Der Filmfälscher - Wolfgang Sanden - E-Book

Der Filmfälscher E-Book

Wolfgang Sanden

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Beschreibung

Die Bundeskanzlerin Lise Kranz in Wahrheit eine Stasi-Agentin? Dies jedenfalls behauptet ein gewisser Ronny Rogalla. Ein Wichtigtuer oder jemand, der mehr weiß? Oder sitzt er nur einem Hirngespinst seines Bekannten Gerd Halberegg auf, dieses Sonderlings, der gefälschte Videos in das Internet stellt? Ein Roman über Freundschaft, Verrat und Verschwörung, der mit der Realität spielt und am Ende eine überraschende Wendung nimmt.

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Wolfgang Sanden

Der Filmfälscher

Roman

Impressum

©2019 Wolfgang Sanden

www.wolfgang-sanden.de

Umschlaggestaltung: Matthias Sanden

AlleRechte vorbehalten

ISBN 978-3-753444-07-9

Ist Wahrheit nicht, was hier

Durch mich wird kund,

So seht dies an als strengen

Zeitbefund!

W. S., um 1600

1.

IM ZWIESPALT

Ausgerechnet über Gerd Halberegg wollen Sie mit mir sprechen?– Ach, Sie sind ein Freund von ihm. – Aha, ein alter Schulfreund, der sich um ihn Sorgen macht? Dann haben Sie sicherlich auch einen Namen. Obwohl das mit dem Namen so eine Sache ist. Damit kenne ich mich aus ...

Muß aber lange her sein, daß Sie mit ihm Kontakt gehabt haben. Sonst würde ich Ihren Namen kennen. – Weshalb? Na, hören Sie mal, ich kümmere mich schließlich um den Gerd. Und seinetwegen stecke ich im Moment in einem so richtig schönen inneren Zwiespalt, was bei mir etwas heißen will. Denn so einen echten inneren Zwiespalt, das können Sie mir glauben, kenne ich sonst eigentlich gar nicht. Höchstens als Kind, wenn ich nicht wußte, ob ich zwei Kugeln Schokoladeneis und eine Kugel Erdbeereis nehmen sollte oder umgekehrt oder doch lieber einmal Vanille, einmal Schoko und einmal Erdbeer. Ein verdammt blödes Gefühl, das mich auf die Dauer nervös macht und tatsächlich schlecht schlafen läßt. Wenn Sie mich und meine unerschütterliche Loyalität kennen würden – politisch-weltanschauliche Treue ist gemeint, bei Frauen beispielsweise sehe ich das für gewöhnlich etwas anders –, könnten Sie das Ausmaß meiner Verwirrung erst so richtig einschätzen. Seit neuestem nennt man meinen Zustand übrigens kognitive Dissonanz. Klingt vielleicht ein bißchen abgehoben, trifft es aber. Man hört, finde ich, dieses unruhige Hin und Her zwischen verschiedenen, nicht miteinander vereinbaren Gefühlslagen sehr gut heraus. Allerdings – für einen Betroffenen bleibt der Begriff doch eine Spur zu glatt und wissenschaftlich distanziert, denn dieses mentale Gezerre macht einen ganz kribbelig, man möchte sich am liebsten inwendig kratzen. Aber was rede ich? Sie kennen ihn doch garantiert, diesen Aufruhr der Gefühle, wenn Kopf und Herz miteinander in unauflöslichem Widerstreit liegen? Oder sind Sie auch von der sehr viel selteneren Sorte, die sich nicht beirren läßt? Die an dem festhält, was sie einmal als richtig erkannt hat, und deshalb konsequenterweise auch unangenehme Maßnahmen zur Bewahrung des Status quo nicht scheut, mögen sie auf andere noch so hart wirken? Als halsstarrig und unbelehrbar werden wir, die wir so denken und handeln, häufig beschimpft. Und in Sonntagsreden dann wieder als unentbehrliche, weil dem großen Ganzen verpflichtete Stützen der Gesellschaft hervorgehoben. Ja, unbestechlich und absolut verläßlich, so habe ich das immer gesehen, und es gab eine bessere Zeit, in der ich nicht nur sonntags für meine Staatstreue höchste Anerkennung erfahren habe.

Daß ich einem Fremden gegenüber mein Inneres derart nach außen kehre, ist sonst nicht meine Art. Ich kann es mir auch gar nicht leisten. Viel zu gefährlich. Linie halten, den Anweisungen folgen und ansonsten schweigen, eben loyal sein, das sind unerläßliche Voraussetzungen für die erfolgreiche Erledigung der mir gestellten Aufgaben. So bin ich erzogen worden. Glücklicherweise habe ich immer aus Überzeugung gehandelt. Beruf und Berufung sind bei mir identisch. – Nein, nein, es geht hier nicht um meine Arbeit als Versicherungsvertreter. Das steht nur so in der Steuererklärung. Können Sie aber schließlich nicht wissen – andernfalls wäre es auch ein Alarmzeichen. Mein wirklicher Beruf ... Sie behalten das für sich, ja? Schon in Ihrem eigenen Interesse. Also ... Warum verrate ich es Ihnen eigentlich? Wo ich Sie doch überhaupt nicht kenne ... Vielleicht gerade deshalb, denn wir werden uns kaum wiederbegegnen ... Kurz und gut: Ich bin mit Herz und Verstand Stasi-Offizier. Wenn ich auch, ehrlich gesagt, das Wort „Stasi“ überhaupt nicht mag. Hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit – das ist korrekt und seriös ...

Ein bißchen sperrig? Na gut, Sie haben recht. Aber auf seriös bestehe ich!

Stasi, werden Sie jetzt gleich fragen – ich sehe es Ihnen direkt an –, die Stasi, ja, gibt’s die denn noch? Ist die DDR denn nicht schon längst untergegangen? – Nun, leider, leider als geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft, immerhin von weit über hundert Staaten anerkannt und in die UNO aufgenommen, zudem eine Macht im Sport. Allerhöchstes Weltniveau! Und dann einfach so von der offiziellen Landkarte getilgt. Ausgelöscht! Ich könnte alles kurz und klein schlagen vor Wut und Trauer.

Andererseits: Glauben Sie wirklich, ein Staat wie die DDR löst sich so einfach in nichts auf? Eine verschworene Gemeinschaft wie die Staatssicherheit, Schutz und Schild der Partei, von einem Tag auf den anderen – verfluchter 3. Oktober! – spurlos vom Erdboden verschwunden? Ha, dazu hättet ihr uns alle an die Wand stellen müssen! Zumindest hätte das Bundesverfassungsgericht uns Führungsoffizieren keine Straffreiheit garantieren dürfen. Was, nebenbei bemerkt, nicht mehr als recht und billig ist. Immerhin haben wir von der Staatssicherheit uns nach den Gesetzen der DDR gerichtet – wir waren gesetzestreu, euer Grundgesetz konnte uns schnuppe sein ...

Wie bitte? Ach, hören Sie doch auf mit dem Quatsch, die Stasi hätte auch DDR-Gesetze gebrochen! Wenn Sie so weitermachen, ist unser Gespräch sofort beendet. Ich lasse mir meine Ehre nicht von Ihnen beschmutzen ...

Schon gut, ich habe ja schon verstanden: Sie wollen bloß etwas über Gerd und meinen Loyalitätskonflikt erfahren. Ich mache Sie aber gleich darauf aufmerksam, daß das eine nicht von dem anderen zu trennen ist. Immerhin habe ich Gerd Halberegg im Zuge meiner Tätigkeit für die Staatssicherheit kennengelernt. Nein, natürlich nicht vor der Wende – schließlich ist Gerd nie und nimmer ein Verräter, wobei er in diesem Fall für mich selbstverständlichein Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit gewesen wäre ... Also, um nicht gleich wieder in einen Disput über Existenz und Nichtexistenz zu geraten, und zur besseren Unterscheidung wähle ich ab sofort die Bezeichnung „Staatssicherheit im Untergrund“, kurz „Stasiu“... Nee, warten Sie, „Stasu“ hört sich besser an. „Stasu“ für heute und morgen, „Stasi“ für gestern und hoffentlich wieder für übermorgen. Alles klar?

Ich verrate wohl nicht zu viel, wenn ich andeute, daß die Stasu Ziele verfolgt, die von der hier herrschenden Klasse nicht unbedingt begrüßt werden, um es einmal freundlich auszudrücken. Das muß Ihnen reichen! Übrigens kann ich Sie nur davor warnen, mit dem, was ich Ihnen erzähle, zur Polizei oder sonstwohin zu rennen. Es gibt für unser Gespräch keine Zeugen, und ich werde im Notfall jeden Eid schwören, daß Sie mir völlig unbekannt sind. Man würde dafür sorgen, daß Ihre Wahrnehmungen als zwanghafte Fiktion erscheinen. Sie stünden als verbohrter Verschwörungstheoretiker da und würden deshalb nicht mehr ernstgenommen werden. Tja, das ist der Preis für Ihre ungebetene Annäherung: Ab jetzt gehen Sie keinen Schritt mehr allein.

Ich drohe Ihnen? Nennen wir es doch lieber ein Festlegen der Modalitäten. Sie erfahren weit mehr, als Sie ursprünglich überhaupt wissen wollten, und im Gegenzug behalten Sie bestimmte Informationen einfach für sich. Sie werden bald merken: Ihr Schweigen dient einer guten Sache. Oder sind Sie wirklich mit den politischen Verhältnissen in der BRD rundum zufrieden? Ehrlich gesagt, dazu sehen Sie mir viel zu intelligent aus ...

Eben. Aber wir werden diese Verhältnisse nur ändern, wenn wir die Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems entlarven. Um den Leuten die Machenschaften der herrschenden Klasse klar und deutlich vor Augen zu führen, müssen wir leider immer wieder zu konspirativen Methoden greifen. Wenn zum Beispiel offensichtliche Beweise nicht erbracht werden können, weil sich das Objekt geschickt der Observation entzieht, dann muß man eben nachhelfen ...

Manipulation? Oberflächlich mögen Sie recht haben, aber wenn Sie einmal für einen Augenblick Ihre kleinlichen Vorurteile vergessen und nüchtern nachdenken, werden Sie zugeben müssen, daß ein gefälschtes Foto dann eigentlich gar keine echte Fälschung ist, wenn es eine Situation zeigt, die Sie zwar so nicht beobachten konnten, von der Sie aber wissen, daß sie genauso oder sehr ähnlich stattgefunden hat oder demnächst stattfinden wird. Solch ein Bild ist sozusagen einer höheren Wahrheit verpflichtet ...

Sie nennen das schlichtweg einen kriminellen Akt? Ich nenne das konstruktive Voraussicht! Denn Handlungsweisen muß man immer im Kontext sehen, der Zweck heiligt in unserem Fall doch die Mittel. – Wie dem auch sei, die Stasu suchte jedenfalls jemanden, der Fotos wunschgemäß bearbeiten kann, und stieß dabei – wir kommen zum Thema – auf Gerd Halberegg.

Ja, da staunen Sie! Ihr Schulfreund ist ein absoluter Könner auf dem Gebiet der Fotobearbeitung, und das schon lange vor Erfindung von Photoshop und vergleichbarer Software. Umso ärgerlicher, daß er solche Sachen nicht mehr macht. „Sie sind bei mir an der falschen Adresse“, unterbrach er mich seinerzeit schroff, kaum daß ich aus dem Nebel behutsam vorfühlender Kontaktaufnahme mein wahres Anliegen deutlicher hervortreten ließ. „Ich weiß nicht, wie Sie an meinen Namen gekommen sind, aber ich übernehme schon lange nicht mehr derartige Fotoarbeiten.“ Eine andere Adresse konnte oder wollte er mir nicht nennen. Nun, früher hätte die Firma das natürlich selbst erledigt. Aber die Stasu ist leider umständehalber nicht so perfekt ausgestattet, uns fehlen manchmal doch die passenden Fachleute und die alles durchwebende Infrastruktur. Es wird aber garantiert besser werden. Immerhin bringen wir die Erfahrung von über vierzig Jahren mit und haben schon mehr als einen Fuß in der Tür ...

Gescheitert? Nein, gescheitert ist das damalige Vorhaben nicht. Wir haben unser Ziel schließlich mit anderen Mitteln erreicht, soviel sei gesagt. Mißverständliche Äußerungen entfahren schließlich jedem einmal, und es gibt bei Ihnen Wörter und Begriffe, deren Erwähnung selbst auf die wohlgesinntesten Gemüter alarmierend wirkt. Jedenfalls sitzt der Mensch nicht mehr im Landtag; politisch erledigt. – Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen irgendwelche Namen nennen werde? Wir beschränken uns schön brav auf Gerd Halberegg, über den wollten Sie doch etwas wissen, oder? Im Rahmen des Zulässigen sollen Sie auch Auskunft erhalten, Sie alter Schulfreund. Der Rest ist Schweigen. – Eine Frage meinerseits: Wie war denn der Gerd früher so?

Na, das klingt ja sehr positiv. Ein guter ... meinetwegen sehr guter Schüler mit starkem Interesse für alles Technische also. – Ah, ein typischer Bastler? – Verstehe, mit dem selbstgebauten Drachen fing es an, mit dem Aufpeppen der elektrischen Eisenbahn ging’s weiter, und später hat er an Radios, Fernsehgeräten und Cassettenrekordern rumgeschraubt. – Und im Bad Filme entwickelt? Das erklärt einiges. – Ja, er wohnt noch immer in diesem alten Haus mit den gelblichen, inzwischen dunkel angelaufenen Klinkern. – Nee, vermietet ist da nichts mehr, Ihr Freund lebt ganz allein in dem Kasten. Die Eltern sind verstorben. Und Geschwister hat er ja nicht, wie Sie sich hoffentlich noch erinnern werden. – Was Frauen betrifft: Fehlanzeige. Doch muß es da mal eine Beziehung gegeben haben, sogar mit Kind. Bloß redet der Gerd nicht darüber. Alle Anspielungen meinerseits überhört er geflissentlich. Aber aus bestimmten Gründen kann ich ihm schlecht sagen, daß ich Bescheid weiß.

Warum ich trotz der unmißverständlichen Absage mit Gerd Halberegg in Kontakt geblieben bin, sich sogar eine Art Freundschaft daraus entwickelt hat? Eine gefährliche Nähe, die mich in den bereits beschriebenen Konflikt gestürzt hat! Nicht ohne Grund wurde jedem Mitarbeiter der Staatssicherheit eingeimpft, keine persönlichen Beziehungen mit unter Beobachtung stehenden Personen einzugehen. Ich meine echte freundschaftliche Beziehungen, nicht die nur vorgespielten, um die Leute auszuhorchen. Es besteht allzu leicht die Gefahr, daß man Verständnis für unsichere Kantonisten oder gar den Klassenfeind entwickelt. Das führt im Endergebnis zu einer Schwächung der Wachsamkeit, die der Gegner sofort für seine politische Untergrundtätigkeit auszunutzen versteht. Mir ist das mal in meiner Anfangszeit bei einer Frau passiert, und es hätte mich beinahe meinen Beruf gekostet. Zum Glück blieb es bei einer strengen Ermahnung, die meinem Einsatz den notwendigen Schub verpaßte. Danach habe ich nur noch Belobigungen und Auszeichnungen erhalten. Die Frau war übrigens nicht irgendeine Frau, sondern hat später, das ist die bittere Ironie an der Sache ...

Abschweifen nennen Sie das? Vorsicht, mein Lieber! Damit Sie meine Bekanntschaft mit Gerd wirklich verstehen können, muß ich schon ein bißchen ausholen. Es wird Ihnen auch gar nichts schaden, über meine Welt endlich einmal nicht die üblichen Verdrehungen, sondern die schlichte Wahrheit zu hören.

Wenn Sie jetzt mit mir darüber streiten wollen, was Wahrheit überhaupt ist, dann kann ich Sie nur warnen. Gerd Halberegg ist bislang der einzige Wessi, der mir dialektisch das Wasser reichen kann. Wir sollten uns endlich entscheiden: Grundsatzdiskussion oder Schulfreund? – Na, sehen Sie! Aus Ihrer Sicht haben Sie natürlich recht. Nach Gerds brüsker Reaktion wäre der Käse eigentlich gegessen gewesen. Aber aus alter und guter Gewohnheit begann ich, Material über ihn zu sammeln. Dabei bin ich übrigens auch auf Bilder und einen Schmalfilm gestoßen, die eindeutig belegen, daß er irgendwann einmal eine Familie gehabt hat. Jetzt verstehen Sie sicherlich auch, warum ich den Gerd nicht zu einem Geständnis zwingen kann ...

Ausspionieren ist ein häßliches Wort. Es handelte sich in Wirklichkeit um ein nahezu reflexhaftes Handeln, wie es von jedem Profi erwartet werden darf, eigentlich erwartet werden muß. Das geht einem im Laufe der Zeit in Fleisch und Blut über, das macht am Ende den Erfolg aus. Ich glaube, ich sollte Ihnen zu Ihrem besseren Verständnis einen kurzen Blick auf meinen Werdegang gewähren ...

2.

KEIN ZWANG UND KEIN DRILL

Ronny Rogalla wird am 4. November 1956 in Quedlinburg geboren. Zur selben Stunde übrigens, nämlich im Morgengrauen, greifen sowjetische Truppen Budapest an; sie werden im Verlauf der nächsten Tage den ungarischen Freiheitskampf brutal niederwalzen.

Da die Mutter bei der Geburt stirbt und der Vater im Gefängnis sitzt – ein Krimineller, wie man Ronny später sagen wird, der in zersetzender Absicht die führende Rolle der Arbeiterklasse in Zweifel gezogen hat –, kommt das Kind sofort nach der Geburt in staatliche Obhut. Den Nachnamen bestimmt die MfS-Kreisdienststelle, den Vornamen darf eine junge Säuglingsschwester, die sich um das Neugeborene liebevoll kümmert, aussuchen. Ihr Vorschlag „Ronald“ wird allerdings abgeändert, weil er zu amerikanisch klinge. Aus Ahnungslosigkeit oder aus Weitsicht der staatlichen Organe: „Ronny“ wird zum Vorreiter einer unbefangene Weltläufigkeit simulierenden Modewelle, die der DDR zwanzig Jahre später so schöne Namen wie Maik, Henry, Sandro, Mario, Cindy, Sandy, Mandy, Doreen oder Kathleen beschert. Als die Säuglingsschwester beharrlich versucht, auch nach Ende des Krankenhausaufenthaltes mit dem Kleinkind in Kontakt zu bleiben, wird sie mehrfach verwarnt und bald darauf nach Eisenhüttenstadt versetzt. Kurz vor dem Mauerbau verläßt sie die DDR, heiratet im Rheinland einen Arzt und bekommt drei Kinder. Den ältesten Sohn nennt sie übrigens Ronald ...

Der Junge wächst in verschiedenen Kinderheimen auf. Eines davon befindet sich auf Rügen. Hier verbringt Ronny Rogalla prägende Jahre, hier wird er eingeschult, hier entwickelt sich seine Liebe zu Küste und Meer, und hier erwirbt er insbesondere eine nahezu dialektfreie Aussprache. Der leicht norddeutsche Beiklang wird sich später zusammen mit einer angenehmen Erwachsenenstimme bei operativen Einsätzen im nichtsozialistischen Ausland, sprich: BRD, als äußerst hilfreich erweisen.

Der niedliche Blondschopf – im Laufe der Jahre dunkelt das Haar allerdings stark nach – weckt bei nicht wenigen Erzieherinnen mütterliche Gefühle, was seinen Heimalltag durchaus erleichtert. Ronny Rogalla ist von einer schnellen Auffassungsgabe und fügt sich problemlos in den stark reglementierten Tagesablauf ein, wobei er sich mit zunehmendem Alter auf findige Weise Freiräume zu verschaffen versteht. Wie er überhaupt eine Liebe zu Ordnung und festen, haltgebenden Strukturen mit der Neigung zum Ausnutzen unklarer Regeln und menschlicher Schwächen ziemlich geschmeidig in Einklang bringt. Disziplin und eigennützige Großzügigkeit, Gedankenschärfe und weiches Empfinden kommen bei ihm glücklich zusammen. Ronny singt im Kinderchor, macht, kaum daß er einigermaßen lesen und schreiben kann, bei der Gestaltung der Wandzeitung mit, führt bald die Gruppenchronik – hierbei zeigt sich schnell eine Schreibbegabung – und ist mit Eifer beim Forschungsauftrag des Jahres dabei. Später nimmt er an Veranstaltungen des Kulturbundes teil, spielt Theater und vernachlässigt selbstverständlich auch seine körperliche Ertüchtigung nicht – im Rückenschwimmen bringt er es bis zur Bezirksmeisterschaft, so daß er in Expertenkreisen bereits als legitimer Nachfolger von Roland Matthes gehandelt wird, entzieht sich aber mit 15 Jahren geschickt und deshalb ohne ernsthafte persönliche Nachteile der dopinggestützten Trainingsfron. Ein Kind also, das allein schon seiner vielfältigen Interessen wegen Erziehern und Lehrern eine einzige Freude sein muß. Zudem findet man in seiner Heimakte immer wieder Zuverlässigkeit, Organisationstalent und Optimismus im wahrsten Sinne des Wortes unterstrichen.

Das „Sahnehäubchen“ jedoch bedeutet die äußerst positive Entwicklung, die Ronnys weltanschauliche Haltung und moralisch-ethische Reife nehmen. „Er ist aktives Mitglied der Pionierorganisation ‚Ernst Thälmann‘ und wird im nächsten Jahr die Jugendweihe erhalten. In Diskussionen zu aktuellen politischen Fragen nimmt er offensiv und eindeutig Stellung zu den Grundpositionen unserer Gesellschaft. Sein für dieses Alter sehr umfangreiches Wissen paart sich mit der Überzeugung von den Vorzügen des Sozialismus.“ Dabei ist er nicht bloß ein mehr oder weniger aktives Mitglied der Pioniere, sondern wird rasch Vorsitzender des Gruppenrates und dann, als er die Polytechnische Oberschule besucht, Vorsitzender des Freundschaftsrates. Kaum verwunderlich, daß Ronny Rogalla nach der Jugendweihe in seinem Lernkollektiv die Position des FDJ-Gruppensekretärs einnimmt. Bei einem als Auszeichnung gedachten Treffen mit hochrangigen SED-Funktionären äußert der Heranwachsende: „Ich interessiere mich vor allem für moderne Technik. Entscheidend für alle unsere Wünsche ist und bleibt: Der Frieden muß erhalten werden. Ich will mein Land zuverlässig schützen. Deshalb mein Entschluß, später einen militärischen Beruf zu ergreifen.“ Folgerichtig wird er Mitglied der vormilitärischen „Gesellschaft für Sport und Technik“. Herausragend seine Leistungen im Schießen.

Als gefühlter Vollwaise und als Proletarierkind – die Mutter war Näherin, der Vater gilt einerseits als nicht existent, andererseits wird die nach der Strafverbüßung zugewiesene Arbeit in einem Werkzeugkombinat dem Sohn vorteilsbringend angerechnet – erfüllt Ronny Rogalla Kriterien, die ebenso wichtig sind wie Intelligenz und Linientreue. Er darf deshalb die Erweiterte Oberschule in Bergen besuchen. Seine Lieblingsfächer sind Deutsche Sprache und Literatur, Russisch, Mathematik, Physik und Staatsbürgerkunde. Einmal ruft der strebsame junge Kommunist bei den Verantwortlichen eine gewisse Irritation hervor: als er nämlich anfängt, eigenverfaßte Schriftststücke mit „Roro“ zu unterzeichnen. Will Rogalla mit dieser Abkürzung, die dem Namen der Taschenbuchserie eines BRD-Verlages so gefährlich nahekommt, möglicherweise ein bißchen provozieren, oder steckt dahinter, viel schlimmer, sogar ein verstecktes Abweichlertum – der Apfel fällt offenbar doch nicht weit vom Stamm? Ein einfühlsames pädagogisches Gespräch bringt bald Entwarnung: Es handelt sich lediglich um eine gedankenlose Spielerei, die auf Bitten des Schuldirektors abgestellt wird. Allerdings ist nicht mehr zu verhindern, daß das Kürzel Klassenkameraden und Freunden weiterhin als Spitzname dient – sehr zu Ronnys innerer Genugtuung.

Rogalla macht das Abitur mit dem Notendurchschnitt 1,3 und tritt 1974 als 18-jähriger in die SED ein. Er möchte zur Volksmarine, aber man hat mit ihm anderes vor. Geschickt appelliert der MfS-Leutnant Klaus Wengler an Ronnys Verantwortungsgefühl für das sozialistische Vaterland. Die weitere Festigung des demokratischen Zentralismus auf der Grundlage des wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus sei solange gefährdet, wie es noch eine größere Zahl feindlich-negativ eingestellter Personen in der DDR gebe. Konterrevolutionäre Kräfte seien deshalb aufzuspüren und zu zersetzen. Sehr vieler Überzeugungsarbeit bedarf es nicht mehr, um den in einem ideologischen Reinraum Erzogenen zu einem inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit zu machen. Günstig auf die schnelle Einwilligung wirken sich zudem einige Anreize aus: ein auf acht Monate verkürzter Grundwehrdienst, Studium zum Textil-Ingenieur in Dresden, finanzielle Zuwendungen und insbesondere die Aussicht, bei Bewährung hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter zu werden.

Der knapp 1,80 m große junge Mann von sportlicher, doch nicht übertrieben muskulöser Figur vertritt seine politische Überzeugung im Unterschied zu den meisten anderen Parteigängern mit unangestrengter Festigkeit. Sein gefälliges Aussehen, dem die ein wenig zu großen Ohren und das fleischige Kinn das allzu Glatte nehmen, der unternehmungslustige Blick aus runden graublauen Augen, sein freundliches, nicht anbiederndes Auftreten erwecken Interesse und Sympathie. Er braucht sich nicht einzuschleichen oder aufzudrängen, er wird immer und überall schnell ins kleine oder große Vertrauen gezogen. Ideale Voraussetzungen für eine IM-Tätigkeit also. Schon die Kameraden in seiner NVA-Einheit schöpft er zur großen Zufriedenheit des Führungsoffiziers sehr effektiv ab, und während seines Studiums gewinnt er wichtige Erkenntnisse über die Einstellung von Mitstudenten und Hochschulpersonal zu Staat und Gesellschaft. Auf Berichte vom IM „Thomas“ hin werden fünf Personen wegen „anti-sozialistischer Zielsetzung und Demagogie“ von der Technischen Universität Dresden entfernt. Bei Frauen kommt Roro besonders gut an, was ihm neben vielen befriedigenden Begegnungen einmal auch die bereits von ihm selbst erwähnte strenge Ermahnung seitens der Auftraggeber beschert.

Sein Studium schließt Rogalla trotz der zusätzlichen Tätigkeiten – außer den Spitzeldiensten ist schließlich auch noch die im Verborgenen betriebene geheimdienstliche Aus- und Weiterbildung zu bewältigen – mit einem Prädikatsexamen ab; der kleine Wink wohlmeinender Kreise an die Prüfungskommission stellt sich als unnötig heraus und hübscht die Endnote lediglich in kaum erwähnenswerter Weise auf. Anschließend bewirbt sich Ronny auf Anraten von Führungsoffizier Wengler, der inzwischen zum Hauptmann befördert worden ist, beim Chemiefaserkombinat in der Wilhelm-Pieck-Stadt Guben direkt an der Grenze zum sozialistischen Bruderstaat Polen. Er wird selbstverständlich genommen und setzt seine Arbeit auf beiden Feldern, nämlich als Ingenieur in der Produktion und als IM, erfolgreich fort.

Zu seinem 27. Geburtstag macht ihm die Partei ein besonderes Geschenk: Ronny Rogalla wird Offizier im besonderen Einsatz, abgekürzt OibE, und damit hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Er erhält den Rang eines Unterleutnants in der Hauptabteilung XVIII, die unter anderem für die Absicherung der Volkswirtschaft zuständig ist. Damit geht sein Jugendwunsch, eine militärische Laufbahn einzuschlagen, in gewisser Weise doch noch in Erfüllung, denn der DDR-Geheimdienst versteht sich als bewaffnetes Organ im Kampf gegen den Klassenfeind. Es bedeutet zugleich den Abschied vom geteilten Städtchen an der Neiße: Rogalla wird unverzüglich zur Abteilung I der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), des vom geheimnisumwitterten Genossen Markus Wolf äußerst effektiv geführten Auslandsnachrichtendienstes, nach Berlin versetzt.

Kurz zuvor ist es Roro ein weiteres Mal gelungen, sich dem Ansinnen eines staatlichen Organs zu entziehen. Er fühle sich für eine Ehe noch nicht reif, läßt er seine Vorgesetzten wissen, und wolle die beachtliche Scheidungsrate der DDR nicht noch weiter in die Höhe treiben. Aber er sei ja, wie sie aus seinen ordnungsgemäßen Meldungen wüßten, auf diesem Gebiet nicht faul und immer auf der Suche nach der Richtigen. Das ruft bei diesem Männerverein verständnisvolles Grinsen hervor. Rogallas Versuchsballon, er könne sich aber sehr gut vorstellen, in der BRD als „Romeo“ zu arbeiten, das heißt, zum Zwecke geheimdienstlicher Ausforschung mit Sekretärinnen in staatlicher Vertrauensstellung Liebesverhältnisse einzugehen, wird jedoch sofort zum Platzen gebracht. Allerdings beschließt man, ihn als Führungsoffizier für Kundschafter in Feindesland einzusetzen. Seine Legende weist ihn weiterhin als Textilingenieur aus, und als solcher wird er von nun an und für viele Jahre an Fachtagungen und Messen, hauptsächlich in Westdeutschland, teilnehmen. In Wahrheit betreut er mehrere Westagenten, darunter den Botschaftsattaché Rolf von Becker, Deckname „Bruno“, der laut Rosenholz-Dateien zu den ergiebigsten Informationsquellen im Auswärtigen Amt der BRD gezählt werden muß.

3.

IM AUFOPFERUNGSVOLLEN KAMPF UM FRIEDEN UND GERECHTIGKEIT

Sie sehen also, ich habe mit Ihrem System schon früher Bekanntschaft gemacht. Unbestritten, im ersten Moment ist man von den übervollen Regalen, der verwirrend großen Auswahl, dieser ganzen bunten, lauten Glitzerwelt geblendet. Und ich will überhaupt nicht leugnen, daß weniger sattelfeste Gemüter durchaus in Zweifel geraten konnten, wenn sie im Westfernsehen die Reklamesendungen gesehen haben, die eine heile Welt vorgaukeln und das Blaue vom Himmel versprechen. Aber einen Tschekisten ... Sie wissen nicht, was das ist? Zum ehrenden Andenken an die Tscheka, die 1917 gegründete sowjetrussische Staatssicherheit, haben sich im Warschauer Pakt alle Geheimdienstmitarbeiter Tschekisten genannt – voller Stolz und im Bewußtsein ihrer verantwortungsvollen Aufgabe, die Errungenschaften der proletarischen Revolution zu schützen. Wir haben damals im Kampf gegen Revanchismus, Imperialismus und Militarismus brüderlich zusammengestanden. Wir hatten eine gemeinsame Basis, ein gemeinsames Verständnis, wir lebten den Internationalismus der Arbeiterklasse ... Doch das führt nun wirklich zu weit. Ich jedenfalls habe nie vergessen, daß Ihr Wohlstand auf Ausbeutung beruht, wenn auch auf geschickt getarnter. Daher empfinde ich es nach wie vor als meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die Menschen vor dem verhängnisvollen Trugschluß zu bewahren, daß die glänzende Oberfläche des Kapitalismus doch sein wahres Wesen widerspiegele.

Koste es, was es wolle? So klingt er, euer postmoderner Zynismus, dem nichts mehr heilig ist. Ohne festes Fundament kann man kein stabiles Gesellschaftssystem aufbauen. Deshalb hatten Nihilismus und Relativismus in unserer Republik keine Daseinsberechtigung und wurden schon im Keim erstickt. Was die Schädlichkeit solchen Denkens betrifft, da sind Gerd Halberegg und ich übrigens vollkommen einer Meinung. Wir kommen zwar aus ganz gegensätzlichen Richtungen, aber in den entscheidenden Dingen stimmen wir doch verblüffend überein. Für mich ein weiterer untrüglicher Beweis, daß der Historische Materialismus in seiner Einheit von Theorie und Praxis den ganzen Menschen erfaßt. Der demokratische Sozialismus ist konsequenter Humanismus.

Für Sie ist das Parteichinesisch? Ich habe heute weder Lust noch Zeit, Ihnen die Augen zu öffnen. Da wir uns nicht wiedersehen werden, schenke ich mir die Mühe, Sie Schritt für Schritt zur Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie von Marx und Engels hinzuführen ... Überholtes Denken aus dem 19. Jahrhundert? Der Geschichtsverlauf läßt sich nicht quasi naturwissenschaftlich vorhersagen? Ha, und wie steht es dann mit der von Marx so trefflich diagnostizierten Krisenhaftigkeit des Kapitalismus? Hat sie sich nicht erst gestern wieder in Form einer existenzgefährdenden Bankenkrise gezeigt? Im Jahr 2000 die geplatzte Dotcom-Blase, 2007 die amerikanische Immobilienkrise, Auslöser der eben erwähnten weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, davor in kurzen Abständen Japan-Krise, Tequila-Krise, Asienkrise – gar nicht zu erwähnen die Krise aller Krisen, die das absolut Böse ausbrütete: die Weltwirtschaftskrise 1929, den „Schwarzen Freitag“, dem bald Jahre der Finsternis folgten. Die Einschläge kommen näher, mein Lieber, und Marx hat recht gehabt ...

Wie ich mir erkläre, daß es in Deutschland so schnell und mächtig wieder aufwärtsgegangen ist nach dem vorerst letzten Beinahzusammenbruch und trotz der Euro-Krise, der neuesten Wucherung am faulen Stamm des Kapitalismus? Eine Scheinblüte, die nur die Wenigen noch reicher macht und alle anderen ärmer. – Aber wie schon gesagt, ich werde mit Ihnen diese Diskussion nicht führen. Sie sind wegen Gerd gekommen. Los, was wollen Sie wissen?

Ach, wie das so bei der Stasi war, interessiert Sie plötzlich. Ich soll aus dem Nähkästchen plaudern. Lesen Sie es einfach nach, es ist doch schließlich mehr als genug darüber geschrieben worden! – Sieh an, er ist auch schon dahinter gekommen. Daß das allermeiste Lügen und Verdrehungen sind. – So haben Sie das nicht gemeint? Hätten Sie aber sollen. Ich sage Ihnen was: Wenn Sie ernsthaft die Wahrheit erfahren wollen, dann kann ich Ihnen nur die Bücher von Markus Wolf, Werner Großmann oder Eduard von Schnitzler empfehlen ...

Sudel-Ede? Darüber kann ich doch nur lachen! Wie wollen Sie dann erst die westdeutschen Brunnenvergifter nennen? Gerhard Löwenthal vom ZDF zum Beispiel. Gerd L. Schmutzfink vielleicht? Zugegeben, von Schnitzler war für uns jüngeren, aufgeklärten MfS-Mitarbeiter eine von den Zeitläuften überholte Figur, aber in den schweren Tagen vor und nach dem Bau des antifaschistischen Schutzwalls hatte er seine Verdienste ... Was grinsen Sie so?

Glauben Sie, wir wären so doof gewesen, die Mängel in der DDR nicht zu sehen? Gerade die jüngeren Kader haben die Augen nicht davor verschlossen, wir haben die Gefahren gesehen, die bei einer starren Auslegung des Sozialismus drohen können. Aber auch Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden. Und wir Aufgeklärten haben unsere Motivation daraus bezogen, ganz im Sinne des Historischen Materialismus die gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Kommunismus voranzutreiben, indem wir die Fehler des Übergangs zu beseitigen suchten. – – Betonköpfe? Das ZK am Ende eine Ansammlung von Betonköpfen und Honecker ein verkalkter Apparatschik, der die Zeichen der Zeit nicht verstehen wollte? Immerhin war der Mann schwerkrank, also etwas mehr Respekt und Mitgefühl, bitte. Für den Aufbau des Sozialismus hat er jedenfalls ein Lebenlang gekämpft und einiges bewirkt. Die glatt verlaufene Abriegelung Westberlins am 13. August 1961, die war eine planerische Meisterleistung Honeckers ...

Darauf hätte ich wetten können: Gorbi, eure Lichtgestalt, darf natürlich nicht fehlen. Wissen Sie, ich bin mir bis heute nicht darüber klar geworden, ob dieser Mann nicht ein Westagent gewesen ist. Das hätte dann allerdings den aller-, allergrößten Coup der CIA bedeutet. Daß der KGB so versagt haben sollte, kann ich mir andererseits auch wieder nicht vorstellen ...

Ich soll’s als ein glückliches Rätsel der Geschichte nehmen? Entschuldigen Sie, daß ich deutlich werden muß: Ihre Allgemeinbildung läßt zu wünschen übrig, und genau zuhören tun Sie auch nicht! Sonst wüßten Sie, daß es für einen Marxisten keine Geschichtsrätsel gibt, und erst recht keine glücklichen – ausgerechnet auch noch in diesem Fall. Aber – und nun werden Sie sich über meine Offenheit wundern, denn ich gebe Ihnen und damit auch Gorbatschow in einem recht: Die SED-Führung hatte den Kontakt zur Bevölkerung verloren. Obwohl wir vom MfS genügend Material über die Stimmung im Lande, über die wachsende Unzufriedenheit der Leute mit den herrschenden Verhältnissen herbeigeschafft hatten. – Zuviel Material? – Nun, Sie mögen auch diesmal rechthaben. Wer hätte die ganzen Protokolle überhaupt noch sinnvoll auswerten können? Aber Mielke war nun einmal von der Idee besessen, daß jeder ein potentielles Sicherheitsrisiko ist und man deshalb alles wissen muß ...

Sie behaupten, dies sei für Diktaturen typisch? Mag sein, aber die DDR war ja ein Rechtsstaat. Das sagen selbst Ihre Leute – zumindestens die vernünftigen. Immerhin hat die so fürchterlich rechtsstaatliche BRD einen Verfassungsschutz, der auch im Geheimen agiert. Ich verspreche Ihnen: Wir werden es das nächste Mal garantiert besser machen. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten hätten wir es schon damals besser gemacht. Meine Güte, welch paradiesische Zustände! Ortung über Handy, Überwachungselektronik in Hülle und Fülle, nahezu unsichtbare Kamerawinzlinge, automatische Auswertung durch leistungsfähigste Software, die im Zusammenspiel die schönsten Bewegungsprofile von Personen liefern ...

Dazu brauche man aber erst einmal die Handys und die Rechnerkapazitäten? Wollen Sie damit auf eine angebliche Rückständigkeit der sozialistischen Staaten bei moderner Technik anspielen? Wer hat denn den ersten Satellit in die Erdumlaufbahn geschossen? – Ich würde gerne weiter mit Ihnen streiten, so wie mit dem Gerd. Glauben Sie nur, ich scheue die Auseinandersetzung nicht, im Gegenteil, mit intelligenten Leuten führe ich gerne kontroverse Gespräche. Doch das bringt uns beide im Moment nicht weiter. Sie haben nach meiner Arbeit damals gefragt, und ich will Ihre Neugier ein wenig befriedigen. Aber bilden Sie sich bloß nicht ein, Sie könnten mich so hintenherum ausfragen. Es gibt Dinge, die wird Ihnen kein Stasi-Offizier verraten. Wenn doch, würde er seine Ehre verlieren und als Verräter geächtet.

Ja, die Arbeit hat mir Spaß gemacht! Zu Anfang, als IM, war es wie Indianerspielen – spannend, verschwörerisch, eine ordentliche Portion Abenteuer dabei, wie es gerade junge Menschen mögen. Dazu die Gewißheit, auf der richtigen Seite zu stehen, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Man wußte immer im voraus, daß man in jedem Einzelfall zu den Siegern zählen würde.

Eine geheime Macht über andere? – Doch, ich gebe frank und frei zu, daß es mir auch gefallen hat, das Handeln von Menschen zu lenken und die Lügengespinste feindlich-negativ gesinnter Elemente durch Wissensvorsprung, den uns sorgfältigste Beobachtungen verschafften, zu zerreißen. – Das Wort Hinterlist weise ich als Beleidigung zurück. Erstens kann es gegenüber Feinden keine Hinterlist geben, und zweitens ging es um die Durchsetzung des Sozialismus auf deutschem Boden. Geht es immer noch!

Zurück zum Thema! Im politisch-operativen Grundlehrgang lernten wir unter anderem, wie man Regierungssysteme und das Leben im „Operationsgebiet“ – damit war die BRD gemeint – analysiert; wir sammelten Informationen über wichtige Persönlichkeiten, Parteien und Organisationen. Und dort erwarb ich mein Wissen über Maßnahmen, die zur Anwerbung und Führung von inoffiziellen Mitarbeitern und für das Eindringen in operativ interessante Objekte wichtig sind. Der theoretische Teil, den zahlreiche Fallbeispiele untermauerten, wurde durch eine militärische Ausbildung ergänzt, zu der Geländeübungen und der Umgang mit Waffen gehörten – beides für mich ein Auffrischen und Ergänzen des bei der NVA Gelernten. Außerdem wurde ich in die Dokumentenfotografie eingeführt. Äußerst wichtig war auch das Arbeiten mit sogenannten Containern, die zur Aufbewahrung und zum Transport von Informationen dienen. – Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie spannend es ist, heimlich in eine fremde Wohnung und damit in das Leben eines anderen einzudringen? Soll ich Ihnen mal etwas ganz Persönliches verraten? Damenunterwäsche in den Händen zu halten, kann auch dann ziemlich erregend sein, wenn die Besitzerin nicht zugegen ist. Da geht die Fantasie mit einem durch, insbesondere, wenn es sich um eine gutaussehende Frau jüngeren Alters handelt, die Sie natürlich nur vom Foto her kennen. Reizwäsche, wie es sie heute gibt, haben wir in den Schubladen natürlich nicht gefunden – die schier unglaubliche Auswahl an Dessous übrigens könnte mich mit eurem System beinahe ein wenig versöhnen. Aber allein schon, einen BH im Geiste mit Inhalt zu füllen oder zärtlich über einen Slip zu fahren, die Finger sehnsüchtig in den Beinausschnitt gleiten zu lassen ... Für Geruchsproben wurden natürlich getragene Kleidungsstücke genommen – nicht ganz so angenehm wie das andere. – Dann die Unterrichtung in der Kunst des Verhörens. Ja, es ist eine Kunst, Menschen gegen ihren Willen dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Man braucht Einfühlungsvermögen, ein Ohr für die leisesten Zwischentöne, einen Blick für das, was Gestik, Mimik und Körperhaltung verraten, ein Gefühl für den richtigen Rhythmuswechsel zwischen verständnisvollem Zureden und zupackendem Fragen.

Da ich Führungsoffizier in der HV A gewesen bin, habe ich selbst nie jemanden verhört. Aber ich habe Lehrfilme darüber gesehen und Verhöre hinter der Scheibe mitverfolgt. Das gehörte mit zur Ausbildung. Ich gebe unumwunden zu, daß es da schon Fälle gab, die unglücklich verlaufen sind, die meinem, meinem ... – wie soll ich sagen? – ja, meinem ästhetischen Empfinden nicht entsprochen haben. Die Gewalt, die man über den Delinquenten besitzt, darf nicht nackt und roh hervortreten. Es sollte eher wie ein Spiel sein, bei dem die andere Seite anfänglich noch glauben darf, daß sie eine faire Chance besitzt. Im Laufe dieses Spiels muß der Verhörte zu der Erkenntnis gelangen, daß wir mehr wissen als er, und wenn diese durchaus grunderschütternde Erfahrung in das befreiende Gefühl übergeht, daß man nun nicht mehr zu lügen braucht, dann erfüllt sich meine Vorstellung von einem gelungenen Verhör. Ich weiß nicht sonderlich viel über die Riten der katholischen Kirche, denn ich bin atheistisch erzogen und habe auch die evangelischen Gemeinden immer nur als widerständige Überwachungsobjekte gesehen, aber ich stelle mir vor, daß sich bei einer Beichte ein ähnliches Gefühl einstellt: sich letztlich einer Macht, gegenüber der man aus nagendem Zweifel oder aus Schwäche versagt hat, im freiwilligen Gebet anzuvertrauen, weil man zumindestens ahnt, daß diese unausweichliche Macht am Ende doch alles zu einem höheren Guten wenden wird. Bei uns hieß das Gebet Geständnis, und bei uns folgte die Strafe gleich auf dem Fuß – das hat übrigens eine ganz andere erzieherische Wirkung ...

Nein, Sie liegen nicht falsch mit Ihrer Feststellung, daß ehemalige Stasi-Mitarbeiter heute häufig Arbeit bei Versicherungen, im Telemarketing oder als Makler gefunden haben. Es trifft mich kaum, wenn Sie sagen, solche wie ich seien nicht zufällig in diesen Branchen tätig, weil wir in der Kunst geschult seien, Leute dazu zu bringen, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln. Erstens sollten Sie froh sein, daß wir die Arbeitslosenzahlen nicht noch weiter in die Höhe treiben, und zweitens wirft es ein bezeichnendes Licht auf diese Gesellschaft hier: daß man Geld damit verdienen kann, Menschen unnötige Dinge aufzuschwätzen. – Ich mache dasselbe? Nein, ich mache nicht dasselbe, ich nutze lediglich die Möglichkeiten meiner neuen Umgebung für ein großes Ziel.

Sie fragen mich, wie ich es geschafft habe, Gerd Halberegg ausgerechnet für marxistische Parolen zu begeistern? Während der Schulzeit sei er doch eher unpolitisch gewesen und eigentlich nur an seinen Basteleien interessiert. Er war in der Klasse wohl eher ein Außenseiter, was? – – Jetzt reden Sie aber ein bißchen um den heißen Brei herum, scheint mir. Ich wette, daß er euch mit seinen unkonventionellen Ansichten irritiert und wahrscheinlich auch geärgert hat ...

4.

DER VERSICHERUNGSMUFFEL

Die Tür neben dem hohen Einfahrtstor – dunkelgrau gestrichene Gitterstäbe ragten spitzenbewehrt in den bläßlichen Oktoberhimmel – war diesmal nur angelehnt, und so wartete Thomas Mann, wie sich Rogalla nach seinem Lieblingsdecknamen aus vergangenen Tagen nun nannte, eine Reaktion auf sein Klingeln gar nicht erst ab, sondern betrat das Grundstück.