Die Neudenker - Wolfgang Sanden - E-Book

Die Neudenker E-Book

Wolfgang Sanden

0,0

Beschreibung

Eine in weinseliger Stimmung abgeschlossene Wette über 1.000 Euro hat für Sven Torsten Arnold ungeahnte Folgen. Denn seine leichtfertige Behauptung, er werde mit einer neuen Partei schon bei der nächsten Bundestagswahl erfolgreich sein, wird wegen seiner wichtigen Rolle in der Anti-Corona-Bewegung und der unerwarteten Unterstützung durch ein Beratungsinstitut Wirklichkeit. Die etablierten Parteien versuchen, die "Neudenker" in die rechte Ecke zu stellen, und gehen nach der für sie verlorenen Bundestagswahl eine fragile Vierfarbenkoalition ein. Damit erreichen sie allerdings das Gegenteil. Die Neudenker werden angesichts der chaotisch handelnden Regierung immer populärer. Der Plan des geheimnisvollen "Council of Global Welfare", der hinter der Parteigründung steckt, scheint aufzugehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 250

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tand, Tand

Ist das Gebilde von Menschenhand!

Theodor Fontane, Die Brückʼ am Tay

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Danksagung

1

In Markus Müllers Hosentasche summte es leise. „Moment mal“, unterbrach er sein Gegenüber, „tut mir leid.“ Widerwillig nestelte er sein Smartphone hervor. „Ja, Anna, was gibt’s?“ Während er zuhörte, verzog er genervt sein Gesicht. „Ja, ja, ich habe es nicht vergessen. Ich werde Dirk sofort fragen. Tschüs, tschüs, bis nachher. Tschüs.“ Und zu Dirk Spieß gewandt: „Seit es diese blöden Dinger gibt, wird man für jeden Mist angerufen.“ Er ließ den Apparat wieder in der Hosentasche verschwinden.

„Was willst du mich denn sofort fragen?“ Dirk Spieß leerte sein Weinglas.

„Ach, wie der Fliesenleger heißt, der eure Terrasse im vorletzten Jahr so schön erneuert hat. Unsere hat es vielleicht auch mal nötig. Anna liegt mir damit schon seit Wochen in den Ohren.“

„Der heißt Wohler. Oder – warte mal.“ Spieß schloß für einen Moment die Augen und dachte nach. „Wohlerst. Mit s-t am Ende.“

„Schick mir doch am besten gleich den Link rüber.“

Spieß lachte. „Nee, mein Lieber, wohl kaum. Ich habe die Kiste zu Hause gelassen. So wichtig habe ich es nicht. Ich werfe dir morgen einen Zettel mit der Telefonnummer in den Briefkasten. – Steffie, bringst du mir bitte noch einen Hauswein?“ rief er der Bedienung hinterher. Die bestätigte die Bestellung mit einem Kopfnicken und verschwand gleich darauf im mit Weinranken überwachsenen Wirtshaus. Dann fuhr er fort. „So einen schönen Abend laß ich mir doch nicht vom Händi-Geklingel vermiesen.“ Er blickte wohlgelaunt in die Runde.

Sie saßen im lauschigen Hof der „Weinrebe“. Das beliebte Lokal war bereits zu dieser frühen Abendstunde gut besucht. Bei solch einem sonnigen Augusttag, der nun milde zu Ende ging, allerdings auch kein Wunder. In weiser Voraussicht hatte Müller deshalb schon gestern einen Tisch reservieren lassen.

„Eigentlich hast du ja recht“, meinte Markus. „Meine Frau läßt bei jedem Summen und Klingeln alles stehen und liegen und stürzt zu ihrem Smartphone. Meistens handelt es sich um irgendein blödes Video oder Fotos von zubereitetem Essen und ähnlichen Belanglosigkeiten. Besonders schlimm sind die Selfies, bei denen dich ein verzerrtes Gesicht angrinst.“

„Völlig überflüssig. Stiehlt einem nur die Zeit. Wußtest du, daß das Versenden einer Nachricht wegen des dazu benötigten Stroms jedesmal zwei Gramm CO2 verursacht? Und eine Stunde Streaming so viel CO2 wie eine Stunde Autofahrt? Aber alle wollen das Klima retten – angeblich.“

In den nächsten Minuten beklagten sie die beim Umwelt- und Klimaschutz herrschende Doppelmoral. Biogemüse kaufen, SUV fahren, nach sonstwohin fliegen, Grüne wählen und sich danach wie bei einem mittelalterlichen Ablaß sündenrein und moralisch überlegen fühlen.

„Ganz schlimm sind die Jungen und Jüngeren“, meinte Dirk Spieß. „Seit mein Sohn von den Großeltern – übrigens gegen meinen Willen, denn er ist erst zehn Jahre alt – ein Smartphone bekommen hat, hängt er auch andauernd daran. Von meiner Tochter bin ich das ja schon länger gewohnt. Mehrfach am Tag müssen die die Dinger aufladen. Ich habe ihnen schon Händi-Verbot angedroht, falls sie die Schule vernachlässigen sollten.“

„Händi-Verbot! Dirk, du hast aber Mut.“ Müller lachte kurz auf. „Die jungen Leute bekommen doch bereits einen Nervenzusammenbruch, wenn sie mal eine Stunde ohne sind. Bei meiner Tochter ist das jedenfalls so. Das ist wie eine Droge.“

„Das ist eine Droge. Manchmal sind die Dinger ja durchaus praktisch, und es gibt Situationen, in denen sie sehr hilfreich sein können. Zum Bespiel, wenn du mit dem Auto in der Pampa liegenbleibst. Auch beruflich, wenn man damit diszipliniert umgeht und nicht andauernd andere bei der Arbeit stört – oder sogar nachts. Aber sonst sind sie eher eine Plage.“

„Achtung, der Wein kommt.“ Steffie trat von hinten an den Tisch heran und goß Spieß aus einem kleinen Glaskännchen nach. „Wohl bekomm’s. Für Sie auch noch ein Weinchen?“ Sie deutete auf Müllers fast leeres Glas. Der Angesprochene stellte eine spätere Order in Aussicht. Dann wandte er sich wieder Dirk Spieß zu.

„Diese Chat-Gruppen können gefährlich sein. Gerade für junge Mädchen. Die werden überredet, Nacktbilder an völlig Unbekannte zu schicken. Und dann kreisen die auf ewig im Netz herum. Ganz zu schweigen von den Verabredungen zu Treffen, die böse enden können.

„Unglaublich, wie naiv manche sind“, bestätigte Spieß. „Ich hoffe, daß Hannah unsere Mahnung beherzigt, von sich nicht zu viel preiszugeben und überhaupt mit den sozialen Medien kritisch umzugehen.“

Markus Müller schnaubte verächtlich. „Die unsozialen Medien! Facebook, Twitter, Instagram und wie das ganze Zeugs heißt. Was auf diesen Kanälen an Propaganda und Lügen verbreitet wird! Fake-News, wie das Neuhochdeutsch heißt. Alles ungeprüft.“

„Mein Vater, der gerade siebzig geworden ist, sagt immer, daß man sich über den Dreck, der da kübelweise ausgegossen wird, nicht wundern muß, wenn die Urheber sich hinter Pseudonymen verstecken können. Früher hätten sich solche Sachen meistens nicht über die Ortsgrenze hinaus verbreitet, erst recht nicht in diesem Tempo. Das sei ein moderner Pranger, nur, daß der Betroffene nicht weiß, wer ihm da ins Gesicht spuckt.“

„Da hat er recht, dein Vater“, pflichtete Müller bei. „Ich verstehe auch nicht, weshalb die Politiker hier mitmachen. Nicht nur dieser Trump, nein, sogar die Bundeskanzlerin hat einen Twitter-Account. Merkwürdigst. Ich halte das für unseriös.“

„Mehr als unseriös sind in meinen Augen diese Influencer, meistens weiblichen Geschlechts. Die haben auf Jugendliche einen unglaublichen Einfluß. Da werden bestimmtes Aussehen und Körperideale propagiert, mit denen die allermeisten nicht dienen können. Nicht zuletzt deshalb, weil die Bilder häufig bearbeitet sind und Menschen zeigen, die es allein aus anatomischen Gründen so nicht geben kann. Das Ergebnis ist Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Da wird dann gehungert, bis der Arzt kommen muß. Außerdem wird zum Kauf irgendwelcher teurer Klamotten und Kosmetika animiert.“

„Wenn du genug Leute hast, die deinen Internet-Auftritt anklicken, kannst du damit sogar viel Geld verdienen. Sozusagen mit heißer Luft.“ Müller schüttelte den Kopf.

„Was folgern wir daraus?“ Dirk Spieß grinste. Sein Gegenüber schaute ihn gespannt an. „Selber probieren!“

„Na ja“, kam es gedehnt zurück. „Wenn ich so etwas machen würde, dann nur mit einem wirklichen Thema.“

„Du meinst ein ernsthaftes Thema. Ob du damit aber genügend Interessenten, sogenannte Follower, findest? Du mußt ja auf eine große Zahl kommen. Sonst fließt kein Geld. Wie würde denn bei dir so ein Hashtag heißen, Markus?“

„Gleich. Ich will mir erst noch ein Glas genehmigen.“ Müller drehte sich suchend nach der Bedienung um. Dabei fiel sein Blick auch in Richtung Hofzugang. „Ach, du meine Güte, da kommt ja der Arnold. Da gehe ich lieber in Deckung.“ Er zog den Kopf ein.

Jetzt schaute auch Dirk Spieß zum Eingang hinüber. „Du meinst doch nicht etwa den Sven? Sven Torsten Arnold?“

„Doch, genau den. Hoffentlich sieht der uns nicht.“

Es blieb ein frommer Wunsch. Im nächsten Moment nämlich nahm Arnold Kurs auf den Tisch der beiden, im Schlepptau eine sehr blonde, sehr angemalte Frau deutlich unter dreißig, die ein bauchfreies Top mit gewagtem Ausschnitt trug.

„Hallöchen.“ Arnold klopfte zur Begrüßung zweimal auf den Tisch. „Mensch, Dirk, dich habe ich schon länger nicht mehr gesehen. Wo versteckst du dich bloß?“ Er wirkte sehr aufgeräumt. „Wir haben uns aber auch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, Herr Müller. Was machen die Geschäfte? Sind Sie noch bei der ChemMedical?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er Anstalten, sich neben Spieß zu setzen. „Geh schon mal rüber zu den anderen, Nathalie. Ich komme gleich nach.“ Er gab seiner Freundin einen herzhaften Klaps auf den Po, der sich unter dem kurzen, engen weißen Rock einladend abzeichnete. Nathalie folgte der Aufforderung und steuerte auf einen langen Tisch drei Reihen weiter zu, wo sie mit großem Hallo empfangen wurde.

In diesem Augenblick eilte die Bedienung herbei. Arnold begrüßte sie mit einem herzhaften Wangenkuß. „Steffie, mir auch einen Silvaner aus Franken“, schloß er sich Markus Müller an. „Bitte hier an den Tisch.“ Damit setzte er sich endgültig.

„Wie geht’s dir denn, alter Bürgerschreck?“ Arnold legte den Arm vertraulich um die Schulter von Spieß. „Wenn du meine Steuererklärung auf den Tisch bekommst, weißt du hoffentlich, was du tun mußt.“ Er lachte laut. „Aber du warst ja schon in der Schule überkorrekt.“ Dabei blinzelte er zu Müller hinüber. „Damals hat sich keiner von uns darüber gewundert, daß du beim Finanzamt anfangen wolltest.“

Dirk Spieß murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und griff zu seinem Weinglas.

Arnold kramte sein Händi hervor und begann es zu bearbeiten. „Sorry, ist geschäftlich.“ Er wischte und tippte eine Weile herum, legte das Gerät dann neben sich auf den Tisch.

„Siehst du, Dirk, auch ein Süchtiger“, meinte Müller grinsend.

„Ich bin schließlich kein Beamter. Für Consultants gibt es keinen Feierabend“, verteidigte sich Arnold. „Außerdem finde ich die Dinger sehr, sehr praktisch. Habt ihr schon meine Homepage gesehen?“ Ehe er wieder zu seinem Händi greifen konnte, wurde er von Steffie unterbrochen. „Dann erst einmal Prost“, hob er sein Glas. Die beiden anderen taten es ihm nach.

„Wir haben gerade über die Smartphone-Sucht gesprochen“, erläuterte Spieß. „Besonders über die Gefahren, die von den vielen Falschmeldungen und Haßkommentaren im Netz ausgehen.“

„Und wir haben uns gefragt, ob man auch mit einem seriösen Thema genügend Follower bekommen kann“, ergänzte Müller.

„Mh, seriös.“ Arnold dachte kurz nach. „Na klar, schafft das Finanzamt ab zum Beispiel.“ Er klopfte Spieß gackernd auf den Rücken.

„Sehr seriös!“ meinte der sarkastisch.

„War nur ein Witz. Da hättest du allerdings gigantisch viele Follower. Seriös – wie wäre es mit ...“ Arnold überlegte. „Wie wäre es denn mit – mit sexueller Gewalt gegen Kinder? Die lehnt doch jeder ab. Das kannst du gleich hier in der Weinrebe nachprüfen.“ Er wurde immer eifriger. „Mit dem Thema kannst du glatt eine Partei gründen. Die käme sofort in den Bundestag.“

Spieß und Müller äußerten Skepsis. Ein-Thema-Parteien hätten keine Zukunft, das habe man doch bei den „Piraten“ gesehen. Und die AfD sei demnächst dran.

„Und die Grünen?“ entgegnete Arnold und nahm einen tiefen Schluck. „Umwelt, Klima, Atomkraft nein danke, Umwelt, Klima, Atomkraft nein danke, Umwelt ...“

Müller winkte ab. „Da läuft viel über Angstmacherei und Übertreibung. Aber im Unterschied dazu werden Sie den Leuten kaum einreden können, daß jeder zweite ein Pädophiler ist.“

„Ha, aber moralisch steht man auf der ganz, ganz sicheren Seite. Bei dem Grünen-Dauerlutscher gibt es auch bedenkenwerte Gegenargumente. Nicht aber bei Pädophilie.“

„Höchstens von ein paar obskuren Psychologen“, warf Spieß ein.

„Ich gehe jede Wette ein, daß das funktionieren würde. – So, ihr Lieben, ich muß mich mal um meine Leute da hinten kümmern.“ Arnold leerte sein Glas schon im Stehen. „Ich kann es doch hier lassen, oder?“ Bereits auf halbem Weg zum großen Tisch, rief er ihnen noch ein „Bis später“ zu.

„Hoffentlich nicht“, sagte Dirk Spieß halblaut nach einer kurzen Schamfrist.

„Der Arnold war dein Schulkamerad? Was für ein Zufall. Ich kenne ihn nämlich beruflich. Der hat vor drei Jahren in unserer Firma als Berater in einem Projekt mitgewirkt. Da war er noch bei ICE angestellt ...“

„EY?“

„Nein, ICE wie Eis. International Consulting Experience. Angeblich sollen die ihn rausgeschmissen haben. Für mich kein Wunder. Der Mann ist ein Dünnbrettbohrer.“

„Ach, sieh an“, zeigte sich Dirk Spieß überrascht. „Dann ist seine Selbständigkeit gar nicht so freiwillig, wie er tut. STAR Consulting nennt er seinen Ein-Mann-Laden. Na, den großen Max markiert hat er schon in der Schule. STAR für Sven Torsten Arnold hat er damals überall hingekritzelt, sogar in Bänke geritzt. Aber reden konnte er, das muß der Neid ihm lassen. Damit hat er in den Laberfächern gepunktet. In der achten Klasse ist er übrigens mal sitzen geblieben. So kam er in meine Klasse.“

Markus Müller stimmte Dirks Einschätzung zu. Bezeichnend sei ja schon Arnolds T-Shirt mit dem Aufdruck „University of California Berkley“. Die habe er wohl höchstens als Tourist gesehen. Allerdings dürfe man nicht vergessen, daß er einen Doktortitel besitze.

Daraufhin lächelte Dirk maliziös. Es gehe das Gerücht um, daß der Titel lediglich gekauft sei. Denn auf der Uni habe der Sven am allerwenigsten die Hörsäle von innen gesehen. Vielmehr habe er sich in Studentenkneipen und Cafés seinen liebsten Studienobjekten gewidmet: jungen Frauen. Arnold stamme aus einer reichen Familie, der eine Maschinenfabrik gehört habe. Nach dem Tod des Vaters vor etlichen Jahren hätten Mutter und Sohn die Firma an ein amerikanisches Unternehmen verkauft. Die Mutter lebe in einer hochherrschaftlichen Villa mit parkähnlichem Garten. Sven bewohne ein Penthaus in einem der eigenen Mietshäuser. „Nein, Sorgen muß der sich nicht machen, selbst wenn seine Beratungsfirma nicht läuft.“

„Daß die floriert, kann ich mir ehrlicherweise auch gar nicht vorstellen“, meinte Markus. Er berichtete von etlichen Fehlleistungen Arnolds damals. Inhaltsleere Präsentationen, mit viel Trara vorgetragen. Sämtliche Vorschläge seien für das Projekt wertlos gewesen, weil der Mann von der Materie einfach nichts verstanden habe. „Am Ende hat unser Projektleiter bei ICE die Ablösung des selbsternannten Stars durchgesetzt.“

In der Klasse habe der Sven als einer der Ältesten schon eine wichtige Rolle gespielt, äußerte Dirk Spieß. Nicht nur mit dem Mund, sondern auch bei Schülerstreichen und später bei ungezügelten Freizeitaktivitäten sei er immer vorneweg gewesen. Legendär die Parties im weiträumigen Keller der Villa – immer in Abwesenheit der Eltern. Mein lieber Scholli, da sei die Post abgegangen. Denn der frühreife Sven habe eine Menge Mädchen eingeladen, die zur Freude seiner männlichen Gäste teilweise sehr aufgeschlossen gewesen seien. Den Erfolg beim anderen Geschlecht könne man als seine mit Abstand hervorstechendste Begabung bezeichnen. Damals hätten die Jungens ihn natürlich darum beneidet.

Spieß war eine gewisse erinnerungsselige Begeisterung anzumerken. „Anfang des Jahres habe ich ihn mal zusammen mit meiner Tochter zufällig in der Stadt getroffen“, fuhr er fort. „Der hatte nur Augen für die damals 13-Jährige.“ Jetzt klang es bißchen empört.

„Kann man sogar verstehen. Eure Hannah ist ohne Zweifel ein hübsches Mädchen. Und immer freundlich“, sagte Markus. „Arnolds recht offensive, durchaus charmante Art allem Weiblichen gegenüber war übrigens ein zusätzlicher Grund, ihn aus dem Projekt zu werfen. Der verdrehte den Frauen den Kopf und brachte so Unruhe in das Team.“

Damit wechselten die beiden das Gesprächsthema. Sie redeten über dies und das, bestellten noch zweimal nach und genossen die sommerliche Stimmung. Inzwischen brannten auch die bunten Glühbirnen, die sich an langen Girlanden durch den Hof zogen.

Plötzlich stand Arnold wieder vor ihnen. „Jungs, hört mal zu“, hob er leicht angeheitert an, „ich meine das mit der Wette ernst – todernst.“

Spieß und Müller schauten ihn einigermaßen verdutzt an.

„Na, Mensch, das mit dem Mißbrauch von Kindern. Ich wette mit euch um tausend Euro, daß ich mit Hilfe des Internets eine Partei gründen und damit die nächste Wahl gewinnen werde.“ Er stutzte, vollführte ein paar unkoordinierte Bewegungen mit der rechten Hand und setzte noch einmal an. „Quatsch, ich meine natürlich, daß ich in den Bundestag einziehen werde. Ich bekomme dafür genügend Follower zusammen!“

„Sven, das Geld kannst du uns gleich geben.“ Dirk Spieß lachte.

„Gerade du“, Arnold zeigte mit ausgestrecktem Finger auf seinen ehemaligen Schulkameraden, „gerade du solltest wissen, daß ich erstens immer was riskiere und zweitens in Gelddingen nicht kleinlich bin. Also, geht ihr auf die Wette ein?“ Er hielt Müller die rechte Hand hin.

Die Angesprochenen schauten sich eine kurze Weile an.

„Ihr seid mir schöne Feiglinge. Gut, ich verschärfe. Ich wette, daß ich sogar mit mindestens fünfundzwanzig Prozent in den Bundestag kommen werde. Also los!“

Nach einem weiteren Blickwechsel nickte Spieß fast unmerklich Müller zu.

„Einverstanden. Ich wiederhole: Wir bekommen das Geld, wenn Sie mit Ihrer Partei nicht über fünfundzwanzig Prozent kommen. 24,99 Prozent reichen nicht aus.“

Nun zögerte Arnold für einen Moment. Dann: „Der Müller will es wie immer ganz genau wissen. So kennt man ihn. Aber gut – no risk, no fun. Das ist meine Devise.“

Mit zwei Handschlägen wurde die Wette besiegelt.

„Jetzt muß ich aber unbedingt auf die Toilette. Sonst machʼ ich mir noch in die Hose.“ Leicht schwankend ging Arnold in Richtung Wirtshaus davon.

„Meine Güte, der hat schon ganz hübsch geladen. Ob wir mit dem überhaupt so eine Wette hätten abschließen dürfen? Mit einem Besoffenen, der nicht mehr unbedingt Herr seiner Sinne ist?“

„Da sollten wir uns keine Gedanken machen. Nach deiner Aussage trifft es keinen Armen“, beruhigte Müller. „Er wollte es ja unbedingt. Für uns ein nahezu sicherer Gewinn. Den müssen wir aber hoffentlich nicht versteuern, oder?“ frotzelte er.

„Nein, bestimmt nicht.“

2

Sven Torsten Arnold ging die Sache zügig an, immerhin galt es, eine gewagte Wette zu gewinnen. Mit dem Internet kannte er sich aus, als selbständiger Berater war er in den sozialen Medien eifrig unterwegs. Seinen offiziellen Internet-Auftritt hatte er sich zwar von einem Profi machen lassen, aber Änderungen daran nahm er selbst vor – allerdings waren es auch nicht sehr viele. Wie überhaupt die Resonanz auf seine Bemühungen, an Aufträge zu kommen, leider sehr mäßig war.

Seit Gründung von STAR vor zwei Jahren hatten sich tatsächlich nur fünf Interessenten an ihn gewendet. Mit den drei größeren mittelständischen Firmen war er nicht ins Geschäft gekommen, weil man ihm bedeutet hatte, daß sein Standardvorschlag, nämlich als erstes Bleistifte und Papier einzusparen, um so schnell aus den roten Zahlen zu kommen, doch wohl etwas mager sei. Bei dem metallverarbeitenden Betrieb (ca. 350 Angestellte) konnte er zumindest aus der matten Erinnerung an die fachlichen Erzählungen seines Vaters etwas Honig saugen, was ihm den bescheiden dotierten Auftrag einbrachte, eine Umstrukturierung zu konzipieren. Das Geld hatte er tatsächlich erhalten, wenn auch mit einem Abschlag, die Umsetzung allerdings, die in Wahrheit gar nicht auf seinem Plan beruhte, wurde an eine andere Beratungsfirma vergeben. Geblieben war ihm Lust auf schöne Schuhe, eine regionale Kette, für die er eine Machbarkeitsstudie zur Erweiterung des Filialnetzes erstellt hatte. Daß seine Dienste dort immer noch von Zeit zu Zeit in Anspruch genommen wurden, war Nathalie zu verdanken. Das einzige Kind des Inhabers pries ihren Liebhaber – Sven hatte schnell erkannt, daß der Weg zu Aufträgen hier über Herz und Bett (für ihn zählte eigentlich nur letzteres) führen würde –unablässig bei Papa an, und der konnte seiner vergötterten Tochter einfach nichts abschlagen.

Da Arnold jedoch bei seiner Mutter eine ähnliche Stellung einnahm, bereitete ihm das sehr dünne Auftragspolster kein großes Kopfzerbrechen. Mama würde immer einspringen, wenn er knapp bei Kasse wäre. Angesichts des ererbten Vermögens stand dies allerdings in keiner Weise zu befürchten. Er hatte ein schönes Leben!

Nun also rief Arnold unter #kinderschänder zu entschlossenem Handeln gegen Pädophilie auf. Er verfaßte einen Text, der sehr engagiert, aber nicht nach Schaum vor dem Mund klang. Auf das Wort „Schwein“, das ihm durchaus auf der Zunge lag, verzichtete er, ebenso auf irgendwelche Forderungen nach drakonischen Strafen. Er plädierte vielmehr für das konsequente Anwenden bereits existierender Gesetze. Daran ließen es, so schrieb er, deutsche Gerichte, wie bei anderen Strafsachen übrigens auch, leider häufig fehlen.

Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten. Innerhalb von drei Tagen erhielt er mehrere hundert Kommentare, nach einer Woche hatte er bereits über tausend Follower. Las er die ersten Zuschriften noch allesamt sorgfältig durch, so mußte er sich rasch auf Stichproben beschränken. Die überwältigende Mehrheit der Tweets stimmte seinem Anliegen zu.

Wie in diesem Medium nicht anders zu erwarten, nahmen viele Schreiber dabei kein Blatt vor den Mund. Sehr treffend fand er die Bezeichnung Pädokriminelle für die, die der Kinderseele unermeßlichen und kaum zu heilenden Schaden zufügten. Das von Arnold vermiedene Wort feierte fröhliche Urstände und war bei weitem nicht das ausfallendste. Auch Kastrieren, Schwanzabschneiden (besonders von Frauen gewünscht) und Umlegen wurden nachdrücklich empfohlen. Auf einige Tweets reagierte er seinerseits wieder, diejenigen, die übelste Beschimpfungen und Schlimmeres enthielten, ignorierte er.

Tatsächlich gab es auch ein paar wenige Verteidiger der Pädophilie, angefangen bei einfühlsam Argumentierenden: „Der Pädophile kann seine Veranlagung zwar bekämpfen, aber dieser Kampf ist mit unsäglichen seelischen Leiden verbunden. Denn er kann nicht er selbst sein. Wer aber kann so etwas verlangen? Handelt es sich dabei nicht letztlich um einen Angriff auf die ungehinderte Persönlichkeitsentwicklung, einem Menschenrecht?“ – Damit, kam es Arnold in den Sinn, konnte man auch jedes andere Verbrechen weißwaschen. Das konsequent zu Ende gedacht, brauchte man eigentlich kein Strafgesetzbuch mehr ... – „Die Grünen waren in dern 80ern schon sehr viel weiter“, meinte @kinderfreund, „damals haben sie Straffreiheit für einvernehmlichen Sex zwischen Kindern und Erwachsenen gefordert. Jetzt aber haben verklemmte Spießer das Sagen. Die Liebe ist jedoch allemal stärker als jedes Verbot.“ Sehr deutlich wurde @kidsforfun: „Du überhebliches Arschloch. Du fickst Frauen und findest das normal. Ich finde es normal, kleine Mädchen zu ficken. Triebgesteuert sind wir beide. Halt also dein ungewaschenes Maul und diskriminiere nicht unbescholtene Bürger!“

Auch manche unter denen, die Pädophilie verabscheuten, offenbarten Ansichten, die Arnold merkwürdig bis abstrus vorkamen. Eine Petra Mikosch beispielsweise schrieb von Kleinkindern, die heimlich in Container-Schiffen von Asien nach Europa und Amerika verschleppt und dort an Kinderschänder verkauft würden. Das funktioniere nur deshalb so reibungslos, weil dieser Handel von ganz oben gedeckt würde. Damit hatte die Frau eine Lawine losgetreten, die vom eigentlichen Anliegen zunehmend wegführte.

In einer nicht enden wollenden Reihe von Beiträgen, einem ellenlangen Thread, ging es Schlag auf Schlag. Nicht nur die Reichen, Berühmten und Verdorbenen seien Kunden bei diesem schmutzigen Geschäft, nein, noch viel schlimmer, auch die Reptiloiden, die Echsenmenschen, würden solche Kinder kaufen und danach auf rituelle Weise töten, weil sie deren Blut benötigten, um ihr menschliches Aussehen, das uns alle täusche, immer wieder zu erneuern. Und die Haut der hingeschlachteten Kinder würde zu teuerem Leder verarbeitet, wußte ein anderer zu berichten. Die roten Schuhe des Papstes seien daraus gefertigt – möglicherweise, und das sei zu dessen Gunsten einmal angenommen, wisse der davon gar nichts.

Arnold hatte erst einmal bei Wikipedia nachlesen müssen, was es mit diesen Reptiloiden auf sich hatte. Er wollte gar nicht glauben, daß derartiger Unsinn überhaupt von irgend jemandem ernst genommen wurde. Da erlaubte sich ein Brite namens Icke, der darüber ein ganzes Buch geschrieben hatte, wohl einen Scherz nach dem Motto: Mal sehen, wie viele Menschen selbst Hanebüchenes für die Wahrheit nehmen. Es waren offensichtlich doch ziemlich viele, die glaubten, daß Bill und Hillary Clinton, Bill Gates, die beiden Bushs, Barack Obama, Elisabeth II. und sogar, welche Ehre, die dröge Merkel in Wirklichkeit solche Echsenmenschen waren. Wobei sich dank weiterer Tweets herausstellte, daß es gerade die Bundeskanzlerin faustdick hinter den Ohren hatte. Sie sei nämlich – Arnold brach spätestens an dieser Stelle in ein wieherndes Gelächter aus – Adolf Hitlers späte Tochter. Hitler sei nämlich zusammen mit Eva Braun aus dem Führerbunker entkommen. Schon vorher habe die Braun dem Führer heimlich einen Sohn und eine Tochter geschenkt. Und diese Tochter sei die Mutter von Barack Obama, dieser also Hitlers Enkel! Was der Opa wohl dazu in seinem angedichteten südamerikanischen Exil gesagt, besser geschrien haben mochte? Rassenschande!?

Jetzt endlich, so rief Arnold voller Ironie aus, verstehe er manches, was auf ihn in der Politik bisher befremdlich gewirkt habe. Daß eine Tante, in diesem Fall Tante Angela, ihrem Neffen gegenüber Zuneigung zeigte, war doch nur zu natürlich. „Was mir aber daran doch widersprüchlich vorkommt“, kicherte er, „ist der Spruch, daß es sich bei Merkel um Honeckers Rache handeln soll.“

Daneben tauchten Verschwörungstheorien auf, die schon seit Jahrzehnten im Umlauf waren: UFOs, Poltergeister, Kontakte ins Jenseits, Telepathie und so weiter und so fort. Noch nie gehört hatte er von den Protokollen der Weisen von Zion. Laut Google handelte es ich um einen längeren Text, kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende anonym auf Russisch verfaßt, in dem es um eine jüdische Verschwörung ging, die die Weltherrschaft anstrebe. Dieses Machwerk sei eine folgenreiche Fälschung, habe sie doch den Antisemitismus, im Holocaust gipfelnd, erheblich gefördert. Augenscheinlich wurden diese Protokolle trotz dieses wissenschaftlichen Urteils in bestimmten Kreisen sehr ernst genommen. Man war hier fest davon überzeugt, daß irgendwo, sozusagen in einem Hinterzimmer, ein paar wenige Menschen säßen, die heimlich die Geschicke der Welt in ihrem Sinne steuerten. Wieder tauchten die Namen der üblichen Verdächtigen auf: Gates, Clinton, Soros, Obama, Buffet, Bezos, Musk.

Spaßeshalber folgte Arnold einem Video-Link, den einer, der sich „der Historiker“ nannte, dem Tweet über irgendwelche Illuminati beigefügt hatte. Zu seiner großen Verblüffung saß da plötzlich jemand, den er von der Schule her kannte: Gert Lupus, der seines Wissens Gymnasiallehrer geworden war. Der erklärte anhand von Schautafeln, die er in seinem Arbeitszimmer rundherum aufgestellt hatte, wer die Illuminati waren, und „bewies“ mit schulmeisterlicher Stim - me, daß dieser 1776 gegründete und 1785 schon wieder verbotene Geheimbund in Wahrheit weiter existiere und – wie sollte es auch anders sein? – die Weltherrschaft anstrebe. Als aktuelle Mitglieder zählte Aufklärer Lupus nur sattsam bekannte Namen auf.

Alles Pillepalle und höherer Blödsinn, von dem Sven Torsten Arnold zusehends genervt war.

Im November mußte er einsehen, daß es mit diesem bunten Haufen, der ihm da folgte, nichts zu gewinnen gab. Einfach zu viele Spinner, die sich gegenseitig mit den hirnrissigsten Behauptungen zu überbieten versuchten. Er hatte mit seinem gut gemeinten Hashtag #kinderschänder eine Blase angestochen, in der die immerselben Geschichten kursierten. Offenbar schrieb man fleißig von einander ab, was aber nach dem Motto „Leute eßt Scheiße, Millionen von Fliegen können sich nicht irren“ den Eindruck erweckte, hier handele es sich um unabweisbare Tatsachen.

„Ich habe vorgestern den Arnold zufällig in der Stadt getroffen und auf unsere Wette angesprochen“, rief Dirk Spieß seinem Nachbarn über den Zaun zu.

Auch Markus Müller machte gerade seinen Garten winterfest. Er unterbrach das Beschneiden der Kletterrosen und trat an den Zaun heran. „Und was hat er gesagt?“

„Leute wie der STAR geben natürlich nicht sofort zu, daß etwas nicht wie gewünscht läuft. Aber ich weiß ja, wie man ihn aus der Reserve lockt. Er hat es zwar nur indirekt angedeutet, aber die Art und Weise, wie er von interessanten Entwicklungen, überraschenden Erkenntnissen und strategischem Abwarten und gesprochen hat, läßt nur den Schluß zu, daß er weiter denn je von der Gründung einer Partei entfernt ist.“

„Wie ich schon in der Weinrebe gesagt habe, die tausend Euro gehören uns“, meinte Müller amüsiert. „Ich überlege mir, ob ich meiner Frau nicht schon dieses Jahr ein dickes Weihnachtsgeschenk machen soll.“ Er grinste breit, hob seine Gartenschere mit einem „Na dann“ und begab sich zurück an seine Arbeit.

3

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Warum sollte das denn ausgerechnet für Sven Arnolds Wette nicht gelten?

An Silvester wurde der Ausbruch einer neuartigen Lungenentzündung in der Stadt Wuhan bekannt. Ach, schon wieder in China, kein Wunder, die mit ihren merkwürdigen Eßgewohnheiten, sagten die Leute. Da springen doch andauernd Erreger von irgendwelchen Tieren, Fledermäusen gar?, auf den Menschen über. Zum Glück alles weit weg.

Doch in einer globalisierten Welt hatte das umgangssprachlich Corona genannte Virus mit dem wissenschaftlichen Namen COVID-19 leichtes Spiel. Schon Ende Januar 2020 traten in Deutschland die ersten Fälle auf, und im Fe - bruar starben in Italien zwei Personen, die ersten Europäer, an Corona.

Das Tempo der Verbreitung nahm weiter zu. Recht bald hatte das Virus, gegen das es kein Mittel zu geben schien, den ganzen Erdball im Griff. Nicht nur die Intensivstationen füllten sich, sondern auch die Leichenhallen. Hierzulande wußte man sich schließlich nicht anders zu helfen, als ab Mitte März ein siebenwöchiges Herunterfahren allen öffentlichen Lebens zu verordnen (man benutzte übersetzungsfaul den englischen Begriff Lockdown). Selbst die Schulen und Kindergärten blieben geschlossen. Nur Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Arztpraxen und – erstaunlicherweise – Baumärkte durften öffnen. Die Innenstädte verwaisten, auf den Straßen nahm die Verkehrsdichte deutlich ab, nicht zuletzt, weil die als Homeoffice bezeichnete Arbeit am heimischen PC plötzlich großzügig erlaubt wurde (die (d)englischversessenen Deutschen bemerkten nicht, daß Homeoffice korrekt übersetzt das britische Innenministerium bezeichnete – sie wurden wieder einmal Opfer ihrer naiven Anbiederei). Faktisch handelte es sich um eine Ausgangssperre, denn auch Begegnungen in privatem Rahmen wurden reglementiert. So sollten sich höchstens zwei Haushalte treffen dürfen, Besuche unter Verwandten davon nicht ausgenommen. Manche genossen den verordneten Stillstand, viele fanden sich fatalistisch oder zähneknirschend damit ab – diente er doch auch dem Schutz der eigenen Gesundheit. Einige aber muckten gegen die Einschränkungen des Alltagslebens auf und gingen auf die Straße. In verschiedenen europäischen Städten kam es zu Demonstrationen, die nicht immer friedlich verliefen.

Auch in Deutschland mehrten sich die Proteste gegen die verordneten Maßnahmen. Zunächst versammelten sich nur wenige Menschen unter freiem Himmel. Aus Trotz standen sie eng beieinander und trugen keine Masken, um das dringend Gebotene in einem zu zivilem Ungehorsam hochstilisierten Akt zu unterlaufen.

Die ersten beiden Kundgebungen in der Stadt bekam Arnold gar nicht mit. Doch zur dritten fand er sich am Treffpunkt ein, zunächst als neugieriger Beobachter am Rand. Er war jemand, der schon als Jugendlicher Autoritäten kaum respektiert hatte, Unterordnung verabscheute und sich großzügig auch Freiheiten herausnahm, die allgemein akzeptierte Regeln und ungeschriebene, manchmal sogar geschriebene Gesetze ignorierten. Damit verbundene Schwierigkeiten hatten für ihn selten zu ernsten Konsequenzen geführt, denn Geld und Einfluß seiner Familie waren ihm immer Schutz gewesen. An den Corona-Verordnungen aber störte ihn besonders, daß Cafés, Bars und Nachtclubs geschlossen wurden. Denn dadurch konnte er einer seiner liebsten Beschäftigungen kaum noch nachgehen: Mädels kennenzulernen und möglichst schnell „sein Gürkchen einzulegen“ (diesen lockeren Sprachgebrauch seiner Jugendzeit hatte er augenzwinkernd beibehalten). In Ermanglung solcher unverbindlichen Affären blieb ihm allein Nathalie, die gewiß anstellig war, doch seine Eroberungsgelüste natürlich nicht mehr befriedigen konnte.

Der Demonstrationszug – es mochten etwas mehr als hundert Leute unterschiedlichen Alters sein, alle ohne Maske – bewegte sich vom Marktplatz zum nicht allzu weit entfernten Rathaus. Einige trugen Plakate mit Aufschriften wie „Coronadiktatur beenden“, „Damals Hexen-Wahn – heute Corona-Wahn“, „Masken machen Angst“ oder „Schluss mit den Einschränkungen!“. Ein paar Polizisten versuchten die Teilnehmer dazu zu bringen, zum Nachbarn etwas ähnliches wie 1,5 Meter Abstand zu halten. Dies gelang immerhin teilweise, so daß sich die Prozession ein wenig auseinander zog.