Der Tod ist ein Philosoph - Tobias Hürter - E-Book

Der Tod ist ein Philosoph E-Book

Tobias Hürter

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Beschreibung

Grenzsituationen offenbaren uns radikal die Zerbrechlichkeit unseres Lebens. Tobias Hürter hat es erlebt: Auf einer Bergtour nahe der Zugspitze stürzte er ab. Es wäre ein freier Fall in den Tod gewesen, 500 Meter in die Tiefe. Erstaunlicherweise blieb er nach 37 Metern mit dem Rucksack an einer Kante hängen. Er beschreibt, was ihm in diesem Moment des drohenden Todes durch den Kopf ging und wie er seine Erfahrung als »urphilosophischen Moment« erlebt hat. Seine philosophischen Gedanken werden flankiert durch die Theorien großer Denker, von Lukrez und Platon über Heidegger und Jaspers bis zu den zeitgenössischen Philosophen. Hürter legt überzeugend den Wert der Sterblichkeit dar und damit die Erkenntnis, dass wir den Tod ohne Furcht als Bestandteil unseres Lebens akzeptieren können.

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Für Bento

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96361-9

© 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung und Umschlagillustration: Büro Jorge Schmidt, München Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

»Du lebst nur zweimal: einmal, wenn du geboren wirst, und einmal, wenn du dem Tod ins Gesicht siehst.«

James Bond, als er in Du lebst nur zweimal  von Ian Fleming zum Japaner ausgebildet wird und ein Haiku schreiben soll

Kapitel 1

37Meter

Wie der Tod mich dazu brachte, neu über mich nachzudenken

Was geht einem Menschen in den letzten Sekunden seines Lebens durch den Kopf? Viele erfahren es erst, wenn es zu spät ist, davon zu berichten. Ich erfuhr es am Allerheiligentag des Jahres 2011. An diesem goldenen Herbsttag stand ich vor der Sonne auf, fuhr mit zwei Freunden in die Berge und stürzte haarscharf am Tod vorbei. Für einen Augenblick war ich mir sicher, gleich zu sterben. Ich befürchtete es nicht nur – ich war absolut überzeugt davon, gerade meine letzten Sekunden zu erleben. Auf einmal war er da, der Tod, so nah wie die Bergstiefel an meinen Füßen, so gewaltig wie die gleißende Sonne, die mein Missgeschick beleuchtete.

Und dann war er wieder weg. Mit unwahrscheinlichem Glück landete ich 37Meter tiefer auf einem Absatz über dem Abgrund. Es folgten eine Stunde schmerzhaften Wartens, eine waghalsige Hubschrauberrettung und viele mühevolle Monate der Genesung. Der Tod jedoch hatte seine Hand von mir zurückgezogen. Allerdings nicht ohne einen nachhaltigen Eindruck bei mir zu hinterlassen. Hinter dieses Erlebnis gibt es kein Zurück. Das Gefühl, dem Tod so nah zu sein, dass ich mir ganz und gar sicher war, ihm nicht zu entkommen, verfolgte mich. Da war noch etwas, das verstanden werden wollte. Ich bewahrte es auf wie in einer inneren Vitrine. Es war mir wertvoll, aber ich wollte ihm nicht ständig ausgesetzt sein.

37Meter. Ungefähr die Höhe eines Hochspannungsmasts. Wenn man sie im freien Fall zurücklegt, braucht man etwa drei Sekunden und wird von der Erdgravitation auf eine Geschwindigkeit von knapp 100Kilometer pro Stunde beschleunigt. So war es nicht bei mir, ich bin eher hinuntergepoltert, habe daher länger gebraucht und bin etwas sanfter gelandet. Doch auch so kommt es mir wie ein Wunder vor, dass ich noch lebe. Nach allem, was zu erwarten gewesen war, hätte solch ein Sturz mich töten müssen. Immer wieder in den Monaten nach dem Absturz habe ich mir diese 37Meter, ermittelt von der Bergrettung, vor Augen geführt. Ich habe sie mit 37Schritten ausgemessen und aus der zehnten Etage des Hochhauses der Süddeutschen Zeitung in München nach unten geschaut. Große Höhen machen mir sonst nicht so viel aus, aber bei diesen 37Metern wird mir etwas schwindlig. Es ist sozusagen ein existenzieller Schwindel. Ich lebe noch, aber ich weiß nicht genau, warum.

»Es kann immer etwas passieren«, das sagt man so dahin. Auf der Autobahn, beim Bergsteigen, beim Müllrausbringen. Ziegelstein auf den Kopf. Kann vorkommen. Wird schon nicht passieren. An jenem Herbsttag ist es mir passiert. Feiertag, gutes Wetter, eine kleine Bergtour – und dann wäre ich beinahe gestorben. Unerklärlich daran ist nicht, dass es passiert ist. Das ist überaus erklärlich. Unerklärlich ist, dass ich es überlebt habe. Wir gehen an vielen Wegen vorbei, die aus dem Leben führen. Die Ungewissheit lauert überall. Um sie nicht erleben zu müssen, schaffen Menschen sich Inseln des Vertrauten: Heimat, Familie, Partnerschaft, Glauben. In Grenzsituationen, wie ich eine erleben musste, erfahren Menschen jedoch, dass all diese Vertrautheit trügt. Die Ungewissheit bleibt. Die Ungewissheit des Todes ist nicht zu bändigen. »Grenzsituationen zeigen mir das Scheitern«, sagt der Existenzphilosoph Karl Jaspers.

Viele Menschen, die dem Tod sehr nahe gekommen sind, prägt diese Erfahrung tief: Sie haben ihr Leben umgekrempelt. Viele von ihnen werden liebevoller, neugieriger, aufmerksamer gegenüber anderen Menschen. Ich auch. Aber da war noch etwas Wichtigeres. Der Beinahetod zwang mich zur Auseinandersetzung mit den großen Grundfragen: Wer bin ich? Was bleibt von mir? Was ist mir wirklich wichtig? Diese Fragen stellten sich mir mit solcher Wucht in den Weg, dass ich mich nicht mehr mit »Ja, ja, schon klar, ich werde mal sterben, aber damit beschäftige ich mich später« um sie herumwinden konnte. Mir blieb nur: »Ja, ich werde sterben. Und jetzt? Was bedeutet das? Was folgt daraus?« Natürlich wusste ich längst, dass ich sterben werde. Ich wusste es, aber ich glaubte es nicht. Wirklich anerkannt habe ich den Tod erst jetzt. Erst nachdem er persönlich bei mir vorbeigeschaut hat, bin ich bereit, mein Leben für ihn zu ändern.

Wirklich gute Freunde erkennt man daran, dass sie einem auch unangenehme Dinge sagen, die einem sonst keiner sagt. Und so sehe ich meinen Absturz als einen guten Freund. Indem er mir etwas über meinen Tod gesagt hat, hat er mir etwas über das Leben gesagt, das mir mal gesagt werden musste. Über das Leben vor dem Tod – und über das Leben nach dem Tod. Das war meine erstaunlichste Erkenntnis: An der Intuition, die Menschen aller Religionen und Zeiten hatten, ist was dran. Nach dem Tod kann es weitergehen. Zwar nicht in einem Himmel, in dem ein Gott mit Rauschebart oder 72Jungfrauen warten. Aber auf andere, nicht offensichtliche, aber auch nicht weniger interessante Weise. Das ist eine der Geschichten, die dieses Buch erzählt: meine Geschichte von der Weiterexistenz nach dem Tod. Jawohl, das ist mein Ernst: Weiterexistenz nach dem Tod. Es ist eine etwas komplizierte Geschichte. Um überzeugend zu erklären, warum gute Gründe für die Annahme sprechen, dass man nach dem Tod auf andere Weise weiterexistiert, auch wenn man nicht an die Bibel, den Koran oder die Upanishaden glaubt, brauche ich ein ganzes Buch.

Es sollte ein klares Buch werden, eines, das ohne Mystizismen und möglichst ohne Jargon auskommt; in dem philosophiert, argumentiert, begründet und das heißt: langsam gedacht wird. Schritt für Schritt auf den Grund der Dinge zu. Aber beim Schreiben musste ich sehen, dass der Grund gerade dieser Dinge, um die es hier geht, oft unvermutet tief liegt. Manche Dinge, die ungeschrieben noch so einfach scheinen, zeigen sich erst beim Aufschreiben in ihrer ganzen Vertracktheit. Das hält mich nicht davon ab, sie aufzuschreiben. Aber es ändert das Ergebnis. Herausgekommen ist kein Abschlussbericht über meine Beschäftigung mit der Endlichkeit des Menschen, sondern ein Essay, sozusagen lautes Denken in Schriftform.

Kapitel 2

Der große Zivilisator

Warum der Tod bei den Pyramiden und der Chinesischen Mauer mitgebaut hat

Es ist der Urtext der abendländischen Literatur: die Ilias, geschrieben vor ungefähr 2800Jahren von einem rätselhaften Autor namens Homer. Sie erzählt vom Krieg um Troja, weswegen viel gestorben wird. Aber auf den zweiten Blick ist der Krieg nicht das Thema der Ilias, sondern nur die Bühne. Sie ist kein Geschichtsbuch und verrät weder, wie der Krieg begann, noch, wie er endete. Das große Thema der Ilias sind die Menschen: Wie ergeht es ihnen auf dem Schlachtfeld? Wie findet Achilles den Weg durch die Kriegswirren? Immer wieder schwingen junge Krieger die Schwerter gegeneinander, immer wieder gibt es Gelegenheit, die Mutigen von den Feiglingen, die Edlen von den Hinterlistigen zu trennen. Und immer wieder geht es darum, was einen ehrenhaften Tod von einem unehrenhaften unterscheidet. Die homerischen Helden kämpfen für die Ehre und ewigen Ruhm. Der Tod ist eine Selbstverständlichkeit für sie wie Helm und Harnisch. Entscheidend ist, wie man stirbt: möglichst wie ein Mann, entschlossen, ungebeugten Hauptes. Als Achilles auf einen trojanischen Prinzen trifft und ihn mühelos besiegt, bietet dieser Achilles ein saftiges Lösegeld, wenn der ihn verschone. Achilles ist angewidert und herrscht den verängstigten Prinzen an, er solle mit dem Wimmern aufhören und sich männlich dem Tod stellen. Der Tod ist Normalität, die Ehre etwas Besonderes. Jene, die für die Ehre den Tod nicht in Kauf nehmen wollen, nennt Homer »Frauen, nicht Männer«. Mut und Männlichkeit sind in Homers Sprache synonym: andreia. Als Achilles schließlich kampfesmüde wird, tötet der trojanische Königssohn Hektor Achilles’ Freund Patroklus. Achilles, wild vor Schmerz, zieht nochmals in die Schlacht, auch wenn er ahnt, dass dies seinen Tod bedeutet. Er rächt Patroklus, indem er Hektor tötet, entscheidet den Krieg für die Griechen – und stirbt dabei den Heldentod.

Die Ilias ist eine der frühesten Darstellungen davon, wie ein Mann zum Helden wird, sprich: wie er in den Tod zu gehen hat. Vor allem das ist es, was sie zu einem Meilenstein unserer Kulturgeschichte macht. Denn der richtige Umgang mit dem Tod ist nicht nur ein großes Thema unserer Kultur, sondern das größte. Wer in ständiger Angst lebt, zu verhungern oder gefressen zu werden, kann keine großen Kunstwerke schaffen, Kathedralen bauen oder wissenschaftliche Theorien erdenken. Seit Zehntausenden Jahren trotzen Menschen dem Tod, verdrängen ihn, bekämpfen ihn, huldigen ihm. Achilles hat dieses Projekt ein großes Stück vorangebracht. Seht her, ist seine trotzige Botschaft, ich verende nicht wimmernd wie ein Tier. Ich sterbe stolz. Ich habe für etwas gelebt, und ich sterbe für etwas. Der amerikanische Kulturwissenschaftler Ernest Becker schrieb 1973 ein großartiges Buch mit dem Titel Dynamik des Todes (der amerikanische Originaltitel: The Denial of Death), in dem er der Frage nachgeht, hinter welcher Maske die Angst vor dem Tod sich versteckt. Heroismus, ist Beckers Antwort. Seine Vorstellung von der Condition humaine ist diese: Nichts bewegt den Menschen mehr als der Wunsch, sich von der Angst vor dem Tod zu befreien. Heroismus ist vor allem ein Reflex auf den Schrecken des Todes. »Die Gesellschaft selbst ist ein kodifiziertes Heldensystem, will sagen, sie ist überall in der Welt ein lebendiger und herausfordernder Mythos des Sinnes des menschlichen Daseins«, schreibt Becker. »…  alles kreative Tun des Menschen [ist] im Grunde nichts weiter als ein künstlicher Protest gegen eine natürliche Wirklichkeit …«

Doch der Trotz des Helden ist nur eine von mehreren »schöpferischen Lebensweisen« im Angesicht des Todes. Die Geschichte sei, was der Mensch aus dem Tode macht, sagte der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dieses Kapitel soll zeigen, welche Vielfalt er dabei entwickelt hat.

Vieles, was der Mensch ausschließlich für sich beansprucht, ist bereits im Tierreich angelegt: Tiere kennen Vorformen von Herrschaft, Eigentum und Ehe. Schimpansen zeigen in Versuchen Ansätze von Gerechtigkeitssinn. Auch eine Ahnung vom Tod scheinen andere Primaten zu haben: Gorillas trauern um ihre Toten. Aber wissen sie auch um ihre eigene Sterblichkeit? Sehr wahrscheinlich nicht. Das ist ein Privileg des Menschen. Wenn Archäologen ihre Funde richtig deuten, dann erzählten sich schon die Neandertaler und die früheren Vertreter des Homo sapiens Geschichten vom Leben ihrer geliebten Verstorbenen. Das ist der Unterschied zwischen trauernden Menschen und trauernden Tieren: Menschen spinnen den Tod in Geschichten ein. Tiere sind, soweit wir wissen, zu so etwas nicht fähig.

Wo ein Mensch hinschaut, sieht und schafft er Zusammenhänge. Menschen sind Sinnsucher, das unterscheidet sie von Tieren. Menschen grübeln über ihre Existenz. Im Angesicht des Todes trauern sie nicht nur, sie rätseln über die Endlichkeit ihres eigenen Daseins, über ein Leben nach dem Tod, sie zweifeln und verzweifeln. Andere Lebewesen kämpfen sich blindlings durch ihr Leben, bis es endet. »Vom Menschen abgesehen sind alle Geschöpfe unsterblich«, schrieb der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges, »da sie den Tod nicht kennen.« Irgendwann vor einigen Hunderttausend oder Millionen Jahren verstand erstmals ein Vertreter der Gattung Homo, dass auch er dereinst sterben muss. Dies war der Zündfunke zum größten Projekt der Menschheit: der Zivilisation. Die Menschen begannen, den Tod zu bannen. Sie gestalteten sich eine Lebenswelt, die sie vor den Bedrohungen der Natur schützt. Sie bewaffneten sich, erfanden die Landwirtschaft, bauten Häuser und Städte. Die Geschichte der Menschheit ist das, was die Menschen aus dem Wissen um ihre Sterblichkeit gemacht haben. Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman formuliert es knapp und radikal: »Ohne Sterblichkeit keine Geschichte, keine Kultur – keine Menschheit.«

Nur weil der Mensch um seinen Tod weiß, kann er ihm trotzen. Trotz spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Kindern, er prägt vor allem die Lebensjahre zwei bis vier, »Trotzalter« genannt. Kleinkinder trotzen ihrer Lebenswelt, in der sie zutiefst in Abhängigkeiten verstrickt sind, Autonomie ab. Mit der noch unreflektierten Kraft ihres Willens entringen sie ihrer Umwelt Zugeständnisse – ein früher Schritt zur eigenen Persönlichkeit. Auch der erwachsene Held ertrotzt sich Autonomie. Er entledigt sich seiner Todesangst, indem er ihr verwegen ins Gesicht lacht. Er verhöhnt sie, indem er sich auf die Granate wirft, um seine Kameraden zu schützen. Aber nur, weil er sich dabei heldenhaft vorkommen kann. In jedem Helden steckt ein Kleinkind. Die Welt ist ein rauer Ort zum Leben, unwirtlich, unerbittlich, gewaltig und gefährlich. Wo findet man Sicherheit in ihr, wie umfriedet man sein Revier? Indem man es ihr abtrotzt. Das in Achilles verkörperte Heldentum ist die Trotzphase der abendländischen Zivilisation in ihrem Verhältnis zum Tod.

Mit seinem Heldentod setzte Achilles einen Trend. Über die Risikogruppe der Krieger hinaus etablierte sich die Praxis, die Wichtigkeit einer Angelegenheit zu betonen, indem man für sie stirbt: die Ehre, die Heimat, die Religion, die Überzeugung. Besonders eindrucksvoll gelang dies Jesus von Nazareth. Er überwand den Tod, indem er sich ihm hingab, dafür wurde er berühmt. Doch unter Achilles’ Early Adopters waren auch auffällig viele Philosophen. Diogenes von Sinope hielt angeblich so lange den Atem an, bis er starb. Zenon von Elea soll seine Zunge abgebissen und dem Tyrannen entgegengespuckt haben, den er gerade vergeblich zu töten versucht hatte. Auch Sokrates, der Philosoph schlechthin, starb den Heldentod. Den Schriftstellern des alten Rom, den frühen Christen und den Theologen des Mittelalters galt er als vorbildlich. Allerdings war Sokrates, wie Jesus, ein Mann des gesprochenen, nicht des geschriebenen Wortes. Das Schreiben überließ er anderen, vor allem seinem Jünger und Evangelisten Platon. Sokrates lieferte Platon den Stoff für die schönsten Dialoge der Philosophiegeschichte. Dafür verhalf der Schüler dem Meister zu seinem überragenden Einfluss auf die abendländische Geistesgeschichte.

Doch es hätte durchaus anders kommen können. Zu Lebzeiten war Sokrates schlecht angesehen. Der Komödienschreiber Aristophanes verulkte ihn in seinem Stück Die Wolken als verschrobenen Pedanten, der eifrig darüber diskutiert, wie weit Flöhe springen. Erst im letzten Moment schuf Sokrates seinen Mythos: Er ging für seine Lehre in den Tod. Heute überstrahlt Platons Sokrates die Witzfigur, zu der Aristophanes ihn machte.

Wie genau Sokrates zu Tode kam, dazu widersprechen sich die Berichte. Vermutlich wurde er wegen staatszersetzender Umtriebe angeklagt. Sokrates stellt sich den Anklägern und verteidigt sich mit einer Rede, die Platon mitschrieb und zu Weltruhm brachte. Sokrates weigert sich, seinen Lehren abzuschwören, als aufrechter Zeuge der Wahrheit geht er in den Tod, mit einer Unerschrockenheit, die sogar seine engsten Gefolgsmänner in Staunen versetzt. Den Giftbecher setzt er an den Mund, als wäre es der von ihm so gern konsumierte Wein.

Sokrates’ Gelassenheit geht nach seinen von Platon überlieferten Worten darauf zurück, dass er den Tod als Lappalie betrachtete. Seiner Ansicht nach befreit der Tod die Seele vom lästigen Körper. Mit dem Tod fange das Leben erst richtig an. Ein wahrer Philosoph solle also freudig in den Tod gehen. In meinen Augen schmälert das Sokrates’ Heldentum. Denn wenn der Tod nicht fürchtenswert ist, dann ist Todesmut keine große Leistung. Aber schlimmer noch, ich vermute, Sokrates hat sich geirrt mit seiner Annahme, dass mit dem Tod das Leben so richtig losgehe. Später in diesem Buch werden wir seine Argumente prüfen.

Was Sokrates für die abendländische Philosophie ist, das ist der Brandner Kasper für die bayerische Volksmythologie. Er trotzt dem Tod auf seine Weise: Er will nicht seine Seele befreien oder als Held sterben, er will einfach gar nicht sterben. Seine beiden Söhne, »da Toni und da Girgl«, sind aus dem Haus, seine Frau verstorben, und so lebt der Brandner Kasper mit seinen 75Lenzen allein vor sich hin, in seinem Häusl zwischen Tegernsee und Schliersee. Eines Abends klopft es, das ist ungewöhnlich. Eine bleiche, hohläugige Gestalt tritt ein und stellt sich vor: »I bin da Boandlkramer.« Der leibhaftige Tod also ist gekommen, um den Brandner zu holen. Der aber ist kerngesund und fühlt sich noch zu wohl auf dieser Welt, um schon zu gehen. Der listige Schlosser schenkt dem Boandlkramer einen Kirschschnaps ein. Und noch einen. Dann schlägt er ihm ein Spiel vor: Sie sollen um seinen Abgang karteln. Solch ein Angebot ist dem Boandlkramer neu und das Kartenspielen auch, doch der Alkohol hat ihn forsch gemacht, und so spielt er mit. Der Brandner trickst ihn mit einer Karte aus seinem Jackenärmel aus. 15 weitere Jahre für ihn! Der alkoholisierte Tod wankt fluchend hinaus. Kein Mensch würde diese Geschichte für realistisch halten. Weder gibt es den Boandlkramer, noch würde er sich zum Kartenspiel herablassen, wenn es ihn gäbe. Der Mythos vom Brandner Kaspar drückt die stille Sehnsucht aus, den Tod zu überlisten wie ein bayerischer Sauhund. Der Brandner Kasper stirbt nicht für etwas. Das liegt dem Bayern fern.

Doch meine Behauptung war ja nicht, dass nur einige herausragende Vertreter unserer Kultur dem Tod trotzten, sondern dass unsere ganze Zivilisation auf dem Tod gebaut ist. Das kann man sogar wörtlich nehmen, denn der Tod arbeitete mit bei den größten Bauvorhaben der Menschheitsgeschichte: den Pyramiden der alten Ägypter und der Chinesischen Mauer. Die großen Pyramiden am Nil waren Startplätze der Verstorbenen in ihren neuen Seinsabschnitt, geometrisch so ausgerichtet, ihnen den Übergang ins Jenseits möglichst bequem zu machen. Die Chinesische Mauer wurde vom ersten Kaiser von China ausgebaut – einem Mann, dessen Leben eine einzige Flucht vor dem Tod war.

Das alte Ägypten war der bisher erfolgreichste Versuch des Menschen, die Zeit anzuhalten. Drei Jahrtausende tat sich fast nichts am Nil. Solange es ging, machten die Ägypter so weiter, wie sie es immer schon gemacht hatten, und diese Haltung prägte auch ihren Umgang mit dem Tod: Sie stellten sich das Leben nach dem Tod als nahtlose Fortsetzung des Lebens vor dem Tod vor. Doch auch drei Jahrtausende sind keine Ewigkeit. Im dritten vorchristlichen Jahrhundert hatte Alexander der Große Ägypten eingenommen. Das Römische Reich schwang sich gerade zur Großmacht auf. Die Konsuln und Senatoren ahnten allerdings nicht, dass am anderen Ende der Welt gerade eine noch größere Macht entstand: China. In seinem Buch Unsterblich erzählt der Philosoph und Diplomat Stephen Cave die Geschichte des chinesischen Nationalhelden Qin Shihuangdi. Er wurde im Jahr 259 vor Christus in China in die Zeit der Streitenden Reiche geboren. Mit 13Jahren bestieg er den Königsthron des Reiches Qin. Nicht gerade ein bequemer Sitz: Sein Vater hatte sich nur drei Jahre auf dem Thron halten können, der Vorgänger seines Vaters sogar nur zwölf Monate. Der Königshof war eine Schlangengrube: Verschwörungen, Komplotte, Anschläge. Sogar seine eigene Mutter intrigierte gegen Qin Shihuangdi, um einen ihrer jüngeren Söhne an die Macht zu bringen. Aber Qin Shihuangdi war entschlossen, den Thron zu verteidigen. Und mehr noch: Er hatte eine Vision. Seit Generationen lagen die chinesischen Königreiche miteinander im Clinch. Es war eine barbarische Zeit, in der Schlachten Hunderttausende Opfer forderten. Qin Shihuangdi träumte von einem geeinten China, in dem die Menschen in Ruhe und Frieden leben konnten, und er machte sich daran, diesen Traum zu verwirklichen – mit Gewalt natürlich. Er schickte seine schwarz gepanzerten Krieger gegen die Nachbarn aus. Wer die meisten Köpfe von Feinden zurückbrachte, wurde befördert. Ein Königreich fiel und ein weiteres. Dann wandte sich Qin Shihuangdi dem kleinen, widerspenstigen Staat Yan zu. Der Kronprinz von Yan fädelte ein Attentat gegen den Qin-König ein. Der Attentäter stürzte mit einem vergifteten Dolch auf den König zu, der die tödlichen Stöße im letzten Moment mit seinem Schwert abwehrte. Nun war Qins Zorn nicht mehr zu bremsen. Er überrannte zuerst Yan, dann die noch verbleibenden drei Kleinstaaten. China war sein. Qin Shihuangdi nannte sich der Erste Kaiser von China. Genau übersetzt, heißt sein Name »Erster erhabener Gottkaiser von Qin«.

Je höher man steigt, desto tiefer kann man fallen. Am Berg ist das klar, aber es gilt auch sonst im Leben. Wie so viele Menschen, die es zu Macht oder Reichtum gebracht haben, war Qin Shihuangdi sich besonders schmerzhaft bewusst, wie flüchtig seine Habe ist. In den Tod, so scheint es, kann man nichts davon mitnehmen, keine Macht, kein Amt, keinen Sportwagen, kein Aktiendepot. Nichts von dem, was man diesseits des Todes erworben hat.

Qin Shihuangdi verwandte all seine Macht darauf, seine Sterblichkeit auszublenden. Er ließ alle Bücher verbrennen, die nicht in sein Herrschaftssystem passten, und Schutzwälle gegen die wilden Stämme des Nordens errichten – die erste Ausbaustufe der Chinesischen Mauer. Wer seiner Untertanen es wagte, die Möglichkeit seines Todes zu erwähnen, wurde exekutiert. Er reiste durchs Land, um Mediziner und Schamanen nach ihren Anti-Aging-Tricks zu befragen, und wehrte mehrere Anschläge auf sein Leben ab. Dennoch starb er schon mit 49Jahren, vermutlich an einer Medizin, die sein Leben verlängern sollte. Er hatte kein Testament geschrieben. Nicht einmal dafür wollte er an den Tod denken.

Doch etwas von Qin Shihuangdi blieb. Mit ihm begann die fast zwei Jahrtausende währende Kaiserzeit in China. Das von Qin Shihuangdi begründete Reich überdauerte das römische Imperium, das europäische Mittelalter, die Neuzeit, Aufklärung und Industrialisierung. Wenn je ein Mensch sich mit seiner Macht verewigt hat, dann war es Qin Shihuangdi. Auch wenn er seine Unsterblichkeit nicht erlebt hat, zeigt seine Geschichte, welch erstaunliche Dinge Menschen vollbringen können, um sich vom Tode abzulenken.

Sigmund Freud hielt den Tod für die größte Triebkraft überhaupt, größer noch als die Lust. Und tatsächlich belegen psychologische Experimente, wie der Gedanke an den Tod die Menschen anstacheln kann. In den 1990er-Jahren beobachteten amerikanische Psychologen, dass eine kurze Erinnerung an ihre Sterblichkeit eine bemerkenswerte Wirkung auf die politischen und religiösen Ansichten ihrer Probanden hatte. Sie vertraten ihre eigene Religion – ob Christentum oder Judentum – im Bewusstsein ihrer Sterblichkeit nachdrücklicher und waren weniger nachsichtig mit abweichenden politischen und religiösen Ansichten. Kurzum: Das Bewusstsein der Sterblichkeit schweißt Glaubens- und Kulturgemeinschaften zusammen.

Aber auch aus der Leugnung des Todes kommt eine Energie, die die Zivilisation befeuert. Tatsächlich kann man viele unserer technischen und medizinischen Errungenschaften als gewaltiges Programm gegen den Tod verstehen. Die vorzivilisierte Menschheit war den Launen der Natur und des Schicksals ausgeliefert. Das Risiko von Krankheit oder Verletzung war groß, und wen es traf, der war oft dem Tod geweiht. Die Zivilisation hat diese Risiken nicht eliminiert, aber besser beherrschbar gemacht. Sie schützt uns vor den Bedrohungen der Natur. Die Zivilisation ist die Antwort auf die Frage, die der französische Philosoph Michel de Montaigne im 16.Jahrhundert stellte: »Wie kann man den Gedanken an den Tod abschütteln und die Empfindung, dass er uns jeden Augenblick am Kragen gepackt hält?«

In der Londoner Nationalgalerie hängt ein eigenartiges Gemälde: Die Gesandten von Hans Holbein dem Jüngeren. Auf den ersten Blick ist es ein Doppelporträt zweier Diplomaten. Auf den zweiten Blick erkennt man eine rätselhafte, lang gezogene Struktur in der unteren Bildhälfte. Sie liegt da wie selbstverständlich. Und dennoch scheint sie nicht ins Bild zu passen. Sie sprengt die Harmonie der zwei Gentlemen und ihrer Insignien. Was ist dieses Ding? Es offenbart sich nur, wenn man sich dem Bild von rechts außen nähert. Wenn man so nah dran ist, dass man das Gemälde aus einem spitzen Winkel von 27Grad betrachtet, erkennt man einen Totenschädel.

Ich kenne kein besseres Bild des Todes als dieses. Der Tod ist einerseits Teil des Bildes, er ist mittendrin, aber auf den ersten Blick gehört er nicht dazu, ist ein Fremdkörper. Man muss die Perspektive wechseln, um ihn zu erkennen. Erst aus einem extremen Winkel betrachtet, gibt er sich als Tod zu erkennen. Dafür wirkt aus dieser Perspektive der Rest des Lebens bis ins Unkenntliche verzerrt. Es gibt keine »olympische« Perspektive, aus der sich alles gleichzeitig in seinem Wesen offenbart. Wer die Perspektive nicht wechselt, wer dort verharrt, wo er ist, wer nicht suchend umherwandert, der kann nicht alles erkennen. Um den Tod zu erkennen, muss man an den Rand gehen. Um das Leben zu erkennen, muss man in die Mitte.

Ende der Leseprobe