Daseinsweiten - Esteva Hara - E-Book

Daseinsweiten E-Book

Esteva Hara

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Beschreibung

Daseinsweiten beinhaltet eine Sammlung von Episoden und Geschichten aus meinem bewegten und reichhaltigen Leben. Beginnend mit bildhaften Begebenheiten aus Kindheit und Jugend führen die Erzählungen in meine Jahre in Russland an der Erdgastrasse und mein Leben auf den Kanarischen Inseln. Die Fantastischen Kurzgeschichten geben einen Einblick in meine grenzenlose Fantasie.

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Seitenzahl: 386

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Inhalt

Vorwort

Kindheit und Jugend

Der Friedhofsweg

Vierter Advent

Auf zum Händelkonzert

Studententage

Reise durch Rumänien

Erlebnisse in Russland und Trassenabenteuer

Wolgaschiffsreise

Reise ins Niemandsland

Russischer Winter

Per Taxi durch Moskau

Dienstreise nach Kasachstan

Russisches Abenteuer

Mittelasien

Jahre auf den Kanarischen Inseln

Gran Canaria schicksalhafte erste Begegnung

Mahia von Gran Canaria

Kanarische Karnevalsimpressionen

Lanzarote

Fähre über den Atlantik

Erlebnisse im Hundeheim Fuerteventura

Mahia und Fussel

Bilan von Fuerteventura

Suche Hundehotel auf Teneriffa

Episodenmix

Die Wahrsagerin

Kartenlegen im Milieu

Fussel kommt mit

Reisebeobachtungen

Weihnachtsflug gen Süden

Fantastische Kurzgeschichten

Schwebeschuhe

Das bewegte Bild

Ein Beratungsabend

Wunderwelt

Fünf Nüsse - erotisch-spirituelle Geschichte

Nachwort

Über die Autorin

Vorwort

Ein paar der wundervollen und einzigartigen Momente meines Lebens habe ich in diesem Buch verewigt. Mein Dasein war und ist bunt, spannend, bewegt. Ich liebe mein Leben, hatte immer wieder heilsame Wunder erleben dürfen. Einigen sehr wertvollen und lieben Freunden und Bekannten, welche mir auch in schwierigen Zeiten geholfen und Beiseite gestanden haben, sage ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank.

Ich bin an einem Punkt im Leben, an dem ich inneren Frieden fühle. Ich gehe meinen Weg ohne Eile, mit Achtsamkeit. Ich genieße jeden noch so winzigen Moment, jeden Klang, jeden Duft, jede Berührung. Meine langjährigen Auslandsaufenthalte und Naturerlebnisse in Sibirien und Spanien haben meine angeborene feine Intuition, meine Spiritualität gefördert und Sinne verfeinert. Ich habe den Zugang zu feinstofflichen Energien gefunden, mit der Natur bin ich innig verbunden. Die meisten meiner Gedichte und kreativen Gedanken ereilen mich, wenn ich mit meinem Hund über die weiten Felder dieses wunderschönen Stückchens Erde streife, auf dem ich nunmehr schon einige Jahre weile.

Ich schreibe meine Bücher aus dem inneren Bedürfnis heraus, Menschen, die es wollen, teilhaben zu lassen an meinem reichhaltigen und interessanten Leben. Es macht mich glücklich, wenn ich mit meinen Episoden, Romanen und Gedichten Freude und vielleicht auch ein paar Einsichten vermitteln kann. So wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen dieser teils vor vielen Jahren entstandenen Episoden und Kurzgeschichten, die auch mich immer wieder begeistern, verzücken, zum Schmunzeln und zum Nachdenken bringen.

Evelin Heinecke alias Esteva Hara

Kindheit und Jugend

Der Friedhofsweg

Es ist Ende Juli und sehr heiß. Das kleine Mädchen sitzt im Schatten eines Kastanienbaumes im Gras und lehnt sich an die alte, bröckelige Mauer des Friedhofs. Sie schaut den mit buckligem Kopfsteinpflaster belegten Weg hinunter. Keine Menschenseele ist in dieser Mittagshitze zu erblicken. Die alte, dunkelbraun gestrichene Holztür zum Hofdurchgang hat sie zugemacht. Hoffentlich schließt nicht jemand von innen ab. Aber dann könnte sie den Weg hoch laufen, an den Hinterhöfen der letzten drei Mietshäuser vorbei, kurz durch den Park und vorne die Straße runter. Dort würde sie an eine grüne große Holztür gelangen mit einem Knauf. Nummer neun steht am Haus und sie ist mit ihren acht Jahren schon groß genug, dass sie an die Wohnungsklingel kommt. Die elterliche Wohnung liegt ganz oben unterm Dach im vierten Stock.

Ein dunkelblaues T-Shirt trägt Elfy heute und ihre Lieblingshose. Es ist die rote Lederhose. Kein Mädchen hat so eine tolle Lederhose mit auf genähten Taschen. Die Hose sitzt zwischenzeitlich so eng, dass sie zwischen den Beinen kneift. Aber sie kann sich nicht davon trennen. Die Bänder an den Oberschenkeln hat sie geöffnet, die Träger ab gemacht, die sind nun zu kurz. Ihre langen blonden Haare hat sie heute zu zwei dünnen Zöpfen gebunden, an denen jeweils Zopfhalter mit zwei roten Kirschen zu sehen sind. Nur gut, dass die Mutter heute keinen Dutt an ihr sehen wollte. Sie hasst diese furchtbare Frisur. Den Dutt bekommt sie immer gemacht, wenn die Mutter mit ihr irgendwohin zu Besuch geht. Dann kämmt sie die langen Haare so straff nach oben, dass sie an der Kopfhaut reißen. Dann wird ein komischer Ring auf den Kopf gelegt. Darum legt die Mutter die Haare, es kommt noch ein Gummi darum, das ziept nochmal. Zum Schluss wird ein Kranz aus pastellfarbenen Plasteblumen darum gelegt. Die muss sie vorher zusammen drücken, sie haben kleine Löcher und Nippel. Der Ring aus Plasteblumen verfängt sich in ihren kleinen zarten Härchen und es ziept dann furchtbar.

Aber die Mutter kennt kein Pardon. Der Vater ist fast immer auf Arbeit und die Mutter im Sommer oft zuhause. Sie ist Lehrerin für Mathematik, Geographie und Astronomie. Sie hat jetzt auch Ferien und kocht oben in der kleinen Küche der Zweieinhalbzimmerwohnung Sauerkirschmarmelade. Die Sauerkirschen hatte der Vater gestern am Sonntag aus dem Garten mitgebracht. Es ist Omas Garten. Die Oma schafft das nicht mehr, so dass Elfys Vater die meiste Arbeit erledigt.

Elfy weiß, dass die Mutter oben in der Küche leise vor sich hin schimpft. Das Entsteinen der Sauerkirschen ist eine sehr unangenehme Arbeit. Bis vorhin musste sie mithelfen. Die Entsteinmaschine ist ein Unikum. Da schüttet man die Kirschen in einen Trichter. Dann soll immer eine dorthin rutschen, wohin man dann den Mittelstempel drückt, von schräg rechts oben nach links unten. Der Stein soll in eine angestellte Schüssel fallen und die Kirsche gerade nach unten in eine andere Schüssel. Vom Grunde eine gute Idee. Wenn da nicht immer zwei oder drei Kirschen auf einmal in der Mitte landen würden. Dann ist der Stempel überfordert. Er zerquetscht alle Kirschen auf einmal. Rotes Kirschblut spritzt überallhin und man muss den Kirschmatsch, der alles verstopft, mit den Fingern heraus puhlen. Weil Elfy so kleine Finger hat, ist das auch ihre Aufgabe. Sie betrachtet ihre Finger. Schön rot sind sie noch, auch die Fingernägel, obwohl sie sie vorhin wie verrückt geschrubbt hat. Wenigstens durfte sie dann nach unten gehen.

Hinter dem Hofausgang spielen nie andere Kinder, hier hat sie ihre Ruhe. Die haben wohl alle Angst vor dem Friedhof, der hinter der Mauer still seine seltsame Energie ausstrahlt. Die lauten und ruppigen Kinder spielen vorne auf der Straße. Sie kann das Geschrei ab und zu bis hinten hören. Da sind zwei blöde Jungs dabei. Die ziehen den Mädchen an den Haaren, boxen sie sogar, wenn ihnen etwas nicht passt. Mit ihr macht das keiner. Aber sie hat es beobachtet und so für sich beschlossen, dass sie mit solchen Kindern nicht spielen möchte.

Vom Grunde spielt sie viel lieber mit Jungs, als mit Mädchen. Ein Junge aus ihrer Klasse wohnt drei Querstraße weiter. Sie darf nicht alleine dort hin, sie soll immer am Haus bleiben. So spielt sie dann mit dem Jungen auf dem Weg von der Schule nachhause. Sie sammeln Steine, malen etwas an Mauern, rennen und necken sich. Der würde sie nie schlagen. Ein dünner Junge, der immer Hunger hat. Er bekommt wahrscheinlich zu wenig zu essen. Er hat noch zwei große Brüder, vielleicht essen die ihm immer alles weg. Oft hat sie ihm von ihrer Schulstulle abgegeben. Er hat sie immer gleich ganz in sich hineingeschlungen.

Aber nun sitzt sie alleine an der Friedhofsmauer und lauscht den Insekten. Vielmehr ist gerade nicht zu hören. Die Blätter bewegen sich nicht, kein Vogel zwitschert, die Stadt scheint unter der Hitze verstummt zu sein. Sogar das Gebrüll der chaotischen Kinder ist verstummt. Die müssen wohl jetzt alle zum Mittag hoch. Direkt gegenüber von ihrem Kinderzimmerfenster auf der anderen Straßenseite wohnt die Familie mit den zwei Rabaukensöhnen. Die haben bei dem Wetter oft die Fenster auf. Elfy versteckt sich abends manchmal hinter dem Vorhang und beobachtet, was da drüben so abläuft.

Die Mutter schreit nur rum. Ständig kriegen die Jungs Ohrfeigen. Die Brüder prügeln sich oft. Wenn der Vater mal da ist, streitet er sich mit der Mutter. Dann kuschen die zwei Jungs. Auch die Mutter hat vom Vater schon Ohrfeigen bekommen. So setzt sich das fort. Die Jungs schlagen dann kleine Mädchen auf der Straße. Sie kennen es nicht anders.

So ein Mist, jetzt habe ich Durst bekommen. Da muss ich hochgehen. Elfy steht auf und öffnet die alte große Hoftür. Dann geht sie durch einen dunklen Gang. Die dort stehenden Mülltonnen sind voll und stinken. Sie gelangt auf den Hof des Mietshauses. Rechts befinden sich die Kohleschuppen. Links etwas erhöht und ein Viertel des Hofes einnehmend befindet sich ein umzäuntes Gärtchen mit einem Apfelbaum, Erdbeeren und Blumen. Diesen Garten darf sie nicht betreten. Er gehört den Hauseigentümern. Zu gerne würde sie in diesem Garten spielen. Ein einziges Mal nur durfte sie hinein. Ihr Peppi war gestorben, ihr Wellensittich. Er sollte doch schön beerdigt werden. Sie legte ihn zusammen mit seinem Spielvogel in eine Pappschachtel.

Elfy stellte sich mit der Schachtel weinend vor die Wohnungstür der Hauseigentümer. Sie klingelte, es wurde geöffnet. Sie bat darum, im Garten ihren toten Vogel begraben zu dürfen. Die Frau war kalt, aber der alte Mann war mit heruntergegangen und hatte ihr eine Ecke gezeigt. Er gab ihr eine kleine Schippe und sie durfte ihren Peppi vergraben. Dann hatte sie noch aus zwei Holzstückchen ein Kreuz gebastelt, indem sie es mit ihrem Haargummi zusammenband. Das kam dann auf den kleinen Erdhügel als Grabstein. Da war sie sehr froh. Zwischenzeitlich war Kraut über das Grab gewachsen. Sie durfte nicht mehr hinein, es zu pflegen. Die Frau duldete keine Kinder, und schon gar nicht in ihrem Garten.

Jetzt ist sie am Hofeingang und tritt in das kühle Treppenhaus. Vorbei an der Klotür, die zu den zwei Wohnungen im Erdgeschoss gehört. Hier teilen sich immer zwei Mieter eine Außentoilette. Schnell will sie sich an den zwei Erdgeschosswohnungen vorbei schleichen. Zu spät. Eine Tür geht auf. Heraus tritt eine alte, zerknitterte Frau in Kittelschürze. Ein Kopftuch umspannt ihre wüsten schwarz-grauen Haare, die störrisch darunter hervor schauen. Sofort leuchten die Augen der Frau, als sie sie sieht.

»Mädchen«, sagt sie in ihrem tschechischen Akzent. Ihre Eltern stammten von dort.

»Was machst du denn hier im kalten Flur, es ist doch so schönes Wetter? « Ihre harte Arbeiterfrauenhand geht über die zarte Wange des blonden Kindes. Elfy will sich dem entziehen. Aber schon wird sie in den Flur der Wohnung geschoben. Die alte Frau lächelt sie strahlend an. Nur noch einen Zahn hat sie und der ist braun. Sie sieht aus wie eine Hexe.

»Ich wollte zwar gerade den Müll rausstellen, habe aber meine Zigaretten vergessen. « Kaum sagt sie das, schiebt sie das Kind in die kühle Küche. Dort stehen ein Feuerherd, ein Küchentisch, eine Küchenanrichte, ein Waschbecken. Alles ist blitzblank sauber.

»Du weißt ja«, redet sie weiter, »ich kann nicht mehr so richtig schauen. Nimm doch mal die Büchse vom Küchenschrank und öffne sie. «Elfy tut es. »So und nun nimmst du eine Mark heraus und stellst sie wieder weg. « Artig reicht das Mädchen das Geld der Frau, die zwar wie eine Hexe aussieht, aber freundliche Augen hat, die von einem Schleier überzogen sind.

Mit der einen Hand greift die Frau ihre Zigarette, die im Aschenbecher auf dem Küchentisch liegt und dampft. Mit der anderen Hand hält sie das Geldstück dicht vor ihre Augen.

»Ach was«, sagt sie, »du weißt ja schon, was eine Mark ist. « Sie gibt Elfy das Geld zurück. »Nun lauf schnell zur Linzen und hol mir zehn Zigaretten. Für dich darfst du eine Zuckerstange mitbringen. Ich stelle solange die Mülltonnen raus, die stinken schon bis zum Himmel bei dem Wetter. «

Elfy läuft durch den dunklen Flur der Wohnung. Hier stinkt es nach Urin. Sie weiß, dass sich diese Zweizimmerwohnung zwei Frauen teilen. Die andere Frau scheint die wirkliche Hexe zu sein. Auch zu ihr musste sie schon mal rein. Diese Frau hat immer eine Perücke auf. Sie ist stark geschminkt und gepudert. Sie trägt immer weite Kleider mit Korsage. Das ganze Zimmer ist voller Porzellanfiguren und ein Klavier hat sie auch. Aber sie riecht eklig. Als sie einmal bei der Frau war, bekam sie einen Bonbon.

»Hier meine Süße«, hatte die gesagt. Heimlich steckte Elfy den Bonbon in ihre Hosentasche. Den kann ich auf keinen Fall essen, dachte sie damals, der schmeckt bestimmt so, wie die Frau riecht.

Die Frau, die nur noch einen Zahn hat und immer raucht, riecht trotzdem besser. Deren Zimmer ist auch immer blitz-blank. So auch das Wohnzimmer. Sie putzt wohl jeden Tag. Im Wohnzimmer stehen nur ein Kleiderschrank, ein Bett, ein Tisch, vier Stühle, ein Nachtschrank und eine herrliche schwarze Anrichte mit geschliffenen Scheiben. Ganz leise hatte ihr die rauchende Hexe einmal ins Ohr geflüstert, dass ihre Mitbewohnerin eine Schlampe sei. Die würde nie putzen, sich nicht waschen und immer nur alles zu pudern.

Nun aber schnell zur Linzen. Das ist der Laden unten an der Ecke. Die Inhaberin heißt Frau Linz. Die mag es gar nicht, wenn Elfy kommt und Zigaretten für die rauchende Hexe holen will. Nun weiß die Mutter gar nicht, wo sie hin läuft. Aber es sind nur zehn Mietshäuser bis zur Ecke. Das wird nicht so lange dauern. Zwischenzeitlich sind die lauten Kinder wieder auf der Straße und spielen. Sie rasen mit ihren Rollern umher und spielen Ball. Elfy läuft schnellen Schrittes an den Kindern vorbei.

In dem Laden gibt es fast alles. Obst und Gemüse, Backwaren, Molkereiprodukte, Fleisch und Wurst, Drogerieartikel. Bis unter die Decke sind die Waren in alte Holzregale gestapelt. Die Würste hängen an der Decke. Frau Linz, klein und mollig, muss ständig auf eine Leiter klettern oder eine lange Stange benutzen, um die gewünschten Artikel herbei zu holen. Sie macht das geschickt und sehr schnell. Jetzt ist Elfy an der Reihe.

»Ich soll für Frau Rosa zehn Zigaretten mitbringen und für mich eine Zuckerstange«, sagt sie schüchtern. Sie reicht die Mark über den Ladentisch. Jedes Mal ist es unsicher, ob sie noch einmal die Zigaretten bekommt.

»Du musst schon lauter reden«, plärrt die Ladeneigentümerin sie an. Elfy wird rot. Es sind noch mehr Menschen hinter ihr in der Schlange. Alle werden hören, dass sie Zigaretten holt und denken, dass sie sie heimlich raucht. Wie peinlich.

»Zehn Zigaretten für Frau Rosa«, sagt sie noch einmal lauter. Weil sie sich so sehr schämt, vergisst sie, nach der Zuckerstange zu fragen und saust schnell mit jeweils fünf Zigaretten in der Hand aus dem Laden hinaus.

Sie rennt die Straße zurück. Die Tür ist zu. Sie klingelt im Erdgeschoss. Der Summer ertönt. Schnell in den kühlen Flur hüpfen. Frau Rosa steht rauchend in der Wohnungstür. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn.

»Ist das heute heiß«, stöhnt sie. »Komm rein, leg die Zigaretten auf den Küchentisch. Ich habe dir eine Tasse Milch hingestellt. Hat dir die Zuckerstange geschmeckt? « Wieder errötet Elfy. Sie traut sich nicht zu sagen, dass sie die Zuckerstange vergessen hat. Das würde die Frau Rosa bestimmt traurig machen. Also nickt sie nur mit dem Kopf und scheint vor Röte fast im Boden zu versinken. Wie furchtbar ist es, zu lügen, denkt sie und nimmt schnell die Tasse mit der kalten Milch. Eigentlich mag sie keine Milch trinken. Aber diese hier ist eiskalt und frisch.

»Ich habe einen neuen Eisblock bekommen«, sagt Frau Rosa freudig. Deshalb ist die Milch so schön kalt. Sie hat im Keller einer Truhe als Kühlschrank. Die betreibt sie mit Eisblöcken. Einmal in der Woche kommt der Eismann und bringt ihr einen.

»Das hast du fein gemacht«, lobt Frau Rosa, packt die Zigaretten in den Küchenschrank und ihre harten Hände streichen über das feine Haar des Mädchens.

»Nun geh wieder spielen! « Sie schiebt Elfy zum Flur hinaus. Die Tür geht hinter ihr zu. Wohin wollte ich vorhin? Verwirrt steht Elfy im Treppenhaus. Ach ja, ich hatte Durst, aber jetzt nicht mehr. So läuft sie wieder über den Hof nach hinten raus auf den Weg an der Friedhofsmauer. Da stehen jetzt die Mülltonnen und stinken vor sich hin. Blaue, grüne, riesige Brummer umkreisen die runden Zinktonnen. Nein, hier kann ich nun nicht mehr spielen. Sie geht also den Weg weiter nach unten. Hinter den anderen Mietshäusern stehen noch keine Tonnen.

Fünf Häuser weiter macht sie halt. Hier ist es besonders spannend. Da hat die Friedhofsmauer einen Durchbruch mit einem halbrunden, vergitterten Fenster. Sie klettert die kleine Böschung zur Mauer hoch, kniet sich auf den Vorsprung des Durchbruchs. Sie hält sich an den Gitterstäben fest und presst ihr kleines Gesicht zwischen zwei verrostete Metallstangen. Die legen sich kühl an ihre glühenden Wangen. Ihre blauen Augen schauen ins Dickicht des Friedhofs. Ein wenig gruseln tut es ihr schon. Das gibt ein prickelndes Gefühl im Bauch, welches sehr angenehm ist. Eigentlich hat sie keine Angst vor dem Friedhof. Nur nachts wacht sie manchmal auf, wenn die Katzen dort schreien wie kleine Babys, die lebendig begraben werden.

Durch die Büsche erspäht Elfy eine Engelstatue. Es ist ein nackter Mann mit Flügeln. Er schaut gen Himmel. Er hat seine Hände bittend nach oben gehoben. In dem Moment denkt Elfy: Da kann ich doch meine Bitten an ihn weitergeben. Leise beginnt sie, zu reden, flüstert dem Engel zu:

»Bitte mach, dass ich auch gemocht werde. Dann bitte ich noch, dass ich alles richtig mache, mein Papi nicht zornig wird und ich nicht lügen brauche. «

Dann springt sie runter, läuft zurück. Es wird Zeit, der Mutter wieder etwas zu helfen. Und wer weiß, vielleicht werden ihre Bitten ja erhört.

Vierter Advent

Elfy schaut aus dem Fenster ihres Kinderzimmers. Das zweiflüglige Fenster ist hoch und hat nur ein schmales Fensterbrett. An den Scheiben glitzern Eisblumen. Mit ihren kleinen Fingernägeln kratzt sie weitere Muster in die Eispracht. Hoffentlich hört es bald auf zu schneien. Es ist der letzte Sonntag vor Weihnachten, der vierte Advent und sie ist zehn Jahre alt. Ferien sind und sie möchte so gerne in den frischen Schnee laufen. Unten auf der Straße hört sie das Schaben der Schneeschieber. Frau Rosa wird bestimmt gerade den Schnee vom Fußweg an den Rand schieben. Sie trägt auch im Winter ihre Kittelschürze, das Kopftuch, darüber eine Wattejacke. Ihre Füße stecken in Wollsocken und diese wiederum in klobigen Schuhen.

Aber wenn der Schnee schon beiseitegeschoben ist, dann kann ich nicht mehr die Erste sein, die Spuren im frischen Schnee macht. Sie überlegt, wohin sie dann gehen könnte, wo noch niemand die Schneepracht zerstört hat. Da müsste sie wahrscheinlich über den Hof nach hinten hinausgehen. Selbst da könnte Frau Rosa schon gefegt haben. Die ist immer sehr emsig.

Nebenan hört Elfy einen Eimer klappern. Der Vater heizt den Kachelofen an. Er hat wohl gerade Kohlen hoch geholt. Die Zweieinhalbzimmerwohnung hat nur einen einzigen Ofen. Der steht im Wohnzimmer direkt neben ihrem Kinderzimmer. Damit es bei Elfy auch warm wird, öffnet der Vater die Tür, wenn der Ofen warm ist.

Gestern Abend waren die Eltern zuhause. Sie hatten Besuch. Tante Else und Onkel Paul waren gekommen. Onkel Paul ist lustig und laut, aber manchmal etwas peinlich. Er hat kein Problem, auch mal Arsch oder Scheiße zu sagen und er schimpft oft laut über den Staat. Meistens trinken sie Cinzano und hören Jazz. Elfy kann dann ewig nicht einschlafen. Das Licht vom Wohnzimmer fällt durch eine Ritze der Kinderzimmertür direkt auf ihr Klappbett. So zieht sie die Vorhänge übers Bett und hat so ein Bettzelt. Da liegt sie und kriecht noch unter die Decke in eine Höhle im Zelt.

Elfy hat ein winziges Taschenradio. Gestern konnte sie damit am Abend unter der Decke ein Hörspiel hören. Als es zu Ende war, lauschte sie den Gesprächen und dem Gelächter der Erwachsenen. Irgendwann ging dann einmal die Tür auf. Der Vorhang wurde beiseitegeschoben. Schnell schloss sie die Augen. Sie schlief ja schon. Alles in Ordnung. Es war Onkel Paul. Sie hatte nur kurz geblinzelt und ihn gesehen. Er würde es nicht verraten. Er schloss die Tür wieder, es wurde weiter gefeiert.

Immer noch besser, als der Abend zuvor. Da waren die Eltern ausgegangen. Zweimal in der Woche gingen sie abends weg. Diesmal zu Onkel Wolf, Karten spielen. Sie mochte es überhaupt nicht, abends alleine in der Wohnung bleiben zu müssen. Sie hatte die Eltern dazu gebracht, dass sie die Kinder-zimmertür offen und im Wohnzimmer das riesige Radio ange-Lichtleiste dort, wo der Balken für die Sendersuche entlanglief. Die fungierte als Nachtlicht. Wenn Elfy noch einmal hinaus musste, wollte sie auf keinen Fall im Dunkeln nach den Lichtschaltern suchen müssen.

»Falls irgendetwas ist, dann gehst du zu Frau Rosa, die hat auch einen Schlüssel«, hatte die Mutter gesagt, bevor Elfy zu Bett gebracht wurde. Das war die nächste gruselige Vorstellung. Im eiskalten Treppenhaus, vier Stockwerke hinunter laufen, wo doch immerzu das Treppenlicht ausging, meist auf halber Treppe, dass man den Rest im Dunkeln tappte, um den Lichtschalter zu finden. Niemals! Da wollte sie sich lieber in ihr Bettzelt verkriechen.

Heimlich hatte sich Elfy in der Ritze vom Bett zur Wand einen Vorrat an Brühwürfeln angelegt. Sie liebte diese salzigen weichen Quader. Sie ließ genüsslich einen Würfel im Munde zergehen und hatte versucht, an dem einsamen Abend einzuschlafen. Es gelang ihr nicht. Irgendwann war sie aufgestanden. Sie musste dringend auf die Toilette. Die war eine Treppe tiefer und im Moment ständig eingefroren. Man musste noch einen Topf mit Wasser zum Spülen mitnehmen. Das alles mitten in der Nacht. Unbeschadet war sie vom Kloausflug zurückgekehrt, allerdings vor Kälte zitternd. So blieb sie noch eine Weile im Wohnzimmer neben dem nunmehr lauwarmen Kachelofen hocken. Da fiel ihr Blick auf das neue Gerät ihres Vaters.

Ein japanisches Kofferradio mit Plattenspieler. Sie hatte oft beobachtet, wie er es bediente und dann abends, wenn die Eltern aus waren, heimlich Platten gehört. Auch an diesem Abend nahm sie es sich, klappt es auf. Sie holte sich eine kleine Märchenplatte heraus und legte sie auf. Dann experimentiert sie. Es war Hänsel und Gretel. Sie mochte dieses Märchen nicht. Sie wollte es nicht hören, wollte nur veränderte Geschwindigkeiten ausprobieren. Der Plattenspieler hatte 33, 45 und 78. Einmal waren die Stimmen wie von Mäusen so hell und schnell. Sie sah die Leute regelrecht durchs Märchen sausen wie Flugzeuge am Himmel. Bei Geschwindigkeit 33 hatten die Sprecher dann ganz dunkle Stimmen, alles lief wie in Zeitlupe. So krochen die Märchenpersonen wie Schnecken durchs Leben. Das brachte sie zu herzhaftem Lachen.

Plötzlich ein seltsamer Ton. »Tu Milch hinein«, sagte gerade die Hexe zu Gretel. Dann sagte sie noch: »Viel! « Aber das

Schnell die Platte weg packen. Hoffentlich merkt es der Vater nicht. Ihr Herzchen schlug hoch. Sie stellte die Platte ganz nach hinten. Sie würde sie jetzt nicht mehr hören wollen. In dem Moment fiel ihr Blick auf die Wand hinter der Wohnzimmertür. In der Ecke stand ein Papierkorb und darüber sah sie einen Fleck an der Tapete. Seit Tagen war sie bestrebt, solange sie es unter Kontrolle hatte, die Wohnzimmertür möglichst auf zu lassen, damit der Vater den Fleck nicht bemerkte. So hatte sie doch letzte Woche abends, als die Eltern auch weg waren, während des Schallplattehörens eine Tomate gegessen. Sie war Gedanken hatte sie den grünen Pips der Tomate, an der noch etwas Tomatenfleisch dran war, in die Hand gespuckt. Dann schnipste sie das Stück einfach in Richtung Papierkorb. Was für ein Unsinn. Die Tomate gehörte sowieso nicht in den Papierkorb. Das Hörspiel hielt sie in Bann und das Tomatenstück klatschte an die Tapete, um von dort in den Papierkorb zu fallen.

Elfy sprang entsetzt auf. Oh weh, ein Fleck an der Wand. Das wird Strafe geben. Schnell nahm sie das Tomatenstück aus dem Papierkorb und brachte es in den Küchenmülleimer. Zu spät. Der Fleck prangte und schien ständig zu wachsen. In ihrer Panik holte sie einen nassen Lappen und rieb. Da wurde der Fleck noch größer und die Tapete begann zu krisseln. Sie nahm Löschpapier aus dem Ranzen und presste es auf die nasse Stelle. Der Fleck grinste sie hämisch an. Ihr Abend war versaut. Sie packte die Platte und den Plattenspieler weg und legte sich unruhig schlafen. Ganz früh am Morgen stand sie auf. Der Fleck war zwar etwas kleiner, aber weg war er nicht. Leise schlich sie in den Flur und hielt ihr Ohr dicht an die elterliche Schlafzimmertür. Der Vater schnarchte noch laut. Schnell nahm sie einen weißen Radiergummi aus dem Ranzen und radierte am Fleck herum. Es wurde aber nicht besser. Also hieß es ab jetzt, immer auf die Tür zu achten, sich möglichst vor den Fleck zu stellen, wenn der Blick des Vaters in diese Richtung ging. Wenigstens saß er beim Essen und auch sonst meist auf der Couch und das war mit dem Rücken zum Fleck.

Elfy sieht weiter aus dem Fenster. Bis jetzt hat der Vater den Fleck nicht gesehen. Noch immer fallen weiße Flocken. Der Vater hat nun die Tür zum Kinderzimmer geöffnet und sein Tonband angestellt. Es dudelt ein Titel von Louis Armstrong, der ist einer seiner Lieblingssänger. Kurz vor Weihnachten und in der Festzeit hat der Vater meist gute Laune.

Elfy steigt vom Stuhl, auf dem sie kniete, um aus dem Fenster schauen zu können. Sie läuft in die Küche. Die Mutter blättert im Backbuch. Sie will einen Kuchen für den vierten Advent backen. »Darf ich bitte runtergehen und ein wenig im Schnee spielen? « Die Mutter ist so vertieft, dass sie nur kurz nickt. Schnell zieht Elfy sich im Flur den Anorak und Stiefel an. Eine Mütze will sie nicht aufsetzen. Die Schneeflocken sollen sich in ihren blonden Haaren verfangen, dann kann sie die Kunstwerke ganz dicht betrachten. Vielleicht kommt auch noch etwas Sonne, dann glitzern sie im Haar wie Diamantenschmuck.

Elfy läuft die Treppen hinab. Zwei Stufen auf einmal, die letzten drei Stufen springt sie. Im Moment ist ihr egal, dass manche Leute im Haus den Lärm nicht mögen, wenn sie auf den Treppen herum springt. Sie ist das einzige Kind in dem Mietshaus. Sie freut sich so sehr auf den reinen Schnee. Sie ist im Erdgeschoss angekommen. Das Geschabe auf der Straße hat aufgehört. Plötzlich geht die Haustür auf. Sie wollte gerade nach hinten hinunter zum Hofausgang laufen. »Mädchen«, hört sie die alte Frau rufen, die durch die Haustür hinein kommt.

»Kannst du mir bitte helfen, meine Tasche nach oben zu tragen? « Es ist Frau Kluge, sie ist so um die 80 Jahre alt. Sie wohnt auch im vierten Stock, direkt neben der elterlichen Wohnung. Sie teilt sich die Wohnung mit einem Junggesellen. Das ist der, der immer ewig auf dem Klo sitzt und Zigarre raucht.

Elfy macht kehrt und nimmt der Frau eine Tasche ab. »Es war ganz schön beschwerlich, auf den glatten Wegen mit zwei Taschen zu laufen. Jetzt bin ich froh, gleich zuhause zu sein«, stöhnt Frau Kluge. Das Mädchen läuft vor ihr hoch bis in den vierten Stock. Die alte Dame kommt langsam hinterher.

Sie war früher Schneidermeisterin und trägt auch in ihrem hohen Alter noch immer selbst genähte, sehr aufwändig gefertigte Kleider. Heute freilich hat sie einen Pelzmantel darüber an. Bei Frau Kluge musste Elfy früher öfter übernachten, wenn die Eltern abends weg waren. Frau Kluge hat ein Bett wie die Prinzessin auf der Erbse. Es ist voller Kissen und Federbetten ganz hoch übereinandergestapelt. Das Bett steht quer in dem Zimmer, was drüben ihr Kinderzimmer ist, hinten an der Wand, gegenüber der Fensterfront. Es passt genau von Wand zu Wand. Eine weiße Spitzenschlafhaube, um die gut frisierten lila Haare zu schützen, hat die Frau Kluge auch. Elfy durfte bei ihr immer mit den Knöpfen spielen. Die ehemalige Schneidermeisterin hat eine riesige Schachtel mit herrlichen Knöpfen aller Größen und Formen: mit Samt überzogene, Perlmuttknöpfe, Knöpfe mit glitzernden Steinen, Knöpfe wie Geldstücke, ganz winzige, ganz riesige.

Für Elfy war diese Kiste ein Schatz des Universums. Auf einmal hatte sie alle Sterne selbst in der Hand. Elfy kannte viele Sterne von den Besuchen in Sternwarten und Planetarien, wenn sie ihre Mutter zum Unterricht begleitete. So konnte sie sich mit den Knöpfen ein neues Universum schaffen und ihrer Fantasie freien Lauf lassen.

Langsam kommt Frau Kluge oben an und ist ganz außer Puste. »Das war sehr lieb von dir«, sagt sie atemlos. »Knöpfe sammelst du bestimmt nicht mehr?«, fragt sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie schließt die Wohnungstür auf und tritt in den dunklen Flur, in dem es nach kaltem Zigarrenrauch stinkt. Das Mädchen stellt die Tasche in den Flur.

»Warte!« Die Frau Kluge geht in die Küche. Sie kommt zurück mit einem rotbackigen Weihnachtsapfel. »Hier, als Dank für deine Hilfe.«

Artig dankt Elfy, knickst und läuft schnell wieder die Treppe hinab. Endlich in die Freiheit, endlich in die Reinheit und Klarheit des Winternachmittags starten. Die Sonne wird heute nicht mehr kommen. Es schneit wieder etwas mehr. Als sie auf den Hof tritt, ist der von Frau Rosa gefegte Gang durch den fallenden Schnee schon wieder zugeschneit. Elfy klatscht in die Hände. Ich kann als Erste Spuren machen. Sie will ganz große Schritte machen, damit sich alle wundern, wer hier mit so kleinen Schuhen so große Schrittabstände hat. Auf dem Rückweg will sie in dieselben Fußabdrücke treten, so dass es aussieht, als wäre sie nur gegangen, aber nie zurückgekehrt. So setzt sie langsam einen weiten Schritt nach dem anderen in den Pulverschnee. Dann öffnet sie das hintere Tor. Der gesamte Friedhofsweg ist eingeschneit. Hier war noch niemand. Der Schnee ist zwischenzeitlich so tief, dass er ihr bis über die Knie reicht. Er kriecht in ihre kleinen Stiefel, aber das stört sie nicht. Sie stapft den Weg hinunter, dann zurück. Es ist recht beschwerlich. So lässt sie sich auf die kleine Böschung in eine Schneewehe fallen. Sie wird weich aufgefangen. Sie liegt und schaut in den grauen Dezemberhimmel, aus dem noch immer die Flöckchen fallen. Kleinere nun. Sie landen auf ihren roten Wangen und hinterlassen Tröpfchen, die wie Tränchen herunter laufen.

Elfy greift ihr langes Haar und betrachtet die kunstvoll kreierten Schneeflocken, die sich darin verfangen haben. Sie kann sich nicht satt sehen. Die Schneekristallformen erinnern sie an ihr Guckchen. Sie liebt es sehr. Sie hat zwei davon. Eins ist tetraederförmig, das andere rund. Das Runde findet sie schöner. Es zeigt, wenn man es dreht und hineinschaut, prächtige Muster. Bunte geschliffene Glassteinchen verschiedener Formen formieren sich immer wieder zu neuen symmetrischen Gebilden. Wie bunte Eiskristalle sehen die aus. Man müsste ein Guckchen mit weißen, glitzernden Glassteinchen bauen, dann könnte man auch im Sommer Eiskristalle kreieren und sich daran erfreuen.

Elfy nimmt sich den Apfel aus der Anoraktasche und beißt genüsslich hinein. Er schmeckt köstlich. Endlich ist Weihnachten. Was wird sie wohl dieses Jahr bekommen? Sie hatte sich ein Klapprad gewünscht. Ob es wohl unter dem Weihnachtsbaum stehen wird? Zwei Tage vor dem Heiligen Abend darf sie ihr Kinderzimmer nicht mehr betreten. Dann muss sie im elterlichen Schlafzimmer im Bett der Mutter übernachten. Dort ist es eiskalt. Es gibt keine Heizung im Schlafzimmer. Die Fenster sind dick vereist. Der Vater schwitzt viel. Die Flüssigkeit im Raum setzt sich an die einfachen Glasscheiben und gefriert sofort. Wenn die Nachttischlampe brennt und Elfy liegend über das Kopfende des Bettes an die Tapete schaut, sieht sie den Frost glitzern.

Aber im Schlafzimmer duftet es seit kurzem sehr lecker. Zur Weihnachtszeit kauft der Vater Salami und geräucherten Schinken. Die hängt er dann zwischen Kleiderschrank und Schlafzimmertür auf einen Besenstil, der auf dem Schrank liegt und ein wenig hervor schaut. Vor dem Fenster auf dem Wäschekorb steht eine Stiege mit Apfelsinen. Aber auch die darf sie noch nicht essen. Erst ab Weihnachten. Auch den Stollen. Er steht in Handtücher eingewickelt auf einem kleinen Schreibtisch neben dem Schlafzimmerfenster. Stollen gibt es immer erst am 24. Dezember zum Kaffee. Vorher nicht. Bescherung gibt es immer erst, wenn zuvor ein Spaziergang gemacht wurde.

Nun ist der Apfel auf gegessen. Nur noch der Stil ist übrig. Den wird sie mit zu Mutter nehmen und fragen:»Hast du Zeit?«

»Wieso?«, wird die Mutter antworten.

»Kannst du mal den Pinsel zum Maler bringen?«Dann wird sie den Apfelstil der Mutter überreichen und beide werden lachen.

Elfy steht auf. Jetzt ist es ihr etwas kalt. Hunger hat sie auch. Immer wenn sie einen Apfel isst, bekommt sie Hunger. Sie klopft sich den Schnee ab. Langsam stapft sie in Richtung Hoftor. Der Vierteadventkuchen von der Mutter ist bestimmt schon fertig.

Auf zum Händelkonzert

Ich öffne das kleine Fenster meines Mansardenstübchens. Frische Sommerluft strömt ins warme Zimmer. Die Sonne über den schrägen Wänden hat die vierzehn Quadratmeter in den letzten warmen Tagen schon wieder mächtig aufgeheizt. Ich steige auf den uralten, riesigen braunen Ledersessel und knie mich dann auf die gusseiserne Heizung, um richtig aus dem kleinen Fenster schauen zu können. Es ist früh am Morgen und die Sonne hat den Himmel in herrliches Orangerot getaucht. Selbst die Spitze der Pauluskirche, die rechter Hand nicht weit entfernt auf einem Hügel steht, ist heute rot gestrichen. Ich recke mich und strecke mich. Heute wird ein schöner Tag. Es ist Wochenende und heute Abend gehe ich zum Abschlusskonzert der Händelfestspiele. Ich liebe die Musik von Händel. Ich habe viele Schallplatten, die ich immer wieder anhöre.

Gestern hatte ich in meinem Zimmer wieder einmal die Schlafcouch umgestellt. Es gibt in diesem Zimmer nur drei Möglichkeiten, sie zu stellen, denn an der einzigen hohen Wand ohne Schräge steht meine neue Schrankwand. Auf die bin ich richtig stolz. Sie ist weiß mit braunen Türen und hat sogar eine Bar mit Spiegel und Licht. Ein paar schöne Gläser aus Tschechien hat mir meine Mutter geschenkt, dann steht da noch eine Flasche Schalaer Wermut. Ein interessantes Kräutergesöff. Ich trinke es immer mal mit meiner Freundin, wenn sie mich besuchen kommt. Aber sie kommt nicht oft, denn sie wohnt ziemlich weit weg im Süden von Halle. Nun steige ich von der Heizung herunter und ziehe mich an. Über den Bodenflur dann eine Holzwendeltreppe gehe ich leise hinab. Es knarrt. Die Eltern schlafen noch. Ich möchte sie nicht wecken. Die Schlafzimmertür liegt direkt gegenüber dem Ende der Bodentreppe. Also spare ich mir auch den Gang ins Bad. Denn auch das ist über den Badvorraum, in dem Einbauschränke sind, mit dem Schlafzimmer verbunden. Es ist ein herrliches Bad. Eine riesige Wanne steht darin, zwei große Waschbecken auf Säulen, das WC ist in einem extra Raum mit kleinem Fenster. Das Bad selbst hat ein großes Flügelfenster zum Vorgarten hinaus. Darin steht eine große japanische Kirsche. Sie hatte dieses Jahr wieder besonders schön geblüht.

Obwohl ich gestern Abend erst sehr spät ins Bett gekommen bin, geht es mir heute Morgen schon erstaunlich gut. Die Eltern waren aus und ich hatte eine Fete in der Kellerbar. Acht Leute waren wir, drei Mädchen und fünf Jungs, alle aus meiner Klasse 10b. Sie kommen sehr gerne bei mir feiern. Vielleicht, weil hier alles so unkompliziert ist, stressfrei, niemand meckert, wenn es lauter ist, wenn geraucht wird oder vielleicht auch mal zu viel getrunken. Ich hatte mich gestern Abend zurückgehalten, denn ich allein wusste, was für ein Gebräu ich für die anderen hergestellt hatte. Außerdem mag ich es, wenn ich die Kontrolle behalte und so sehen kann, wie die anderen langsam in ihrem Alkoholrausch versinken und komische Dinge tun oder reden. Natürlich habe ich auch Zeiten, in denen ich mich hinreißen lasse, viel zu trinken. Besonders der Goldbrand war für mich sehr gefährlich. Wir tranken ihn meist mit Cola gemischt und dann drehte es ganz heftig. Gestern hatte ich Bowle gemacht nach dem Rezept meines Vaters. Die war schon ziemlich stark, denn die Früchte wurden in Primasprit und Zucker eingelegt. Dazu kamen dann Fruchtsaft und Sekt. Es schmeckte hervorragend. Alle tranken viel und mit Genuss. Nach dem Verspeisen der Früchte zeigte die Bowle ihre Wirkung. Auch die Allerruhigsten kamen plötzlich aus sich heraus, erzählten Witze und sangen lauthals zur Musik mit, die spielte.

Ich hatte mich an diesem Abend sehr intensiv mit einem Schulkameraden über Mosaiks unterhalten. Er sammelte wie ich seit Jahren. Wir wollten tauschen. Irgendwann war er dann eingeschlafen. Ich hatte schon einige Mühe, die Bande um zwei Uhr nachts zu verabschieden. Am liebsten hätten die meisten im Keller übernachtet. Sie wurden dann so anhänglich. Aber das konnte ich nicht zulassen. Ich habe meinen Eltern versprochen, die Feiern bis spätestens zwei Uhr zu beenden und dann alles ordentlich zu hinterlassen. Das will ich auf jeden Fall einhalten, denn auf mich soll man sich zu hundert Prozent verlassen können. Da das bisher so war, durfte ich immer wieder im Keller feiern.

So sause ich also heute Morgen auf leisen Sohlen die Treppe herunter, vorbei am Zimmer meiner Mutter, am Zimmer meines Bruders, der fünf Jahre alt ist, hinab ins Erdgeschoss. Hier sind ein großer Flur und eine Diele mit Windfang. Von der Diele gehen vier Türen ab. Die erste führt ins Wohnzimmer. Es ist das kleine Wohnzimmer. Darin stehen ein Tisch, eine Couch, ein alter Bücherschrank mit geschliffenen Scheiben und der große Konzertflügel. Die zweite Tür führt ins zweite Wohnzimmer. Das ist das eigentliche Wohnzimmer. Es hat sechsunddreißig Quadratmeter, Parkettfußboden, wie alle Räume und eine herrliche Veranda. Darin steht ein riesiger Tisch aus Ebenholz. Den haben meine Eltern von dem Landrat übernommen, von dem sie dieses Haus gekauft hatten. Die Veranda blickt in den schönen Garten. Von der Veranda aus geht eine Glastür auf eine große überdachte Terrasse. Auch hier wird im Sommer gefeiert, aber da darf man nicht so laut reden wegen der Nachbarn.

Die dritte Tür von der Diele aus führt direkt in die Küche. Kommt man in die Küche hinein, ist rechter Hand eine Speisekammer und links ein Einbauschrank. Darin befinden sich die Besen usw. und außerdem hängt mein Vater dort gerne seine Kleidung auf. Die Küche hat drei riesige viereckige Abwaschbecken, die auf zwei Säulen stehen. Außerdem hängt in der Küche ein Kasten mit Klingelklappen. In jedem Zimmer gibt es Klingeln für das Dienstpersonal. Wenn man die betätigt, fallen die entsprechenden Klappen. In meinem Zimmer gibt es auch solche, denn es war das Dienstmädchenzimmer.

Die vierte Tür von der Diele geht dann unter der Flurtreppe ab. Sie ist halbrund und führt in den Keller. Genau dort will ich jetzt hin. Das Haus hat viele Kellerräume, einen Lagerraum für Eingemachtes, Wein und Sekt, ein Raum als Werkstatt für den Vater, den Heizungskeller und die Kellerbar. Sie war früher die Waschküche. Die alten Waschbottiche wurden in die Bar integriert. Man sitzt also auf dem alten Waschofen und die Füße stehen in den Waschbottichen. Ich öffne die Tür zur Bar. Beißender Qualm schlägt mir entgegen. Die meisten hatten geraucht. Schnell öffne ich die Tür nach außen. Fenster hat die Bar nicht bzw. sind die unter der Holzverkleidung vorborgen. Über die Holzverkleidung wurden Stoffe angebracht, rote und schwarze. Es sieht sehr gemütlich aus. Eine Hexe ist an die Wand gemalt und reitet auf einem Besen. Ich nehme mir ein paar Salzstangen, setze mich erst einmal hin, dass Fetenchaos zu überblicken. Aber es geht. Einiges ist abzuwaschen, ich muss Staub saugen, wischen und dann ist wohl alles wieder in Ordnung. Nur gut, dass der eine Schulkumpel erst auf der Straße reihern musste. Glück gehabt. Das Gästeklo muss ich auch noch putzen.

Ich knabbere an Salzstangen herum und muss plötzlich an den Tag denken, an dem wir in dieses Haus eingezogen sind. Das ist zwischenzeitlich über drei Jahre her. Es war Februar und hatte etwas geschneit. Ich war fast dreizehn Jahre alt, es fehlten noch zwei Wochen bis zu meinem Geburtstag. Ich sehe mich plötzlich, wie ich im alten Kinderzimmer auf meinem Klappbett sitze und überlege, wie ich meine Puppen verpacken sollte. Ich spielte nicht mehr damit, aber ich wollte sie unbedingt behalten. Zwei davon waren richtig groß. Über fünfzig Zentimeter. Die mit den schwarzen langen Haaren hatte mir mein Vater geschenkt, da war ich zehn Jahre alt. In Dessau war er zur Reserve eingezogen und ich hatte ihn dort zusammen mit meiner Mutter besucht. Wir gingen zusammen in ein riesiges Kaufhaus. Es war Winter. Der Vater kaufte mir spontan diese herrliche Puppe mit Brüsten. Aber ich hatte die ganze Zeit nur geheult. Meine Eltern waren ratlos, was mit mir war. Ich hatte mich so sehr gefreut, dachte aber ständig, dass ich es doch gar nicht verdient hätte, einfach ohne Anlass so eine schöne Puppe geschenkt zu bekommen. So flossen meine Tränen ohne Unterlass. Biggi hatte ich sie getauft.

Die zweite große Puppe, eine mit blonden langen Haaren und ohne Brüste, hatte ich ein Jahr zuvor von einem entfernten Onkel geschenkt bekommen. Ich nannte sie Synthia und mochte sie nicht. Vielleicht war es einfach die Erinnerung an den Akt, wie ich sie bekam. Onkel Reiner war riesig und dick. Ich war neun Jahre alt und hatte ihn zuvor noch niemals gesehen. Er tat, als würden wir uns schon ewig kennen. Er zog mich auf seinen Schoß, wippte mich, berührt mich. Seine gierigen kleinen Augen hinter den dicken Brillengläsern schauten mich lüstern an. Aus seinen Mundwinkeln tropfte der Geifer.

»Ich habe für das kleine Mädchen etwas Schönes mitgebracht«, sagte er. Ich hockte wie gelähmt auf dem Schoß des fremden Mannes. Da zog er aus seinem Einkaufsbeutel die Verpackung.

»Das wird dir bestimmt gefallen«, sabberte er und strich mit seinen riesigen Pranken immer wieder über meine Wangen, die vor Scham glühten. Dann sollte ich die Schachtel auspacken. Eine riesige Puppe, so groß, wie ich noch nie eine hatte, lag darin. Sie hatte blonde Haare und blaue Augen. Er drückte sie an mich.

»Die ist doch genauso süß wie du« bemerkte er.

Ich bin mit dieser Puppe niemals warm geworden. Als wenn sie über die Jahre hinweg diese seltsame Energie des Onkels mit sich trug. Als wenn sie mich ständig fixierte, wie er es damals getan hatte. Trotz allem konnte ich so eine schöne Puppe nicht einfach wegwerfen. Also zog sie mit.

Riesige Kisten wurden gepackt. Ich fragte mich, wie die Männer so schwere Kisten vier Treppen schleppen konnten. Sie konnten. Ich durfte im Umzugswagen ganz vorne mitfahren und sagen, wo es lang geht. Der eine Möbelpacker war sehr jung. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ganz präsent spürte, wie ein junger, aber doch für mich älterer Mann mit mir flirtete. Ich fühlte mich königlich, konnte ich doch in ein Schloss umziehen, so prächtig erschien mir das neue Haus meiner Eltern.

Gedankenverloren knabbere ich noch immer an den Salzstangen herum. In dem Moment kommt Mohrchen in den Keller. Sie streift mein Bein und schnurrt wie verrückt. Sie ist pechschwarz mit bernsteingelben Augen. Eine schlanke, muskulöse Katze, die seit kurzem vergrößerte Zitzen hat. Obwohl sie erst zwölf Monate alt ist, soll sie trächtig sein. Wer weiß, wann sie ihre Jungen bekommt. Heute Morgen ist sie sehr anhänglich. Viele Kater haben nächtelang lauthals um sie gebuhlt. Sie ist ein rassiges Kätzchen. Man sieht nicht, dass sie trägt. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis sie wirft. Ich stehe auf und beginne, aufzuräumen und zu putzen. Die Eltern sollen alles ordentlich vorfinden.

Mein Bruder Schnipsel ist gestern Abend nicht aufgewacht durch unser Feiern. Manchmal passiert das. Dann kommt er in seinem hellblauen Schlafanzug barfuß die Treppe herunter in den Keller und fragt nach Mami. Ich lasse ihn ein Weilchen bei mir sitzen und bringe ihn wieder ins Bett. Doch an vielen Abenden, an denen die Eltern ausgegangen waren, habe ich Schnipsel auch als meine Gesellschaft gebraucht. Dann machte ich ihm ein Schlaflager aus zwei Sesseln im Wohnzimmer, habe ihn heruntergeholt und da hineingesetzt. Ich wollte einfach nicht alleine fernsehen. Eines Abends, es war schon dunkel draußen, klingelte es plötzlich. Die Eltern waren übers Wochenende weggefahren bis hinter Berlin zu einem Gartenfest bei Bekannten. Ich schlich im Dunkeln in die Diele und spähte aus dem schmalen Seitenfenster heraus.

»Polizei!« hörte ich eine Stimme. Oh Schreck, ist etwas mit den Eltern? Ich ließ die zwei Polizisten ein. Sie verhörten mich regelrecht. Wo sind die Eltern? Seit wann sind sie weg? Mit wem wollten sie sich treffen? Wann wollten sie wiederkommen? Ihr Auto wurde gefunden unweit von der Grenze zu West-Berlin. Mir war fast das Herz stehen geblieben. Die Polizisten gingen wieder und ich wusste nicht, was los war. Ich hatte auch keine Chance, irgendjemand anzurufen und zu fragen. In dieser Nacht blieb ich auf, schaute Fernsehen bis zum Sendeschluss und mein Bruder schlief im Sessel neben mir. Erst am Sonntagabend klärte sich alles auf. Die Eltern wurden von den Bekannten nachhause gebracht. Der Skoda meiner Eltern war auf der Hinfahrt auf der Autobahn liegen geblieben. Da mein Vater politisch vorbestraft war und das Auto in Grenznähe gefunden wurde, hatte man wohl angenommen, es läge Republikflucht vor. Nein, unsere Eltern hätten uns niemals allein zurück gelassen.

Trotzdem ich mich im Haus sehr wohl fühle, habe ich immer wieder extreme Albträume und Ängste. Wenn die Eltern abends weg sind und ich dann irgendwann schlafen gehen will, laufe ich vom Keller bis zum Boden alle Räume ab, mache überall Licht und schaue, dass sich niemand versteckt hat. Immerhin sechsundvierzig Türen hat dieses Haus. Den einen Abend hatte ich gerade das Licht in meinem Zimmer ausgemacht, um endlich einzuschlafen, da durchfuhr es mich siedend heiß. Ich habe nicht geprüft, ob die Kellertür abgeschlossen ist. Also wieder aufstehen, Licht anmachen, durch das ganze Haus laufen, die Kellertreppe hinab, durch drei Kellerräume hin bis zur Kellertür. Die Kellertür war sehr verzogen. Ich hatte Mühe, sie zu verschließen, schaffte es aber. Nun war ich beruhigt.

Die Leute erzählten, ein Russe würde nachts herumlaufen und Frauen vergewaltigen. Einige Tage später fuhr ein russischer Panzer Amok, auch durch unsere Straße. Die ganzen Bordsteine waren kaputt. Letztendlich rauschte er mit Karacho an den Wasserturm. Der junge Soldat war tot. Er hatte sich umgebracht. Wer weiß, was die armen Kerle alles zu erdulden haben. Ich konnte es überhaupt nicht ausstehen, wenn Leute einfach so schlecht von Russen redeten. Ich liebe die Sowjetunion, lernte seit dem 10. Lebensjahr Russisch, schrieb mich regelmäßig mit meiner russischen Freundin und war schon drei Wochen dort gewesen. Das blöde Antirussengerede war auch der Grund, warum ich zum Einzug in dieses Haus sofort mein Interesse an dem mit mir flirtenden Möbelpacker verloren hatte.

Ich hatte grundsätzlich keine Angst vor realen Personen und hörte nicht auf das Gerede der Leute hier in der Gegend. Ich hatte nur Respekt vor dem Unsichtbaren, was mich immer wieder in meinen Träumen und Tagträumen heimsuchte. Dazu hätte ich sicherlich nicht Türen abschließen müssen, denn das Unsichtbare geht durch Wände und greift nach mir. Trotzdem gaben mir die kontrollierten Zimmer ein gutes Gefühl und ich konnte besser schlafen.