Das zweite Leben des Monsieur Moustier - Aude Le Corff - E-Book

Das zweite Leben des Monsieur Moustier E-Book

Aude Le Corff

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Beschreibung

Ein charmantes Häuschen an der bretonischen Küste – der ideale Ort für die junge Pariser Schriftstellerin, um in Ruhe ihren neuen Roman zu schreiben. Doch eines Tages steht plötzlich ein alter Mann in ihrem Wohnzimmer und spaziert mit größter Selbstverständlichkeit in den Werkzeugkeller und den Rosengarten. Was er, Monsieur Moustier, dort zu suchen hat, verrät er nicht – dass er mit der Anwesenheit der jungen Frau nicht einverstanden ist, ist kaum zu übersehen. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen gelingt es der neuen Hausbesitzerin schließlich, das Eis zu brechen – und ihrem Leben und dem des sonderbaren Gastes eine völlig neue Wendung zu geben.

Das zweite Leben des Monsieur Moustier ist eine bewegende Geschichte über die wunderbare Kraft der Freundschaft und die Einsicht, dass es nie zu spät ist für ein neues Leben.

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Seitenzahl: 190

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Als sie das Steinhäuschen an der bretonischen Küste zum ersten Mal betritt, weiß sie, dass sie angekommen ist: Es duftet nach Jasmin, ein Kakadu singt aus einer Voliere, und der Garten erscheint ihr als paradiesischer Ort. Hier wird die junge Pariserin in Ruhe ihre Romane schreiben können. Doch eines Tages steht plötzlich ein alter Mann in ihrem Wohnzimmer und spaziert mit größter Selbstverständlichkeit in den Werkzeugkeller und den Rosengarten. Was er, Monsieur Moustier, dort zu suchen hat, verrät er nicht – dass er mit der Anwesenheit der jungen Frau nicht einverstanden ist, ist hingegen kaum zu übersehen. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen gelingt es der neuen Hausbesitzerin schließlich, das Eis zu brechen – und ihrem Leben und dem des misslaunigen Monsieur Moustier eine völlig neue Wendung zu geben.

»Es gibt wenige Bücher, die wir Leser am Ende mit einem wohligen Seufzer zuklappen, weil einfach ein gutes Gefühl zurückbleibt … Aude Le Corffs Roman ist ein bezauberndes Buch für alle, die noch an Träume glauben.«

Aude Le Corff

Das zweite Leben des Monsieur Moustier

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel L'importun bei Stock, Paris.

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4469.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016© Éditions Stock, 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Indem ihr starbt und nichts darüber sagtet,habt ihr eines Tages, unverhofft,einen großen Apfelbaum erblühen lassen,mitten im Winter.

1

Am Rande einer Hafenstadt, in einem Natursteinhaus mit Backsteinumrandungen an den Fenstern, lebte ein alter Mann, zurückgezogen von der Welt. An diesem Ort voller Erinnerungen wurde er geboren, und hier hatte er seine Tage auch beschließen wollen, doch dann machte ihm das Alter einen Strich durch die Rechnung. Als er anfing, die Eier auf dem Herd und sein Portemonnaie im Lebensmittelgeschäft zu vergessen, trafen seine Töchter eine Entscheidung, die in ihren Augen das Beste für ihn war. Sie brachten ihn in einem Heim für betreutes Wohnen unter, einem seelenlosen weißen Gebäude, in dem betagte Menschen dahinscheiden, einer nach dem anderen. Damit er sich nicht allzu verloren fühlen würde, hatten sie immerhin darauf geachtet, dass er in seinem Stadtviertel blieb. Das Altersheim lag nur fünfhundert Meter von seinem früheren Haus entfernt.

Damien und ich kauften sein Haus, kurz nachdem der alte Mann ausgezogen war. Wir erwarteten unser zweites Kind, und ich wollte unbedingt von Paris wegziehen. Ich hatte eine sehr idyllische Vorstellung vom Leben in der Provinz und war überzeugt, dass uns zum Glücklichsein nur ein heimeliges Kaminfeuer im Winter, im Sommer lange Abendessen im Garten und die Annehmlichkeiten eines Lebens am Meer fehlten.

Wir waren davon ausgegangen, dass eine Woche vor Ort reichen würde, um unser Traumhaus zu finden. Doch dann mussten wir feststellen, dass Anzeigentexte und Realität so weit auseinanderklafften, dass jeder Tag neue Enttäuschungen mit sich brachte. Wir entdeckten Mängel, die auf den Fotos nicht sichtbar oder in den Anzeigen nicht erwähnt worden waren: eine schlechte Lage, ein anderes Haus direkt vor dem Fenster, eine laute Straße. Das Haus des alten Herrn stand erst seit Kurzem zum Verkauf, es war unsere letzte Besichtigung, bevor wir nach Paris zurückfahren wollten.

Von der Straße aus sah ich als Erstes die Zeder im Garten, dann das Schieferdach mit dem hübschen Dachfenster am Frontgiebel. Eine dem Meer entflohene Möwe glitt über den riesigen Baum hinweg. Mein Puls ging mit einem Mal schneller, und ich konnte es kaum erwarten, das Haus auch von innen zu sehen. Zwei Frauen erwarteten uns: die Töchter des alten Herrn. Die Jüngere war freundlich und herzlich, während ihre ältere Schwester distanziert und verschlossen wirkte.

Der Eingangsbereich gefiel uns, ein gepflasterter Patio mit duftendem Jasmin und Klettergeranien, die von der Morgensonne angestrahlt wurden. Während wir uns unterhielten, erregte plötzlich ein aufgehängter Käfig unsere Aufmerksamkeit: In ihm rührte sich etwas. Hinter den Stäben entfaltete ein weißer Kakadu seine gelbe Haube zu einem Fächer. Mit einem näselnden Krächzen warf er uns ein Wort zu, das ich jedoch nicht verstand. Ich war entzückt wie ein Kind und rief etwas zurück, und der Vogel schien sich zu freuen, dass er meine Neugier geweckt hatte. Seine kleine Einlage entspannte die Atmosphäre spürbar.

Eine zweite Tür führte ins Haus. Das Wohnzimmer lag nach Norden und wollte so gar nicht zu dem freundlichen Eingangsbereich passen. Nachdem sich meine Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, konnte ich einen Fernseher ausmachen, ein Sofa, eine Holzdecke mit Rissen, einige Bronzestatuen, zwei Holzscheite und einen einsamen Blasebalg neben dem Kamin. Der Geruch von kalter Asche lag in der Luft. Hinter den Gardinen fuhr, wie ein Schatten, ein Auto vorbei. Wir verweilten hier nicht lange.

Die Küche, rustikal und voller Bonsai-Bäumchen, ging nach Süden, zum Garten hin. Damiens Blick blieb an dem wuchtigen Barometer hängen, an der Wachstuchtischdecke mit den Jagdszenen und der Kaffeemühle aus Holz. Draußen war das Gras nicht gemäht worden, Kletterrosen rankten sich an den mit Efeu bewachsenen Mauern hinauf, und eine bestimmt hundertjährige Glyzinie verdeckte einen Teil der Fassade. Unter der Zeder stand ein unscheinbarer Schuppen voller Werkzeuge, Töpfe und Säcke mit Dünger. An einem Haken wartete ein abgewetzter Strohhut auf seinen Besitzer.

Die beiden Schwestern schienen ganz unterschiedliche Erinnerungen an ihre Kindheit zu haben. Die Nette, die uns von einem Zimmer ins andere führte, war ein sehr mitteilsamer Mensch. In ihrem alten Zimmer erzählte sie mir, dass sie sich trotz der eher schwierigen Beziehung zu ihrem Vater gern an ihre Kindheit erinnerte. Auf ihrem früheren Schreibtisch stand eine offene Reisetasche, an der Wand hingen Postkarten – Barcelona, die kleinen Felsbuchten von Piana auf Korsika – und es gab auch eine Staffelei ohne Bespannung. In einer Ecke des Regals saß eine Harlekin-Marionette, die melancholisch zum Schrank schaute.

Die ältere der beiden Schwestern blieb distanziert. Ihre Miene verfinsterte sich jedes Mal, wenn von ihrem Vater die Rede war. Sie war ausweichend, fast barsch, wenn ihre Schwester sie in die Unterhaltung mit einbeziehen wollte oder eine unserer Fragen über den Zustand des Dachs und des Heizkessels an sie weitergab.

2

Die beiden Schwestern waren erleichtert, dass die Sache so schnell über die Bühne gegangen war. Sie lebten am anderen Ende Frankreichs und wollten möglichst rasch zu ihren Familien zurück. Keine von ihnen schien sich allzu große Sorgen um ihren Vater zu machen, der nun allein in seinem Wohnheimzimmer saß. Sie nahmen die wertvolleren Bronzestatuen, einige Bilder und ihre persönlichen Gegenstände mit und bestellten dann einen Trödler, der das Haus leer räumen sollte. Der entrümpelte zwar die Wohnetagen, doch die alten Kommoden und Schränke aus dem Keller wollte er nicht haben. Sie waren voller Briefe und Bücher.

Ich wusste natürlich nicht, wie viel dieser Ort dem ehemaligen Besitzer bedeutete. Sein Großvater hatte das Haus vor einem Jahrhundert erbaut. In diesen alten Möbelstücken mit den klemmenden Schubladen und den windschiefen Türen steckte das Leben eines Mannes und auch das seiner Vorfahren.

Der Keller war ihr Refugium gewesen, diese dunklen Räume, in die durch die Rauten des Fensters nur wenig Licht fiel. Die Männer dieser Familie hatten ihr handwerkliches Wissen weitergegeben, und dazu gehörte Schlossern, Schustern, Schreinern und die Pflege ihrer Jagdutensilien. Werkzeuge, neueren Datums oder bereits ein Jahrhundert alt, lagen auf einer Werkbank mit Arbeitslampe. An den Wänden, von denen der Putz abbröckelte, hingen Schraubenzieher, Hämmer, Sägen, Gabelschlüssel und Rollgabelschlüssel fein säuberlich nebeneinander. Elektrische Leitungen verliefen entlang der Decke und überkreuzten sich in einem Kuddelmuddel, sämtliche Winkel waren ausgenutzt und boten Platz für Arbeitshandschuhe, Nägel, Lederabfälle oder Holzreste, Polituren und Schutzbrillen. Außerdem gab es hier eine Uhr, die kurz nach unserem Einzug stehen blieb, einen Aschenbecher, ein kaputtes Radio und Schwarzweißfotos der Familie – unter anderem von einem Baby in einem altmodischen Strampelanzug.

Die Männer hatten dieselben Rituale gehabt. In ihrem Refugium, das vom Vater an den Sohn weitergegeben worden war, war wohl immer geraucht und geschraubt und gesägt worden, und es war, als hätte ein einzelner Mann hundert Jahre lang dasselbe Untergeschoss genutzt. Am Fuß der Stufen waren noch die Krallenspuren all der Hunde zu sehen, die in diesem Haus aufeinandergefolgt waren.

Nachdem sich der Trödler geweigert hatte, die Werkzeuge mitzunehmen, die Möbel ohne Wert und die alten Bücher aus dem Keller, haben sich die Schwestern nicht darum gerissen, sie zu entsorgen. Die Unterzeichnung des Kaufvertrags beim Notar fand einen Monat später statt, als mein Bauch schon deutlich sichtbar war. Gleich danach hatte Damien mit der Überwachung der Umbauarbeiten und seiner neuen Arbeitsstelle zu tun und drängte nicht darauf, dass sie den Trödel abholten. Die Hinterlassenschaften des alten Mannes faszinierten ihn, er wollte sie später auch benutzen, und in diesem Haufen von Büchern befanden sich sicher auch ein paar ganz gute: Es gab Romane für Erwachsene, aber auch Kinder- und Jugendbücher mit verblichenen Seiten, für unsere Kinder, später, wenn sie lesen könnten. Und eine ganze Reihe von Werken über den Zweiten Weltkrieg. In diesem Jahr des Gedenkens an die Befreiung waren die Medien voll damit, man konnte keinen Fernseher anmachen und keine Zeitung aufschlagen, ohne auf eine Dokumentation, einen Fernsehfilm oder ein Dossier über dieses Thema zu stoßen. Die früheren Besitzer hatten die deutsche Besatzung erlebt. Während der Luftalarme hatten sie sich vermutlich in diesen Keller geflüchtet. Die Nettere hatte mir erzählt, dass ihr Großvater bei Kriegsende gestorben war, als er noch hier wohnte. Ich fragte nicht nach und hatte den Eindruck, dass sie keine große Lust hatte, mir mehr darüber zu erzählen.

Erst später haben wir die Hakenkreuze entdeckt, unterschiedlich groß und unbeholfen in ein Fensterbrett eingeritzt, im ersten Stockwerk, in einem der Kinderzimmer. Und im Keller, hinter einer Reihe von Krimis, entdeckten wir mehrere Bücher über Hitler und die Gestapo. Damien überflog ein paar Seiten und sagte dann spöttisch, dass wir vielleicht unwissentlich den Zweitwohnsitz von Klaus Barbie gekauft hätten. Ich rang mir ein gequältes Lächeln ab. Wir würden diesen ganzen Krempel wegwerfen, sobald wir etwas Zeit hätten. Der Keller war groß, und uns blieb noch genügend Platz für unsere Kartons, die nach einem Umzug immer jahrelang herumstehen: mit dem Raclette-Grill, Lucies Heften aus dem Kindergarten und alten Schuhen, die man eines Tages eventuell wieder anziehen möchte und die doch nur verstauben.

Es war mir nicht möglich, bei den Umbauarbeiten dabei zu sein, doch ich hatte mit Damien zusammen alles ganz genau geplant. Den Durchbruch einiger Zwischenwände, damit sich der Sonnenschein ungestört ausbreiten kann, die große Fensterfront zum Garten hin, die neue Küche, der Ausbau des Speichers – das alles konnte ich vorläufig nur auf Fotos sehen. Weil der Geburtstermin schon zu dicht bevorstand, konnte ich nicht mehr reisen, ich verfolgte die Umbauarbeiten von Paris aus auf meinem Computer. Mir war einerseits etwas langweilig, andererseits genoss ich auch diese letzten ruhigen Tage, wohl wissend, dass unser Leben bald eine entscheidende Wendung nehmen und diese uns ganz schön viel Kraft kosten würde. Ein Roman von Jean-Paul Dubois ließ mich mitten im Pariser Sommer mit strahlend blauem Himmel in einen Schneesturm eintauchen, der so gut beschrieben war, dass ich die Kälte und die Schneegestöber auf der Haut zu spüren glaubte. Dann begann ich zu stricken und versuchte, mich daran zu erinnern, was meine Großmutter mir beigebracht hatte. Ich hatte noch nie etwas Schwierigeres als einen Schal zustande gebracht, und deshalb begann ich, ein langes blaues Band zu stricken, zu nichts nutze, das immer länger und länger wurde und sich dehnte wie die endlosen Tage, die mich noch von der Entbindung trennten.

Robin wurde zwei Wochen vor dem berechneten Entbindungstermin geboren. Ich lag noch im Krankenhaus, als Lucie einen für die Sommermonate ungewöhnlichen Husten bekam und mich deshalb nicht besuchen durfte. Diese Zeit war für sie voller Ängste und Sorgen. Für ihren kleinen Bruder interessierte sie sich kaum, doch sie konnte es nicht erwarten, mich

3

Der Herbst neigte sich seinem Ende zu, als wir unser neues Heim bezogen. Die ersten Monate in diesem Viertel, das so ruhig und friedlich und das Gegenteil der Pariser Hektik war, hatten für mich einen bittersüßen Geschmack. Alles, was uns bei unserem ersten Besuch so gut gefallen hatte, war erloschen: die Birken, die Blumen, die Süße des Frühlings, das Lächeln der Nachbarn, die auf der Schwelle ihrer Türen miteinander geplaudert hatten. Die Hortensien streckten ihre langen, spindeldürren Finger in einen bewölkten Himmel. Das Gras stand in Pfützen. In der feuchten Stille kam man sich auf den kalten, erstarrten Straßen wie in einer Geisterstadt vor.

Ich fragte mich, was mich gepackt hatte, als ich Paris aus einer Laune heraus den Rücken gekehrt hatte. Ein Bedürfnis nach Veränderung und nach mehr Platz mit diesem Baby, das bald geboren werden würde; die Lust, zu neuen Ufern aufzubrechen. Ich hoffte auch, damit die dumpfe Melancholie vertreiben zu können, die mich manchmal beschlich, und das Gefühl von Unwirklichkeit abzuschütteln, das mich die Welt mit ungläubigen Augen sehen ließ.

Wir bekamen einen Krippenplatz für Robin. Lucie geht in die Vorschule. Ich habe wieder etwas Luft und kann mich meinem neuen Roman widmen. Es ist mein vierter, wieder ein psychologischer Thriller, der sich hoffentlich besser verkaufen wird als die früheren. Ich bin nie über zweitausend Exemplare hinausgekommen oder habe mich über einen Nachdruck freuen dürfen. Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, die französische Camilla Läckberg zu werden, und deshalb schreibe ich weiter, weil ich sowieso nicht damit aufhören kann. Ein Kritiker aus Clermont-Ferrand hatte mich mit Frédéric Dard verglichen, und dieses Kompliment hilft mir, auch Momente des Zweifels durchzustehen.

Wie viele Schriftsteller könnte ich von meiner Kunst nicht leben. Damien kommt für unseren Lebensunterhalt auf und unterstützt meine bescheidene Karriere, und dadurch habe ich auch Zeit für die Kinder. Mir ist natürlich klar, dass ich kein Vorbild für Unabhängigkeit und Feminismus bin, doch dieses zweigleisige Leben sagt mir zu. Ich arbeite zu Hause, und wenn ich nicht gerade an meinem Manuskript schreibe, fühle ich mich in der neuen Gegend etwas einsam. Ich kenne noch nicht viele Leute und finde dieses ehemalige Arbeiterviertel eher trist. Frühere Konservenfabriken wurden in Tanzstudios und Künstlerateliers umgewandelt, doch ein schöner Anblick sind diese Blechkästen von außen nicht. Alte Häuser sind durch Gebäude ohne Charme ersetzt worden, Rentner, die nie aus ihrem Viertel herausgekommen sind, leben Tür an Tür mit wohlhabenderen Familien aus Paris. Zum Glück führen die mit Bäumen gesäumten Sträßchen in nur fünfzehn Gehminuten ins Stadtzentrum. Um nicht allzu träge zu werden, mache ich öfter mal einen Spaziergang in die Stadt, zu den Büchereien und Kinos, den Plätzen und ihren Brunnen, dem Theater, den Gebäuden aus Quadersteinen und dem Hafen. Ich freue mich über die Musikanten an den Straßenecken und die Bücherstände am Wegesrand.

Wenn ich in den Keller hinuntergehe, rechne ich immer halb damit, flüchtige Schatten zu sehen oder Mäuse hinter den Kartons zu hören. In diesem von der Welt isolierten Untergeschoss, das an eine Krypta erinnert, inmitten der Bücher und Werkzeuge des alten Mannes, frage ich mich manchmal, wie es ihm wohl geht. Ich weiß nichts über diese Gegenstände, die ihm gehört haben. Ich weiß nicht, wer dieses Regal gebaut oder das verstaubte Geschirr mit dem Blumenmuster gekauft hat, wer dieses alte Werkzeug benutzt hat, geschweige denn, wofür man es überhaupt benutzt, wer den kleinen Kinderkopf in das Stück Holz geschnitzt hat.

An manchen Tagen stelle ich mir den alten Mann im Halbdunkel sitzend vor oder leicht wie Luft; umgeben von seinen Vorfahren, die mich mit ihren Blicken taxieren, wohlwollend oder voller Entrüstung.

Hin und wieder fahren wir nach Paris, und Lucie will jedes Mal unser altes Haus wiedersehen, den Hof mit den Lorbeerbäumchen in Töpfen, den alten Aufzug mit den Holztäfelungen, den Glasmalereien und den Spiegeln, und die Concierge, die sie manchmal an sich drückte. Sie darf nicht mehr in ihr altes Zimmer hochgehen, das tut ihr weh, und sie sagt, dass es hier schöner war. Damals hatte sie ihre Eltern für sich allein. Heute muss sie auf ihre Spielsachen aufpassen, Babygeschrei ertragen, darauf warten, bis sie an der Reihe ist, mit der latenten Angst leben, dass unsere Liebe nur dem Neuankömmling gelten könnte und für sie nur Brosamen übrig bleiben. Seit Robins Geburt hat Lucie ein Revier zu verteidigen, Eltern, deren Aufmerksamkeit nicht mehr ihr allein gilt. Ihre Erinnerungen an unsere alte Wohnung sind dadurch nur noch mehr eingefärbt, und ihr Heimweh ist umso stärker.

4

Mein vierter Roman spielt in Kyoto. Ich wurde in Japan geboren, verließ dieses Land noch als Kind und fühle mich doch immer noch mit ihm verbunden.

Eifersucht und Neid, Habgier, niederträchtige Rachegedanken und verrückte Anwandlungen sind die Triebfeder meiner Inspiration. Schon als Zehnjährige habe ich die Artikel über Lokalnachrichten aus France-Soir ausgeschnitten und in ein Heft eingeklebt. Alles begann mit dem kleinen Grégory, über den im Fernsehen so viel berichtet wurde, und ich löcherte meine Eltern mit Fragen, obwohl sie sich gewünscht hätten, ich würde mich für etwas anderes interessieren. Der Verdacht richtete sich bald schon gegen die Familie, zuerst den Onkel, dann die Mutter. Klammheimlich suchte ich in der Zeitung nach Details über den Mord, den Körper, der in der Vologne gefunden worden war, die Motive und die Fotos der Hauptbeteiligten. Später haben mich die Fälle Maddie oder der Duponts de Ligonnès genauso sehr fasziniert.

Die Motive, die dazu führen, dass jemand eine nicht wiedergutzumachende Tat begeht, interessieren mich ungemein, ein Vater, der nach einer Trennung seine Frau und seine Kinder tötet, die schwarze Witwe ganz ohne Gewissensbisse, der Schizophrene, der einen Passanten vor die Metro stößt, ein nach außen hin unauffälliger Mann, der zum Kannibalen wird und seine Freundin verspeist. Diese Menschen waren uns ähnlich, sie haben ein ganz normales Leben geführt und sich an Vorschriften gehalten, die Nachbarn beschreiben sie oft als freundlich und zuvorkommend – bis sie eines Tages jeden Bezug zur Realität verlieren. Niemand ist dagegen gefeit. Die Regeln und Erwartungen der Gesellschaft spielen schlagartig keine Rolle mehr. Diese Menschen werden zu Opfern von Instinkten, die man in normalen Zeiten unterdrücken kann, eine latente Psychose bricht sich Bahn, oder sie werden schlichtweg überwältigt von einem Schmerz, den nichts mehr zu lindern vermag und der sie dazu bringt, die Linie zu überschreiten.

Nachts träume ich von roten Ahornbäumen, vom unaufhörlichen Nieselregen auf den Tempeldächern, von Bambuswäldern, von einer schemenhaften Wohnung mit Schiebetüren, Futons auf dem nackten Boden, Trinkschalen und Brot auf niedrigen Tischen. Die Gesichter meiner Romanfiguren tauchen vor mir auf, Kentarô, der leichtfertige junge Mann, der sich weigert, das Kind eines anderen aufzuziehen, und Yoko, die junge Witwe, die aus Liebe zu ihm ihr eigenes Kind tötet. Sie ziehen zusammen, doch ihr Alltag färbt sich mit Bitterkeit. Yokos Schuld fließt in meinen Adern, wenn ich beschreibe, wie der tote Junge sie quält. Es gibt ihn nicht mehr und doch ist er überall. Der Vogel, der sich auf einen Ast vor dem Küchenfenster setzt, ist er. Der durchdringende, fast strenge Blick der Katze, die Ameiseninvasion, der kranke Kirschbaum, die Schauder, die ihr auch in der Sonne über den Rücken laufen – das alles ist ihr toter Sohn.

Inzwischen war März. Die ersten Osterglocken des Frühlings, die noch von dem alten Mann gepflanzt worden waren, begannen zu blühen. Ich war ganz in meinem neuen Roman gefangen, bei Tisch, im Kino, beim Einschlafen, er ließ mich nicht

5

Beim ersten Mal saß ich an meinem Computer, neben mir eine dampfende Tasse Tee, Blätter mit Notizen und ein Stück Kuchen. Der alte Mann hatte nicht geklingelt, er schloss einfach die Tür auf, wischte seine feuchten Schuhe an der Fußmatte ab und ging dann mit schleppenden Schritten über den mit Jasminduft geschwängerten Patio. Gebeugt, eine Hand in der Tasche, in der anderen den Schlüssel, mit strengem Blick. Dann kam er ins Wohnzimmer und durchquerte es langsam, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Wir hatten uns nicht die Mühe gemacht, das Schloss auszutauschen, was ich nun bereute. Im ersten Moment war ich davon überzeugt, dass es sich um einen Nachbarn handelte, und ich war verblüfft über eine derartige Unverfrorenheit. Irritiert und mit zitteriger Stimme fragte ich ihn, wo er bitte schön hinwolle.

Erst da wandte er mir sein welkes Gesicht zu, seine kalten grauen Augen. Er musterte mich, als hätte er jedes Recht, mich zu fragen, was ich in seinem Haus zu suchen hätte. In herrischem Ton ließ er mich dann wissen, er sei der Eigentümer, Guy Moustier. Das war tatsächlich der Mädchenname der beiden Schwestern, wie ich mich erinnerte. Er befahl mir, augenblicklich sein Haus zu verlassen. Ich saß an meinem PC