Das zweite Band - Wolfgang Sanden - E-Book

Das zweite Band E-Book

Wolfgang Sanden

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Beschreibung

Dagolf Sennwang erhält durch ein Tonband mit der Lebensbeichte seines plötzlich verstorbenen Onkels nicht nur eine interessante Lektion in Zeitgeschichte, sondern auch brisante Informationen über Personen und Ereignisse, die noch in der Gegenwart eine irritierende Rolle spielen. Da ist beispielsweise Günther Buschmann, Ex-Agent und jetzt Inhaber einer Firma für Mikroelektronik, der Sennwang den Posten des IT-Leiters anbietet - und den dieser nicht zuletzt wegen Buschmanns Tochter, der attraktiven Maren, annimmt. Während die Liebesdinge gut vorankommen, wird es in Sennwangs Umfeld zunehmend ungemütlich. Mehrere Unglücksfälle, merkwürdige Vorgänge und ein obskurer Bekannter aus früheren Tagen bringen das Paar in größte Gefahr.

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Es fängt für Dagolf Sennwang wieder einmal ganz unspektakulär an: Sicherlich ist der überraschende Tod des Lieblingsonkels ein trauriger Anlaß, aber daß sich daraus etwas Gefährliches entwickeln könnte, würde dem IT-Spezialisten und Detektiv wider Willen nicht im Traum einfallen.

Zunächst hört sich nämlich die Lebensgeschichte, die Hans Raabe kurz vor seinem Tod auf ein Tonband gesprochen hat, lediglich nach einem persönlich gefärbten Exkurs in die Zeitgeschichte an. Wobei schon ein klein wenig irritiert, daß Raabe seine Agententätigkeit im Dienste des BKA jahrzehntelang vor der Familie verborgen hielt.

Auf der Trauerfeier lernt Sennwang einen ehemaligen Kollegen seines Onkels kennen. Günther Buschmann hat das BKA allerdings bereits in den 70er Jahren verlassen und eine Firma für Mikroelektronik gegründet. Aus der Zufallsbekanntschaft wird bald eine geschäftliche Verbindung: Buschmann bietet Sennwang den Posten des IT-Leiters in seiner Firma an. Nach kurzem Zögern gibt dieser dem Werben nach, nicht zuletzt wegen Buschmanns attraktiver Tochter Maren.

Damit gerät Dagolf Sennwang jedoch in ein kaum durchschaubares Geflecht von Beziehungen und Ereignissen. Die kunstsinnige Maren möchte sich mit Hilfe von Dagolf dem Einfluß ihres Vaters entziehen, Todesfälle machen nachdenklich, der Inhalt des Tonbandes verrät beim zweiten Hinhören ein paar merkwürdige Details, und zu allem Überfluß taucht plötzlich ein gewisser Bernt Berger auf, um zusätzlich Unruhe zu verbreiten. Diesen Mann hat Sennwang schon vor Jahren unter anderem Namen kennengelernt (worüber im Roman „Aulenstein“ berichtet wird).

Ob Dagolf Sennwang, Maren, Buschmann oder Berger – alle kommen auf jeweils eigene Weise nicht von ihrer Vergangenheit los und treiben so stetig, bewußt oder unbewußt, eine verhängnisvolle Entwicklung voran, an deren Ende es allerdings nicht nur Verlierer gibt.

Auch der fünfte Sennwang-Roman erzählt eine spannende Geschichte mit einem durchaus ironischen, manchmal sarkastischen Blick auf Personen, beruflichen Alltag in der IT-Welt und gesellschaftliche Zustände.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Nachspiel

1.

Bestürzt legte Dagolf Sennwang das Telefon auf die Ladestation zurück. Mit der rechten Hand fuhr er sich über das Auge, starrte ins Leere.

Onkel Hans war tot.

Diese völlig unerwartete Nachricht, die ihm sein Bruder Gangolf soeben hatte zukommen lassen, machte Dagolf hilflos. Vor etwa drei Wochen hatte er doch noch mit Onkel Hans telefoniert. Und der hatte ihm dabei unter anderem gesagt, daß er mit seinem Gesundheitszustand – „meinem Alter entsprechend“ – sehr zufrieden sei. Er bewege sich ja auch regelmäßig, jeden Morgen Gymnastik und bei trockenem Wetter hinaus zu einem Läufchen – noch vor dem Frühstück.

Die Todesursache kannte sein Bruder nicht. Ein Günther Buschmann habe ihn lediglich über das Ableben informiert – offenbar ein alter Bekannter des Onkels. Und daß die Trauerfeier am kommenden Freitag um 11 Uhr in Gerbersdorf sei. Auf Dagolfs Bemerkung hin, dann werde man sich ja endlich einmal wiedersehen, wenn auch aus einem wenig schönen Anlaß, hatte der Bruder ein bißchen herumgedruckst, um ihm schließlich zu eröffnen, daß er, Gangolf, nicht kommen werde. „Weißt du, die Entfernung. Das Kaff liegt doch ziemlich abseits. Warum Onkel Hans bloß dahin gezogen ist?“

Jetzt erst fiel Dagolf etliches ein, was er darauf hätte antworten sollen. Nämlich, daß erstens das mittelfränkische Städtchen einen Autobahnanschluß habe, daß zweitens Hans Raabe ihr Lieblingsonkel gewesen sei, und drittens, daß die Nichtteilnahme leider nur zu gut zu des Bruders Verhalten in den zurückliegenden Jahren passe. Er habe sich doch um den Onkel überhaupt nicht mehr gekümmert. „Der einzige, der ihn eigentlich noch angerufen hat, war ich“, genau das hätte er sagen müssen. Und daß sich der Onkel deswegen am Telefon schon das eine oder andere Mal etwas enttäuscht geäußert habe.

Doch statt dieser mehr als angebrachten Vorwürfe lediglich ein beklommenes „Schade, aber wenn du meinst“. Schäbig, schäbig, Gangolfs Verhalten. Zudem auch ärgerlich, denn nun würde er bei der Beerdigung als einziger Vertreter der Familie dastehen. Der Tote war, wie er selbst auch, unverheiratet und kinderlos geblieben. Ob außer diesem Buschmann überhaupt noch jemand kommen würde? Ach, eine traurige Veranstaltung in doppeltem Sinne war zu befürchten.

Zum letzten Mal gesehen hatte Dagolf seinen Onkel vor circa vier Jahren bei dessen Besuch in Niedrich. Meine Güte, da hatte er ja noch bei den Chemischen Werken gearbeitet, und Onkel Hans wohnte bereits in Gerbersdorf, wohin er bald nach seiner Pensionierung gezogen war. Von Berlin in eine Kleinstadt – ganz verstanden hatte das Dagolf nicht. Aber vielleicht stand einem ja nach jahrzehntelangem Herumreisen im diplomatischen Dienst der Sinn nach Ruhe und Beschaulichkeit? Einen guten Eindruck hatte der Onkel bei der Begegnung gemacht: immer noch schlank, aufrecht, volles graumeliertes Haar, wache Augen, schlagfertig wie eh und je. Doch was kann nicht alles in vier Jahren passieren? Man steckt eben nicht drin. Aber daß Hans Raabe, der jüngere Bruder seiner Mutter, genau einen Monat vor seinem 71. Geburtstag gestorben war, wollte Dagolf Sennwang noch immer nicht so recht in den Kopf.

Als Kinder hatten sie Onkel Hans mit Jubel begrüßt, wenn er wieder einmal auf Heimaturlaub kam. Er wurde sofort mit Beschlag belegt und mußte von seinen Abenteuern in aller Welt erzählen. Sicherlich war vieles davon erfunden – Gangolf, acht Jahre älter als Dagolf, äußerte manchmal hinterher seine Skepsis gegenüber besonders wilden Geschichten –, aber während des Erzählens hingen sie an den Lippen des Onkels und konnten nicht genug bekommen. Die Eltern mußten ihn meistens befreien: „Nehmt doch euren Onkel nicht andauernd in Beschlag. Er ist nicht nur euretwegen hier.“ Ja, Hans Raabe war ein begnadeter Märchenerzähler gewesen – auch für Erwachsene.

An Dagolfs unfreiwilligen Abenteuern hatte er sich übrigens immer sehr interessiert gezeigt. Aber vielleicht hatte er seinem Neffen, eingedenk eigener Erfindungsgabe, gar nicht alles geglaubt? Wenn es tatsächlich so gewesen sein sollte, spüren lassen hatte der Onkel es ihn jedenfalls nicht. Die Aulenstein-Ereignisse mit ihrem geheimdienstlichen Hintergrund hatten es ihm damals besonders angetan. Richtig mitgegangen war er, direkt ein bißchen so, als ob er selbst am liebsten dabei gewesen wäre. Einfühlende Phantasie, darin hatte wohl die hohe Kunst des lieben Geschichtenerzählers bestanden.

2.

Der Friedhof lag am Rande von Gerbersdorf. Nach dem Verlassen der Autobahn war Dagolf Sennwang durch eine ziemlich langweilige Landschaft gefahren. Plattes Ackerland, ein paar Waldzungen, ein so großspuriges wie häßliches Einkaufszentrum auf grüner Wiese. Der Ort selbst eher ein Straßendorf mit ein paar alten Fachwerkhäusern inmitten einer ansonsten kaum erwähnenswerten Bebauung. Wieder stellte er sich die Frage: Warum gerade dieses Nest?

Der kleine Parkplatz neben dem Friedhofseingang war überfüllt. Dagolf mußte wenden und die Straße ein Stück zurückfahren. Halb auf dem Bürgersteig stellte er sein Auto ab.

Welch ein schöner Märztag. Ein wolkenloser Himmel in Frühlingsblau und eine kühle Luft, die das Atmen angenehm machte. Die kleine, moderne Trauerhalle mit ambitioniertem Schrägdach befand sich wenige Schritte hinter der Pforte. Für Dagolf nicht mehr ganz so überraschend – weshalb denn sonst die vielen Autos? –, drängte sich eine große Anzahl von Leuten auf dem kiesbestreuten Vorplatz, die allermeisten schwarz gekleidet. Von wegen, er allein mit Buschmann! Viele standen in Grüppchen, etliche schauten dem Ankömmling neugierig entgegen.

Dagolf nickte verhalten in die Runde, hielt aber Abstand. Er bemerkte, daß man sich etwas zuflüsterte. Gleich darauf löste sich aus der Menge ein Mann, weißhaarig und wohl im Alter von Onkel Hans, und kam entschlossen auf ihn zu.

„Sie müssen Gangolf sein.“ Dabei streckte er ihm die Hand mit einem flüchtigen Lächeln hin und ergänzte: „Buschmann, Günther Buschmann, ein alter Freund Ihres Onkels. Mein herzliches Beileid.“

„Danke, vielen Dank. Aber ich bin der jüngere Neffe Dagolf – Dagolf Sennwang. Mein Bruder ist heute leider verhindert.“ Eigentlich blöd, Gangolf auf diese Weise Absolution zu erteilen, dachte er im nächsten Moment. Aber auf die Familie ließ man Fremden gegenüber eben nichts kommen.

„Folgen Sie mir doch bitte, ich möchte Ihnen ein paar gute Bekannte Ihres Onkels vorstellen.“ Damit bahnte sich Buschmann energisch den Weg zwischen den Leuten hindurch bis vor den Eingang der Trauerhalle. Die dort wartenden Personen drückten Dagolf unter teils gemurmelten, teils deutlich artikulierten Beileidsbekundungen die Hand.

„Ihr Onkel war ein großartiger Mensch. Wir sind über sein völlig unerwartetes Ableben alle ziemlich erschüttert“, versicherte man ihm. „Er ist beim Joggen einfach umgefallen. Bei aller Schrecklichkeit – eigentlich ein schöner Tod.“ Eine Frau behauptete sogar: „Der Hans hat viel von Ihnen erzählt.“

Glücklicherweise erschien der Friedhofsdiener, öffnete die Flügeltür und lud mit einer sparsamen Geste zum Betreten des Gebäudes ein. Im Vorraum lag auf einem schmalen Pult das Kondolenzbuch aus, vor dem sich nun eine kleine Schlange bildete. Dagolf ging direkt zur Halle durch. Das Tageslicht wurde vom vielfarbigen Glas der langen, schmalen Fenster kaum behindert, so daß der Raum von lebendiger Helligkeit erfüllt war. Selbst die auf einem Podest ruhende und von einem Blumenmeer umwogte Urne verlor auf diese Weise etwas von ihrem leisen Schrecken.

Dagolf war durch den kurzen Mittelgang nach vorne geschritten. Mit in Bauchhöhe gefalteten Händen betrachtete er die aufwendige Dekoration, ohne sie richtig wahrzunehmen. Hängen blieb sein Blick am großen Porträtfoto des Verstorbenen, das man etwas seitlich zwischen zwei hohen Kerzen auf einen Bilderständer gesetzt hatte. Ja, so hatte er ihn in Erinnerung, seinen Onkel Hans.

Als nun andere Trauergäste hinzutraten, wendete er sich ab und suchte sich auf der linken Seite einen Platz in der ersten, noch leeren Reihe – nicht in der Mitte, sondern mehr zu den Fenstern hin. Aus seinen Gedanken, die eigentlich keine wirklichen Gedanken waren, sondern eher ein Auf- und Absinken unscharfer Vorstellungen, Empfindungen und Bilder, wurde er von Buschmann gerissen.

„Ich darf mich doch neben Sie setzen?“ Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab. „Ich habe mir erlaubt, die Trauerfeier zu organisieren“, raunte er Dagolf zu. Sein rechter Zeigefinger beschrieb dabei einen vagen Kreis. „Nur zu Ihrer Information – ich habe für nachher in der ‚Post‘ einen Raum reservieren lassen. Keine Sorge, das habe alles ...“ Seine letzten Worte gingen im einsetzenden Orgelspiel unter.

Durch eine halb verborgene Tür betrat mit feierlicher Miene der Pfarrer, lang und schmal in seinem schwarzen Talar, den Raum. Vor der Urne verbeugte er sich, verharrte für einen Augenblick in kurzem Gebet und ging dann zum Rednerpult hinüber. Die Trauerfeier begann.

Die von manchem unterdrückten Schluchzen begleitete Ansprache zeichnete Hans Raabes Erdenleben in wenigen, jedoch bewegenden Worten nach und nahm dabei mehrfach Bezug auf einen Brief des Apostels Paulus. Sehr viel bekam Dagolf Sennwang nicht mit, aber zwei Textstellen machten doch Eindruck auf ihn. Die eine lautete Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk, die andere Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Nach einem weiteren Lied, von der Trauergemeinde kräftig mitgesungen, erhob sich Buschmann und trat nach vorn. In freier und fester Rede gedachte er des toten Freundes. Wie sie sich kennengelernt hatten damals in München, wie sehr man sich auf Hans habe verlassen können – im Dienst und in privaten Dingen. Und daß man sich leider – aber so spiele das Leben nun einmal – später aus den Augen verloren, dann aber gottseidank vor ein paar Jahren wiedergefunden habe. Schnell habe sich der Freund hier im beschaulichen Gerbersdorf eingelebt, was die große Trauergemeinde nur zu gut bezeuge. Beliebt sei er gewesen – ja, geliebt. Etwas, das sich wie ein mühsam ersticktes Kichern anhörte und sofort in ein lautes Räuspern überging, ließ Buschmann für den Bruchteil einer Sekunde stutzen. Dann fuhr er mit noch lauterer Stimme fort: „Hans Raabe, wir werden dich nicht vergessen, du wirst in unseren Herzen weiterleben.“ Noch eine Verbeugung zur schwarzglänzenden Urne hin, dann kehrte er an seinen Platz zurück. Beim Hinsetzen drückte er Dagolfs Hand.

Was Dagolf bei der Predigt, dort noch nicht ganz faßbar, und nun recht deutlich bei Buschmanns Rede aufgefallen war: Die Bonner Jahre und die vielen Auslandsaufenthalte im diplomatischen Dienst hatte man überhaupt nicht erwähnt. Statt dessen Anspielungen auf knifflige und gefahrvolle Situationen, die zum Wohle des Landes zu bestehen gewesen seien. Das bekam er nicht auf die Reihe. Unklar blieb ihm auch der Umstand, daß Buschmann seinen Onkel in München kennengelernt hatte. Er würde ihn nachher in der „Post“ deswegen einmal fragen.

Unter den Klängen der Orgel zogen sie zum Seitenausgang hinaus ins Freie. Vorweg mit der Urne der Friedhofsdiener, als nächstes der Pfarrer, dann Dagolf und Buschmann, direkt hinter ihnen eine einzelne, verschleierte Dame und schließlich in langer Reihe die übrige Trauergemeinde.

So grau und unbedeutend Dagolf der Ort erschienen war, so hübsch kam ihm jetzt der Friedhof vor. Auf sorgfältig gepflegten Gräbern und zwischen braunem Laub blühten Krokusse, Primeln, Märzenbecher und Lenzrosen. Rhododendronblätter glänzten in der Sonne. Ein Eichhörnchen wischte vor ihnen über den Weg und jagte den Stamm einer hohen Fichte hinauf. In den Bäumen zwitscherten Vögel. Hier möchte man auch begraben sein. Im nächsten Moment kam Dagolf dieser Gedanke schon wieder ganz komisch vor. Doch befand er sich denn nicht in einer merkwürdigen Stimmung?

Zweimal bewegte sich der Zug um die Ecke, dann machte er vor einem frisch ausgehobenen Loch, halb unter einer noch kahlen Linde, halt. Der Pfarrer wartete, bis jeder einen Platz gefunden hatte. Nach weiteren tröstenden Sprüchen und dem gemeinsamen Vaterunser wurde die Urne hinabgelassen.

Nach dem Pfarrer nahm Dagolf die kleine Schaufel in die Hand und warf dreimal Erde in die Öffnung. Ein kurzer Moment des Verharrens, eine leichte Verbeugung, dann machte er Buschmann Platz und stellte sich seitlich des Grabes auf. Die Trauergäste zogen an ihm vorüber, drückten ihm dabei die Hand. Das nahm einige Zeit in Anspruch. Einige Frauen umarmten ihn sogar. Nicht so die Verschleierte, die sich gleich darauf rasch entfernte.

Als es endlich vorbei war, wartete Dagolf zusammen mit Buschmann, dem Pfarrer und ein paar anderen, bis der Friedhofsdiener das Loch gefüllt und darüber einen kleinen Erdhügel geformt hatte. Von einem etwas abseits stehenden Wagen, den Dagolf noch gar nicht bemerkt hatte, holte der Mann nach und nach Kränze und Blumengestecke, die bald die gesamte Grabstätte und das Umfeld gnädig bedeckten. Buschmann zog die eine oder andere Schleife glatt und machte auf einzelne Inschriften aufmerksam. Die Namen sagten Dagolf natürlich nichts, doch allein die große Zahl bedeutete ihm einen gewissen Trost: Onkel Hans hatte in den letzten Jahren wenigstens kein einsames Leben geführt. Warum hätte es aber auch anders sein sollen? Ein Diplomat wußte Kontakte zu knüpfen, er durfte gar nicht eigenbrötlerisch sein.

Auf dem Weg zum Ausgang bemerkte Dagolf einen Mann, der das Begräbnis offenbar aus der Ferne beobachtet hatte. Der bewegte sich nun zwischen zwei Grabreihen fast parallel zu ihnen und schaute dabei mehrfach herüber. Ein Bartträger mit dunkler Brille, soviel konnte Dagolf erkennen. Im übrigen ihm völlig unbekannt – wie hätte es auch anders sein können? Während Dagolf mit seiner Begleitung nach rechts abbog, entfernte sich der Fremde schnell in entgegengesetzte Richtung.

„Zur ‚Post‘ ist es nicht weit. Sie fahren mir am besten hinterher“, meinte Buschmann, als sie aus dem Friedhof traten. „Wo stehen Sie?“

3.

Erfreulicherweise hatte man Dagolf Sennwang einen Platz am Zehnertisch von Buschmann und Pfarrer Fleischauer freigehalten. Auf den Tischen standen Kerzen und kleine Töpfe mit Primeln. Als sich die allermeisten gesetzt hatten, begab sich Buschmann in die Mitte des Raumes und verkündete sehr vernehmbar, daß die „lieben Anwesenden“ die Auswahl zwischen Nürnberger Rostbratwürsten und Blauen Zipfeln hätten, beides mit Brezeln serviert.

„Ja, bei uns geht’s fei zünftig zu“, sagte der gegenübersitzende Fleischauer lächelnd. Er ließ, anders als vorhin bei der Trauerfeier, seinem fränkischen Tonfall freieren Lauf. Die Blauen Zipfel, klärte er den ahnungslosen Dagolf auf, seien in Essigsud gegarte Bratwürstchen. Sehr empfehlenswert. Dazu passe ein kräftiges Helles aus Franken. „Hier in der ‚Post‘ gibt’s des gude Weißenoher.“

„Wenn Sie keine Wurst mögen oder hinterher noch etwas Appetit haben – ich habe auch Blechkäsekuchen bestellt“, ergänzte der nun links neben ihm sitzende Buschmann. „Kaffee und ein Schnäpschen können Sie natürlich auch bekommen.“

„Ich muß nachher noch nach Hause fahren“, wehrte Dagolf ab. „Aber ein Glas trinke ich schon.“

Lange mußten sie auf das Essen nicht warten – die zwei Kellnerinnen arbeiteten sehr zügig, und der Wirt half auch noch ein bißchen aus. Dagolf hatte sich für die Nürnberger entschieden. Er aß das halbe Dutzend mit viel Senf und großem Genuß. Das Bier schmeckte tatsächlich, so daß er zu des Pfarrers Vergnügen noch ein kleines Glas nachbestellte.

Auf Dagolfs Bitte hin berichtete Fleischauer in taktvoller Weise über Hans Raabes Ableben. Er müsse wohl beim morgendlichen Lauf durch den Hainberg, ein großes, parkähnliches Gelände und ein Eldorado für Freizeitsportler, einen Herzschlag erlitten haben. „Ihr Onkel war noch sehr sportlich und hielt sich eisern fit.“ Ein früher Spaziergänger mit Hund habe ihn mitten auf dem Weg liegend gefunden. Nach Aussage des Arztes sei es ein plötzlicher Herztod gewesen, keinerlei Leiden also. So etwas komme durchaus auch schon in jüngerem Alter vor.

„Sehr schade, daß Ihre Tochter nicht dabei sein kann“, sagte unvermittelt die adrette Frau mittleren Alters an Dagolf vorbei zu Buschmann. „Er hat eine äußerst hübsche Tochter, wissen Sie“, richtete sie das Wort dann an Dagolf selbst.

„Maren ist darüber ganz unglücklich“, antwortete, sich ebenfalls vorbeugend, der Vater. „Hans war für sie wie ein Onkel. Deshalb hat sie sein Tod sehr berührt. Schon der zweite Schicksalsschlag in so kurzer Zeit. Sie hockt den ganzen Tag in ihrem Zimmer und brütet vor sich hin. Ich mache mir ernstliche Sorgen.“ Damit wendete sich Buschmann einem Ehepaar auf der anderen Tischseite zu.

„Die Maren hat wirklich Pech“, ließ sich die Frau halblaut vernehmen. „Ihr Freund ist Anfang des Jahres tödlich verunglückt. Nachts mit dem Auto auf gerader Strecke. Keiner weiß, warum. Das arme Ding. Hübsch, so schrecklich talentiert, keine materiellen Sorgen, und dann so etwas.“ Sie seufzte. „Das Glück kann man eben nicht kaufen.“

Dagolf Sennwang nickte und blickte einen Moment vor sich hin. Leichte Müdigkeit bemächtigte sich seiner. Immerhin war er schon seit sechs Uhr auf den Beinen, die lange Autofahrt, die Trauerfeier, die ihm ziemlich nahegegangen war, das Essen, das Bier, und jetzt das Stimmengewirr der bestimmt vierzig bis fünfzig Leute in dem großen, dunkel getäfelten Raum. Den toten Punkt überwand man erfahrungsgemäß am besten durch Bewegung oder wenigstens durch Reden.

„Herr Pfarrer, für Ihre Predigt möchte ich mich herzlich bedanken. Die Stelle mit der Liebe wird ja häufig zitiert, aber der Kontext, in dem diese Worte stehen, ist einem natürlich nicht geläufig.“

„Daß die Trauerfeier Ihre Zustimmung gefunden hat, freut mich außerordentlich, Herr Sennwang. Immerhin war ich bei der Abfassung der Predigt nur auf meinen persönlichen Eindruck angewiesen, den ich von Hans Raabe im Laufe der Zeit gewonnen habe. Verwandte konnte ich aus naheliegenden Gründen nicht befragen, allerdings hat Herr Buschmann dankenswerterweise ein paar Details beigesteuert. – Ja, Korinther 13, Vers 13, der muß bei Trauungen sehr oft herhalten. Ohne die übrigen Verse bekommt er einen anderen Klang.“

„Geht es nicht vielen Bibelsprüchen so? Die Bibel wird meistens wie ein Steinbruch ausgebeutet – hier ein passendes Stück und dort ein passendes Stück. Lädt dieses Herausreißen aus dem Zusammenhang nicht zu Interpretationen ein, die etwas Beliebiges an sich haben und im Lichte des Ganzen sogar falsch sein können?“

Pfarrer Fleischauer blickte Dagolf nachsinnend an, nahm einen Schluck Bier und meinte dann: „Ich sag’ Ihnen was: So ähnlich hat Ihr Onkel auch argumentiert.“ Dagolf mußte wohl ein überraschtes Gesicht machen, denn sein Gegenüber ergänzte: „Sie werden es sich möglicherweise nicht vorstellen können, aber Hans Raabe und ich haben uns öfters über Glaubensdinge unterhalten. Er fühlte sich zur Gemeinde gehörig. Ein Zweifelnder, gewiß, aber mit Ernst bei der Sache. Unsere Gespräche waren auch für mich ein Gewinn. Dabei habe ich übrigens auch einiges sehr Interessantes und Staunenswertes aus dem Berufsleben Ihres Onkels erfahren.“

„Ja, von seinen Erlebnissen im Beruf hat er meinem Bruder und mir früher auch viel erzählt. Spannende Geschichten, und so wunderbar vorgetragen. Ich fand das alles so toll, daß ich eine Zeitlang auch Diplomat werden wollte.“ Dagolf winkte der Kellnerin und bestellte eine Tasse Kaffee mit einem Stück Kuchen.

„Diplomat!“ Buschmann neben ihm lachte aus vollem Hals. „Das muß man dem Hans wirklich lassen: Verschwiegen war er!“

Auch Pfarrer Fleischauer konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Dagolf blickte von einem zum anderen und wieder zurück. „Sollte ich etwas nicht mitbekommen haben?“ erkundigte er sich unsicher.

„Herr Sennwang, Ihr Onkel war nie im diplomatischen Dienst. Er hat für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet. So wie ich auch. Wir waren zu Verschwiegenheit verpflichtet, sicherlich. Aber daß es der Hans geschafft hat, seinen Arbeitgeber bis zum Schluß vor der Familie zu verbergen – da hat er wohl ein bißchen übertrieben. Doch im Erfinden von Geschichten ist er schon immer ganz groß gewesen.“ Buschmann lachte schon wieder.

„Und ich habe mich bei der Trauerfeier gefragt, warum so merkwürdig über das Berufsleben meines Onkels geredet wird. Stellen Sie sich vor, er hat uns aus den exotischsten Ländern Ansichtskarten geschickt – und in Wahrheit ist er da wohl überhaupt nicht gewesen?“

„Ganz sicher nicht, unser Aktionsfeld war Europa, wir befanden uns damals im Kalten Krieg, dessen Demarkationslinie mitten durch Deutschland ging. Das bedeutete Abenteuer genug.“ Buschmann griff zum Glas und prostete in die Runde. „Noch einmal auf meinen toten Freund. Hans, wir werden dich nie vergessen.“ Die anderen hoben, soweit möglich, ebenfalls ihr Glas. Dagolf wies entschuldigend auf seine Kaffeetasse.

Inzwischen hatte sich die Stimmung im Raum weiter aufgehellt. Lachen und gute Laune von allen Seiten her. Auf einem Leichenschmaus freuen sich nun einmal die Lebenden, daß sie noch da sind.

„Wenn ich mit meinem Onkel telefoniert habe“, wandte sich Dagolf an Buschmann, „dann habe ich die Bonner und später die Berliner Vorwahl benutzt. Aber offenbar hat er ja tatsächlich immer in oder bei München gewohnt. Wie hat denn das funktioniert?“

„Junger Mann“, boxte ihn der Angesprochene ganz leicht auf den Oberarm, „beim Geheimdienst ging auch in der Kommunikationssteinzeit schon einiges. Schon mal was von automatischer Gesprächsumleitung gehört?“

„Na, herzlichen Dank für die Belehrung“, gab Dagolf zurück. „Ich muß Sie trotzdem noch etwas fragen. Sie haben vorhin in Ihrer Rede erwähnt, daß Sie meinen Onkel zwischenzeitlich aus den Augen verloren hatten. War er denn nicht bis zu seiner Pensionierung beim BND?“

„Doch, doch, natürlich. Aber ich bin schon früher dort ausgestiegen.“

„Ja, geht das denn so einfach? Beim Geheimdienst kündigen?“

„Im Prinzip läuft das nicht viel anders als bei jedem anderen Arbeitgeber auch. Natürlich sind die Regeln für das Stillschweigen danach viel schärfer gefaßt. Aber man steht hinterher nicht dauernd unter Beobachtung, wenn Sie das meinen sollten. Die Leute haben da manchmal eine falsche Vorstellung. Das kommt sicher von den vielen Agentenfilmen, die es ja mit der Wirklichkeit nicht so genau nehmen.“

„Und was habe Sie nach dem Ausscheiden gemacht?“

„Ich habe eine Firma, die GB Electronics, gegründet. Wir bieten für verschiedene Branchen maßgeschneiderte Lösungen unter Einsatz von Mikroelektronik an. Medizintechnik, Automatisierungstechnik, Umwelttechnik und so weiter und so fort. Mein Unternehmen befindet sich in Schmalbach, ein paar Kilometer von hier.“ Buschmann schaute Dagolf sichtlich selbstzufrieden an. „Und was machen Sie, wenn ich mal fragen darf?“

„Ich bin Qualitäts- und Sicherheitsbeauftragter in der IT-Abteilung der Urban AG.“ Dagolf ging kurz auf seinen beruflichen Werdegang ein.

„Ja, ich erinnere mich jetzt ganz dunkel. Hans hat von seinem Neffen, dem Informatiker gesprochen. Interessant, sehr interessant. Eigentlich bewegen wir beide uns auf ähnlichem Gebiet. – Sie haben dann aber einen langen Anreiseweg gehabt, Herr Sennwang.“

Das gab Dagolf die Gelegenheit, seinen Aufbruch elegant einzuleiten. Von den übrigen am Tisch verabschiedete er sich per Handschlag. Viel hatte er sich mit ihnen ja nicht unterhalten. Pfarrer Fleischauer meinte: „Es freut mich, Sie kennengelernt zu haben. Sie waren mir ein angenehmer Gesprächspartner. Wann immer Sie das Bedürfnis haben, über Glauben und Religion zu sprechen, rufen Sie mich ruhig an.“ Damit überreichte er ihm seine Karte.

„Oh ja, gute Idee. Auch wir sollten unbedingt die Telefonnummern austauschen“, ließ sich Buschmann vernehmen.

Dann begleitet er Dagolf, der ein paar Mal nach links und rechts grüßte, zwischen den Tischen hindurch nach draußen. Im Flur gaben sie sich die Hand. Dagolf bedankte sich noch einmal für die Ausrichtung der Trauerfeier und fragte nach den Kosten.

„Das mit der Beerdigung regelt der Notar, bei dem auch das Testament liegt. Sie und Ihr Bruder werden sicherlich bald von ihm hören. Den original fränkischen Leichenschmaus übernehme ich. Das bin ich Hans schuldig.“

Dagolfs Protest würgte er mit den Worten ab: „Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt. Wir bleiben in Kontakt“. Dann drehte er sich um und ging zum Raum zurück.

„Wer war eigentlich die verschleierte Frau?“ rief ihm Dagolf hinterher.

„Die kenne ich auch nicht.“ Buschmann hielt schon die Tür in der Hand und wandte kaum den Kopf. Er hob den Arm und war gleich darauf verschwunden.

Draußen empfing Dagolf Sennwang der helle Nachmittag. Es war deutlich wärmer geworden. Im Hausschatten jedoch wehte es ihn kühl an, und für einen Augenblick schien der Winter zurückgekommen.

4.

Sie standen vor dem schmucklosen Betonkasten an der Hauptstraße, in dem sich die Kanzlei des Notars befand. Diesmal hatte sein Bruder den Weg von der Pfalz nach Gerbersdorf nicht gescheut. Na klar, bei der Testamentseröffnung wollte er dabei sein. Die Begrüßung war, trotz der Umarmung, von beiden Seiten ein wenig zurückhaltend gewesen. Der eine hatte ein schlechtes Gewissen, das den anderen aber nicht richtig besänftigten konnte. Beim Abklären des Notartermins hatte sich Gangolf zwar nach dem Verlauf der Trauerfeier erkundigt, allerdings hörbar lustlos und reichlich oberflächlich. Immerhin hatte ihm die Nachricht, daß Onkel Hans beim BND gewesen war und nicht im diplomatischen Dienst, ein ungläubiges Lachen und die Bemerkung entlockt, der Onkel sei wohl ein noch größeres Schlitzohr gewesen als vermutet. Dagolfs Versuch hingegen, endlich das loszuwerden, was bereits beim ersten Anruf hätte gesagt werden müssen, hatte der Bruder mit ein paar billigen Ausreden mehr oder weniger ins Leere laufen lassen.

Ein Aprilschauer unterbrach ihre belanglose Unterhaltung und trieb sie ins Haus. Obwohl es noch eine knappe Viertelstunde bis zum Termin war, stiegen die beiden in den ersten Stock hinauf und klingelten. Eine ältere Angestellte führte sie in ein karg eingerichtetes Wartezimmer und bat um etwas Geduld. „Dr. Becker wird Ihnen um 11 Uhr zur Verfügung stehen. Würden Sie mir bitte Ihre Ausweise geben.“

Auf die Sekunde genau erschien sie wieder, gab jedem den Ausweis zurück und geleitete sie hinüber zum Büro, einem großen, sachlich eingerichteten Raum mit breiter Fensterfront. Dr. Becker kam lächelnd hinter seinem Schreibtisch hervor. Er war ziemlich klein, hatte dichtes, fast vollständig weißes Haar und trug einen gut geschnittenen mittelgrauen Anzug. Mit festem Händedruck begrüßte er die Brüder, wobei er ihnen beiläufig sein Beileid ausdrückte.

„Nehmen Sie bitte Platz.“ Der Notar wies auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. Nachdem er sich ebenfalls wieder gesetzt hatte, schlug er eine Mappe auf, entnahm ihr ein Schriftstück und sagte: „Zur Testamentseröffnung in der Sache Hans Raabe sind erschienen die Herren Gangolf und Dagolf Sennwang, beide durch Vorlegen eines gültigen Personalausweises legitimiert. Ich komme zur Verlesung des Testaments. – Keine Angst, es ist recht kurz.“

Dr. Becker schaute die Brüder mit amtlicher Miene an, dann begann er. „Mein letzter Wille. Ich, Hans Gottfried Raabe, geboren am 28.3.1931 in Monebeck, bestimme hiermit, daß meine Neffen Gangolf Sennwang, geboren am 13.11.1950 in Monebeck, und Dagolf Sennwang, geboren am 31.1.1959 in Hannover, Erben zu gleichen Teilen werden. Frau Heike Quirrler, geboren am 6.6.1949 in Bobingen, vermache ich 25.000 Euro. Gerbersdorf, den 28.3.2001, eigenhändige Unterschrift des Erblassers.“

Schau an, Onkel Hans hatte sein Testament an seinem siebzigsten Geburtstag gemacht. Bei der telefonischen Übermittlung der Glückwünsche damals, so fiel es Dagolf nun ein, hatte ihn der Jubilar dezent darauf hingewiesen, daß es sich um einen runden Geburtstag handele.

„Kennst du eine Heike Qirrler?“ platzte Gangolf heraus.

Dagolf mußte passen, aber er hatte plötzlich so eine Ahnung. Wenn es sich da mal nicht um die verschleierte Frau bei der Beerdigung handelte.

„Zu Frau Quirrler darf ich Ihnen leider keine weiteren Auskünfte geben – sehr viel wüßte ich auch nicht dazu zu sagen.“ Der Notar lächelte fein. „Aber wahrscheinlich wird es Sie weit mehr interessieren, was für Sie nach Abzug des Vermächtnisses noch übrig bleibt.“ Nun lachte er vernehmlich. „Das Erbe besteht aus der Wohnungseinrichtung, einem Bankguthaben sowie aus Aktien und Anleihen. Das bedeutet ... Warten Sie.“ Becker griff sich ein weiteres Papier. „Ich habe mir noch heute morgen von der Sparkasse die aktuellen Zahlen durchgeben lassen. Demnach beläuft sich das Guthaben, das sich aus einem Betrag auf dem Girokonto und Festgeld zusammensetzt, auf 51.662,39 Euro. Der Verkaufswert der Aktien und Anleihen beträgt momentan 275.283,31 Euro. Davon gehen allerdings die erwähnten 25.000 Euro und die Bestattungskosten ab. – Und natürlich die lästige Erbschaftssteuer“, schob Dr. Becker noch nach.

Gangolf machte mit den Lippen ein knallendes Geräusch.

„Ich muß Sie beide jetzt fragen, ob Sie das Erbe antreten werden. Die Entscheidung müssen Sie nicht sofort treffen. Der Gesetzgeber räumt Ihnen dazu eine Frist von sechs Wochen ein“, führte der Notar aus.

„Von meiner Seite aus können wir das gleich heute ...“, setzte Dagolf an.

„Moment mal, mein Lieber, nicht so eilig. Wir sollten uns zunächst von der Sache ein vollständiges Bild machen. Ob es da vielleicht versteckte Schulden gibt oder sonstige Verpflichtungen, die wir auch noch miterben würden. Wie wir ja jetzt wissen, hatte Onkel Hans so seine Geheimnisse. Stichwort Quirrler, Stichwort BND.“

„Ihr Bruder hat im Prinzip recht. Wenn ich auch nicht glaube, daß es da einen Pferdefuß gibt“, versuchte Dr. Becker zu beruhigen. „Ihr Onkel hat auf mich einen sehr vertrauenswürdigen Eindruck gemacht. Und ich bin schon etwas länger im Geschäft.“

Vor den Fenstern wechselten Licht und Schatten einander in so rascher Folge ab, daß ein beständiges Flackern den Raum erfüllte.

Dagolf empfand das Mißtrauen seines Bruders als eine nachträgliche Beleidigung des Onkels. Und daß Gangolf auch noch vor dem Notar derartige Anspielungen machte, war schlicht unangebracht. Aber gut, er würde sich nicht querstellen. Wenn man so plötzlich 150.000 Euro erbte, kam es schließlich auf ein paar Wochen auch nicht mehr an.

„Sie wissen also Bescheid. Melden Sie sich vor Ablauf der Frist, hinterher können Sie kaum noch etwas ändern. Was, wie ich schon gesagt habe, in meinen Augen keinen Unterschied machen würde. Mit Ihrem Einverständnis“, Becker schaute auf Gangolf, „werde ich wenigstens die Beerdigungskosten schon einmal begleichen. Die Aufstellung der Wertpapiere gebe ich Ihnen mit, und außerdem kann ich Ihnen die Wohnungsschlüssel mit Anschrift und Telefonnummer des Vermieters übergeben. Dann können Sie die Einrichtung in Augenschein nehmen und die Kündigung auf den Weg bringen. Alles andere dann nach Ihrer Entscheidung.“

Dr. Becker erhob sich und ging zur Tür. „Den Weg zur Wohnung wird Ihnen meine Sekretärin beschreiben.“ Dann hielt er ein kleines Schlüsselbund hoch. „Wer von Ihnen nimmt sie?“

Gangolf griff zu.

„Halt, noch etwas“, rief der Notar sie zurück. „Es gibt da noch ein Schließfach. Falls der Inhalt Ihnen Probleme machen sollte, können Sie sich gerne an mich wenden.“

Der Neumüllerweg war ein Nebensträßchen am südlichen Ende von Gerbersdorf, in dem vorwiegend Ein- und Zweifamilienhäuser standen. Die Wohnung befand sich allerdings in einem Neubau mit sechs Mietparteien. Da nur zwei Schlüssel am Bund hingen, brauchte Gangolf nicht lange an der Haustür herumzufummeln. Ein helles und sauberes Treppenhaus mit weißgestrichenem Geländer empfing sie. Stufen aus grau-weiß gemasertem Stein führten in den ersten Stock. Unter dem Klingelknopf neben der Tür auf der linken Seite war ein schmales, mit einem schlichten „H. Raabe“ beschriftetes Edelstahlschildchen angebracht.

Während der Bruder ungeniert eintrat, verharrte Dagolf für einen Augenblick auf der bräunlichen Fußmatte. Dann putzt er sich sorgfältig die Schuhe ab und überschritt endlich die Schwelle. Es roch nach abgestandener Luft. Vom kleinen Eingangsbereich führte ein kurzer Gang geradeaus weiter, gleich rechts schloß sich übergangslos das Wohnzimmer an.

Dort in der Mitte stand schon Gangolf und schaute in die Runde. Die elfenbeinweiße Strukturtapete und das durch ein breites Fenster einfallende Tageslicht gaben dem Raum eine freundliche Note. Daran konnten der breite Bücherschrank und das Sideboard, beide aus dunklem Holz und im italienischen Stil, wenig ändern. Um einen rechteckigen Marmortisch in der Nähe des Fensters gruppierte sich eine hellbezogene Sitzgarnitur aus zwei Sesseln und einem dreisitzigen Sofa. Vom Wohnzimmer abgetrennt war eine kleine Küche, wodurch der hintere Teil des Raumes verschmälert wurde. Dort stand ein rustikaler Eßtisch mit vier Stühlen.

Inzwischen hatte Gangolf die Gardinen zurückgezogen und war auf den großzügigen, aber völlig leeren Balkon getreten. „Es tröpfelt“, meinte er mit Blick auf seine ausgestreckte Hand.

Vor ihnen lag eine freie, weit ausholende hügelige Landschaft, die unter den grauen Wolken etwas Abweisendes und Bedrückendes hatte. Grasbewachsene, noch kaum frühlingsgrüne Flächen wechselten sich mit kleinen Waldstücken aus kahlen Laubbäumen und dunklem Nadelgehölz ab.

„Laß uns die übrigen Räume ansehen.“ Der Bruder schob sich an Dagolf vorbei und verließ das Wohnzimmer.

Der kurze Gang knickte vor einer halboffenen Tür nach links ab. Bei den drei hinteren Räumen hielten sie sich nicht lange auf. Gästetoilette, geräumiges Bad und Schlafzimmer, in dem ein breites, ungemachtes Boxspringbett sowie ein wandbreiter, hellbrauner Kleiderschrank standen.

Zurück zur halboffenen Tür. Dahinter befand sich ein Arbeitszimmer, auch dieses hell eingerichtet. Auf dem kleinen Schreibtisch thronte vor einem PC-Flachbildschirm und zwischen sorgfältig zusammengelegten Papieren ein Tonbandgerät.

„Mensch, eine Revox PR99 Mk II!“ Fast andächtig strich Gangolf mit der Hand darüber. „Ich habe meine alte A77 immer noch zu Hause im Schrank stehen.“

Dagolf erinnerte sich nur zu gut, wie verrückt sein Bruder damals hinter einem Tonbandgerät, einer Revox, her gewesen war. Jeden Tag hatte er der Familie von der wundervollen Bandmaschine vorgeschwärmt. Jeden verdienten Groschen, ob durch Nachhilfestunden oder Botengänge, jedes Geldgeschenk zu besonderen Anlässen hatte er dafür zurückgelegt. Und dann erst, als das Gerät endlich in seinem Zimmer stand! Bedienen durfte es außer ihm niemand, höchstens kurz einmal anfassen. Aber alle mußten in das Mikrofon sprechen. Dagolf hatte seine eigene Stimme nicht erkannt, weil sie so ganz anders wie erwartet, so völlig fremd aus dem Lautsprecher kam. Mit seinen acht Jahren war ihm die Erklärung dafür nicht so richtig einleuchtend gewesen. Gangolf hatte sich in den nächsten Wochen und Monaten stundenlang mit dem Gerät vergnügt: Schallplatten, von allen möglichen Leuten ausgeliehen, überspielt, direkt aus dem Radio Musik aufgenommen und zusammen mit Schulfreunden selbst verfaßte Hörspiele produziert. Manchmal war Dagolf in das ansonsten abgesperrte Zimmer gerufen und aufgefordert worden, den ihm meistens unverständlichen Inhalt eines Zettels ins Mikrofon zu sprechen. Unter großem Gelächter hatte man ihn sofort danach wieder hinausgeschickt – wer weiß, was das für Texte gewesen waren ...

Auf dem Gerät steckte eine silbrig glänzende Leerspule, eine volle lag daneben. Die nahm der Bruder nun in die Hand, und für einen Moment sah es so aus, als wolle er in das Band hineinhören. Doch dann legte er es wieder an seinen Platz zurück und meinte: „Später. Schauen wir uns erst noch ein bißchen genauer um.“

Jede Schublade, jede Schranktür öffnete er, kramte herum, zog Gegenstände heraus, schaute bis in die letzten Winkel. Dagolf folgte ihm zunächst, ging aber bald ins Wohnzimmer und setzte sich in einen der Sessel. Die kühle Geschäftsmäßigkeit seines Bruders tat ihm weh. Immerhin befanden sie sich in der Wohnung eines Toten, der zudem nicht irgendein Fremder, sondern ihr Lieblingsonkel gewesen war. Aber er mußte sich wohl der schmerzlichen Erkenntnis stellen, daß bei seinem Bruder solche Erinnerungen im Laufe der Jahre offenbar verblaßt waren. Ginge er selbst, wenn er wie Gangolf eine eigene Familie, eine Ehefrau und drei Kinder, hätte, möglicherweise ebenso pietätlos durch diese Räume?

„Schätze sind hier nicht zu finden“, holte ihn Gangolf aus seinen Gedanken. „Qualitätsmäßig keine schlechten Möbel, aber viel wird man dafür nicht bekommen. Die Leute wollen immer alles umsonst, und bringen sollst du es ihnen am besten auch noch.“

Der Bruder schloß die Balkontür und setzte sich dann ihm gegenüber auf das Sofa. „Paß mal auf, Dagolf. Wir müssen jetzt zwei Entscheidungen treffen. Die erste, allerwichtigste: Wollen wir das Erbe gleich antreten oder noch nach versteckten Risiken suchen? Und danach: Wie teilen wir den ganzen Klumpatsch auf? Was Punkt eins betrifft, da kennst du meine Meinung ja.“

„Weißt du was, lieber Bruder? Deine Art, wie du mit dem Tod von Onkel Hans umgehst, stinkt mir gewaltig! Dein Verhalten ist einfach würdelos!“ Dagolf wurde immer lauter. „Was ist das denn? Erst einmal sehen, ob er uns vielleicht nicht doch ein faules Ei ins Nest gelegt hat. Denn er war ja beim BND und hat eine Freundin gehabt, von der wir nichts gewußt haben. Na, so was! – Ich frage dich allen Ernstes: Hat uns Onkel Hans jemals belogen, betrogen oder sonstwie Anlaß zu Mißtrauen gegeben?“

„Das habe ich auch nie behauptet, aber das mit dem BND ...“

„Als wir Kinder waren, hat er uns Spielsachen und Bücher geschenkt, hat uns Eis gekauft und ist mit uns in den Zoo oder ins Kino gegangen. Hast du das denn alles vergessen? Seine wunderbaren Geschichten, die er uns bis tief in die Nacht erzählt – gerne erzählt hat. Gerade du, der du ihn doch so lange ganz für dich allein hattest, hast mir doch immer von ihm vorgeschwärmt. In den Himmel hast du ihn gehoben. Woher plötzlich dieses Mißtrauen?“

Der Bruder hob beschwichtigend die Hand: „Ist ja schon gut, Kleiner. Reg dich ab. Ich will Onkel Hans nichts postum anhängen, absolut nichts. Aber man hat schon Pferde kotzen sehen, und das sogar vor der Apotheke. Nebenbei auch so ein Spruch von ihm. Was glaubst du, wie viele Leute schon dumm geguckt haben, als sie nach Antritt des Erbes die Unterlagen sichteten und plötzlich Schulden hatten? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: zumindest in Erbangelegenheiten ist dies der richtige Wahlspruch. – Aber lassen wir das. Ehe du wieder laut wirst – ich bin einverstanden. Deine Argumentation, aber besonders die Tatsache, daß das Testament notariell beglaubigt wurde, überzeugt mich mehr oder weniger. Wenn auch ein Restzweifel bestehen bleibt, der sich hoffentlich bald in Nichts auflösen wird. Also gut, nehmen wir das Erbe an. Damit zur zweiten Entscheidung.“