Buchenheim - Wolfgang Sanden - E-Book

Buchenheim E-Book

Wolfgang Sanden

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Beschreibung

Jörg Dreistett, Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik, der in wenigen Tagen 60 Jahre alt wird, befindet sich auf dem Weg nach Hamburg zu seinem 10 Jahre älteren Bruder Hans. Der hatte sein Elternhaus wegen seiner Jugendfreundin im Streit verlassen und den größten Teil seines Lebens als Provinzschauspieler verbracht. Vor ein paar Jahren reüssierte er mit dem Roman "Nur die Liebe zählt", in dem er den Konflikt mit dem Elternhaus verzerrt darstellt, überraschend zum Bestsellerautor. Die Beziehung zwischen den Brüdern, seit Jahrzehnten schon durch Hans' Zwist mit den Eltern überschattet, wird durch dieses Buch noch weiter belastet. Zudem neidet Jörg seinem Bruder den schriftstellerischen Erfolg aus zwei Gründen: Das "Machwerk" ist für ihn lediglich gehobene Trivialliteratur, und - viel wesentlicher - er schreibt selbst, wenn auch bisher nur für die Schublade, hält sich aber für den besseren Autor. Auf der Fahrt kommt Dreistett in der Nähe des Städtchens Buchenheim vorbei, in dem er seine frühe Kindheit verbracht hat. Dies löst in ihm eine Flut an Erinnerungen aus. Bald darauf gerät er in einen Stau und wird wenig später in einen schlimmen Unfall verwickelt. Im Auto eingeklemmt, gehen ihm die Erinnerungsfetzen immer wilder durcheinander, es kommt zusehends zur Vermengung von Realität und Fiktion. Der Roman handelt einmal von den Erinnerungen an Kindheit (in den späten 40er- und den 50er-Jahren), Jugend (in den 60er Jahren) und Erwachsenenzeit, dann von einem Bruderkonflikt, der nicht vergehen will.

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Für Christian, Matthias, Clara und Maximilian

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

1

Er warf einen letzten Blick über die hügelige Landschaft, die sich da westlich der Autobahn unter wattigem Septemberhimmel ausstreckte. Genau geradeaus lugte in einiger Entfernung der vertraute Burgturm aus dem Wald hervor. Südlich davon und im Dunst nicht einmal zu erahnen, lag Buchenheim – sein Buchenheim.

Mit einem leichten Seufzer riß er sich los und ging zu seinem Auto auf dem fast leeren Rastplatz zurück. Wie angenehm mild es doch noch war. Es ging nur ein sanfter Fächelwind.

Zwingend war die Pause nicht gewesen, denn bereits in der Autobahnraststätte bei Göttingen hatte er die Toilette aufgesucht, und etwas zu essen führte er nicht mit sich. Wahrscheinlich würde er hinter Hannover noch einmal an einer Raststätte Halt machen, um eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Wenn sich bis dahin überhaupt ein Hungergefühl einstellen würde. Denn mit jedem Kilometer, um den Hamburg näher rückte, wurde ihm flauer zumute – das Wiedersehen mit Hans nach Jahren unerbittlichen Schweigens lag ihm im Magen.

Er startete den Motor, setzte zurück und fuhr mit wachsender Geschwindigkeit über die leicht abschüssige Zubringerstraße zur Autobahn vor. Rasch konnte er von der Einfädelspur auf die rechte Fahrbahn wechseln. Gleich darauf überholte er eine Reihe von Lastwagen.

Der Verkehrsfunk meldete sich. Eine heitere Frauenstimme las eine ellenlange Liste von Staus vor, fast alle durch Baustellen verursacht. Auf den Autobahnabschnitten rund um Hamburg zähflüssiger Verkehr – hoffentlich würde der sich bis zum Nachmittag aufgelöst haben. Immerhin hatte er sich bei seinem Bruder zwischen drei und vier angesagt. Wer weiß, was ihn als Ortsfremden ganz zum Schluß beim Durchwursteln nach Eppendorf noch alles erwartete. Auf das Haus war er gespannt. Und auf Hans’ neue Ehefrau. Natürlich viel jünger als Eva. Irgendwie zynisch: Im „großen Roman, der Zeugnis gibt von einer herzergreifenden Liebe in den beengten und prüden 50er Jahren“ – so stand es auf der Rückseite des Einbands und so plapperten es die bunten Blätter nach – spielte Eva, notdürftig hinter dem Namen Konstanze versteckt, die zu Tränen rührende weibliche Hauptrolle. Und dann hatte sie sein Bruder nach bald fünfzig Jahren Zusammenseins abserviert. Auch wenn Eva ihm selbst nie sonderlich ans Herz gewachsen war – die unschöne Trennung in aller Öffentlichkeit hatte sie doch nicht verdient.

Das Autoradio schwieg wieder.

Links schossen Raser an ihm vorüber. Er blieb in der mittleren Spur, denn rechts fuhren die dicken Brummer inzwischen in Kolonne.

Er hatte gut reden. Seine Ehe stand doch auch nur noch auf dem Papier. Warum nicht endlich den letzten Schritt tun? Auf die Kinder mußte man keine Rücksicht mehr nehmen, die waren schon erwachsen. Mal wollte Birgit nicht, mal zögerte er. Nun, finanziell wäre die Pro-forma-Ehe natürlich günstiger. Davon einmal abgesehen bedeutete sie allerdings ein mittleres Desaster. Im wesentlichen Birgits Schuld, das sagten auch seine Freunde. Andererseits ...

Nee, früher war alles viel besser gewesen. Ganz viel früher – als Kind, ohne diese Erwachsenenprobleme, unbeschwert in Buchenheim.

Wann war er das letzte Mal dort gewesen? Mußte schon über zehn Jahre her sein. Na klar, da hatte Nenntante Olla – eigentlich Olga, doch das war dem Kindermund zu schwer gewesen – noch gelebt. Ganz allein in dem großen Haus. Auf dem Weg nach Föhr hatten sie die Reise unterbrochen, wie immer, wenn sie Urlaub im Norden machten. Die alte Frau, bald neunzig, sehschwach nun und auf unsicheren Beinen, hatte trotz heftiger Gegenrede darauf bestanden, ihnen ein Mittagessen aufzutischen. Zum Glück hatten auch die Kinder die angebrannten Gulaschstücke und das geleeartig eingedickte Mirabellenkompott aus einem jahrzehntelang gehüteten Einweckglas klaglos hinuntergeschluckt. Nur der besorgt-liebevollen Aufforderung, doch ordentlich zuzugreifen, hatte keiner folgen mögen. Sandra und Thomas waren danach noch kurz im Garten seiner Kindheit herumgelaufen, was bei ihm wieder die etwas mystische Vorstellung hervorgerufen hatte, auf diese Weise würden sie mit seiner glücklichen Kleinkinderzeit besonders eng verbunden, werde etwas von seinem erinnerungsgesättigten Empfinden auf sie übergehen.

„Hast du was von deinem Bruder gehört, Jörg?“ Auch wenn sie sich damals noch nicht endgültig entzweit hatten – zu Geburtstagen und Weihnachten wurde telefoniert –, von einer brüderlichen Herzlichkeit war man bereits meilenweit entfernt gewesen. „Er und seine Frau leben hauptsächlich von seinen Auftritten in Werbefilmchen und gelegentlichen Theater-Engagements in der Provinz. Für Eva sieht es noch schlechter aus, in ihrem Alter sind Rollen ziemlich dünn gesät.“ Wer hätte ahnen können, daß Hans kurz darauf mit einem Herz- und Schmerzroman, der in weiten Teilen eine getarnte Abrechnung mit seiner Familie war, die Bestsellerlisten stürmen und auf einen Schlag aus den roten Zahlen kommen würde?

„Schade“, hatte Tante Olla gemeint, „er war ein so guter Junge. Wenn er sich nur nicht in diese Eva verguckt hätte. Mußte er denn ausgerechnet Schauspieler werden? Gräßlich.“

Vielleicht, nur ganz vielleicht würde er auf der Rückfahrt einen Abstecher nach Buchenheim machen. Denn ein wenig fürchtete er sich vor der Konfrontation mit dem Jetzt. Wie würde er es antreffen? Möglicherweise hatte Olgas Verwandtschaft, das Ehepaar Benecke war kinderlos geblieben, das Anwesen längst verkauft. Auf jeden Fall mußte er damit rechnen, daß Haus und Garten nun ganz anders aussahen als in seinen Erinnerungen. Wollte er sich die wirklich kaputt machen lassen? Dabei hatte schon Tante Olla selbst, gezwungen durch den gnadenlosen Zahn der Zeit, Veränderungen vorgenommen. So hatten die beiden schönen, hoch und gerade gewachsenen Blautannen links und rechts des aus Natursteinen gesetzten Brunnens niedrigen, in die Breite wuchernden Koniferen weichen müssen. Und die Hainbuchenhecke zur Straße hin war durch Liguster ersetzt worden. Aber von außen hatte das Haus bis auf einen frischen Anstrich wie immer ausgesehen.

Die Kurzauftritte seines Bruders in der Werbung, den Eltern ein immerwährendes Ärgernis („Dieser Hungerleider verplempert seine sämtlichen Begabungen“, so der wütende Vater), wie hatten sie denn ausgesehen? Hans als dummer Einbrecher in einer VW-Käfer-Reklame oder eleganter Zigarettenraucher (das weltmännische Auftreten ihres Sohnes hatte Mutti trotz des Zerwürfnisses insgeheim stolz gemacht), als Maggi-Koch, seriöser Persil-Berater, aufgekratzter Bausparkassen-Kunde, in wenigen glücklichen Fällen sogar mit Eva, zum Beispiel als Camping-Freunde oder Ehepaar in einer Werbung für Kuchenmischungen von Dr. Oetker. Er selbst war, wenn er die Filmchen im Fernsehen oder ganz groß auf der Kinoleinwand gesehen hatte, zwischen freudiger Bewunderung in jüngeren Jahren und leicht abfälliger Belustigung später hin- und hergerissen worden.

Die Jahre in der Ernst-Deger-Straße waren für ihn einfach herrlich gewesen. Der große Garten vor und hinter dem Haus, ideal für kleine Kinder, die gleichaltrige Marlies, Spielkameradin und erste Liebe, die mit ihrer Mutter zwei Zimmer im Obergeschoß bewohnte, Tante Olla und Onkel Oskar, die die „süßen“ Kleinen verwöhnten, soweit man in den Nachkriegsjahren – an den heutigen Maßstäben gemessen – überhaupt von Verwöhnen sprechen konnte. Und dann der große Bruder, zehn Jahre älter, den man anhimmelte, weil er so wagemutig war und schon so viel konnte. Da hatte noch alles gestimmt, auch wenn der Vater nur alle zwei, drei Wochen oder noch seltener zu Besuch hatte kommen können, weil er weit weg bei der Oberpostdirektion in Hamburg arbeitete. Von dort dauerte die Eisenbahnfahrt wegen zerstörter Strekkenabschnitte, die zu mehrfachem Umsteigen mit elend langen Wartezeiten zwangen, anfänglich fast einen Tag. Aber Mutti hatte alles im Griff gehabt und den abwesenden Ehemann bestens vertreten. Wegen der in Buchenheim bestehenden Wohnungsnot – die Einwohnerzahl des Städtchens war durch die vielen kriegsbedingt Gestrandeten über ein erträgliches Maß angeschwollen – hatte man den Hausbesitzern unerwünschte Mieter in den Pelz gesetzt. So auch Beneckes, die plötzlich selbst nur noch über zwei Zimmer verfügten. Bis unters Dach war ihr stolzes Haus mit Fremden belegt. Noch die Abstellkammer diente als Schlafplatz, und in der großen Küche kochten nun fünf Familien. Was einen als Kind natürlich in keiner Weise gestört hatte.

Apropos Abstellkammer unter dem Dach. Dort hatte damals ein Mann namens Holetschek gewohnt. Den Namen wußte er, Jörg, noch heute, war der doch mit einer Geschichte verbunden, die seine Mutter des öfteren zum besten gegeben hatte: Beneckes wunderten sich eines Sommers, daß im Hochbeet, welches, von einem Mäuerchen umgeben, den Sockel des Hochparterres an zwei Seiten verdeckte, an einer bestimmten Stelle die Dahlien nach und nach eingingen. Wühlmäuse oder sonstiges Ungeziefer? Aber warum dann nur in einem kleinen Umkreis? Alles Nachdenken blieb ohne Ergebnis. Bis seine Mutter eines Nachts – das Schlafzimmerfenster stand wegen der Wärme offen – etwas platschen hörte. Sie grübelte und grübelte, was das Geräusch bedeuten könnte. Schließlich kam ihr ein Verdacht. Gleich am Morgen eilte sie in den Garten. Und richtig, die betroffenen Dahlien waren naß, obwohl es nicht geregnet hatte. Und die Flüssigkeit sah etwas merkwürdig aus. Aha, Holetschek hatte die ganze Zeit über den Inhalt seines Nachttopfs durch das Dachfensterchen entleert. Leugnen nutzlos. Zum Glück war der Mann bald ausgezogen.

Daß Birgit ihn nicht begleitete, ärgerte ihn. Immerhin hatte Hans sie ausdrücklich mit eingeladen. Sie wolle dem Schauspieler kein Theater vormachen, hatte sie ihm kurzerhand beschieden (für ihren Wortwitz mußte man sie wohl oder übel loben). Dabei beherrschte sie dieses Fach durchaus. Hinter ihr Verhältnis mit dem Sportlehrer war er erst ziemlich spät gekommen – auf einen nicht mehr zu überhörenden Tip seiner Tochter hin. Groß empört durfte er darüber allerdings nicht sein, denn makellos konnte man seine eheliche Treuebilanz auch nicht gerade nennen. Auf Klassenfahrten war er schon das eine oder andere Mal der mitgereisten Kollegin aufs Zimmer gefolgt – ganz dezent, ohne daß es die Schüler bemerkt hätten –, aber mit dem Verlassen des Reisebusses bei der Rückkehr war es dann auch so gut wie immer vorbei gewesen. Several-Nights-Stands sozusagen ... Die Sache mit Geli Hasenbach allerdings hatte die Fahrt ins Kleinwalsertal überdauert und beinahe das Aus für die noch junge Ehe bedeutet. Doch da war Birgit, entgegen der Familienplanung etwas verfrüht, schwanger geworden, wogegen selbst Gelis knackige Brüste nichts hatten ausrichten können.

Ja, Birgit verstand es, Druck auszuüben, je nach Lage versteckt oder offen – auch in kleinen Dingen. Ein hübsches Beispiel war das Gerangel im Eiscafé. Hatte er lediglich Lust auf einen Cappuccino oder einen Bitterino, nannte sie ihn einen Spielverderber, der ihr den Eisbecher vermiese, und weigerte sich, einen für sich allein zu bestellen. Meistens ließ er sich dann breitschlagen und nahm in Gottes Namen drei Kugeln mit Sahne. Eigentlich verdankte sich schon der Beginn ihrer Beziehung einer subtilen Erpressung, von ihm damals allerdings nur allzu gerne hingenommen. Ganz gegenwärtig war ihm jetzt jener Vorfall im Klassenzimmer, so entscheidend für sein Leben.

Er ist Studienassessor für Mathematik und Physik. Lehrer hat er schon immer werden wollen. Trotz den im Gefolge von 68 aufmüpfiger gewordenen Schülern hat er der verschiedentlich an ihn herangetragenen Verlockung widerstanden, statt des Staatsexamens einen Diplomabschluß zu machen und sein Glück in der freien Wirtschaft zu suchen. Nun unterrichtet er an seinem alten Gymnasium – ein paar der damaligen Lehrer sind noch da und zu Kollegen geworden – und wird sogar schon in der Oberstufe eingesetzt. Er ist jung und durchaus beliebt, obwohl ihn seine Schüler nicht mit Vornamen anreden dürfen und er Wohlverhalten nicht mit Notengeschenken erkauft. Auch dem Charme mancher Schülerin, unbewußt bei den Kleineren, gezielt eingesetzt von den Älteren, ist er immer mit freundlichem Desinteresse begegnet. Bei Michaela Mahlmann allerdings kann man(n) schon auf andere Gedanken kommen, verschwimmt manchmal die Grenze zwischen pädagogischem und sehr irdischem Eros. Hübsches Gesicht, Mannequin-Figur (Model ist noch nicht en vogue), gefährlicher Augenaufschlag, ein Gang wie auf dem Laufsteg, aber eine schlechte Schülerin – teils wegen begrenzter Intelligenz, teils wegen schulferner Interessen mit hohem Ablenkungsgrad. Sie wiederholt die zehnte Klasse und muß mit erneutem Sitzenbleiben rechnen, was das vorzeitige Ende ihrer gymnasialen Karriere bedeuten würde. In Mathematik schwankt Michaela zwischen fünf und sechs. Und nun, im Mai, steht wieder eine Klassenarbeit an. Dieses äußerst attraktive Mädchen, zweifellos schon ziemlich erfahren, hat ein Gespür für männliche Schwächen.

So bleibt sie nach der Mathestunde so lange im Klassenraum, bis sie mit ihm allein ist (was er zunächst gar nicht bemerkt). Welche Themen denn in der nächsten Arbeit so dran kämen, fängt sie ganz harmlos an. Sie wolle dafür diesmal ganz intensiv lernen. Ein nochmaliges Sitzenbleiben müsse sie unbedingt verhindern, ihre Eltern würden sonst ziemlich sauer werden. Während Michaela so daherredet, kommt sie auf ihren ellenlangen Beinen, die ein sehr kurzer Rock zusätzlich betont, langsam zu ihm, der wie festgenagelt am Lehrerpult steht, herüber und lächelt dabei hintergründig. Dann steht sie vor ihm, nicht einmal eine halbe Armlänge entfernt. Ein sensationeller Augenaufschlag. „Wenn Sie mir die Aufgaben für die Klassenarbeit verraten, können Sie – alles von mir haben“, haucht sie. Die prickelndste Verlokkung, drängt sich Michaela an ihn (er spürt die Wärme des jungen Körpers), legt ihren Arm um seinen Nacken, zieht den Willenlosen zu sich heran und beginnt ihn zu küssen. Ihre Lippen öffnen sich ...

„Oh, störe ich?“ Birgit Heyse, Deutsch und Geschichte, steht in der Tür, die, welcher Leichtsinn, nur angelehnt war. Er selbst erstarrt zur Salzsäule, Michaela Mahlmann aber läßt nur ganz langsam von ihm ab, sagt halblaut „Schade“ und verläßt mit wiegendem Gang den Raum. Dabei würdigt sie Birgit keines Blickes.

Die frischgebackene Referendarin, drei Jahre jünger als er, zeigt sich zunächst eher amüsiert, führt ihm dann aber in besorgtem Ton vor Augen, welche Konsequenzen die verfängliche Situation für ihn haben könnte. „Erste Regel: als Lehrer niemals mit einer Schülerin allein in einem Raum. Und dann war die Tür noch nicht einmal geschlossen. Mensch, Jörg, du bist Assessor und damit sozusagen auf Bewährung! Was hätte alles passieren können, wenn jemand anderes euch so gesehen hätte. – Keine Angst, ich verrate nichts. Diese kleinen Biester sind aber auch brandgefährlich.“

Birgit ist mittelblond, sportlich und sieht nicht schlecht aus. Doch übermäßig interessiert an ihr ist er bisher nicht gewesen. Seine Retterin freilich sieht man in vorteilhafterem Licht. So willigt er in einen gemeinsamen Sonntagsausflug ein. Während des Spazierganges bei schönstem Sonnenschein spricht Birgit noch einmal den Vorfall an und erzählt von einer ähnlichen Sache, die sich zu ihrer Schulzeit zugetragen habe. „Der Lehrer wurde strafversetzt.“ Erneut versichert sie ihm, daß sie dicht halten und notfalls zu seinen Gunsten aussagen werde, allein schon, um dieser eingebildeten Mahlmann den Triumph nicht zu gönnen. Außerdem habe er ja gar nichts gemacht, sei doch nur Opfer gewesen. „Es bleibt unser Geheimnis.“ Birgits Lächeln ist in diesem Moment kaum weniger hintergründig als das der Schülerin vor ein paar Tagen. Dann wechseln sie das Thema. Der Tag endet in ihrem Bett. Als sie endlich, nach ausgiebigstem Liebesspiel, erschöpft – er mehr, sie weniger – nebeneinander liegen, flüstert Birgit ihm ins Ohr: „Das hätte dir die Kleine sicherlich nicht bieten können.“

Diese Einschätzung war in den nächsten Wochen und Monaten eindrucksvoll bestätigt worden. Ein Jahr später hatten sie dann geheiratet.

Übrigens: Michaela Mahlmann war doch tatsächlich versetzt worden, weil ihr die männlichen Kollegen alle eine vier gegeben hatten, Robert Falzke in Englisch sogar eine zwei. „Fatzke“, wie er wegen seines arroganten Auftretens genannt wurde, hatte ein ähnliches Angebot offenbar nicht ausgeschlagen. Der war in solchen Dingen allerdings auch immer sehr geschickt gewesen und hatte sich nie erwischen lassen. Auf jeder Skifreizeit, so wurde damals gemunkelt, mache der sich an eines der Mädchen heran. Es mußte wohl etwas daran gewesen sein, wenigstens hatte Fatzke einmal bei einem Besäufnis in kleinem Kreis entsprechende Andeutungen gemacht.

2

Die Autos vor ihm bremsten seit ein paar Minuten immer häufiger, der Verkehr wurde verdammt zähflüssig. Inzwischen fuhr er nur noch achtzig. Ein paar Eilige brausten unbeeindruckt auf der linken Spur vorbei, mußten gleich darauf hart auf die Bremse treten. Ein ziemlich blödsinniges Verhalten, das leicht zu Unfällen führen konnte. Die Lastwagen rollten nur noch im Schrittempo. So kündigte sich oftmals ein längerer Stau an. Den hatten sie im Verkehrsfunk natürlich nicht gemeldet. Na, vielleicht löste sich das Ganze ja doch schnell wieder auf. Man kannte es zur Genüge: Irgend jemand bremst aus unerfindlichen Gründen, und schon kommt der Verkehr kaskadenartig ins Stottern und im ungünstigen Fall sogar zum Stillstand.

Immerhin lief es ja noch so lala, und vielleicht käme er ohne große Verzögerung bis zur nächsten Raststätte, laut Verkehrsschild nur noch fünf Kilometer entfernt, wo er dann bei einer vorgezogenen Essenspause die weitere Entwicklung abwarten könnte. Notfalls müßte er Hans anrufen.

Plötzlich waren seine Vorbehalte gegen das Treffen wieder da. Bestand denn, realistisch betrachtet, überhaupt die Möglichkeit, den in den Jahren des Schweigens und Beschweigens immer tiefer gewordenen Graben mit Vernunft und positiven Erinnerungen wenigstens ein bißchen aufzufüllen? Sie beide waren immerhin ein ganzes Stück älter geworden – Hans hatte im Frühjahr die Siebzig überschritten, er selbst würde in wenigen Tagen seinen sechzigsten Geburtstag feiern (angesichts der ehelichen Schwierigkeiten nur im allerengsten Familienkreis). Da hatte man entweder an Milde und Einsicht gewonnen oder aber hielt an seinen Meinungen und Urteilen, gehärtet durch die im Laufe des Lebens gemachten Erfahrungen, noch starrköpfiger fest. Bei Hans war wohl letzteres zu vermuten, denn sonst hätte er dieses Buch so nicht geschrieben. Schließlich war er bei der Abfassung kein zorniger junger Mann mehr gewesen. Nur die Liebe zählt hieß das Machwerk – man mußte es einfach so nennen. „Für die Nachkommen – zum besseren Verständnis ihres eigenen Lebens“ lautete die Widmung. Damit fing es doch schon an! Hans und Eva hatten gar keine Kinder – man habe in diese schreckliche Welt keinen Nachwuchs setzen wollen, so die Argumentation. Jetzt kam aber der eigentliche Hammer: Die neue Lebensgefährtin, halb so alt wie der Bruder, war schwanger. Opa wird Papa – wie wunderbar und wie sinnvoll ...

Ihr Vater, der „böse Bube“ in dem Schmierenstück, hatte die Veröffentlichung nicht mehr erleben müssen, er war schon Jahre zuvor gestorben. Aber Mutti: Auch wenn sie damals schon sehr vergeßlich geworden war, die Ereignisse von früher hatte sie immer noch parat gehabt – manche zugestandenermaßen mit Goldrand versehen. Seinen als Beruhigungspille gedachten und selbst nicht geglaubten Hinweis, es handele sich um einen Roman, der ja ganz offensichtlich eine fiktive Geschichte erzähle und nur an einigen Stellen Parallelen zur Wirklichkeit aufweise, hatte sie mit folgenden Worten zurückgewiesen: „So dumm und verkalkt bin ich gottseidank noch nicht, daß ich nicht erkennen würde, was Hans damit bezweckt hat. Er will seine Irrwege und Mißerfolge bloß uns bösen Eltern anhängen.“ Muttis große Sorge war es zudem gewesen, daß irgendwelche Leute, die sie kannten, ein völlig falsches Bild von ihr und Albert bekommen könnten. Mit gebotenem Feingefühl hatte er sie darauf hingewiesen, daß der Verwandten- und Bekanntenkreis schon beträchtlich geschrumpft war. Den restlichen 99,9 Prozent der Leser wären die Dreistetts sowieso völlig unbekannt.

Er selbst fand das Buch trotz allem Ärgernis in einer Hinsicht äußerst aufschlußreich. Es enthüllte, ob nun absichtlich oder aber unbewußt, wie sich Hans ein Leben vorstellte, das ihn von eigenen Fehlern freisprach. Nach wissenschaftlicher Erkenntnis erfanden die Menschen ihre Lebensgeschichte ja sowieso immer wieder neu, das Gestern war nicht unverändert wie auf einer Festplatte im Gehirn gespeichert, sondern wurde jedesmal, wenn man sich daran erinnerte, mit der Gegenwart abgeglichen und in neuer Version aufbewahrt, wobei der alte Inhalt überschrieben wurde und somit unrettbar verloren ging. Das hieß, daß es überhaupt keine unverfälschten Erinnerungen geben konnte, wobei „verfälscht“ dummerweise nach Absicht klang. Nein, das menschliche Gehirn arbeitete nun einmal so und nicht anders.

Sein Bruder sah sich offenbar als ungeliebtes Kind, dem der sehr viel jüngere Bruder immer vorgezogen worden war. Zur grellen Illustration dieser Sichtweise hatte er sich eines Kunstgriffs bedient, der tief blicken ließ: im Roman stammte der Protagonist Norbert, also Hans, aus einer ersten Ehe des Vaters. Damit wurde aus der leiblichen Mutter eine Stiefmutter. Und Stiefmütter hatten bekanntlich nicht nur in Märchen einen schlechten Ruf. Der arme Norbert war nun einer solchen „kaltherzigen“ Stiefmutter „für sieben Jahre vollständig ausgeliefert“ – kaum ein Klischee wurde also ausgelassen –, weil der Vater weit weg in Hamburg seinem Beruf nachging und sich auf Kurzbesuche in Lindenhain, also Buchenheim, beschränkte. Diesen Vater zeichnete der Autor als ehrgeizigen Beamten, der nur seine Arbeit kannte und dabei die Familie hintenanstellte.

Ihn selbst hatten bei der Lektüre zwei Sätze besonders getroffen: „Sein Bruder Hartmut war elf Jahre jünger als er – er übersah ihn einfach“ und „Hartmut trug den Namen zu Unrecht, denn er war ein ängstliches Kind, geradezu ein Weichei.“ Der „falsche“ Altersunterschied diente notdürftiger Verschleierung, den konnte er übergehen, nicht aber die herablassenden Äußerungen. Bevor Hans sich nämlich mit den Eltern überworfen hatte, waren sie beide ein Herz und eine Seele gewesen. Hätte ihm Hans denn sonst von seinem erstverdienten Geld zu Weihnachten einen Lederfußball geschenkt? Als Hans dann fluchtartig, sozusagen über Nacht, das Elternhaus verlassen hatte, war der kleine Bruder in Sippenhaft genommen und von da an tatsächlich geflissentlich übersehen worden. Und was das „Weichei“ betraf: Hans war unbestritten immer der Wagemutigere gewesen, aber die manchmal von rauher Herzlichkeit geprägte brüderliche Behandlung hatte er, Jörg, als Kind klaglos hingenommen. Keinen Mucks hatte der Vierjährige zum Beispiel von sich gegeben, als Hans ihm aus Übermut immer wieder einen Ball an den Kopf warf, bis die zufällig vorbeikommende Mutter die Sache endlich beendet hatte. Vom großen Bruder als Spielkamerad anerkannt zu werden – das allein war wichtig gewesen!

Wenn er daran dachte, wie er mit fünf Jahren Radfahren gelernt hatte! Das Rad war höher gewesen als die heutigen Kinderräder, zudem ohne Rücktrittbremse und Leerlauf. Erste Fahrversuche auf ebenem Gelände hatten keinen Erfolg gehabt. Er war kaum in Schwung gekommen und sofort wieder umgekippt. Deshalb hatte sein Bruder die Idee gehabt, es auf dem abschüssigen Straßenabschnitt unweit des Grundstücks zu probieren. „Keine Angst, ich halte dich am Gepäckträger fest.“ Voller Vertrauen in des Bruders Worte hatte er sich auf den Sattel hochgemüht. Und schon wurde er angeschoben. Wegen des fehlenden Leerlaufs mußte er andauernd in die Pedalen treten. Immer schneller, denn nun ging es den Hügel hinunter. Seine Hände krampften sich um den Lenker, aber ein Betätigen der Handbremse kam nicht in Frage, es war ja alles gut, der große Bruder hielt ihn doch fest. Erleichterung, als die rasende Fahrt am Fuße des Hügels endlich in ein langsameres Tempo überging. Beim Ausrollen wagte er einen halben Blick über die Schulter. Was war denn das? Hans lief einige Schritte entfernt hinter dem Fahrrad her! Der hatte nämlich schon längst losgelassen. Da begann er vor Schreck zu wackeln. Doch mit einem Satz war sein Bruder bei ihm und hielt das Fahrrad fest. „Na, siehst du, es geht doch ganz ohne Hilfe.“ Mit dieser sehr unkonventionellen Methode, von den Eltern mit einigem Stirnrunzeln bedacht, hatte er das Radfahren in Nullkommanichts gelernt. Erstaunlicherweise war sein Vertrauen in Hans dadurch in keiner Weise erschüttert worden.

Und den Konfirmationsanzug seines Bruders hatte er neun Jahre später auch ohne Murren, ja, sogar mit einem gewissen Stolz getragen – trotz der inzwischen erlittenen Zurückweisung. Da er bei seiner Konfirmation eineinhalb Jahre jünger als Hans zuvor gewesen war, hatten die Hosenbeine gekürzt werden müssen. Das überstiegene Markenbewußtsein heutiger Tage war damals zum Glück noch unbekannt gewesen.

Wie schnell würde man beim Treffen – oh je, es waren ja nur noch wenige Stunden bis dahin – auf vermintes Gelände geraten? Dann müßte er Hans an ein paar schlichte Tatsachen erinnern.

Ihr Vater Albert Dreistett, Jahrgang 1903, stammte aus Dortmund und hatte nach der Volksschule bei der dortigen Oberpostdirektion die untere Beamtenlaufbahn eingeschlagen. Die Großeltern väterlicherseits, kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende aus Ostpreußen in die Großstadt gekommen, hatten Hans und er gar nicht kennengelernt. Vaters Mutter war bereits im Dezember 1921 mit 43 Jahren an einer Grippe in Verbindung mit chronischer Unterernährung, Spätfolge des Ersten Weltkrieges, gestorben, ihr Mann 1937 mit 67 Jahren an Magenkrebs. Der gelernte Hufschmied hatte wegen der schlechten Zukunftsperspektive den Beruf wechseln müssen und war zur Reichsbahn gegangen, die ihn in das Ausbesserungswerk nach Dortmund geschickt hatte. So wurde die junge Familie – Töchterchen Emma war noch in Masuren zur Welt gekommen – aus der „kalten Heimat“, wie es im Familienjargon hieß, in den Westen des Reiches verfrachtet. Diesem Zug aus dem landwirtschaftlich geprägten, nur wenigen Menschen Arbeit bietenden Osten ins Ruhrgebiet, dessen Zechen und Hochöfen nach immer neuen Arbeitskräften verlangten, hatten sich noch andere Familienmitglieder angeschlossen. Auch heutzutage kannte man ja solche Wanderbewegungen, bloß daß sie sich nicht mehr nur innerhalb eines Volkes abspielten, sondern zu neuzeitlichen Völkerwanderungen auszuwachsen drohten.

Mutter Margarete, Rufname Gretchen, eine geborene Stichnothe, kam 1911 in Osnabrück zur Welt, weil ihr Vater, Berufsoffizier in der kaiserlichen Armee, dort vorübergehend stationiert war. Während des Ersten Weltkrieges und in den Wirren danach zog die Familie noch mehrfach um und landeten schließlich auch in Dortmund. Hier arbeitete Gretchen bis zu ihrer Heirat im Jahr 1934 als Verkäuferin in einem Wäschegeschäft. Ihre Mutter war aus Verden an der Aller gebürtig, deren Vorfahren und somit ein Großteil der Verwandtschaft stammten aus dem Hannoverschen, was man Großmutters Sprache bis ins hohe Alter anhörte. Der Vater kam aus dem Örtchen Bohmte im Wiehengebirge. Glücklicherweise waren Heinrich und Elise Stichnothe im Gegensatz zu den Großeltern Dreistett erst in den 1970er-Jahren gestorben, beide über achtzig. Er selbst hätte sonst nicht so viele schöne Erinnerungen an sie und Dortmund.

Anhand seiner Familie ließ sich übrigens das Schicksal des Kleinbürgertums, ganz im Einklang mit der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands ab Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, sehr schön nachverfolgen. Waren die Altvorderen zunächst Handwerker, Bauern oder Tagelöhner auf dem platten Land gewesen, so hatte die zunehmende Verstädterung die nächste Generation teilweise in das untere und mittlere Beamtentum, teilweise zu Berufen wie Friseur, kaufmännischer Angestellter und Verkäuferin geführt, bis schließlich durch die Umbrüche nach dem Zweiten Weltkrieg eine breite, nach und nach einen gewissen Wohlstand erlangende Mittelschicht entstanden war, deren Kinder nun studieren konnten. Bruder Hans hatte als Erster in der näheren Verwandtschaft das Abitur gemacht und hätte auch der erste Akademiker werden können, wenn er nicht sein Herz an Eva und das Theater verloren hätte. So war ihm, dem deutlich Jüngeren, dieser „Titel“ zugefallen – Anlaß zu unberechtigtem Neid auf Seiten des großen Bruders.

So ein Mist! Das wuchs sich doch tatsächlich zu einem Stau aus. Die Tachonadel fiel und fiel. Jetzt ging es auch auf der mittleren Spur nur noch im Schrittempo weiter. Das mit der Raststätte mußte er sich wohl auch abschminken. Wenigstens drückte die Blase nicht. Er konnte sich noch sehr gut an den stundenlangen Stau bei Nürnberg vor ein paar Jahren erinnern, als sich die Familie auf dem Heimweg von einem Berchtesgaden-Urlaub befunden hatte. Seinem Sohn und ihm war am Ende nichts anderes übrig geblieben, als über die Leitplanke zu klettern und sich auf einem leider schon abgeernteten Feld in aller Öffentlichkeit zu entleeren, seine Frau und Sandra hingegen hatten das Kunststück vollbracht, im Auto bei weit zurückgeschobenem Vordersitz kauernd in Plastikbecher zu pinkeln, ohne daß etwas vorbei gegangen wäre ...

Aber es waren ja nicht diese biografischen Einzelheiten von früher, die Konfliktpotential enthielten – Tatsachen ließen sich nun einmal schlecht leugnen, sie beide waren schließlich keine wahlkampftreibenden Politiker. Nein, es ging um die unterschiedliche Sicht auf die Eltern. Die Mutter war sicherlich ein emotional zurückhaltender Mensch gewesen, aber „kaltherzig“? Sie hatte getröstet, wenn er hingefallen war oder ihn später die Sorgen eines Heranwachsenden bekümmerten, sie hatte lachen können, wenn auch nicht lauthals, und, ganz wichtig, für Jungenstreiche Verständnis gehabt. Als er zum Beispiel wegen Fußballspielens im Klassenraum (mit einem Bällchen aus zusammengeknülltem Butterbrotpapier) zum Nachsitzen zitiert worden war, hatte sie den „blauen Brief“ unterschrieben und so die Sache an ihrem Mann vorbeigeschleust. Für den Vater, noch im Kaiserreich aufgewachsen, hatte nämlich der Lehrer immer recht, und war solches Fehlverhalten der erste Schritt auf die schiefe Bahn. Eigentlich erstaunlich, denn sonst hatte der sich nicht durch übertriebene Strenge ausgezeichnet, nur zweimal hatte er ihn, Jörg, übers Knie gelegt. Und dies aus Prinzip, wie er immer betont hatte, weil der Hufschmied-Vater im Sinne des Bibelspruchs „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es“ den Hosenriemen sehr häufig auf dem verlängerten Rückgrat hatte tanzen lassen. Auf diesem Gebiet war die Mutter von etwas anderem Kaliber gewesen, sie hatte Teppichklopfer, Kleiderbügel oder Kochlöffel als Erziehungshilfen weniger gescheut. Zack, zwei, drei Schläge, und die Sache war bereinigt. Jeweils im Alter von etwa vierzehn hatten sein Bruder und er Mutti die Bestrafungswerkzeuge einfach aus der Hand genommen – und sie hatte verstanden. Erziehung mußte natürlich sein – die Folgen ihrer Abwesenheit durfte er täglich im Unterricht ausbaden –, die elterliche Strenge im richtigen Moment und in angemessener Dosis hatte ihm nicht geschadet, im Gegenteil. Hans sah das, nahm man seinen Roman zum Zeugen, offenbar im nachhinein anders. Darin wurde die (Stief-?) Mutter zu einer schlagfreudigen Furie.