuen Muster zu verbinden. Am Abend, nachdem die Gäste längst gegangen sind, setzt er sich an seinen Schreibtisch und bringt zu Papier, was sich in seinem Kopf zusammengefügt hat: die Strahlungsformel, die allen Messdaten akkurat entspricht. Die Formel, die Planck(4) und viele andere seit Jahren suchen. Gegen Mitternacht erwacht Marie(2) Planck(5) davon, dass ihr Mann die Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven(1) auf dem Klavier spielt. Es ist seine Art, seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Noch in der Nacht schreibt er seine Formel auf eine Postkarte, die er an Rubens(4) schickt.
»Ich habe eine Entdeckung gemacht, die ebenso wichtig ist wie die Newtons(1)«, verkündet Max Planck(6), 42, seinem siebenjährigen Sohn Erwin(1) bei einem Morgenspaziergang durch den Grunewald. Er übertreibt nicht.
Planck(7) ist kein geborener Revolutionär. Eher das Inbild des preußischen(2) Beamten, stets korrekt gekleidet in einen dunklen Anzug, ein gestärktes Hemd mit steifem Kragen, um den eine schwarze Fliege gebunden ist, auf der Nase ein Zwicker gegen die Kurzsichtigkeit. Über durchdringenden Augen wölbt sich die hohe Kuppel seiner Glatze, unter der die Vorsicht regiert. Er schreibt sich selbst eine »friedfertige Natur« zu. »Meine Maxime ist immer«, vertraut er einem Studenten an, »jeden Schritt vorher zu überlegen, dann aber, wenn man ihn verantworten zu können glaubt, sich nichts gefallen zu lassen.« Seine Art des Umgangs mit neuen Ideen ist, sie in sein zutiefst konservatives Weltbild zu fügen. »Unvorstellbar, dass es dieser Mann ist, der die Revolution anzettelt«, sagt ein Student über Planck(8). Nicht nur er sollte eines Besseren belehrt werden.
Max Karl Ernst Ludwig Planck(9) wird im Jahr 1858 in Kiel(1) geboren, das damals zum Königreich Dänemark(1) gehörte. Eine lange Gelehrtentradition durchzieht seine Familie. Der Großvater und Urgroßvater väterlicherseits waren angesehene Theologen, sein Onkel Gottlieb Planck(1) schreibt am Bürgerlichen Gesetzbuch mit, sein Vater Johann Julius Wilhelm Planck(1), ebenfalls Jurist, wird im Jahr 1870 vom bayerischen(1) König Ludwig II.(1) mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet und darf sich fortan »Ritter von Planck(2)« nennen. Allesamt pflichtbewusste Patrioten mit Ehrfurcht vor dem göttlichen und weltlichen Gesetz. Zu einem ebensolchen wächst auch Max heran.
Als Max Planck(10) gerade neun Jahre alt geworden ist, zieht die Familie nach München(1), in eine große Wohnung in der Briennerstraße(1) 33. Der Vater übernimmt den Lehrstuhl für Zivilprozessrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität, Sohn Max geht in die Sexta des Maximiliansgymnasiums (kurz »Max«), das gerade in das neue Damenstiftgebäude in der Ludwigstraße 14 gezogen ist.
Er ist nicht der beste der 65 Schüler seiner Klasse, aber ein disziplinierter. In »sittlichem Betragen« und »Fleiß« bringt er nur Einser nachhause, außerdem besitzt er jene Qualitäten, auf die es im preußischen(3) Schulsystem ankommt, das auf die Verarbeitung großer Stoffmengen durch Auswendiglernen ausgerichtet ist. Ein Schulzeugnis spricht Max gute Chancen zu, »etwas Rechtes« zu werden. Er sei »der Liebling seiner Lehrer und seiner Mitschüler und bei aller Kindlichkeit ein sehr klarer, logischer Kopf«. Es sind nicht die Bierlokale Münchens, die den jugendlichen Planck(11) anziehen, sondern die Opernhäuser und Konzertsäle. Überaus musikalisch entwickelt er bereits als Kind ein absolutes Gehör, spielt Geige und Klavier, singt im Kirchenchor, in dem er als Solist mit seiner Sopranstimme auch Frauenrollen übernimmt. Im Sonntagsgottesdienst sitzt er an der Orgel, außerdem komponiert er Lieder, sogar eine Operette, Die Liebe im Walde, die auf einem Fest des Akademischen Gesangvereins aufgeführt wird.
Nach dem Abitur, das er(12) mit 16 Jahren souverän besteht, erwägt er, Konzertpianist zu werden. Doch als er einen Professor nach den Aussichten eines Musikstudiums fragt, erhält er die barsche Antwort: »Wenn Sie schon fragen, studieren Sie etwas anderes!« Dann doch lieber Altphilologe? Max ist unschlüssig. Der Vater schickt ihn zum Ordinarius für Physik, Philipp von Jolly(1), der alles daransetzt, dem Abiturienten das Physikstudium auszureden. Er schildert ihm den Zustand der Physik »als eine hochentwickelte, nahezu voll ausgereifte Wissenschaft, die nunmehr, nachdem ihr durch die Entdeckung des Prinzips von der Erhaltung der Energie gewissermaßen die Krone aufgesetzt sei, wohl bald ihre endgültige stabile Form angenommen haben würde. Wohl gäbe es vielleicht in einem oder dem anderen Winkel noch ein Stäubchen oder Bläschen zu prüfen oder einzuordnen, aber das System als Ganzes stehe ziemlich gesichert da, und die theoretische Physik nähere sich merklich demjenigen Grade der Vollendung, wie sie die Geometrie schon seit Jahrhunderten besitze«.
Mit dieser Haltung steht Jolly(2) nicht allein. Bis zum Anbruch des 20. Jahrhunderts sind die Physiker zuversichtlich, ihre Disziplin bald zur Vollendung bringen zu können. »Die bedeutenderen Grundgesetze und Tatsachen der Physik sind alle entdeckt«, erklärt der amerikanische Physiker Albert Michelson(1) im Jahr 1899, »und sie sind nun so fest gesichert, dass die Möglichkeit, sie könnten durch neue Entdeckungen überholt werden, äußerst fern liegt. Unsere künftigen Entdeckungen werden in der sechsten Dezimalstelle zu finden sein.«
James Clerk Maxwell(1), der Erfinder der klassischen Elektrodynamik, warnte schon im Jahr 1871 vor solcher Selbstzufriedenheit: »Diese Eigenart moderner Experimente – dass sie hauptsächlich in Messungen bestehen – ist so markant, dass sich offenbar die Meinung verbreitet hat, in wenigen Jahren wären alle wichtigen physikalischen Konstanten ungefähr geschätzt, und den Männern der Wissenschaft bliebe nur noch die Beschäftigung, diese Messungen eine Dezimalstelle weiter zu führen.« Maxwell betonte, dass der wahre Lohn für die »Mühe der sorgfältigen Messung« nicht größere Genauigkeit sei, sondern »die Entdeckung neuer Forschungsgebiete« und »die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Ideen«. Es sollte genau so kommen, wie Maxwell(2) es prophezeit hatte.
Jolly(3) ahnt nicht, dass es dieser historische Irrtum ist, der ihm einen bescheidenen Platz in der Physikgeschichte verschaffen wird, und auch nicht, dass mit dem 16-jährigen Planck(13) jener Mensch vor ihm sitzt, der seinen Irrtum aufdecken wird. Auch Planck(14) ahnt nichts davon. Ein paar Stellen hinter dem Komma weiter messen und rechnen, das klingt in Plancks(15) Ohren doch gar nicht so schlecht. Jedenfalls immer noch aussichtsreicher als die Antwort des Musikprofessors. Zum Wintersemester 1874/75 schreibt er sich in Mathematik und Naturwissenschaften ein.
An der Universität München(2) erlebt Planck(16) die Langeweile, die Philipp von Jolly(4) ihm angekündigt hat. Zu Jollys Forschungsprojekten zählen die bis dahin genaueste Bestimmung des spezifischen Gewichts flüssigen Ammoniaks mit einer selbstgebauten Federwaage und die Überprüfung (2)des Newtonschen Gravitationsgesetzes mit einer Bleikugel eines Gewichts von 5775,2 Kilogramm und eines Durchmessers von fast einem Meter – alles andere als revolutionär.
Drei Jahre lang hält es Planck(17) an der Münchner Physikalischen Fakultät aus, dann wird es ihm dort zu langweilig, und er wechselt nach Berlin(3), die Hochburg der Physik, wo die Koryphäen Gustav Kirchhoff(1) und Hermann von Helmholtz(1) lehren.
Nach dem Sieg über Frankreich(4) im Krieg von 1870/71 und dem Entstehen eines vereinten Deutschlands(1) ist Berlin(4) die Hauptstadt einer neuen, mächtigen Nation in Europa(2) geworden. Noch sind es die Franzosen, die Reparationen bezahlen, die es ermöglichen sollen, am Zusammenfluss von Havel und Spree eine Metropole entstehen zu lassen, die es mit Paris(7) und London(1) aufnehmen kann. Von 1871 bis 1900 wächst die Bevölkerung von 865 000 auf über zwei Millionen Einwohner, womit Berlin zur drittgrößten Stadt Europas(3) wird. Viele Zuwanderer kommen aus dem Osten, es sind vor allem Juden auf der Flucht vor den Pogromen des zaristischen Russlands(2).
Mit dem Ehrgeiz, Berlin(5) zur europäischen(4) Metropole zu formen, entstand auch der Wunsch, die Berliner(6) Universität zur besten des Kontinents zu machen. Hermann von Helmholtz(2), der angesehenste Physiker des Landes, wird aus Heidelberg(1) geholt. Helmholtz ist ein Universalgelehrter alten Stils, ausgebildeter Chirurg und gefeierter Physiologe. Dank seiner Erfindung des Augenspiegels hat er das Verständnis der Funktion des menschlichen Sehorgans weit vorangebracht.
Wenige andere Wissenschaftler dieser Zeit hatten einen so weiten Horizont wie Helmholtz(3). Der 50-jährige Gelehrte wusste, was er wert war. Er handelte ein Gehalt aus, das um ein Vielfaches über dem Üblichen lag, und bekam ein eigenes prächtiges neues Physik-Institut, das noch im Bau war, als Planck(18) 1877 in Berlin(7) eintraf und im Hauptgebäude der Universität, einem früheren Palast Unter den Linden, gegenüber der Oper, erste Vorlesungen hörte. Es war für Planck(19), als träte er aus einer engen Kammer hinaus in eine weite Halle.
Doch auch in einer Halle kann es langweilig zugehen. Kirchhoff(2) liest seine Vorlesungen aus einem Kollegheft ab, Planck(20) findet sie »trocken und eintönig«, Helmholtz(4) ist schlecht vorbereitet, trägt stockend vor und verrechnet sich immer wieder. Planck(21), in dem immer noch der strebsame Oberschüler steckt, verlegt sich aufs Selbststudium und liest die Schriften von Rudolf Clausius(1) über Wärmelehre und Entropie, das neue physikalische Maß für Unordnung – ein erster Schritt zur Revolution.
Mit 20 besteht Planck(22) das Examen in Physik und Mathematik. Ein Jahr später gibt er seine Dissertation Über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie ab. Ein weiteres Jahr später seine Habilitationsschrift über Gleichgewichtszustände isotroper Körper in verschiedenen Temperaturen. Er besteht die Prüfungen »summa cum laude« und »in hohem Maße befriedigend«. Eine musterhafte Hochschulkarriere bahnt sich an.
Planck(23) wird Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und wohnt wieder bei seinen Eltern, wo er »das denkbar schönste und behaglichste Leben« führt. Damit ist Schluss, als er eine Professorenstelle in Kiel(2) erhält. Das Jahresgehalt von 2000 Mark reicht gerade aus, um eine eigene Familie zu gründen, jetzt fehlt ihm nur noch eine passende Frau. Planck(24) heiratet die Schwester eines Schulfreunds, Marie(3) Merck, die aus einer reichen Bankiersfamilie stammt. Das Paar bekommt binnen zwei Jahren drei Kinder.
Gerade als Max Planck(25) dabei ist, sich als »Familienmensch« einzurichten, wird es wieder ernst. In Berlin(8) stirbt der seit langem kränkelnde Gustav Kirchhoff(3), und der Lehrstuhl für Mathematische Physik an der Friedrich-Wilhelms-Universität wird frei. Die Berufungskommission sucht einen Kandidaten »von gesicherter wissenschaftlicher Autorität im kräftigen Mannesalter«. Ludwig Boltzmann(1), der Erfinder der statistischen Mechanik, und Heinrich Hertz(1), der Entdecker der elektromagnetischen Wellen, sagen ab. Max Planck(26) ist die dritte Wahl. Aber ist er, gerade mal 30 Jahre alt, denn schon reif genug für einen der bedeutendsten Lehrstühle des Landes? Manche in den Gremien der Berliner(9) Physiker, in denen das Durchschnittsalter oft um die 60 liegt, bezweifeln es. Nach Fürsprache seines anderen früheren Lehrers Hermann von Helmholtz(5) wird Planck(27) zwar eingestellt, aber zunächst nur als außerordentlicher Professor.
Planck(28) muss sich also bewähren. Er sitzt nun auf dem Stuhl seines Lehrers, an der Seite seines anderen Lehrers Hermann von Helmholtz(6), und macht sich an die Aufgabe, die Kirchhoff(4) unerledigt zurückließ: das Schwarzkörper-Problem.
Töpfer und Schmiede wissen seit Jahrhunderten, dass alle erhitzten Gegenstände, egal welchen Materials, in einer Folge charakteristischer Farben glühen, wenn ihre Temperatur steigt. Wenn man ein Schüreisen ins Feuer hält, glüht es zuerst in schwachem Dunkelrot, das in ein helleres Kirschrot übergeht, wenn das Eisen heißer wird, dann ins Gelbe wechselt, das dann mit steigender Hitze immer weißer und heller wird, bis es allmählich mit einem Blaustich anläuft. Diese charakteristische Farbenfolge bleibt immer gleich, im Himmel wie auf Erden, vom Rot glimmender Kohle über das Gelb der Sonne bis zum Blauweiß geschmolzenen Stahls.
Experimentalphysiker haben die Spektren der emittierten Strahlung wieder und wieder vermessen. Mit verbesserten Thermometern und Photoplatten haben sie entdeckt, dass die Farbpalette jenseits des Sichtbaren weitergeht, am kühleren Ende ins Infrarote, am heißeren Ende ins Ultraviolette. Nachkommastelle um Nachkommastelle arbeiteten sie sich voran.
Gesucht war eine Formel, die den Zusammenhang von Temperatur und Farbspektrum richtig beschreiben sollte: Das ist das Schwarzkörper-Problem. Es heißt so, weil es um Körper geht, die alle einfallende Strahlung verschlucken. Im Jahr 1859 formuliert der Physiker Gustav Kirchhoff(5), damals Professor in Heidelberg(2) und eine Autorität für die Spektralanalyse von Mineralwasser, das Schwarzkörper-Problem wissenschaftlich. Doch er und andere Theoretiker scheitern immer wieder daran, die Schwarzkörper-Formel zu finden. Wilhelm Wien(1) entdeckt eine Formel, die den hochfrequenten Teil der Spektren einigermaßen gut wiedergibt, James Jeans(1) entwickelt eine Formel für große Wellenlängen. Aber beide Formeln versagen am jeweils anderen Ende des Spektrums.
Es ist nicht das einzige Problem, das die Physiker bewegt. Gerade sind die Röntgenstrahlen(4), die Radioaktivität und die Elektronen entdeckt worden, es tobt der Streit um die Existenz der Atome. Im Vergleich dazu scheint das Schwarzkörper-Problem eine Lappalie zu sein, aber gerade deshalb lässt es die Koryphäen nicht zur Ruhe kommen.
Es geht hier nicht um bloßen Denksport, vielmehr um eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung. Im erst 1871 proklamierten deutschen Kaiserreich erhofft man sich von der Lösung des Schwarzkörper-Problems einen Wettbewerbsvorteil für die heimische Beleuchtungsindustrie gegenüber der Konkurrenz aus Großbritannien(1) und den USA. Ein Glühfaden ist physikalisch gesehen nichts anderes als ein glühendes Schüreisen. Im Januar 1880 hat Thomas Edison(1) sein Patent auf eine Glühlampe erhalten, die den damals üblichen Gaslampen überlegen war, worauf ein weltweiter Kampf um die Herrschaft über den Beleuchtungsmarkt folgte. Deutsche Unternehmen versuchten, effizientere Glühlampen als ihre amerikanischen und britischen Konkurrenten zu entwickeln.
Im Wettlauf um die Führung in der Elektrotechnik lag das junge deutsche Reich gut. Werner von Siemens(1) hatte den Dynamo erfunden. Im Jahr 1887 gründet die Reichsregierung mit Siemens’ Unterstützung am Berliner(10) Stadtrand die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, mit einem Programm zur Erforschung der Schwarzkörper-Strahlung, auf dass deutsche Glühbirnen die besten der Welt würden.
Schließlich glaubt Friedrich Paschen(1), Privatdozent an der Technischen Hochschule Hannover(1), im Jahr 1896, die Schwarzkörper-Formel gefunden zu haben. Aber seine Konkurrenten an der Reichsanstalt widerlegen ihn mit verfeinerten Messmethoden. Ihr strahlungsphysikalisches Labor ist das bestausgestattete der Welt, voller Glühstrümpfe, Kupferspulen, Thermometer, Photometer, Spektrometer und Bolometer mit großen Zeigerskalen, durchzogen von schweren Kabelsträngen, in der Mitte ein isolierter Hohlzylinder, geheizt mit Gas und Flüssigkeit: der Schwarze Körper.
Als Max Planck(29) Kirchhoffs(6) Nachfolger an der Universität Berlin(11) wird, muss er zeigen, dass ihm Kirchhoffs Schuhe nicht zu groß sind. Er muss sich im akademischen Großbetrieb der Hauptstadt-Universität bewähren, hunderte Studenten betreuen, Prüfungen abnehmen, Berichte schreiben, Sitzungen absitzen. Seine Vorlesungen hält er so trocken und wenig inspirierend, wie er es von seinem Vorgänger kennt. Sie seien »bei all ihrer außerordentlichen Klarheit etwas unpersönlich, beinahe nüchtern«, beklagt eine Studentin namens Lise(1) Meitner. »Planck(30) ist auch nicht zum Totlachen«, stellt ein Student fest.
Ab 1894 widmet Planck(31) alle Zeit, die ihm zum Forschen bleibt, dem Schwarzkörper-Problem, das Kirchhoff(7) ungelöst hinterlassen musste. Ihn fasziniert, dass es sich bei der »schwarzen Hohlraumstrahlung« um »etwas Absolutes« handele, »und da das Suchen nach dem Absoluten mir stets als die schönste Forschungsaufgabe erschien, so machte ich mich mit Eifer an ihre Bearbeitung«. Er attackiert das Schwarzkörper-Problem als purer Theoretiker: mit Papier, Stift und seinem Gehirn. Doch, nachdem er in jener Sonntagnacht endlich die gesuchte Formel niederschreibt, steht er schon vor der nächsten Herausforderung: Er versteht seine eigene Entdeckung nicht. Als er zwei Wochen später, am 19. Oktober 1900, im Freitagskolloquium der Physikalischen Gesellschaft im Magnus-Haus an der Spree nach einem Vortrag von Ferdinand Kurlbaum(1) aufsteht, hat er nicht viel mehr mitzuteilen als die Formel selbst.
Der schwierige Teil der Arbeit liegt noch vor Planck(32). Er muss die Formel, die er erraten hat, deuten und begründen. Physiker wollen nicht nur wissen, was richtig ist, sondern auch verstehen, warum es richtig ist. In den Wochen nach seiner Entdeckung bemüht sich Planck(33), die Formel, die ihm so glücklich zugefallen ist, mit physikalischen Argumenten herzuleiten. Er ist ein Physiker der alten Schule, der nichts von neumodischem Kram wie der statistischen Physik eines Ludwig Boltzmann(2) hält und der nicht an Atome glaubt. Aber mit den Begriffen seines klassischen Denkens kann er seine eigene Formel nicht verstehen. Was bedeutet diese rätselhafte Konstante namens h, die er in jener Nacht mit leichter Hand aufs Papier schrieb? Es ist eine Winzigkeit, dieses h, es beträgt nur 0,00000000000000000000000000655 (eine Ziffer mit 26 Nullen nach dem Komma). Aber es lässt sich partout nicht auf null drücken.
In einem »Akt der Verzweiflung« ringt Planck(34) sich zu der Annahme durch, dass der Schwarzkörper aus Atomen besteht. Er greift zu den statistischen Methoden Boltzmanns(3), die er eigentlich ablehnt, und kommt so zu seiner Formel, aber auch zu der merkwürdigen Folgerung, »dass die Energie von vornherein gezwungen ist, in gewissen Quanten beieinander zu bleiben«. Zuerst Atome, jetzt auch noch »Quanten«. Planck(35) hofft, dass dieser Spuk bald wieder verschwinden, seine Formel aber bleiben wird. Er hält die Quanten für »eine rein formale Annahme, und ich dachte mir eigentlich nicht viel dabei, sondern eben nur das, dass ich unter allen Umständen ein positives Resultat herbeiführen musste«. Ein bloßer Rechentrick. Nichts, was ein Weltbild aus den Fugen hebt. Noch nicht.
Am 14. Dezember 1900, um fünf Uhr nachmittags, trägt Planck(36) wieder im Freitagskolloquium vor: »Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspektrum« lautet der Titel seines Vortrags. Die Experimentatoren Rubens(5), Lummer(1) und Pringsheim(1) sitzen vor ihm in den Holzbänken. »Meine Herren!«, begrüßt Planck(37) sie und spricht dann in verschachtelten Sätzen: »Als ich vor mehreren Wochen die Ehre hatte, Ihre Aufmerksamkeit auf eine neue Formel zu lenken, welche mir geeignet schien, das Gesetz der Verteilung der strahlenden Energie auf alle Gebiete des Normalspektrums auszudrücken, gründete sich meine Ansicht von der Brauchbarkeit der Formel, wie ich schon damals ausführte, nicht allein auf die anscheinend gute Übereinstimmung der wenigen Zahlen, die ich Ihnen damals mitteilen konnte, mit den bisherigen Messungsresultaten (inzwischen haben die Herren Rubens(6) und Kurlbaum(2) für sehr lange Wellen eine direkte Bestätigung gegeben), sondern hauptsächlich auf den einfachen Bau der Form und insbesondere darauf, dass dieselbe für die Abhängigkeit der Entropie eines bestrahlten monochromatisch schwingenden Resonators von seiner Schwingungsenergie einen sehr einfachen logarithmischen Ausdruck ergibt, welcher die Möglichkeit einer allgemeinen Deutung jedenfalls eher zu versprechen schien als jede andere bisher in Vorschlag gebrachte Formel, abgesehen von der (2)Wienschen, die aber durch die Tatsachen nicht bestätigt wird.« Die Formel hat er also bereits verkündet, jetzt kann er sie auch begründen. Bald kommt er zum Schlüsselschritt: »Wir betrachten aber – und dies ist der wesentlichste Punkt der ganzen Berechnung – die Energie als zusammengesetzt aus einer ganz bestimmten Anzahl endlicher gleicher Teile und bedienen uns dazu der Naturkonstanten h=6,55·10–27 ergsec.« Die Quanten sind in der Welt, und keiner bemerkt sie. Warmer Applaus ertönt von den Holzbänken.
Weder Planck(38) noch seine Zuhörer ahnen, dass spätere Physiker jenen Nachmittag »die Geburtsstunde der Quantenphysik« nennen werden. Jahrelang versucht Planck(39), versuchen auch andere Physiker wie Lord Rayleigh(1) und James Jeans(2) in England(2) und Hendrik Antoon Lorentz(1) in Leiden(1), die Quanten wieder loszuwerden. Sie glauben an das Kontinuum, an den Äther. Sie glauben an Newton(3) und Maxwell(3). All das wird fallen. Die Quanten jedoch werden bleiben.
Bern(1) 1905
Bern(2), am Freitag, den 17. März 1905. Gleich wird die Zytglogge acht Uhr schlagen. Ein junger Mann in einem karierten Anzug eilt die steile, schmale Stiege aus dem zweiten Stock der Kramgasse(1) 49 hinunter und über das Kopfsteinpflaster durch die Lauben. Er trägt einen Umschlag in der Hand. Mancher Passant dürfte sich über die abgenutzten, grünen, blumenbestickten Pantoffeln an seinen Füßen wundern. Der junge Mann achtet nicht auf ihre Blicke. Er muss dringend zur Post. Der Inhalt des Umschlags in seiner Hand wird die Welt verändern. Sein Name ist Albert Einstein(1).
Einstein(2) ist drei Tage zuvor 26 Jahre alt geworden und zehn Monate zuvor Vater. Oben in der Zweizimmerwohnung lebt er mit seiner Frau Mileva(1) und dem gemeinsamen Sohn Hans Albert.
Am Patentamt bekleidet Einstein(3) die Stelle eines »Experten III. Klasse«. Kein Traumjob, aber er ist froh, sie überhaupt bekommen zu haben. Gescheiterte Promotion, keine Assistentenstelle an der Universität, eine Geburt voller Komplikationen, eine langwierige Besetzungsprozedur am Patentamt. Einstein muss sich eine Weile als Privatlehrer durchschlagen, um für Frau(2) und Kind sorgen und die Miete bezahlen zu können. Er unterrichtet Architekten, Ingenieure und Langzeitstudenten in Physik und Mathematik. Einer seiner Schüler, ein Französischschweizer, notiert in sein Heft: »Sein kurzer Schädel wirkt ungemein breit. Der Teint ist von mattem Hellbraun. Über dem großen, sinnlichen Mund sprosst ein schmächtiger, schwarzer Schnurrbart. Die Nase hat leichte Adlerform. Die sehr braunen Augen strahlen tief und weich. Die Stimme ist einnehmend, wie ein vibrierender Celloton. Einstein spricht korrekt Französisch(5) mit einem leichten fremdländischen Akzent.« Daneben hört Einstein Vorlesungen in Pathologie an der Universität Bern(3), die Physikvorlesungen sind ihm zu langweilig. Er versucht, sich als Privatdozent einzurichten, doch die Universität lehnt sein Habilitationsgesuch ab. Seine Leistungen seien nicht ausreichend, um ihn, der nicht einmal promoviert ist, von dem Verfassen einer Habilitationsschrift auszunehmen. Einen »Schweinestall« nennt Einstein die Universität. »Ich werde nicht lesen dort.« So scheitert der erste Versuch, ein »großer Professor« zu werden.
Überhaupt sind die letzten Jahre schlecht gelaufen für Einstein(4). Als er sich im Jahr 1896 mit 17 am Zürcher(1) Polytechnikum einschreibt, nachdem er im ersten Anlauf durch die Aufnahmeprüfung gefallen ist und den Umweg über das Schweizer(1) Abitur gehen musste, gerät die Firma des Vaters in Konkurs. Einstein sitzt ohne finanzielle Unterstützung in der größten und reichsten Stadt der Schweiz(2), in der Metropole der Banken und der Unternehmer. Italienische Verwandte helfen mit 100 Franken monatlich aus. Das Physikstudium bewältigt er mehr schlecht als recht. Im »Physikalischen Praktikum für Anfänger« erhält er einen Verweis und schlechte Noten, außerdem fehlt er oft unentschuldigt, weil er lieber zuhause die Klassiker des Elektromagnetismus studiert: James Clerk Maxwell(4) und Heinrich Hertz(2). Dazu die neuen Werke von Ludwig Boltzmann(4), Hermann von Helmholtz(7) und Ernst Mach(1).
Besonders von Mach(2) ist Einstein(5) angetan, dem Wiener(1) Physiker, der sich für ein neues wissenschaftliches Denken einsetzt und frei von unbelegten Hypothesen und metaphysischer Spekulation die Physik von Grund auf durchdenkt. Es gibt nur, was man beobachten kann, sagt Mach. Physikalische Begriffe wie Geschwindigkeit, Kraft und Energie müssen in sinnlicher Erfahrung gründen. Vorstellungen eines absoluten Raums und absoluter Zeit, die seit Newton(4) als Dogmen gelten, seit Kant(1) als außersinnliche Voraussetzungen sinnlicher Erfahrung, gehören zu dem metaphysischen Gerümpel, das Mach(3) entsorgen möchte. Es gibt keine absolute Zeit. Es gibt nur die Zeiger und Glocken der Zytglogge.
Albert Einstein, 1921 in seinem Berliner Arbeitszimmer.
Auf die Frage nach der Existenz von Atomen pflegt Mach(4) gegenzufragen: »Hams ans gsehn?« Er geht davon aus, dass die Antwort »Nein« lauten muss. Doch das ändert sich gerade. In den »Uranstrahlen«, die Henri Becquerel(7) und die Curies(38)(17) beobachtet und erforscht haben, zeigt sich die Existenz von Atomen, und Einstein(6) ist nicht der Typ, der leugnet, was er sieht.
Einstein(7) findet sich damit ab, »ein mittelmäßiger Student« zu sein, und schafft die Abschlussprüfung als vierter von fünf Kandidaten. Der Physikprofessor Heinrich Friedrich Weber(1) stellt alle Absolventen als Assistenten ein – alle außer Einstein. Zwei Promotionsversuche scheitern, weil die Professoren Einsteins Arbeiten »refüsieren«. Einstein selbst nennt sie später »meine zwei wertlosen Erstlingsarbeiten«.
Einsteins(8) Freundin, die Serbin Mileva(3) Marić, ist eine der ersten Frauen, die Physik studieren. Sie fällt durch die Abschlussprüfung, wird von Einstein schwanger, fällt noch einmal durch, bringt die Tochter Lieserl zur Welt. Mileva und Albert verheimlichen die Tochter vor Freunden und Verwandten und geben sie zur Adoption frei, ohne dass der Vater sein Kind überhaupt gesehen hat. Einstein ist bereits in Bern(4). Dann kommt Mileva nach, die beiden heiraten – gegen den Willen von Einsteins Mutter. Nicht gerade das, was man damals »geordnete Verhältnisse« nennt.
Als Einstein(9) dann endlich die Stelle am Patentamt bekommt, sind immerhin die Geldsorgen passé. Die »hübsche Bezahlung« von 3500 Franken im Jahr reicht für ein bürgerliches Familienleben. Dafür beginnt der Stress erst richtig. Jeden Werktagmorgen um acht Uhr muss er im »Amt« im Stockwerk über der Post- und Telegraphendirektion zum Dienst erscheinen, um für acht Stunden Patente zu prüfen. Danach erteilt er noch mindestens eine Privatstunde und muss anfangs selbst Nachhilfestunden beim Amtschef nehmen, da er nur wenig Ahnung von Maschinenbau und technischen Zeichnungen hat.
Niemand nähme es Einstein(10) übel, wenn er sich nun, abgeschnitten von den Zentren der physikalischen Forschung, auf eine Schweizer(3) Beamtenlaufbahn konzentrieren würde. Doch gerade im akademischen Abseits gedeiht Einstein. Er braucht den Abstand zum physikalischen Establishment, um zu seinen eigenen Gedanken zu kommen, und doch ist er nicht das einsame Genie, nicht der »Einspänner«, als den er sich selbst gern sieht. Mileva(4) ist seit der gemeinsamen Zeit in Zürich(2) eine kluge, kongeniale Gesprächspartnerin und Mitdenkerin, ihre Ideen und Einsteins sind manchmal kaum zu trennen.
In einem festen Kreis von Freunden, der sich »Akademie Olympia« nennt, diskutiert und schwadroniert Einstein(11) über Physik und Philosophie, ohne sich um die Konventionen des Wissenschaftsbetriebs scheren zu müssen. Einladungen zu den Sitzungen, bei denen unentschuldigtes Fehlen nicht geduldet wird, unterzeichnet er mit »Albert Ritter von Steissbein«. Er hat das beste Sitzfleisch.
Überdies besucht Einstein(12) regelmäßig die Abendsitzungen der »Naturforschenden Gesellschaft in Bern(5)«, die alle zwei Wochen im Vereinszimmer des Hotels »Storchen« stattfinden. Dort führen emeritierte Professoren, Gymnasiallehrer, Ärzte und Apotheker gelehrte Diskussionen, und am 5. Dezember 1903 trägt Einstein über seine »Theorie der elektromagnetischen Wellen« vor. Später wird man sie »Relativitätstheorie« nennen. »Die Arbeit liegt erst im Konzept vor«, sagt Einstein. Dann wendet die Gesellschaft sich einem veterinärmedizinischen Thema zu.
Als Einstein(13) Max Plancks(40) Veröffentlichung zum Schwarzkörper-Problem von 1900 liest, erkennt er als Erster die Tragweite dieser Entdeckung: »Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre, ohne dass sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können.« Wenn Licht aus »Quanten« besteht, wie Plancks(41) Arbeit nahelegt, wie lässt sich dann noch auf Maxwells(5) Theorie der Lichtwellen vertrauen? Einstein beschließt, den Schritt hinaus auf unsicheres Terrain zu wagen und Planck(42) beim Wort zu nehmen.
Seit mehr als einem halben Jahrhundert, seit James Clerk Maxwell(6), ist Licht ein Wellenphänomen. Gegen seine physikalische Intuition hat Planck(43), als er mit dem Schwarzkörper-Problem kämpfte, sich zu der Annahme durchgerungen, dass Energie klümpchenweise absorbiert und emittiert wird. Energie fließt nicht gleichmäßig dahin, sondern wird in ganz bestimmten kleinsten Einheiten – Quanten – abgegeben oder aufgenommen. Aber er, wie alle anderen Physiker, blieb bei der Überzeugung, dass elektromagnetische Strahlung aus stetig dahinschwingenden Wellen besteht. Was sonst? Die lästigen Energieklümpchen müssen irgendwie entstehen, wenn Strahlung und Materie miteinander wechselwirken. In Einstein(14) lodert der Revolutionsgeist, der Planck(44) fehlte. Licht, ja alle elektromagnetische Strahlung, besteht nicht aus Wellen, behauptet Einstein, sondern aus teilchenartigen Quanten.
Diese verwegene Aussage steht in dem Manuskript, das in dem Umschlag steckt, den Einstein(15) am 17. März 1905 auf dem Weg zur Arbeit zur Post trägt. Der Umschlag ist adressiert an die Herausgeber der Annalen der Physik, die bedeutendste Physikzeitschrift der Welt. Das Manuskript trägt den Titel »Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt«. Einstein ist sich darüber bewusst, dass sein Vorschlag noch radikaler als der Plancks(45) ist. Licht als Teilchenstrom zu betrachten, das grenzt an Ketzerei.
Für die nächsten zwanzig Jahre wird so gut wie niemand außer Einstein(16) an die Lichtquanten glauben. Er weiß von Anfang an, dass es ein mühsamer Kampf sein wird. Mit dem Wort »heuristisch« bekennt er, dass er seinen »Gesichtspunkt« nicht für eine gründlich ausgearbeitete Theorie hält, sondern nur für eine Arbeitshypothese, ein Hilfsmittel, um das rätselhafte Verhalten des Lichts besser zu verstehen. Damit erleichtert Einstein es seinen Fachkollegen, seine Sichtweise überhaupt wahr- und hinzunehmen. Es ist ein Wegweiser zu einer neuen Theorie des Lichts. Doch auch das ist zu viel für seine Fachkollegen, die nicht anders über Licht denken können, als Maxwell(7) sie zu denken gelehrt hat. Sie brauchen Jahrzehnte, um Einstein(17) in die Dimensionen zu folgen, in die er bereits im Jahr 1905 an seinem Amtsschreibtisch aufgebrochen ist.
Und das ist erst der Anfang dessen, was der (18)Berner(6) Patentprüfer III. Klasse den Physikern in jenem Jahr 1905 zumutet. Im Mai landet ein Brief Einsteins(19) bei dessen Freund Conrad Habicht(1), der vor ein paar Monaten von Bern nach Graubünden gezogen ist, um Mathematik in einer Dorfschule zu unterrichten. Der Brief ist erkennbar in Eile geschrieben, in fahriger Schrift mit Tintenklecksen und Ausstreichungen. Einstein hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn zu datieren. Er beginnt mit ein paar Beschimpfungen, nennt Habicht einen »eingefrorenen Walfisch« und »ein getrocknetes, eingebüchstes Stück Seele«, für das er selbst »siebzig Prozent Zorn und dreißig Prozent Mitleid« empfinde. So drückt Einstein seine Zuneigung aus. Habicht fehlt ihm, er vermisst die gemeinsamen Sitzungen der Akademie Olympia.
Dann verspricht Einstein(20), seinem Freund vier Arbeiten zu schicken, von denen er hofft, dass sie noch im selben Jahr erscheinen würden. Die erste ist die über Lichtquanten. Die zweite seine Doktorarbeit, in der er einen neuen Weg beschreibt, die Größe von Atomen zu messen. In der dritten erklärt Einstein die Brown(1)sche Bewegung: den ruckelnden Tanz von Teilchen wie Blütenpollen in Flüssigkeit, über den Wissenschaftler schon seit acht Jahrzehnten rätseln. »Die vierte Arbeit liegt im Konzept vor«, schreibt Einstein, »und ist eine Elektrodynamik bewegter Körper unter Benützung einer Modifikation der Lehre von Raum und Zeit.« Als Feierabendphysiker hat Einstein durchgezogen, was Ernst Mach(5) in ihm angeregt hat, und Raum und Zeit neu erfunden. Max Planck(46), der die Arbeiten für die Annalen der Physik begutachtet, gibt der Theorie den Namen, der geradezu zu Einsteins zweitem Nachnamen werden wird: »Relativitätstheorie«.
Doch es ist nicht die Relativitätstheorie, die er in seinem Brief an Habicht(2) »sehr revolutionär« nennt, sondern seine Theorie der Lichtquanten. Es ist das einzige Mal, dass er eines seiner Werke mit diesem Wort bezeichnet: »revolutionär«. Der Gutachter Planck(47), der die von ihm selbst in die Welt gesetzten Quanten immer noch für einen vorübergehenden Rechenbehelf hält, ist überhaupt nicht einverstanden mit Einsteins(21) Teilchentheorie des Lichts. Aber er ist einverstanden damit, dass sie gedruckt wird. Wer ist dieser Berner(7) Hobbyphysiker(22), von dem plötzlich all diese großartigen und verwegenen Theorien kommen, wundert Planck(48) sich.
Allein die Arbeiten, die Einstein(23) in seinem Brief an Habicht(3) aufzählt, hätten leicht gereicht, um ihm auf ewig einen Platz in der Wissenschaftsgeschichte zu sichern. Einstein produziert sie binnen ein paar Monaten in seiner Freizeit. Nie zuvor gab es solch einen Ausbruch an Schaffenskraft bei einem Wissenschaftler. Und dann schreibt er noch eine fünfte Arbeit, die er im Brief an Habicht nicht erwähnt. In ihr leitet er die Formel E=mc2 ab.
Im Januar 1906 promoviert Einstein(24) an der Universität Zürich(3), worauf ihn das Berner(8) Patentamt zum Prüfer oder, wie er sagt, zum »Patentierknecht II. Klasse« befördert. Sein Jahresgehalt wird auf 3800 Franken erhöht. Anfang 1907 schreibt Einstein in einem Brief an einen Freund: »Mir geht es gut; ich bin ehrwürdiger eidgenössischer Tintenscheißer mit ordentlichem Gehalt. Daneben reite ich auf meinem alten mathematisch-physikalischen Steckenpferd und fege auf der Geige – beides in den engen Grenzen, welche mir mein 2-jähriger Bubi für derlei überflüssige Dinge gesteckt hat.« (25)
Paris(8) 1906
Marie(39) und Pierre(19) Curie sind inzwischen zu Stars geworden. Zeitungen veröffentlichen Homestorys über die »Idylle im Physiklabor«. Währenddessen steigert sich die Aufregung um das Radium zu einem globalen Hype. Radium soll Krebs heilen, Zähne reinigen und die sexuelle Lust befeuern. Auf den Partys der Haute Volée blinken Leuchteffekte aus Radium, in Nachtclubs treten Tänzerinnen bemalt mit Radiumfarbe auf. Überall auf der Welt entstehen Radiumfabriken, die sich um den Nachschub an Pechblende streiten. Der amerikanische Stahlindustrielle und Sportler Eben Byers(1) trinkt täglich eine Flasche Radiumwasser, um sich zu energetisieren, und stirbt qualvoll an Kieferkrebs.
Auch die Curies(40)(20) erforschen die physiologischen Wirkungen des Radiums. Sie legen sich Kautschukkapseln mit Radiumsalz auf die Haut und protokollieren, was die Strahlung mit ihrer Haut anrichtet. Zuerst entstehen Rötungen, dann Blasen und Geschwüre. In einem Versuch lässt Pierre(21) eine eher schwach radioaktive Probe für zehn Stunden auf seinem Arm. Die Wunde braucht vier Monate, um zu heilen. Marie(41) und Pierre zeigen erste Symptome dessen, was sich später als Strahlenkrankheit erweisen würde. Die Haut ihrer Hände reißt ein und entzündet sich. Pierre kann kaum noch schlafen, so stark sind seine Knochenschmerzen. Die Radioaktivität setzt sich in den Kleidern fest, die sie tragen, in dem Papier, auf das sie schreiben. Sie bringt noch mehr als hundert Jahre später die Geigerzähler(1) zum Ticken.
Eines Tages im Jahr 1906 verlässt Pierre(22) nach einem Streit mit Marie(42) das Haus. Wütend und schmerzerfüllt humpelt er durch die Straßen. An einer belebten Kreuzung an der Rue Dauphine gerät er unter ein Pferdefuhrwerk, ein Hinterrad sprengt ihm den Schädel und er stirbt. Dieser Verlust ist zu viel für Marie, sie zieht um in die Nähe seines Grabes. Seither gibt es keine Photographie mehr, auf der sie lächelt. Zwei Jahre nach Pierres(23) Tod erhält sie seinen Lehrstuhl für Physik und wird die erste Frau, die an der Sorbonne lehrt. Im Jahr 1911 bekommt sie(43) nochmals den Nobelpreis, dieses Mal für Chemie, für die Herstellung von Radium. Dieses Mal gibt es kein Fest.
Berlin(12) 1909
Berlin(13), Sommer 1909. Die Berliner(14) strömen zu Zigtausenden auf den Exerzierplatz der preußischen(4) Armee auf dem Tempelhofer Feld. Sie sind unterwegs mit Fahrrädern, mit der U-Bahn, zu Fuß. Es ist eine Zeit, in der Technik die Menschen bewegt.
Im Gedränge nehmen viele von ihnen kaum den pyramidenförmigen Holzturm mit seiner merkwürdigen Konstruktion wahr. Sie sehen nicht die Flugmaschine, die Orville Wright(1) in Amerika(2) zerlegt, in Kisten verpackt, auf einem Schiff nach Europa(5) geschickt und in Berlin(15) wieder zusammengebaut hat. Die Konstruktion an dem Holzturm schleudert Wright(2) mit seiner Maschine in die Luft, und im September 1909 erreicht er unter dem tosenden Jubel der Berliner(16) einen Höhenweltrekord von 172 Metern über dem Erdboden.
Ein paar Tage zuvor war auch Orville Wright(3) unter den Zuschauern. Er stand neben dem Kaiser auf der Tribüne, um die Fluggeräte der Deutschen zu begutachten: die Zeppeline. Graf Zeppelin(1) selbst saß am Steuer seiner Riesenzigarre. Er flog höher und weiter als Wright(4), doch die Zeppeline wirken träge und unförmig neben den filigranen Flugmaschinen der Gebrüder(1) Wright(5). Behäbig senkte der Graf den Bug in Richtung der Tribüne, zum Gruß des Kaisers. Wright(6) applaudierte höflich. Die Zeppeline sind von gestern. Die Wright(7)(2)-Flieger sind von morgen. Der nächste Weltkrieg wird auch in der Luft geführt werden.
Prag(1) 1911
April 1911. Albert Einstein(27) richtet sich in seinem Arbeitszimmer an der Deutschen Universität Prag(2) ein. Er ist gerade aus Zürich(4) hergezogen. Unter seinem Fenster liegt ein schöner Park mit alten Bäumen. Einstein wundert sich darüber, dass dort morgens nur Frauen spazieren gehen und nachmittags nur Männer. Schließlich erfährt er, dass der Park zu etwas gehört, das man in dieser Zeit eine »Irrenanstalt« nennt. »Sie sehen dort jenen Teil der Verrückten, der sich nicht mit der Quantentheorie beschäftigt«, sagt Einstein seinen Besuchern. Die Quantentheorie droht ihm selbst auf die geistige Gesundheit zu schlagen. Die Doppelnatur des Lichts und die Quanten, die er selbst in die Welt gesetzt hat, plagen ihn. Existieren sie wirklich? Er hört auf, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nachdem er auf der ersten Solvay(1)-Konferenz im November 1911 einen Vortrag über »Die Theorie der Strahlung und die Quanten« gehalten hat, beschließt er, dem Quanten-Wahnsinn ein Ende zu setzen, und widmet sich anderen Fragen mit milderen Nebenwirkungen. Er muss weg aus dem düsteren Prag(3). Auf die Empfehlung des französischen(6) Mathematikers Henri Poincaré(2), der unabhängig von ihm auf die Gleichungen der speziellen Relativitätstheorie gekommen war, bietet die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich(1) ihm eine Professur an. Im Juli 1912 kehrt er als Professor zurück an jene Hochschule, die ihm einst eine Assistentenstelle verweigerte.
Doch wieder bleibt er nicht lange. Bereits ein Jahr später empfängt Einstein(28) die Physiker Max Planck(49) und Walther Nernst(1) am Bahnhof in Zürich(5). Er kennt den Grund ihres Besuches, sie wollen ihn in die deutsche Hauptstadt holen. Aber er weiß noch nicht, was genau sie ihm zu bieten haben. 12 000 Mark Jahresgehalt, eröffnet Planck(50) ihm, das Maximalgehalt preußischer(5) Professoren, obendrein den Ehrensold der Preußischen Akademie der Wissenschaften(1), 900 Mark. Einstein ist beeindruckt. Doch er zögert, hat noch andere Offerten und erbittet einen Tag Bedenkzeit. Während Planck(51) und Nernst(2) einen Ausflug mit der Bergbahn auf die Rigi unternehmen, überdenkt Einstein ihr Angebot. Ob er annimmt, werden sie, wenn sie zurückkommen, an der Farbe der Blumen erkennen, kündigt er an. Rot bedeutet Ja, weiß heißt Nein. Als sie Einstein(29) wiedersehen, hält dieser einen roten Blumenstrauß in der Hand.
Cambridge(1) 1911
September 1911. Ein junger Däne(1), noch nicht ganz 26, kommt in der englischen(3) Universitätsstadt Cambridge(2) an. Ein Hauch von Trauer umgibt ihn, mit seinem scheuen Blick unter dicken, hängenden Brauen und den hängenden Mundwinkeln. Wenn er scharf nachdenkt, hängen auch seine Arme mit den großen Händen am Körper herab und seine Gesichtszüge erschlaffen. Dann sieht er aus »wie ein Depp«, sagt ein Kollege. Und so klingt er auch, wenn er in langsamen, bedächtigen Sätzen spricht.
Doch der Schein trügt. Bohr(2) ist von gewaltiger Kraft, körperlich und geistig. Im Winter läuft er Ski und Schlittschuh, im Sommer spielt er Fußball, diesen neumodischen Sport, der gerade von England(4) aus den Kontinent erobert. Bohr ist Torhüter beim Akademisk Boldklub, den sein Vater gegründet hat. Und er ist einer der begabtesten Wissenschaftler seiner Generation. Er muss es nur noch beweisen – der Welt und sich selbst.
Bohrs(3) wissenschaftliche Karriere begann mit einem Fehlstart. Gerade hatte er seine Dissertation über elektrische Leitung in Metallen geschrieben. Er ging davon aus, dass Elektronen die Ladung durch das Metall tragen und dabei ungehindert ihres Wegs »rumpeln« – wie Atome in einem Gas. Dieses Modell funktionierte jedoch nicht sonderlich gut. Den Doktortitel bekam er dennoch. Niemand sonst in Dänemark(2) verstand genug von Elektronen, um ihm widersprechen zu können.
In Bohr(4) dämmert der Verdacht, dass etwas nicht stimmt mit der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Vorstellung von Elektronen als winzigen, geladenen Billardkugeln. Er ist nach Cambridge(3) gereist, um beim Meister der Elektronen zu lernen: bei Joseph John Thomson(1), 55, genannt J. J., dem Leiter des berühmten Cavendish(1)-Labors, gegründet von James Clerk Maxwell(8), und Professor am Trinity College, wo einst Isaac Newton(5) lehrte. Thomson war es, der das Elektron vor 15 Jahren entdeckt hatte. Vielleicht kann Thomson(2) dem jungen Dänen helfen, seine Dissertation in einer angesehenen Fachzeitschrift unterzubringen?
Bohrs(5) großes Ziel ist es, herauszufinden, wie ein Atom funktioniert. Von den Atomen wissen Wissenschaftler bisher kaum mehr, als dass sie existieren. In Cambridge(4) wäre Bohr(6) genau am richtigen Ort, denn Thomson(3) hat das gleiche Ziel. Wenn nur die englischen(5) Umgangsformen nicht wären.
Thomson(4) ist ein angesehener Laborleiter, aber berüchtigt für seine Unbeholfenheit beim Experimentieren und im zwischenmenschlichen Bereich. Kurz nach seiner Ankunft erdreistet Bohr(7) sich, den großen Thomson auf ein paar Fehler und Ungenauigkeiten in dessen Buch Conduction of Electricity Through Gases hinzuweisen, die jedoch leicht zu beheben seien. Er sagt es fröhlich und freundlich, in stockendem Englisch(6), doch schnell wird ihm bewusst, welchen Fehltritt er gerade begangen hat. Er will Thomson nicht belehren, beteuert er, er will nur lernen, doch die Beteuerungen kommen zu spät. Thomson ist beleidigt und Bohr enttäuscht, dass Thomson(5) kein Interesse daran hat, zu erfahren, dass seine Berechnungen fehlerhaft sind.
Etwas später überlässt Bohr(8) Thomson(6) ein Manuskript mit der Bitte um Durchsicht. Nach ein paar Tagen sieht er, dass Thomson das Manuskript noch nicht angerührt hat, und spricht ihn darauf an. Auch dies entspricht nicht den Gepflogenheiten. Thomson gibt Bohr zu verstehen, dass ein junger Mann wie er unmöglich genau so viel über Elektronen wissen könne wie er selbst.
Bohr(9) hat verspielt bei den steifen Engländern(7), fortan wechselt Thomson(7) die Straßenseite, sobald er Bohr kommen sieht. Beim gemeinsamen Abendessen an den langen Tischen der Dining Hall des Trinity College will niemand neben dem Dänen mit dem traurigen Blick Platz nehmen. Es dauert Wochen, bis überhaupt wieder jemand mit ihm spricht. »Sehr interessant«, nennt Bohr seinen Aufenthalt in Cambridge(5) später, »völlig nutzlos.« »Sehr interessant«, »very interesting«, das ist Bohrs(10) Standardphrase, um ein Gespräch zu beenden, wenn sein Gegenüber Blödsinn redet, grundlos spekuliert oder zweifelhafte wissenschaftliche Hypothesen verficht. »Very interesting« – auch Cambridge(6) hat bei Bohr verspielt. Immerhin hat er nun Zeit, die dicken Romane von Charles Dickens(1) zu lesen, und sein(11) miserables Englisch verbessert sich zusehends.