Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus - Shoshana Zuboff - E-Book
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Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus E-Book

Shoshana Zuboff

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Beschreibung

Gegen den Big-Other-Kapitalismus ist Big Brother harmlos. Die Menschheit steht am Scheideweg, sagt die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff. Bekommt die Politik die wachsende Macht der High-Tech-Giganten in den Griff? Oder überlassen wir uns der verborgenen Logik des Überwachungskapitalismus? Wie reagieren wir auf die neuen Methoden der Verhaltensauswertung und -manipulation, die unsere Autonomie bedrohen? Akzeptieren wir die neuen Formen sozialer Ungleichheit? Ist Widerstand ohnehin zwecklos? Zuboff bewertet die soziale, politische, ökonomische und technologische Bedeutung der großen Veränderung, die wir erleben. Sie zeichnet ein unmissverständliches Bild der neuen Märkte, auf denen Menschen nur noch Quelle eines kostenlosen Rohstoffs sind - Lieferanten von Verhaltensdaten. Noch haben wir es in der Hand, wie das nächste Kapitel des Kapitalismus aussehen wird. Meistern wir das Digitale oder sind wir seine Sklaven? Es ist unsere Entscheidung! Zuboffs Buch liefert eine neue Erzählung des Kapitalismus. An ihrer Deutung kommen kritische Geister nicht vorbei.

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SHOSHANA ZUBOFF

DAS ZEITALTER DES ÜBERWACHUNGS-KAPITALISMUS

AUS DEM ENGLISCHEN VON BERNHARD SCHMID

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Gegen den Big-Other-Kapitalismus ist Big Brother harmlos.

Die Menschheit steht am Scheideweg, sagt die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff. Bekommt die Politik die wachsende Macht der High-Tech-Giganten in den Griff? Oder überlassen wir uns der verborgenen Logik des Überwachungskapitalismus? Wie reagieren wir auf die neuen Methoden der Verhaltensauswertung und -manipulation, die unsere Autonomie bedrohen? Akzeptieren wir die neuen Formen sozialer Ungleichheit? Ist Widerstand ohnehin zwecklos?

Zuboff bewertet die soziale, politische, ökonomische und technologische Bedeutung der großen Veränderung, die wir erleben. Sie zeichnet ein unmissverständliches Bild der neuen Märkte, auf denen Menschen nur noch Quelle eines kostenlosen Rohstoffs sind - Lieferanten von Verhaltensdaten. Noch haben wir es in der Hand, wie das nächste Kapitel des Kapitalismus aussehen wird. Meistern wir das Digitale oder sind wir seine Sklaven? Es ist unsere Entscheidung!

Zuboffs Buch liefert eine neue Erzählung des Kapitalismus. An ihrer Deutung kommen kritische Geister nicht vorbei.

Vita

Shoshana Zuboff ist eine amerikanische Ökonomin. Sie studierte Philosophie an der University of Chicago und promovierte in Sozialpsychologie an der Harvard University. Ab 1981 war sie Professorin an der Harvard Business School. Außerdem forscht sie in Harvard am Berkman Center for Internet and Society. Bereits 1988 schrieb sie den Best- und Longseller »In the Age of the Smart Machine«, in dem sie die technologischen Entwicklungen und die daraus resultierenden Kontrollmechanismen vorhersagte. Mit dem Begriff »Dark Google« prägte sie 2014 die Debatte um die digitale Zukunft und Big Data. Das Magazin strategy+business bezeichnet sie als eine der elf originellsten Wirtschaftsdenkerinnen und -denker der Welt. Shoshana Zuboff lebt in Maine (USA).

Erwacht im Frost und finstern Lärm der Stunde,

begehren wir nach südlich-alter Zeit,

Nacktheit und Wärme und Gelassenheit,

Geschmack von Lebenslust in reinem Munde.

Und nachts in unsern Hütten träumen wir

von Zukunftsfesten: jedem Labyrinth,

das die Musik entwirft, folgt die Musik

des Herzens unfehlbar mit ihren Schritten.

Wir neiden Flüssen, Häusern die Gewißheit,

selbst aber, zweifelnd, fehlbar, waren wir

nie wie ein großes Tor so nackt und stet

und werden nie so klar wie unsre Quellen:

nur weil wir müssen, leben wir in Freiheit,

ein Bergvolk, das sich in den Bergen bläht.

– W. H. Auden, Sonette aus China, XVIII

Ich widme dieses Buch der Vergangenheit und der Zukunft.

Im Gedenken an meinen geliebten Jim Maxmin

Im Gedenken an meinen mutigen Freund Frank Schirrmacher

Meinen Kindern Chloe Sophia Maxmin und Jacob Raphael Maxmin zu Ehren –

ich schreibe zur Stärkung eurer Zukunft und der moralischen Sache eurer Generation

INHALT

EINFÜHRUNG

Kapitel 1Heimat oder Exil in der digitalen Zukunft

Die ältesten Fragen

Requiem für ein Zuhause

Was ist Überwachungskapitalismus?

Das Beispiellose

Der Puppenspieler, nicht die Puppe

Grundriss, Themen und Quellen dieses Buches

 TEIL I: DIE GRUNDLAGEN DES ÜBERWACHUNGSKAPITALISMUS

Kapitel 2Bühne frei für den Überwachungskapitalismus

Der Apple-Hack

Die beiden Modernen

Das neoliberale Biotop

Die Instabilität der Zweiten Moderne

Eine Dritte Moderne

Der Überwachungskapitalismus füllt das Vakuum

Für eine menschliche Zukunft

Benennen und bremsen

Kapitel 3Die Entdeckung des Verhaltensüberschusses

Google ist der Pionier des Überwachungskapitalismus

Gleichgewicht der Kräfte

Die Suche nach dem Kapitalismus: Ungeduldiges Geld und der Ausnahmezustand

Die Entdeckung des Verhaltensüberschusses

Größen- beziehungsweise Massenvorteile bei der Überschussversorgung

Erfunden von Menschenhand

Der (geheime) Imperativ der Extraktion

Zusammenfassung: Logik und Operationen des Überwachungskapitalismus

1. Die Logik

2. Die Produktionsmittel

3. Die Produkte

4. Der Marktplatz

Kapitel 4Der Graben um die Burg

Menschlicher Rohstoff

Die Cry-Freedom-Strategie

Das neoliberale Erbe: schützendes Biotop

Unter dem Schutz des überwachungstechnischen Ausnahmezustands

Bollwerke

Kapitel 5Die Ausarbeitung des Überwachungskapitalismus: Annexion, Monopolisierung und Wettbewerb

Der Extraktionsimperativ

Monopolisierung der Nachschubwege

Der Enteignungszyklus

Phase 1: Übergriff

Phase 2: Gewöhnung

Phase 3: Anpassung

Phase 4: Neuausrichtung

Die Hunde der Dreistigkeit

Wettbewerb um die Enteignung

Der Sirenengesang der Überwachungserträge

Kapitel 6Die Annexion: Wissensteilung in der Gesellschaft

Die Google-Deklarationen

Wer weiß?

Das Überwachungskapital und die beiden Texte

Die neue Priesterschaft

Die Privatisierung der Wissensteilung in der Gesellschaft

Die Macht des Beispiellosen: Ein Überblick

TEIL II: DER VORMARSCH DES ÜBERWACHUNGSKAPITALISMUS

Kapitel 7Das Reality-Business

Der Vorhersageimperativ

Die sanfte Eroberung freiheitsliebender Tiere

Menschenherden

Die Realpolitik des Überwachungskapitalismus

Gewissheit um des Profits willen

Erfüllung des Unvertrags

Die Unvermeidlichkeitsdoktrin

Von Menschen gemacht

Der Boden ist bereitet

Kapitel 8Rendition: Auslieferung und Verdatung unserer Erfahrung

Der Auslieferung ausgeliefert

Der Tod von Produkten und Dienstleistungen

Die Rendition des Körpers

Kapitel 9Rendition aus den Tiefen

Personalisierung als Eroberung

Die Rendition des Selbst

Maschinenemotionen

Wenn sie kommen, um Ihre Wahrheit zu holen

Kapitel 10Lass Sie Tanzen

Aktions- beziehungsweise Handlungsvorteile

Facebook macht die Musik

Auf die Plätze, fertig, Pokémon Go!

Die Verlockungen des Überwachungskapitalismus bei Under Armour

Wie sahen sie aus, die Verhaltensmodifikationsmittel?

Kapitel 11Das Recht auf das Futur

Mein Wille zum Wollen

Unser Wille zum Wollen

Wie kamen sie damit durch?

1. Beispiellosigkeit

2. Die Deklaration als Invasion

3. Der historische Kontext

4. Die Bollwerke

5. Der Enteignungszyklus

6. Abhängigkeit

7. Eigeninteresse

8. Inklusion

9. Identifikation

10. Autorität

11. Soziale Überredung

12. Alternativlosigkeit

13. Inevitabilismus

14. Menschliche Schwäche als Ideologie

15. Unwissenheit

16. Geschwindigkeit

Die Prophezeiung

TEIL III: INSTRUMENTÄRE MACHT FÜR EINE DRITTE MODERNE

Kapitel 12Zwei Arten von Macht

Die Rückkehr zum Beispiellosen

Totalitarismus als neue Art von Macht

Ein entgegengesetzter Horizont

Der Andere

Wider die Freiheit

Eine Technologie des menschlichen Verhaltens

Utopia I und II

Kapitel 13Big Other und der Aufstieg der Instrumentären Macht

Eine neue Art Macht

Ein Marktprojekt der totalen Gewissheit

Der Fluch dieses Jahrhunderts

Das China-Syndrom

Am Scheideweg

Kapitel 14Eine Utopie der Gewissheit

Gesellschaft als das Andere

Das Streben nach Totalität beinhaltet die Gesellschaft

Angewandte Utopistik

Konfluenz als Beziehung zwischen Maschinen

Konfluenz als Gesellschaft

Kapitel 15Das instrumentäre Kollektiv

Die Priester instrumentärer Macht

Big Other frisst Gesellschaft: Die Rendition der sozialen Beziehungen

Die Prinzipien einer instrumentären Gesellschaft

1. Verhalten zum höheren Wohl

2. Pläne statt Politik

3. Sozialer Druck statt Harmonie

4. Angewandte Utopistik

5. Der Tod der Individualität

Die Dritte Moderne des Schwarms

Kapitel 16Vom Leben im Schwarm

Unsere Kanarienvögel in der Kohlengrube

Die Faust aufs Auge

Lebensbeweis

Die nächste menschliche Natur

Der Gesellungstrieb

No Exit!

Kapitel 17Das Recht auf Freistatt

Big Other läuft der Gesellschaft davon

Gerechtigkeit an der neuen Grenze der Macht

Jedes Einhorn hat seinen Jäger

SCHLUSSBETRACHTUNG

Kapitel 18Ein Putsch von oben

Freiheit und Wissen

Jenseits der Gegenseitigkeit

Der neue Kollektivismus und seine Herren der radikalen Indifferenz

Was ist Überwachungskapitalismus?

Überwachungskapitalismus und Demokratie

Seid Sand im Getriebe

DANK

ANHANG

ANMERKUNGEN

1. Heimat oder Exil in der digitalen Zukunft

2. Bühne frei für den Überwachungskapitalismus

3. Die Entdeckung des Verhaltensüberschusses

4. Der Graben um die Burg

5. Die Ausarbeitung des Überwachungskapitalismus: Annexion, Monopolisierung und Wettbewerb

6. Die Annexion: Wissensteilung in der Gesellschaft

7. Das Reality-Business

8. Rendition: Auslieferung und Verdatung unserer Erfahrung

9. Rendition aus den Tiefen

10. Lass sie tanzen

11. Das Recht auf das Futur

12. Zwei Arten von Macht

13. Big Other und der Aufstieg der instrumentären Macht

14. Eine Utopie der Gewissheit

15. Das instrumentäre Kollektiv

16. Vom Leben im Schwarm

17. Das Recht auf Freistatt

18. Ein Putsch von oben

REGISTER

Überwachungskapitalismus, der

1. Neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert; 2. eine parasitäre ökonomische Logik, bei der die Produktion von Gütern und Dienstleistungen einer neuen globalen Architektur zur Verhaltensmodifikation untergeordnet ist; 3. eine aus der Art geschlagene Form des Kapitalismus, die sich durch eine Konzentration von Reichtum, Wissen und Macht auszeichnet, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist; 4. Fundament und Rahmen einer Überwachungsökonomie; 5. so bedeutend für die menschliche Natur im 21. Jh. wie der Industriekapitalismus des 19. und 20. Jhs. für die Natur an sich; 6. der Ursprung einer neuen instrumentären Macht, die Anspruch auf die Herrschaft über die Gesellschaft erhebt und die Marktdemokratie vor bestürzende Herausforderungen stellt; 7. zielt auf eine neue kollektive Ordnung auf der Basis totaler Gewissheit ab; 8. eine Enteignung kritischer Menschenrechte, die am besten als Putsch von oben zu verstehen ist – als Sturz der Volkssouveränität.

EINFÜHRUNG

Kapitel 1Heimat oder Exil in der digitalen Zukunft

Ihn sah ich auf der Insel die bittersten Tränen vergießen,

In dem Hause der Nymphe Kalypso, die mit Gewalt ihn

Hält; und er sehnt sich umsonst nach seiner heimischen Insel

– Homer, Odyssee

Die ältesten Fragen

»Arbeiten wir dann künftig alle für eine intelligente Maschine, oder haben wir intelligente Menschen um die Maschine herum?« Diese Frage stellte mir 1981 der junge Manager einer Papierfabrik zwischen Backfisch und Nusstorte an meinem ersten Abend am Standort seines riesigen Betriebs, einer kleinen Stadt im Süden der Vereinigten Staaten, die mir die nächsten sechs Jahre über selbst immer mal wieder zum Zuhause werden sollte. An dem verregneten Abend beschäftigten mich seine Worte so sehr, dass ich darüber ganz das anschwellende Trommeln der Regentropfen auf der Markise über unserem Tisch vergaß. Ich erkannte in ihr eine der ältesten Fragen der Politik: Heimat oder Exil? Souverän oder Untertan? Herr oder Knecht? Wir sprechen hier von ewigen Themen wie Wissen, Autorität und Macht, die nie ein für alle Mal zu klären sein werden. Geschichte hat kein Ende; jede Generation muss ihren Willen und ihre Vorstellungen erneut durchsetzen, ihren Fall aufs Neue zur Verhandlung bringen, da jede Epoche neue spezifische Bedrohungen bringt.

»Was meinen Sie?« Kam der frustriert insistierende Ton des Fabrikleiters daher, dass er sonst niemanden fragen konnte? »Welche Richtung sollen wir einschlagen? Ich muss das wissen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Da mir selbst nach Antworten war, nahm damals das Projekt seinen Anfang, aus dem dann – vor dreißig Jahren – mein erstes Buch werden sollte: In the Age of the Smart Machine: The Future of Work and Power. Und das wiederum wurde das erste Kapitel meiner lebenslangen Suche nach einer Antwort auf die Frage »Kann die digitale Zukunft uns eine Heimat sein?«.

Jener linde Abend im Süden liegt Jahre zurück, aber die ältesten Fragen beschäftigen mich heute mehr denn je. Der Vormarsch der Digitalisierung sorgt für eine Neudefinition auch des letzten Aspekts unserer eben noch so vertrauten Welt, ohne uns auch nur eine Chance zu lassen, eine durchdachte Entscheidung darüber zu fällen. Wir loben die vernetzte Welt der vielschichtigen Bereicherung unserer Möglichkeiten und Aussichten wegen über den grünen Klee, aber da sie uns der Geborgenheit einer berechenbaren Zukunft beraubt, beschert sie uns auch eine Vielzahl neuer Ängste, Gefahren und Formen von Gewalt.

Stellen wir heute abermals die ältesten Fragen, stehen Milliarden von Menschen aller sozialen Schichten, aller Generationen, steht die Gesellschaft an sich in der Pflicht. Informations- und Kommunikationstechnologien erreichen heute drei der sieben Milliarden Erdbewohner und sind damit weiter verbreitet als selbst die Elektrizität.1 Das komplexe Dilemma um Wissen, Autorität und Macht beschränkt sich nicht mehr nur auf den Arbeitsplatz wie in den 1980er-Jahren; seine Wurzeln durchziehen heute die Erfordernisse des Alltags, vermitteln sie doch fast jeden Aspekt unseres sozialen Miteinanders.2

Noch gestern schien es durchaus vernünftig, unser Augenmerk auf die Herausforderungen des Informationsarbeitsplatzes, eventuell auch auf eine Informationsgesellschaft zu konzentrieren. Heute müssen wir uns die ältesten Fragen im weitesten Sinne stellen – im Sinne der »Zivilisation« an sich, müsste man wohl sagen, oder spezifischer im Sinne einer Informationszivilisation. Wird die sich so herausbildende Zivilisation sich als etwas erweisen, was sich als Heimat bezeichnen lässt?

Jede Kreatur richtet sich an einer Heimat aus. Das Zuhause ist der Ausgangspunkt, an dem jede Spezies sich orientiert. Völlig unmöglich, uns ohne diese Ausnordung in einer Terra incognita zu orientieren; ohne sie sind wir verloren. Daran erinnert mich jedes Frühjahr das Seetaucherpärchen, das von seiner weiten Reise in sein Nest unter unserem Fenster zurückkehrt. Die eindringlichen Schreie, mit denen die beiden Heimkehr, Erneuerung, Verbundenheit und Geborgenheit feiern, lassen uns abends in der Gewissheit einschlafen, dass auch wir dort sind, wo wir hingehören. Die Grüne Meeresschildkröte bahnt sich nach dem Ausschlüpfen ihren Weg ins Meer, wo sie zehn, zwanzig Jahre lang Tausende von Kilometern zurücklegt; nach Erreichen der Geschlechtsreife findet sie zum Ablegen der Eier zurück an den Strand, an dem sie geboren wurde. Es gibt Vögel, die jedes Jahr Tausende von Kilometern zurücklegen und dabei die Hälfte ihres Körpergewichts verlieren, nur um sich am Ort ihrer Geburt zu paaren. Vögel, Bienen, Schmetterlinge … Nester, Bauten, Bäume, Seen, Stöcke, Hügel, Senken, Gestade … so gut wie jede Kreatur verfügt über die eine oder andere Spielart tiefer Verbundenheit mit einem Ort, mit dem sie die Vorstellung eines guten Lebens verbindet, mit einem Zuhause, wie wir sagen würden.

Es liegt in der Natur menschlicher Ortsverbundenheit, dass jede Reise, jede Vertreibung die Suche nach einem Zuhause auslöst. Dass dieser nóstos, diese Heimkehr, eines unserer tiefsten Bedürfnisse ist, wird deutlich in dem Preis, den wir dafür zu zahlen bereit sind. Uns allen ist eine schmerzliche Sehnsucht nach der Rückkehr an den Ort gemein, den wir verlassen haben, oder danach, eine neue Heimat zu finden, in der unsere Hoffnungen für die Zukunft nisten und sich entfalten können. Noch heute lesen und erzählen wir von den Prüfungen des Odysseus, auf dass wir nicht vergessen, was Menschen zu opfern, was sie zu ertragen bereit sind, um ihre heimischen Gestade zu erreichen und durch ihr eigenes Tor zu gehen.

Da unser Gehirn nun einmal größer ist als das von Vögeln und Meeresschildkröten, wissen wir, dass es nicht immer möglich, ja noch nicht einmal ausnahmslos wünschenswert ist, zu einem bestimmten Flecken Erde zurückzukehren. Heimat muss also nicht immer einem einzigen Zuhause, einem bestimmten Ort entsprechen; wir können uns ihre Beschaffenheit ebenso aussuchen wie ihre Verortung, nicht aber ihre Bedeutung. Heimat ist, wo wir Menschen kennen und wo wir den Menschen bekannt sind, wo wir lieben und wo wir geliebt werden. Heimat ist Souveränität, Stimme, Beziehungen und Freistatt – teils Freiheit, teils Entfaltung, teils Zuflucht, teils Chance.

Das Gefühl, dass einem die Heimat entgleitet, zeitigt ein schier unerträgliches Sehnen in uns. Die Portugiesen haben ein spezielles Wort für diese spezifische Art von Wehmut: saudade; es steht seit Jahrhunderten für Heimweh und das Fernweh unter Emigranten zugleich. Heute haben die Verwerfungen des 21. Jahrhunderts aus diesen heftigen Ängsten und den aus der Entwurzelung geborenen Sehnsüchten eine universelle Befindlichkeit gemacht; keiner von uns kann sich ihr entziehen.3

Requiem für ein Zuhause

Im Jahr 2000 arbeitete eine Gruppe von Informatikern und IT-Ingenieuren der Technischen Hochschule in Atlanta, Georgia, an einem Projekt mit dem Namen »Aware Home«.4 Gedacht war dieses als »lebendes Labor« für eine Studie über »ubiquitäres Computing«. Man stellte sich eine »Symbiose von Mensch und Zuhause« vor, bei der zahlreiche unbelebte und belebte Prozesse über ein ausgeklügeltes Netzwerk »kontextsensitiver Sensoren« erfasst werden sollten, die überall im Haus und an von den Hausbewohnern getragenen »anziehbaren« Computern angebracht sein sollten. Das Design sah eine »automatisierte WLAN-Kollaboration« zwischen einer Plattform als Host für die persönlichen, von den »Wearables« der Hausbewohner übertragenen Informationen und einer zweiten Plattform als Host für die von allen anderen Sensoren übertragenen Umgebungsinformationen vor.

Es gab drei Arbeitshypothesen: Erstens gingen die Forscher davon aus, dass die neuen Datensysteme ein ganz neues Wissensgebiet hervorbringen würden. Zweitens galt es als selbstverständlich, dass die Rechte an dem neuen Wissen und die Macht, dieses lebensverbessernd einzusetzen, ausschließlich den Hausbewohnern zustanden. Drittens sah das Team das »bewusste Zuhause« bei aller digitalen Hexerei als moderne Inkarnation der traditionellen Vorstellung eines »Heims«: als Zufluchtsort für die, die innerhalb seiner Mauern wohnen.

Die Annahmen fanden ihren Ausdruck in der technischen Anlage, die Vertrauen, Einfachheit, Souveränität des Individuums und die Unantastbarkeit des Zuhauses als privater Bereich betonte. Man dachte sich das Informationssystem des Projekts als einfachen »geschlossenen Kreislauf« mit nur zwei Knoten, der allein von den Bewohnern des Hauses zu kontrollieren war. Da das Haus »Aufenthaltsort und Aktivitäten seiner Bewohner rund um die Uhr … selbst in medizinischer Hinsicht beobachten würde«, bestünde »die klare Notwendigkeit, die Bewohner über Kontrolle und Verteilung dieser Informationen aufzuklären«. Sämtliche Informationen sollten in den Wearables gespeichert werden, »um sicherzugehen, dass der Schutz der Privatsphäre des Einzelnen gewahrt« bliebe.

2018 schätzte man den Wert des weltweiten »Smart-Home«-Markts auf 36 Milliarden Dollar und ging davon aus, dass er bis 2023 151 Milliarden erreichen würde.5 Unter der Oberfläche dieser Zahlen verbirgt sich ein Erdrutsch. Nehmen wir nur eines der Smart-Home-Geräte heraus: den Thermostat der Alphabet-Tochter Nest Labs, mit der Google 2018 fusionierte.6 Der Nest-Thermostat erledigt eine ganze Reihe der Dinge, die man sich für das Aware Home vorgestellt hatte. Er sammelt Daten über seinen Einsatz und seine Umgebung. Er ist »lernfähig« und arbeitet mit Bewegungssensoren und Rechnern, um das Verhalten der Hausbewohner zu erfassen. Nests Apps sind darüber hinaus in der Lage, die Daten anderer Produkte im Netz zu erfassen – Autos, Öfen, Fitness-Tracker, Betten.7 Solche Systeme können zum Beispiel Licht einschalten, wenn sie eine ungewöhnliche Bewegung wahrnehmen, und Video- und Audioaufnahmen veranlassen; sie können sogar Nachrichten an die Hausbesitzer oder andere verschicken. Als Resultat der Fusion von Nest und Google wird man den Thermostat mit Googles AI-Fähigkeiten ausstatten, zu denen etwa der digitale »Assistent« des Unternehmens gehört.8 Wie das Aware Home schaffen der Thermostat und seine Brüder unermessliches neues Wissen und damit neue Macht – nur für wen?

WLAN-fähig und vernetzt wie er ist, werden die personalisierten Datenschätze des Thermostats auf Googles Server geladen. Jeder Thermostat wird mit Datenschutzerklärung, Nutzungsbestimmungen und Endnutzer-Lizenzvertrag ausgeliefert. Diese geben Auskunft über die erdrückenden Datenschutz- und Sicherheitsrichtlinien, nach denen man hochsensible persönliche und Informationen über den Haushalt weitergibt: an andere intelligente Geräte, an ungenanntes Personal sowie an unbeteiligte Dritte zur Erstellung prädiktiver Analysen – zu schweigen vom Verkauf der Daten an andere nicht näher genannte Parteien. Nest übernimmt herzlich wenig Verantwortung für die Sicherheit der Informationen, die man sammelt, und überhaupt keine dafür, wie andere Unternehmen in seinem Ökosystem damit umgehen.9 Eine detaillierte Analyse von Nests Konditionen durch zwei Forscher an der University of London kam zu folgendem Schluss: Ließe man sich auf Nests Ökosystem vernetzter Geräte und Apps – von denen jedes seine eigenen nicht weniger umständlichen und dreisten Bedingungen mit sich bringt – ein, würde der Kauf eines einzigen Thermostats die Prüfung fast tausend sogenannter »Verträge« erfordern.10

Sollte der Kunde Nests Konditionen nicht annehmen, so heißt es in den Nutzungsbedingungen, wären nicht nur Funktionalität und Sicherheit des Thermostats kompromittiert, der Kunde würde sich auch des Supports und damit der Updates begeben, die die zuverlässige Funktion und Sicherheit des Geräts garantieren. Was alle möglichen Folgen haben könnte, von eingefrorenen Rohren über einen nicht ausgelösten Feueralarm bis hin zum gehackten Heimfunknetz.11

Mit anderen Worten: Die Annahmen des Aware-Home-Teams waren 2018 vom Winde verweht. Wo sind sie geblieben? Was war das für ein Wind? Das »bewusste Zuhause« stellte sich, wie so manch anderes visionäre Projekt, eine digitale Zukunft vor, die den Einzelnen dazu befähigt, ein effektiveres Leben zu führen. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, dass im Jahr 2000 diese Vision ganz selbstverständlich von einer kompromisslosen Zusage an die Intimität der persönlichen Erfahrung ausging. Sollte sich eine Person zu einer digitalen Erfassung ihrer Erfahrung entschließen, sie hätte sowohl den alleinigen Zugang zu dem aus solchen Daten gewonnenen Wissen als auch das alleinige Recht, darüber zu entscheiden, was mit diesem Wissen geschieht. Heute ist dieses Recht auf Privatsphäre, Wissen und seine Anwendung Opfer eines kühnen Marktabenteuers geworden, dessen Motor die einseitigen Ansprüche auf anderer Menschen Erfahrungen und das aus ihnen gewonnene Wissen sind. Was bedeutet dieser Wandel für uns, für unsere Kinder und für die Möglichkeit einer Zukunft des Menschen in einer digitalen Welt? Dieses Buch versucht eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Es geht um die Verfinsterung des digitalen Traums und dessen rapide Mutation zu einem ganz und gar neuen gefräßigen kommerziell orientierten Projekt, dem ich den Namen Überwachungskapitalismus gegeben habe.

Was ist Überwachungskapitalismus?

Überwachungskapitalismus beansprucht einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten. Ein Teil dieser Daten dient der Verbesserung von Produkten und Diensten, den Rest erklärt man zu proprietärem Verhaltensüberschuss, aus dem man mithilfe fortgeschrittener Fabrikationsprozesse, die wir unter der Bezeichnung »Maschinen- oder künstliche Intelligenz« zusammenfassen, Vorhersageprodukte fertigt, die erahnen, was sie jetzt, in Kürze oder irgendwann tun. Und schließlich werden diese Vorhersageprodukte auf einer neuen Art von Marktplatz für Verhaltensvorhersagen gehandelt, den ich als Verhaltensterminkontraktmarkt bezeichne. So erpicht wie zahllose Unternehmen darauf sind, auf unser künftiges Verhalten zu wetten, haben Überwachungskapitalisten es mittels dieser Operationen zu immensem Wohlstand gebracht.

Wie wir in den kommenden Kapiteln sehen werden, zwingt die Wettbewerbsdynamik die Überwachungskapitalisten zum Erwerb immer aussagekräftigerer Quellen für Verhaltensüberschuss, wie sie etwa unsere Stimmen, Persönlichkeiten und Emotionen darstellen. Und schließlich sind sie dahintergekommen, dass man die aussagekräftigsten Verhaltensdaten überhaupt durch den aktiven Eingriff in den Stand der Dinge bekommt, mit anderen Worten, indem man Verhalten anstößt, herauskitzelt, tunt und in der Herde in Richtung profitabler Ergebnisse treibt. Motor dieser Entwicklung ist der Wettbewerbsdruck; Ergebnis dieses Wandels ist, dass automatisierte Maschinenprozesse unser Verhalten nicht nur kennen, sondern auch in einer wirtschaftlichen Größenordnung auszuformen vermögen. Angesichts dieser Abwendung vom bloßen Wissen hin zur Machtausübung genügt es nicht mehr, den Fluss der Informationen über uns zu automatisieren. Das neue Ziel besteht darin, uns selbst zu automatisieren. In dieser Evolutionsphase des Überwachungskapitalismus werden die Produktionsmittel zunehmend komplexen und umfassenden »Verhaltensmodifikationsmitteln« untergeordnet. Auf diese Weise gebiert der Überwachungskapitalismus eine neue Spezies von Macht, die ich als Instrumentarismus bezeichne. Instrumentäre Macht kennt und formt menschliches Verhalten im Sinne der Ziele anderer. Anstatt Waffen und Armeen bedient sie sich zur Durchsetzung ihres Willens eines automatisierten Mediums: der zunehmend allgegenwärtigen rechnergestützten Architektur »intelligenter« vernetzter Geräte, Dinge und Räume.

In den folgenden Kapiteln folgen wir dem Wachstum und der Ausbreitung dieser Operationen und der instrumentären Macht, die sie stützt. Es ist schwierig geworden, diesem kühnen Marktprojekt zu entkommen, reichen seine Tentakel doch mittlerweile von der sachten Beeinflussung argloser Pokémon-Go-Spieler, ihr Geld in Restaurants, Bars, Imbissstuben und Geschäfte zu tragen, die für ihre Wetten auf den Verhaltensterminkontraktmärkten bezahlen, bis hin zur skrupellosen Enteignung von Facebook-Profilen zum Zweck der Ausformung individuellen Verhaltens – sei es der Kauf einer Pickelsalbe freitags um Viertel vor sechs, der Klick auf ein Paar Laufschuhe während des Endorphinschubs nach dem Jogging am Sonntagmorgen oder die Parlamentswahl kommende Woche. So wie der Industriekapitalismus sich zur fortwährenden Weiterentwicklung der Produktionsmittel für die Herstellung preiswerter Produkte gezwungen sah, so sind die Überwachungskapitalisten und ihr Klientel heute Sklaven der fortwährenden Weiterentwicklung ihrer Mittel zur Verhaltensmodifikation und der zunehmenden Gewalt instrumentärer Macht.

Der Überwachungskapitalismus läuft dem ursprünglichen digitalen Traum zuwider; das ursprüngliche Konzept des »bewussten Zuhauses« ist dank seiner längst obsolet. Er macht Schluss mit der Illusion, der vernetzten Form eigne so etwas wie eine immanente Moral – dass »verbunden« zu sein doch essenziell prosozial und integrativ sein müsse oder von Natur aus zur Demokratisierung von Wissen neige. Digitales Verbundensein ist heute ein Mittel zu anderer Leute geschäftlichen Zielen. Im Grunde seines Wesens ist der Überwachungskapitalismus parasitär und selbstreferenziell. Er haucht der alten Vorstellung vom Kapitalismus als sich von der Arbeit nährendem Vampir neues Leben ein – wenn auch mit einem von Marx nicht vorhergesehenen Dreh: Anstatt von Arbeit nährt der Überwachungskapitalismus sich von jeder Art menschlicher Erfahrung.

Erfunden und perfektioniert hat den Überwachungskapitalismus Google, und zwar so ziemlich auf dieselbe Art, wie General Motors den Managementkapitalismus erfunden und zur Vollendung gebracht hat. Google war der Pionier des Überwachungskapitalismus sowohl in der Theorie als auch in der Praxis; Google hatte das Geld für Forschung und Entwicklung; Google bahnte hinsichtlich Experiment und Implementierung den Weg. Nur dass das Unternehmen diesen Weg heute nicht mehr alleine geht. Der Überwachungskapitalismus breitete sich rasch auf Facebook und Microsoft aus, und es gibt Hinweise darauf, dass auch Amazon diesen Weg eingeschlagen hat. Und für Apple stellt er als Bedrohung von außen wie als Auslöser interner Debatten eine unablässige Herausforderung dar.

Als Pionier des Überwachungskapitalismus hat Google eine beispiellose Marktoperation losgetreten, einen Vorstoß in die unkartierten Weiten des Internets, wo es mangels Gesetz oder Wettbewerb so gut wie keine Hindernisse gab – die Analogie mit einer invasiven Spezies in einem Ökosystem ohne natürliche Feinde drängt sich auf. Man zögerte nicht, sich bestehenden Rechts zu bedienen, um sein Anrecht auf diesen rechtsfreien Raum geltend zu machen, und betrieb die systemische Geschlossenheit seiner Geschäfte mit einem halsbrecherischen Tempo, dem weder der Staat noch der Privatmensch zu folgen vermochte. Außerdem profitierte Google von den Wendungen der Geschichte. Da ein nationaler Sicherheitsapparat sich nach 9 / 11 zum Handeln gezwungen sah, zeigte er sich, um der Allwissenheit und ihres Gewissheitsversprechens willen, mehr als geneigt, Googles im Entstehen begriffene Möglichkeiten zu hegen, nachzuahmen, zu schützen, sich diese nötigenfalls sogar anzueignen.

Rasch erkannten die Überwachungskapitalisten, dass sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Im modischen Gewand von Anwaltschaftlichkeit und Emanzipation machte man sich die Ängste der Zweiten Moderne zunutze, während die eigentliche Arbeit hinter den Kulissen stattfand. Die Tarnkappe, unter der man dabei arbeitete, wob man zu gleichen Teilen aus der Rhetorik eines zu Ungeahntem befähigenden Internets, einer flinken Vorgehensweise, der Gewissheit eines immensen Ertragsstroms und der Schutzlosigkeit des unzivilisierten Territoriums, das da zu erobern war. Sie arbeiteten dabei im Schutz der Unlesbarkeit automatisierter proprietärer Prozesse, der Unwissenheit, die diese Prozesse erzeugen, sowie dem Gefühl der Unabwendbarkeit, das sie befördern.

Der Überwachungskapitalismus beschränkt sich längst nicht mehr auf den dramatischen Wettbewerb zwischen den großen Internetfirmen, deren Verhaltensterminkontraktmärkte zunächst nur auf die Online-Werbung gerichtet waren; seine ökonomischen Imperative und Mechanismen sind zum Standardmodell praktisch aller webbasierten Unternehmen geworden. Und schließlich sorgte der Wettbewerbsdruck dann auch für die Ausdehnung in die Offline-Welt, wo dieselben Grundmechanismen, die Sie online Ihres Browserverhaltens, Ihrer »Likes« und Klicks enteignen, auf Ihr Jogging im Park, auf Ihre Frühstückskonversation und auf Ihre Jagd nach einem Parkplatz gerichtet sind. Und die Verhaltensterminkontraktmärkte, auf denen heute Vorhersageprodukte gehandelt werden, erstrecken sich weit über die zielgerichtete Online-Werbung hinaus auf zahlreiche andere Geschäftsfelder, so etwa Versicherungen, Einzelhandel, Finanzwesen und ein wachsendes Spektrum von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, die fest entschlossen sind, an diesen neuen und profitablen Märkten teilzuhaben. Egal, ob es um »intelligente« Geräte für zuhause geht, um »verhaltensorientierte« Versicherungsprämien oder irgendeine von Tausenden von anderen Transaktionen, wir sehen uns entmündigt und müssen dafür auch noch bezahlen.

So gesehen sind die Produkte und Dienstleistungen des Überwachungskapitalismus mitnichten die Objekte eines Wertaustauschs; von einer konstruktiven Reziprozität zwischen Produzent und Konsument kann hier keine Rede mehr sein. Vielmehr sind sie »Köder«, die die Nutzer in seine ausbeuterischen Operationen locken, in denen man ihre persönliche Erfahrungswelt ausschlachtet und als Mittel zu anderer Leute Ziele verpackt und verkauft. Weder sind wir die »Kunden« des Überwachungskapitalismus, noch gilt das Motto »wenn es nichts kostet, bist du das Produkt«. Wir sind die Quellen für den alles entscheidenden Überschuss des Überwachungskapitalismus – die Objekte einer technologisch fortgeschrittenen und zunehmend unentrinnbaren Operation zur Rohstoffgewinnung. Die eigentlichen Kunden des Überwachungskapitalismus sind die Unternehmen, die ihre Wetten auf seinen Märkten für künftiges Verhalten platzieren.

Diese Logik macht unser Alltagsleben zur täglichen Erneuerung eines zeitgenössischen faustischen Pakts. »Faustisch« deshalb, weil es uns – trotz des Umstands, dass das, was wir dafür geben müssen, unser Leben auf immer verändern wird – nahezu unmöglich ist, uns diesem Pakt zu entziehen. Bedenken Sie Folgendes: Das Internet ist unabdingbar geworden für soziale Teilhabe; das Internet ist heute vom Kommerz bestimmt; dieser Kommerz ist heute dem Überwachungskapitalismus untergeordnet. Unsere Abhängigkeit steht demnach im Herzen des kommerziellen Überwachungsprojekts, in dem unser gefühltes Bedürfnis nach einem effektiven Leben mit der Neigung ringt, seinen dreisten Eingriffen zu widerstehen. Dieser Konflikt sorgt für eine seelisch-geistige Abstumpfung, die uns dickfellig macht gegenüber der Realität, getrackt, geparst, ausgewrungen und modifiziert zu werden. Sie sorgt für eine Neigung, uns die Lage in einer Art zynischer Resignation schönzureden, uns mit Ausflüchten – »ich habe ja nichts zu verstecken« – zu verteidigen oder den Kopf sonst wie in den Sand zu stecken. Wir entscheiden uns also aus Überdruss und Hilflosigkeit für die Unwissenheit.12 So zwingt uns der Überwachungskapitalismus, eine von Grund auf illegitime Entscheidung zu treffen, die eines Individuums im 21. Jahrhundert unwürdig ist. Und dass sie zum Normalfall wird, lässt uns, obschon in Ketten gelegt, auch noch jubilieren.13

Der Überwachungskapitalismus operiert mittels dieser beispiellosen Asymmetrien an Wissen und der Macht, die damit einhergeht. Überwachungskapitalisten wissen alles über uns, während ihre Operationen so gestaltet sind, uns gegenüber unkenntlich zu sein. Überwachungskapitalisten entziehen uns unermessliche Mengen neuen Wissens, aber nicht für uns; sie sagen unsere Zukunft nicht zu unserem, sondern zu anderer Leute Vorteil voraus. Solange wir dem Überwachungskapitalismus und seinen Verhaltensterminkontraktmärkten zu florieren gestatten, solange wird der Besitz der neuen Verhaltensmodifikationsmittel den Besitz der Produktionsmittel als Ursprung kapitalistischen Wohlstands und der Macht im 21. Jahrhundert in den Schatten stellen.

Wir werden diese Tatsachen und ihre Auswirkungen auf unser individuelles Leben, unsere Gesellschaften und unsere sich herausbildende Informationszivilisation in den folgenden Kapiteln genauer unter die Lupe nehmen. Die Indizien, so wie ich sie verstehe, legen den Schluss nahe, dass es sich beim Überwachungskapitalismus um eine aus dem Ruder gelaufene, von neuartigen ökonomischen Imperativen getriebene Kraft handelt, die nicht nur soziale Normen ignoriert, sondern auch die Naturrechte aufhebt, die wir mit der Souveränität des Einzelnen verbinden und auf denen jede Möglichkeit von Demokratie an sich baut.

So wie die Industriezivilisation auf Kosten der Natur florierte und uns heute die Erde zu kosten droht, wird eine vom Überwachungskapitalismus und seiner instrumentären Macht geprägte Informationszivilisation auf Kosten der menschlichen Natur florieren, womit sie uns unser Menschsein zu kosten droht. Das industrielle Erbe eines Klimadesasters erfüllt uns mit Schrecken, Gewissensbissen und Angst. Vor welchem ungeahnten Erbe von Schädigungen und Gewissensbissen werden sich dann künftige Generationen sehen, wenn der Überwachungskapitalismus die beherrschende Form des Informationskapitalismus unserer Zeit werden sollte? Wenn Sie diese Zeilen lesen, wird die Reichweite dieser neuen Form bereits weiter zugenommen haben, schließlich machen immer mehr Unternehmen, Start-ups, App-Entwickler und Investoren unter dem Banner dieser plausibelsten aller Versionen des Informationskapitalismus mobil. Diese Mobilisierung und der Widerstand, den sie zeitigt, werden eines der wesentlichen Schlachtfelder im Kampf um die Möglichkeit einer menschlichen Zukunft an der neuen Grenze der Macht definieren.

Das Beispiellose

Unter den Gründen für die zahlreichen Triumphe des Überwachungskapitalismus ragt einer deutlich hervor: seine Beispiellosigkeit. Das Beispiellose ist seinem Wesen nach nicht zu erkennen. Begegnet uns etwas Beispielloses, interpretieren wir es zwangsläufig durch die Optik vertrauter Kategorien, was es uns unmöglich macht, es tatsächlich zu sehen. Ein klassisches Beispiel ist die Vorstellung vom »pferdelosen Wagen«, auf welche die Leute zurückgriffen, als sie sich zum ersten Mal mit dem beispiellosen Faktum eines »Motorwagens« konfrontiert sahen. Und ein tragisches Beispiel ist die Begegnung indigener Völker mit den Konquistadoren. Wie um alles in der Welt hätten die Taíno der präkolumbianischen Karibikinseln, als sie zum ersten Mal verschwitzte bärtige spanische Soldaten in Brokat und Brustpanzer den Sandstrand heraufstapfen sahen, Bedeutung und Tragweite dieses Augenblicks ahnen sollen? Unfähig, sich die eigene Vernichtung vorzustellen, hielten sie die merkwürdigen Kreaturen für Götter und hießen sie mit der gebotenen Gastfreundschaft willkommen. So sperrt sich das Beispiellose zwangsläufig unserem Verständnis, denn bestehende Sichtweisen heben das Vertraute hervor, während sie den Blick auf das Neue dadurch trüben, dass sie das Beispiellose lediglich als Auswuchs der Vergangenheit sehen. Durch diese Normalisierung des Abnormen gestaltet sich die Kampfansage an das Beispiellose nur umso schwieriger.

Vor einigen Jahren schlug in einer stürmischen Nacht der Blitz bei uns ein, und ich erfuhr die sich jedem Verständnis sperrende Kraft des Beispiellosen am eigenen Leib. Wenige Augenblicke nach dem Einschlag schon quoll dicker schwarzer Rauch aus dem Erdgeschoss die Treppe herauf. Als wir, endlich handlungsfähig, die Feuerwehr riefen, meinte ich, ein, zwei Minuten zu haben, um noch etwas Nützliches zu tun, bevor ich mich der nach draußen geflüchteten Familie anschloss. Zuerst lief ich nach oben und schloss alle Türen, um die Zimmer vor dem Rauch zu schützen. Als Nächstes rannte ich wieder hinab ins Wohnzimmer, wo ich so viele von unseren Fotoalben zusammenraffte, wie ich nur tragen konnte, um sie auf die Veranda in Sicherheit zu bringen. Just in dem Augenblick, in dem der Rauch mich erreichte, bekam der Einsatzleiter der Feuerwehr mich an der Schulter zu fassen und zerrte mich aus dem Haus. Fassungslos standen wir im strömenden Regen, als das Haus auch schon explosionsartig in Flammen aufging.

Ich lernte so einiges aus diesem Brand, aber mit das Wichtigste war die Unerkennbarkeit des Beispiellosen. In der ersten Not konnte ich mir den Schaden vorstellen, den der Rauch an unserem Haus anrichten würde, nicht aber dass es völlig verschwand. Ich verstand das Geschehen durch die Linse meiner Erfahrung gesehen, stellte es mir vor als leidige, aber letztlich zu bewältigende Umleitung zurück zum Status quo. Außerstande, das Beispiellose zu erkennen, fiel mir nichts anderes ein, als die Türen von Zimmern zu schließen, die es bald nicht mehr geben sollte, und mich auf einer Veranda in Sicherheit zu wähnen, deren Schicksal bereits besiegelt war. Trotz der Unmittelbarkeit des Erlebnisses war ich blind gegenüber Bedingungen, für die es in meiner Erfahrungswelt keine Präzedenzfälle gab.

Zu studieren begann ich die Herausbildung dessen, was ich schließlich als Überwachungskapitalismus bezeichnen sollte, 2006 im Rahmen einer Reihe von Interviews mit Unternehmern und Angestellten aus dem Hightech-Sektor in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Einige Jahre lang interpretierte ich die ebenso unerwarteten wie besorgniserregenden Praktiken, die ich dabei dokumentierte, lediglich als Umleitungen, die wieder auf die Hauptstraße zurückführen würden, als Schnitzer des Managements, Fehlurteile oder mangelndes Verständnis der Zusammenhänge.

Meine Felddaten wurden in jener Nacht ein Raub der Flammen, und als ich 2011 den Faden wiederaufnahm, war mir klar, dass da etwas ganz anderes Gestalt anzunehmen begann. Ich hatte viele der im Unterholz versteckten Details verloren, aber die Profile der Bäume zeichneten sich dafür umso deutlicher ab: der Informationskapitalismus hatte eine entschiedene Wendung hin zu einer neuen Logik der Akkumulation genommen, einer Logik mit spezifischen operativen Mechanismen, ökonomischen Imperativen und eigenen Märkten. Ich sah sofort, dass diese neue Form sich von den herkömmlichen Normen und Praktiken gelöst hatte, durch die die Geschichte des Kapitalismus sich definiert, und dass die Ausgeburt dieser Entwicklung so bestürzend wie beispiellos war.

In einer wesentlichen Hinsicht freilich lässt sich die Herausbildung des Beispiellosen in der Wirtschaftsgeschichte nicht mit dem Brand eines Hauses vergleichen. Die Vorzeichen einer Feuerkatastrophe waren beispiellos für meine Erfahrungswelt, aber sie waren an sich nicht einzigartig. Im Gegensatz dazu ist der Überwachungskapitalismus ein völlig neuer Akteur der Geschichte, sowohl originär als auch sui generis. Er ist einzig in seiner Art und mit nichts zu vergleichen: ein eigener Planet mit seinen eigenen Gesetzen von Zeit und Raum, mit 67-Stunden-Tagen, smaragdgrünem Himmel, invertierten Gebirgen und trockenem Wasser.

Nichtsdestoweniger ist die Gefahr, Türen von Zimmern zu schließen, die bald nicht mehr existieren, durchaus real. Seine Beispiellosigkeit hat es dem Überwachungskapitalismus ermöglicht, sich dem systematischen Wettbewerb zu entziehen, weil er durch vertraute Optiken einfach nicht hinlänglich zu erkennen ist. Wir verlassen uns bei unserer Kritik an überwachungskapitalistischen Praktiken auf Kategorien wie »Monopole« oder die »Verletzung des Rechts auf Privatsphäre«. Aber selbst wenn man diese nicht außen vor lassen kann, weil überwachungskapitalistische Operationen auch Monopole sind und zweifelsohne eine Bedrohung der Privatsphäre darstellen, versagen diese Kategorien bei der Aufgabe, die ebenso wesentlichen wie beispiellosen Fakten des neuen Regimes zu identifizieren.

Setzt der Überwachungskapitalismus seinen gegenwärtigen Kurs fort und wird zur dominanten Akkumulationslogik unserer Ära, oder werden wir ihn zu gegebener Zeit zum unzeitgemäßen Monstrum, zu einer beängstigenden, aber letztlich zum Scheitern verurteilten Fehlentwicklung in der größeren Geschichte des Kapitalismus erklären? Und falls er zum Scheitern verurteilt sein sollte, was wird für dieses Scheitern verantwortlich sein? Wie müsste ein wirksamer Impfstoff dagegen aussehen?

Jeder Impfstoff beginnt mit dem sorgfältigen Studium der Krankheit, die es abzuwehren gilt. Dieses Buch möchte aufzeigen, was am Überwachungskapitalismus merkwürdig, originell, ja unvorstellbar ist. Es ist getragen von der Überzeugung, dass es neben einem frischen Blick und der Analyse auch einer neuen Benennung bedarf, wollen wir das Beispiellose, und das ist die Voraussetzung für eine effektive Kampfansage, tatsächlich verstehen. Die folgenden Kapitel werden sich sowohl die spezifischen Bedingungen vornehmen, die dem Überwachungskapitalismus Wurzeln zu fassen und zu florieren erlaubten, als auch die »Bewegungsgesetze«, die hinter Aktion und Expansion dieser Marktform stehen; ihre Grundmechanismen, ihre ökonomischen Imperative, ihre Beschaffungsökonomie, ihre Machtstrukturen sowie ihre Prinzipien sozialer Ordnung. Lassen Sie uns Türen schließen, aber lassen Sie uns dafür sorgen, dass es die richtigen sind.

Der Puppenspieler, nicht die Puppe

Unsere Anstrengungen, dem Beispiellosen zu begegnen, müssen mit der Erkenntnis beginnen, dass wir hinter dem Puppenspieler her sind und nicht hinter der Puppe. Eine erste Hürde vor einem Verständnis ist die Verwechslung des Überwachungskapitalismus mit den Technologien, derer er sich bedient. Der Überwachungskapitalismus ist keine Technologie; er ist vielmehr die Logik, die die Technologie und ihr Handeln beseelt. Der Überwachungskapitalismus ist eine Marktform, die außerhalb des digitalen Milieus unvorstellbar ist, aber sie ist nicht mit »dem Digitalen« gleichzusetzen. Wie wir an der »Aware-Home«-Episode gesehen haben – und in Kapitel 2 gleich nochmal sehen werden –, kann das Digitale viele Formen annehmen, je nach der sozialen und ökonomischen Logik, die ihm Leben einhaucht. Den Preis, in diesem Falle Knechtung und Hilflosigkeit, weist ihm der Überwachungskapitalismus zu, nicht etwa die Technologie.

Dass es sich beim Überwachungskapitalismus um Logik in Aktion handelt und nicht um eine Technologie, ist schon deshalb ein wesentlicher Punkt, weil Überwachungskapitalisten uns ihre Praktiken als unvermeidbare Funktionen der von ihnen eingesetzten Technologien zu verkaufen versuchen. 2009 zum Beispiel, wurde sich die Öffentlichkeit zum ersten Mal bewusst, dass Google unseren Suchverlauf zeitlich unbegrenzt speichert, dass diese Daten mit anderen Worten nicht nur Rohstoffvorkommen sind, sondern auch Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden zugänglich. Nach diesen Praktiken gefragt, sinnierte der damalige CEO des Unternehmens Eric Schmidt: »Tatsache ist, dass Suchmaschinen wie Google diese Informationen für einige Zeit speichern«.14

Suchmaschinen speichern jedoch nicht von sich aus; es ist der Überwachungskapitalismus, der speichern lässt. Schmidts Aussage ist klassische Irreführung. Sie versucht, der Öffentlichkeit kommerzielle Imperative als technische Notwendigkeiten anzudrehen. Sie verschleiert die konkreten Praktiken des Überwachungskapitalismus ebenso wie die spezifischen Entscheidungen hinter Googles spezieller Art von Suche. Vor allem aber stellt sie die Praktiken des Überwachungskapitalismus als unvermeidbar hin, wo sie doch in Wirklichkeit ebenso akribisch kalkulierte wie üppig finanzierte Mittel zu eigennützigem kommerziellen Handeln sind. Wir befassen uns mit dem Problem des »Inevitabilismus« eingehend in Kapitel 7. Belassen wir es fürs Erste dabei, dass bei allem futuristischen Raffinement digitaler Innovation die Message überwachungskapitalistischer Unternehmen sich kaum unterscheidet von dem Motto, unter dem 1933 die Chicagoer Weltausstellung stand: »Science Finds – Industry Applies – Man Conforms«: »Die Wissenschaft [er]findet – Die Industrie wendet an – Der Mensch passt sich an«.

Um derlei Behauptungen technologischer Unvermeidbarkeit den Kampf anzusagen, ist zunächst eine Standortbestimmung vonnöten. Wir können den gegenwärtigen Kurs der Informationsgesellschaft unmöglich einschätzen, ohne uns klar vor Augen zu führen, dass Technologie nie für sich selbst, nie unabhängig von Wirtschaft und Gesellschaft existiert. Das wiederum impliziert, dass es so etwas wie technologische Unvermeidbarkeit schlicht nicht gibt. Eine Technologie ist nie Selbstzweck, sondern immer ökonomisches Mittel: In der Moderne ist die DNA der Technologie in ihrem Wesen am jeweiligen Muster »ökonomischer Orientierung« ausgerichtet, wie Max Weber es nennt.

Wirtschaftliche Ziele sind laut Max Weber integraler Bestandteil sowohl bei der Entwicklung als auch im Einsatz von Technologie. »Wirtschaften«, er meint damit ökonomisches Handeln, bestimme die Ziele, wogegen die Technologie nur die »geeigneten Mittel« stelle. »Die ökonomische Orientiertheit der heute sog. technologischen Entwicklung an Gewinnchancen«, so heißt es bei Weber, »ist eine der Grundtatsachen der Geschichte der Technik.«15 In einer modernen kapitalistischen Gesellschaft ist Technologie Ausdruck ökonomischer Zielsetzung, die ihre Umsetzung dirigiert. Das war immer so und wird auch immer so bleiben. Es wäre den Versuch wert, den Begriff »Technik« bzw. »Technologie« aus unserem Wortschatz zu streichen – womöglich würden wir die Ziele des Kapitalismus dadurch im Handumdrehen entblößen.

Der Überwachungskapitalismus setzt viele Technologien ein, kann aber nicht mit irgendeiner dieser Technologien gleichgesetzt werden. Seine Operationen mögen sich Plattformen bedienen, sind aber nicht mit diesen gleichzusetzen. Er bedient sich der Maschinenintelligenz, ist aber nicht auf diese zu reduzieren. Er produziert und stützt sich auf Algorithmen, ist aber nicht dasselbe wie ein Algorithmus. Die einzigartigen ökonomischen Imperative des Überwachungskapitalismus sind die Puppenspieler, die hinter dem Vorhang die Drähte der Maschinen ziehen, sie ausrichten, sie handeln lassen. Diese Imperative, um eine weitere Metapher zu bemühen, sind das weiche Gewebe des Körpers, das beim Röntgen zwar nicht zu sehen ist, aber die eigentliche Arbeit der Verbindung zwischen Muskeln und Knochen zu leisten hat. Wir sind nicht die Ersten, die auf die technologische Illusion hereinfallen. Es handelt sich dabei um ein Thema gesellschaftstheoretischen Denkens, das mindestens so alt ist wie das trojanische Pferd. Und dennoch vergisst jede Generation aufs Neue, dass Technik stets Ausdruck ganz anderer Interessen ist. In der Moderne sind das die Interessen des Kapitals, und in unserer Zeit ist es das Überwachungskapital, welches das digitale Milieu dirigiert und damit unseren Weg in die Zukunft bestimmt. Ziel dieses Buches ist es, die Gesetzmäßigkeiten des Überwachungskapitalismus zu durchschauen; schließlich sind sie es, die heute diese exotischen trojanischen Pferde beseelen, die uns mit uralten Fragen konfrontieren, während sie sich auf unser Leben zubewegen, unsere Gesellschaften, unsere Zivilisation.

Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns vor einem Abgrund wie diesem sehen. »Wir stolpern jetzt schon geraume Zeit so dahin in unserem Versuch, eine neue Zivilisation auf herkömmliche Weise zu führen, aber es wird langsam Zeit für eine Neugestaltung der Welt.«16 1912 legte Thomas Edison in einem Brief an Henry Ford seine Vision einer neuen Industriezivilisation dar. Edison machte sich Sorgen, die hartnäckige Macht von Raubkapitalismus und Monopolökonomien könnte das Potenzial des Industrialismus zum Fortschritt der Menschheit hintertreiben. Er kritisierte den amerikanischen Kapitalismus als »verschwenderisch« und »grausam«: »Unsere Produktion, unsere Fabrikgesetze, unsere Wohlfahrtseinrichtungen, unsere Beziehungen von Kapital und Arbeit, unser Vertrieb – alles verkehrt, Leerlauf, wohin man sieht.« Sowohl Edison als auch Ford verstanden, dass die moderne Industriezivilisation, in die sie so große Hoffnungen setzten, einer Finsternis entgegentaumelte, die von Elend für die vielen und Wohlstand für die wenigen gekennzeichnet war.

Für unseren Diskurs von besonderer Bedeutung ist, dass beide, Edison wie Ford, eines begriffen hatten: Das moralische Leben der Industriezivilisation würde durch die Praktiken des Kapitalismus geformt werden, der zu ihrer Zeit auf dem Weg zur Vorherrschaft war. Beide waren sie überzeugt davon, dass Amerika und letztlich die ganze Welt einen neuen, vernünftigeren Kapitalismus erarbeiten müssten, um eine Zukunft konfliktträchtigen Elends abzuwenden. Edisons Ansicht nach wäre dabei alles neu zu gestalten – neue Technologien, ja, aber diese hätten eine neue Art des Verständnisses für die Bedürfnisse der Menschen und deren Befriedigung zu reflektieren; es bräuchte ein neues Wirtschaftsmodell, das diese neuen Praktiken profitabel machen könnte; aber es bräuchte auch einen neuen Gesellschaftsvertrag, der all das zu tragen vermochte. Ein neues Jahrhundert war angebrochen, aber die Evolution des Kapitalismus gehorchte, wie der Mahlstrom der Zivilisationen, weder einem Kalender noch einer Uhr. Man schrieb das Jahr 1912, und das 19. Jahrhundert weigerte sich, seinen Anspruch auf das 20. aufzugeben.

Dasselbe ließe sich über unsere Zeit sagen. Während ich diese Worte schreibe, befinden wir uns bereits mitten im zweiten Jahrzehnt des 21., sehen uns aber nach wie vor in den Klauen des ökonomischen und sozialen Wettstreits des 20. Jahrhunderts. Dieser Wettstreit bildet die Bühne, auf welcher der Überwachungskapitalismus sein Debüt feierte und sich als Urheber eines neuen Kapitels in der langen Saga der kapitalistischen Evolution zum Star zu entwickeln begann. Es ist dies das dramatische Umfeld, dem wir uns jetzt zuwenden, der Schauplatz, an den wir uns begeben müssen, um unser Thema im richtigen Zusammenhang zu sehen. Der Überwachungskapitalismus ist kein Unfall übereifriger Technologen, sondern ein aus dem Ruder gelaufener Kapitalismus, der gelernt hat, seine historischen Bedingungen raffiniert auszubeuten und seinen Erfolg zu verteidigen.

Grundriss, Themen und Quellen dieses Buches

Dieses Buch versteht sich als erster Versuch, eine Terra incognita zu vermessen, als erster Vorstoß, der hoffentlich vielen Forschern den Weg bereiten wird. Das Bemühen um ein Verständnis des Überwachungskapitalismus und seiner Folgen führt den Forscher zwangsläufig über die Grenzen zahlreicher Disziplinen und gelegentlich auch historischer Perioden. Es geht mir hier um die Entwicklung von Begriffen, um die Ausarbeitung eines Bezugssystems, das uns das Muster hinter bislang nur scheinbar disparaten Begriffen, Phänomenen und rhetorischen wie praktischen Fragmenten erkennen hilft.

Ich zeichne die Konturen dieser Karte notwendigerweise nach den rasanten Strömungen unserer turbulenten Zeit. Meine Methode, Sinn in den Strom brodelnder Ereignisse rund um uns zu bringen, besteht darin, die tieferen Muster aus dem Wirrwarr technischer Details und Unternehmensrhetorik herauszuarbeiten. Die Wirksamkeit dieses Ansatzes wird daran zu bemessen sein, in welchem Maße uns diese Karte und ihre Begriffe bei der Ausleuchtung des Beispiellosen behilflich sein und uns zu einem umfassenderen Verständnis der rasanten Ereignisse rund um uns verhelfen können, während der Überwachungskapitalismus seinem langfristigen Ziel der ökonomischen und gesellschaftlichen Vorherrschaft entgegengeht.

Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus gliedert sich in drei Teile zu je drei oder vier Kapiteln und einem Schlusskapitel als eine Art Epilog, der sich reflektierend an einem Ausblick versucht. Teil I beschäftigt sich mit den Grundlagen des Überwachungskapitalismus: seinen Ursprüngen und seiner frühen Entwicklung. In Kapitel 2 stecke ich zunächst den historischen Rahmen ab, in dem der Überwachungskapitalismus debütierte und erste Erfolge verbuchen konnte. Dies ist deshalb so wichtig, weil wir uns, wie ich fürchte, viel zu lange mit oberflächlichen Erklärungen für seinen rasanten Aufstieg und die allgemeine Akzeptanz seiner Praktiken zufriedengegeben haben. So haben wir etwa Vorstellungen wie unsere »Bequemlichkeit« dafür verantwortlich gemacht oder den Umstand, dass diese Dienstleistungen »kostenlos« sind. Da ich das nicht so sehe, setze ich mich in Kapitel 2 mit den gesellschaftlichen Bedingungen auseinander, die das Digitale in unseren Alltag gerufen haben und die dem Überwachungskapitalismus halfen, Wurzeln zu fassen und aufzublühen. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer »Kollision« des jahrhundertelangen Individualisierungsprozesses, der unsere Erfahrung als selbstbestimmte Individuen ausgeformt hat, mit einem durch ein jahrzehntelanges Regime neoliberaler Marktwirtschaft geschaffenen Biotop, in dem wir immer wieder sowohl unser Selbstwertgefühl als auch unser Bedürfnis nach Selbstbestimmung frustriert sehen. Die schmerzliche Erfahrung dieses Widerspruchs gebar die Bedingungen, die uns überhaupt erst, schwer angeschlagen und auf der Suche nach Beistand, ins Internet fliehen ließen, wo wir uns dann auf das drakonische Quidproquo des Überwachungskapitalismus getrimmt sahen.

Anschließend widmet sich Teil I der Erfindung des Überwachungskapitalismus und seiner beginnenden Ausarbeitung bei Google, wo man seine konstituierenden Mechanismen, ökonomischen Imperative und »Bewegungsgesetze« entdeckt und weiterentwickelt hat. Aber bei all seiner technologischen Tüchtigkeit, das eigentliche Verdienst für Googles Erfolg gebührt den radikal neu gefassten sozialen Beziehungen, die das Unternehmen handstreichartig zu Fakten deklarierte, allen voran seine fundamentale Missachtung jeglicher Grenzen hinsichtlich unserer Intimsphäre und der moralischen Integrität des autonomen Einzelnen. Vielmehr bestanden die Überwachungskapitalisten – um einer einseitigen Überwachung und der eigenmächtigen Ausbeutung menschlicher Erfahrung zum Vorteil Dritter willen – auf ihr Recht, nach Belieben einzufallen in seine Intimsphäre und ihn seines Rechts auf Selbstbestimmung zu berauben. Vorschub leisteten diesen übergriffigen Ansprüchen das Fehlen einer gesetzlichen Regelung, die ihrem Vormarsch Einhalt geboten hätte, die Deckungsgleichheit der Interessen von Überwachungskapitalismus und Überwachungsstaat sowie die Hartnäckigkeit, mit der das Unternehmen seine neu eroberten Gebiete verteidigte. Schließlich erstellte Google ein taktisches Regelwerk, das für die Institutionalisierung seiner überwachungskapitalistischen Operationen als beherrschende Form des Informationskapitalismus sorgte und damit neue Wettbewerber in den Wettlauf um Überwachungserträge zog. Kraft dieser Leistungen erfreuen sich Google und sein expandierendes Universum von Wettbewerbern heute in der Menschheitsgeschichte beispielloser Asymmetrien an Wissen und Macht. Meiner Ansicht nach lässt sich die Bedeutung dieser Entwicklungen am besten als die Privatisierung der Wissensteilung in der Gesellschaft verstehen, die die kritische Achse sozialer Ordnung im Informationskapitalismus des 21. Jahrhunderts ist.

Teil II verfolgt die Migration des Überwachungskapitalismus vom Online-Milieu in die reale Welt, die eine Folge des Wettlaufs um die maximale Gewissheit von Vorhersageprodukten ist. Hier beschäftigen wir uns mit diesem neuen Reality-Business, das auf sämtliche Aspekte menschlicher Erfahrung abzielt und Anspruch auf sie als Rohstoff für die Gewinnung von Verhaltensdaten erhebt. Ein Gutteil dieser Arbeit erfolgt unter dem Banner der »Personalisierung«, hinter der sich aggressive Extraktionsoperationen verbergen, die Daten in den intimsten Tiefen unseres Alltags schürfen. Mit Zunahme des Wettbewerbs sehen Überwachungskapitalisten, dass die Extraktion menschlicher Erfahrung allein nicht mehr ausreicht. Der aussagekräftigste Rohstoff ergibt sich aus dem aktiven Eingriff in unsere Erfahrung, mit dem sich unser Verhalten den kommerziellen Interessen der Überwachungskapitalisten entsprechend ausformen lässt. Da die Produktionsmittel im Überwachungskapitalismus neuen und komplexeren Verhaltensmodifikationsmitteln untergeordnet sind, zielen neue automatisierte Protokolle darauf ab, menschliches Verhalten in einer wirtschaftlich interessanten Größenordnung zu beeinflussen und zu verändern. In Aktion sehen wir diese Protokolle etwa bei Facebooks »Contagion Experiments«, Studien zur Ausbreitung von Emotionen in Netzwerken, und bei dem von Google ausgebrüteten »Reality-Game« Pokémon Go. Einen Beleg für unsere seelisch-geistige Abstumpfung können wir darin sehen, dass Techniken zur Modifikation des Massenverhaltens für die amerikanische Gesellschaft noch vor wenigen Jahrzehnten als Bedrohung unserer individuellen Autonomie und unserer demokratischen Ordnung inakzeptabel waren. Heute stoßen derlei Praktiken kaum auf Widerstand, es gibt noch nicht einmal einen großen Diskurs darüber, und das obwohl sie heute auf der Jagd nach Überwachungserträgen routinemäßig und praktisch überall zum Einsatz kommen. Ich sehe die Operationen des Überwachungskapitalismus als Gefahr für unser natürliches Recht auf das Futur, das dem Einzelnen die Fähigkeit verleiht, sich eine Zukunft vorzustellen, vorzunehmen, zu versprechen und aufzubauen. Ich stelle und beantworte die Frage: Wie kamen die damit durch? Ich beende Teil II dann mit einer Überlegung zu unserer Geschichte: Wenn der Industriekapitalismus einen gefährlichen Bruch mit der Natur konstituierte, welchen Schaden könnte die menschliche Natur, das menschliche Wesen, durch den Überwachungskapitalismus nehmen?

Teil III schließlich untersucht den Aufstieg der instrumentären Macht, ihren Ausdruck in einer allgegenwärtigen, wahrnehmungsfähigen und vernetzten rechnergestützten Infrastruktur, die ich als Big Other (das Große Andere) bezeichne, sowie die neuartige, zutiefst antidemokratische Vision der Gesellschaft und der sozialen Beziehungen, die dadurch entsteht. Ich sehe den Instrumentarismus als beispiellose neue Art von Macht, die sich schon deshalb dem Verständnis sperrt, weil wir bei der Betrachtung durch herkömmliche Optiken weder ihre Andersartigkeit noch ihre Gefahren sehen. Der Totalitarismus war die Transformation des Staats zu einem Projekt totaler Vereinnahmung. Der Instrumentarismus und seine Verkörperung in Big Other bedeuten die Verwandlung des Markts in ein Projekt totaler Gewissheit – ein Unterfangen, das außerhalb des digitalen Milieus, aber auch jenseits der Logik des Überwachungskapitalismus schlicht nicht vorstellbar ist. Bei der benennenden Analyse instrumentärer Macht gehe ich zurück zu den Anfängen der theoretischen Physik und ihrem späteren Niederschlag in B. F. Skinners behavioristischer Konditionierung.

Schließlich folgen wir dem Überwachungskapitalismus in einen zweiten Phasenwechsel. Äußerte sich der erste in einer Migration von der virtuellen in die reale Welt, besteht dieser zweite Phasenwechsel in der Verschiebung des Fokus von der realen auf die soziale Welt: Jetzt wird die Gesellschaft selbst zum Gegenstand von Kontrolle und Modifikation. So wie die Industriegesellschaft als gut geölte Maschine gedacht war, hat man sich die instrumentäre Gesellschaft als Humansimulation von Maschinenlernsystemen vorzustellen: ein konfluierendes Schwarmgehirn, in dem jedes Element im Verein mit jedem anderen Element lernt und funktioniert. In diesem Modell maschineller Konfluenz ist die »Freiheit« jeder individuellen Maschine dem Wissen des ganzen Systems untergeordnet. Instrumentäre Macht zielt darauf ab, die Gesellschaft im Sinne einer der maschinellen ähnlichen sozialen Konfluenz zu organisieren, zusammenzutreiben und aufeinander abzustimmen. Gruppendruck und rechnerische Gewissheit ersetzen Politik und Demokratie; die gefühlte Realität wird dadurch ebenso ausgelöscht wie die soziale Funktion der individualisierten Existenz. Die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaften erfahren vieler dieser destruktiven Dynamiken bereits heute in ihrer Bindung zu den sozialen Medien; wir können hierin das erste weltweite Experiment in Sachen Menschenschwarm sehen. Ich beschäftige mich mit den Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das natürliche Recht auf Freistatt. Das Bedürfnis des Menschen nach einem unverletzlichen Raum gibt es in zivilisierten Gesellschaften seit der Antike; heute sieht es sich den massiven Angriffen des Überwachungskapitals ausgesetzt, das im Begriff ist, eine »ausweglose« Welt zu schaffen – mit schwerwiegenden Folgen für die Zukunft des Menschen an dieser neuen Grenze der Macht.

Im letzten Kapitel komme ich zu dem Schluss, dass der Überwachungskapitalismus auf überraschende Weise abweicht von der Geschichte des Marktkapitalismus, insofern er sowohl die uneingeschränkte Freiheit als auch das totale Wissen fordert. Er nimmt mit anderen Worten Abstand von den Reziprozitäten zwischen Kapitalismus und Mensch bzw. Kapitalismus und Gesellschaft und erzwingt, da die Überwachungskapitalisten und ihre Datenpriesterschaft über die totale Kontrolle verfügen, eine totalisierende kollektivistische Version des Lebens im Schwarm. Der Überwachungskapitalismus und seine rasant zunehmende instrumentäre Macht gehen weit über die historische Norm kapitalistischer Ambitionen hinaus, beansprucht er doch die totale Herrschaft über die menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Sphären, die traditionell nicht in das Territorium der privaten Unternehmung oder des Markts fallen. Infolgedessen lässt sich der Überwachungskapitalismus am besten als Putsch von oben beschreiben; es ist kein Umsturz des Staats, sondern vielmehr ein Umsturz der menschlichen Souveränität, was ihn zu einer herausragenden Kraft in der gefährlichen Abtrift macht, der Tendenz zum schleichenden Verfall, die heute die liberalen Demokratien des Westens bedroht. Nur ein entschiedenes »Wir, das Volk …« vermag diese Entwicklung noch umzukehren. Dazu gilt es, das Beispiellose zu benennen und neue Formen gemeinsamer Aktion zu mobilisieren; es gilt, Sand im Getriebe zu sein, die alles entscheidende Auseinandersetzung zu fördern, die auf das Primat einer florierenden menschlichen Zukunft als Fundament unserer Informationszivilisation besteht. Wenn die digitale Zukunft uns eine Heimat, ein Zuhause werden soll, dann ist es an uns, sie dazu zu machen.

Meine Methodik kombiniert, in einem ebenso ungewöhnlichen wie absichtsvollen Ansatz, die Methoden der Sozialwissenschaftlerin mit einem Faible für Theorie, Geschichte, Philosophie und qualitative Forschung mit denen der Essayistin. Als Essayistin greife ich gelegentlich auf eigene Erfahrungen zurück. Das hat seinen guten Grund. Wir bekräftigen nämlich die Tendenz zur geistig-seelischen Abstumpfung nur, wenn wir die hier behandelten Probleme bloß als eine der vielen Abstraktionen, als Begleiterscheinung von technologischen und ökonomischen Kräften sehen, die sich unserem Einfluss entziehen. Wir werden den Ernst des Überwachungskapitalismus und seiner Folgen nur dann in seiner ganzen Tragweite begreifen, wenn wir die Narben nachziehen, für die er auf der Haut unseres Alltags sorgt.

Als Sozialwissenschaftlerin verspüre ich eine Affinität zu früheren Theoretikern, die sich der Begegnung mit dem Beispiellosen in ihrer Zeit gestellt haben. Von dieser Warte aus habe ich bei der Lektüre eine ganz neue Wertschätzung für den intellektuellen Mut und die bahnbrechenden Einsichten von Autoren wie Émile Durkheim, Karl Marx und Max Weber gewonnen, die in ihren klassischen Texten kühne Theorien über Industriekapitalismus und Industriegesellschaft entwarfen, noch während sie sich inmitten von deren rasanten Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert sahen. Darüber hinaus stützt sich meine Arbeit auf Denker und Forscher aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wie Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Karl Polanyi, Jean-Paul Sartre und Stanley Milgram. Sie alle versuchten im Angesicht des sich jedem Verständnis entziehenden Phänomens des Totalitarismus das Beispiellose zu benennen und unter erheblichen Mühen die Spur seiner Wirkung auf die Zukunftsaussichten der Menschheit nachzuziehen. Meine Arbeit profitiert überdies von den Erkenntnissen visionärer Wissenschaftler, Technologiekritiker und engagierter investigativer Journalisten, die ihrerseits viel dazu beigetragen haben, Licht auf die Schlüsselpunkte der Landkarte zu werfen, die sich hier abzuzeichnen beginnt.

Die letzten sieben Jahre über habe ich die Spitzenunternehmen des Überwachungskapitalismus und deren wachsende Ökosysteme von Kunden, Beratern und Konkurrenten untersucht, die alle vom weiteren Kontext von Technologie und Datenwissenschaft geprägt sind, durch den sich der Zeitgeist des Silicon Valley definiert. Was zu einer weiteren kritischen Unterscheidung führt: Ebenso wenig wie der Überwachungskapitalismus mit Technologie an sich gleichzusetzen ist, lässt sich diese neue Logik der Akkumulation auf ein einzelnes oder eine Gruppe von Unternehmen reduzieren. Man sieht die Top Five der Internetfirmen – Apple, Google, Amazon, Microsoft und Facebook – oft als geschlossene Entität mit ähnlichen Strategien und Interessen; sprechen wir jedoch vom Überwachungskapitalismus, trifft das mitnichten zu.

Zunächst gilt es, zwischen Kapitalismus und Überwachungskapitalismus zu unterscheiden. Wie von mir in Kapitel 3 detaillierter ausgeführt, definiert sich die Grenze zwischen beiden zum Teil durch Gewinnungsmethode und Verwendungszweck der gesammelten Daten. Wenn eine Firma – mit Erlaubnis der Betroffenen – Verhaltensdaten einzig mit dem Ziel der Verbesserung eines Produkts oder einer Dienstleistung sammelt, praktiziert sie Kapitalismus, aber keinen Überwachungskapitalismus. Obwohl jedes der fünf größten Technologieunternehmen Kapitalismus praktiziert, sind sie nicht alle Überwachungskapitalisten, jedenfalls bislang noch nicht.

Apple zum Beispiel hat bislang eine Grenze gezogen und versprochen, sich einiger der Praktiken zu enthalten, die ich als charakteristisch für das überwachungskapitalistische Regime sehe. Nicht, dass das Verhalten der Firma in dieser Hinsicht perfekt wäre; die Grenze ist zuweilen unscharf, und es ist durchaus möglich, dass Apple seine Ausrichtung ändert oder ihr zuwiderhandelt. Amazon pochte einst mit Stolz auf seine anwaltschaftliche Identifizierung mit dem Kunden und die positive Dynamik zwischen dem Sammeln von Daten und der Verbesserung des Service. Beide Firmen generieren Einnahmen aus dinglichen wie digitalen Produkten und sehen sich deshalb nicht im selben Maße unter Druck wie reine Datenunternehmen, Einkünften aus der Überwachung ihrer Kundschaft nachzujagen. Wie ich jedoch in Kapitel 7 bemerke, scheint Amazon mit seiner plötzlichen Betonung »personalisierter« Leistungen und neuer Einkünfte durch Werbung im Auftrag Dritter in Richtung Überwachungskapitalismus zu migrieren.

Ob ein Unternehmen ganz zum Überwachungskapitalismus übergelaufen ist oder nicht, sagt nichts über andere wichtige Fragen, die seine Operationen aufwerfen – denken wir an Amazons monopolistische und wettbewerbsfeindliche Praktiken, an seine Steuerstrategien und an Apples Beschäftigungspolitik. Desgleichen gibt es keine Garantien für die Zukunft. Die Zeit wird zeigen, ob Apple dem Überwachungskapitalismus anheimfällt, die Stellung hält oder gar den Ehrgeiz entwickelt, einen gänzlich anderen Weg in eine menschliche Zukunft einzuschlagen, die sich an den Idealen individueller Autonomie und den tiefsten Werten einer demokratischen Gesellschaft orientiert.

Lassen Sie mich noch auf eine wichtige Implikation dieser Unterscheidungen eingehen. Selbst wenn unsere Gesellschaften die von Tech-Unternehmen – durch Monopolbildung oder die Verletzung der Privatsphäre – angerichteten Schäden zu untersuchen beginnen, ändert das nicht an sich schon etwas an den überwachungskapitalistischen Praktiken eines Unternehmens und seiner Weiterentwicklung derselben. So könnten zum Beispiel Aufrufe, Google oder Facebook auf der Basis des Monopolvorwurfs aufzuteilen, sehr gut zu mehreren, nur eben kleineren überwachungskapitalistischen Unternehmen führen, was nur den Weg für weitere überwachungskapitalistische Konkurrenten freimachen würde. Ähnlich würde eine Auflösung von Googles und Facebooks Duopol im Bereich der Online-Werbung keineswegs die Reichweite des Überwachungskapitalismus reduzieren, es würde nur den Marktanteil an der Online-Werbung statt auf zwei auf fünf oder fünfzig überwachungskapitalistische Unternehmen verteilen. Entsprechend gilt mein Augenmerk das ganze Buch über besonders jenen beispiellosen Aspekten überwachungskapitalistischer Operationen, denen wir den Kampf ansagen müssen, wenn wir diese Marktform eindämmen oder gar vernichten wollen.

Mein Hauptaugenmerk auf diesen Seiten gilt Google, Facebook und Microsoft. Das heißt nicht, dass hier eine umfassende Kritik an diesen Unternehmen versucht werden soll. Vielmehr sehe ich sie als Petrischalen, in denen sich die DNA des Überwachungskapitalismus am besten studieren lässt. Wie weiter oben angedeutet, ist mein Ziel hier die Kartierung einer neuen Logik und ihrer Operationen, nicht die Darstellung eines einzelnen Unternehmens oder dessen Technologien. So bewege ich mich denn grenzüberschreitend zwischen diesen und anderen Unternehmen, um Einsichten zur Präzisierung meiner Karte zu sammeln, so wie frühere Forscher sich ein breites Spektrum von Beispielen vornahmen, um die neue Logik von Managementkapitalismus und Massenproduktion zu verstehen. Außerdem wurde der Überwachungskapitalismus in den Vereinigten Staaten erfunden, genauer gesagt im Silicon Valley, und zwar von Google. Das macht ihn zu einer amerikanischen Erfindung, die, wie einst die Massenproduktion, zur globalen Realität geworden ist. Aus diesem Grund konzentriert sich ein Gutteil meiner Arbeit auf Entwicklungen in den Vereinigten Staaten, auch wenn die Folgen dieser Entwicklungen weltweit zu sehen sind.

Bei meinem Studium überwachungskapitalistischer Praktiken am Beispiel Googles, Facebooks, Microsofts und anderer Unternehmen galt mein besonderes Augenmerk Interviews, Patenten, Earnings-Calls, Ansprachen, Tagungen sowie Unternehmensprogrammen und -praktiken. Darüber hinaus habe ich zwischen 2012 und 2015 Interviews mit 52 Datenwissenschaftlern aus 19 Unternehmen mit zusammen 586 Jahren Erfahrungen in Hightech-Unternehmen und -Start-ups, hautsächlich im Silicon Valley, geführt. Anhand dieser Gespräche entwickelte ich meine »Ground Truth« für das Verständnis des Überwachungskapitalismus und seiner materiellen Infrastruktur. Ich sprach zunächst mit einer eher kleinen Zahl hochangesehener Datenwissenschaftler, leitender Softwareentwickler und Spezialisten für das »Internet der Dinge«. Meine Interviewstichprobe wuchs jedoch, als mich die Wissenschaftler Kollegen vorstellten. Ich führte die zuweilen mehrstündigen Interviews unter dem Siegel von Anonymität und Vertraulichkeit, dennoch spreche ich allen Beteiligten hier offen und öffentlich meine aufrichtige Dankbarkeit aus.

Zu guter Letzt möchte ich darauf hinweisen, dass ich das ganze Buch über aus W. H. Audens Lyrikzyklus Sonette aus China zitieren werde, dessen Sonett XVIII Sie bereits auf der ersten Seite kennengelernt haben. Audens Zyklus ist mir persönlich so bedeutsam wie teuer, weil der Dichter darin ein ergreifendes Licht auf die mythische Geschichte der Menschheit wirft, ihr ewiges Ringen mit Gewalt und Herrschaft, sowie auf die transzendente Kraft des menschlichen Geistes und seinen unbeirrbaren Anspruch auf die Zukunft.

TEIL I: DIE GRUNDLAGEN DES ÜBERWACHUNGSKAPITALISMUS

Kapitel 2Bühne frei für den Überwachungskapitalismus

Gefahr und Strafe wuchsen mehr und mehr,

den Rückweg aber sperrte eine Front

von Engeln dem Poeten und dem Richter.

– W. H. Auden, Sonette aus China, II