Dawn of Onyx – Die Edelsteinsaga - Kate Golden - E-Book

Dawn of Onyx – Die Edelsteinsaga E-Book

Kate Golden

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Beschreibung

Arwen Valondale ist keine Heldin, und wollte auch nie eine sein. Doch dann fällt die junge Heilerin beim Versuch, ihren Bruder zu retten, den Schergen des Onyx-Königs in die Hände. Sie wird in dessen Schattenreich gebracht, wo sie die Onyx-Soldaten, die im Krieg gegen Arwens Heimat Amber verwundet wurden, mit ihren magischen Fähigkeiten heilen soll. Der Einzige, der ihr zur Flucht verhelfen kann, ist ihr Mitgefangener, der ebenso geheimnisvoll wie faszinierend ist. Doch im Reich des Onyx-Königs kann Arwen niemandem vertrauen – erst recht nicht ihrem eigenen Herz …

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Seitenzahl: 612

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Das Buch

Ich konnte ihm unmöglich so nahe sein. Seine Attraktivität, seine magnetische Anziehungskraft war einfach zu intensiv – und zu bedrohlich. Der Wasserfall, der von den Felsen weiter oben strömte, rann mir wie Regen über die Schultern. Kane stützte sich links und rechts von meinem Kopf an die Felswand und beugte sich vor, sodass das Wasser auf seine Hände und Unterarme spritzte und funkelnde Tröpfchen wie Kometen zwischen uns in der Luft funkelten.

Seit über einem Jahr führt das Königreich Amber nun schon Krieg gegen seinen übermächtigen Nachbarn Onyx. Wie alle Männer, wurde auch der Bruder der jungen Heilerin Arwen an die Front geschickt. Als er desertiert, versucht Arwen sein Leben zu retten und wird prompt von Onyx-Soldaten gefangen genommen. Sie kommt an den Hof des wegen seiner Grausamkeit gefürchteten Drachenkönigs Kane Ravenwood. Dort soll sie die Soldaten versorgen, die im Krieg gegen Amber verwundet wurden. Arwen ist fest entschlossen zu fliehen, doch am Onyx-Hof ist nichts wie es zu sein scheint – am allerwenigsten der König selbst. Arwen braucht all ihre Klugheit, ihren Mut und ihre magischen Fähigkeiten, um zu überleben und um ihr Herz nicht an den dunklen Herrscher zu verlieren. Doch das ist leichter gesagt als getan …

Die Autorin

Kate Golden lebt in Los Angeles und arbeitet hauptberuflich in der Filmindustrie. Mit Dawn of Onyx, dem Auftakt zu ihrer großen Edelstein-Saga begeisterte sie auf TikTok bereits Millionen von Fans. In ihrer Freizeit liebt Kate Golden es, ins Kino zu gehen, zu lesen, knifflige Puzzles zu lösen, zu wandern und auf Flohmärkten herumzustöbern.

KATE GOLDEN

DIE EDELSTEIN-SAGA

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kirsten Borchardt

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:A DAWNOFONYXDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 08/2024

Redaktion: Lisa Scheiber

Copyright © 2022, 2023 by Natalie Sellers

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte: Jack Johnson

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, nach einer Vorlage von Jack Johnson und Katie Anderson unter Verwendung mehrerer Motive von istockphoto

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31746-1V002

www.heyne.de

Für Jack

Danke, dass du die Hauptfigur in meinem Leben bist.

Du hast mir gezeigt, wie wahre Liebe aussieht.

1

Ryder und Halden waren wahrscheinlich tot.

Ich war mir nicht sicher, weswegen ich mich scheußlicher fühlte – weil ich mir die Wahrheit endlich eingestand, oder weil meine Lungen so brannten und schmerzten. Die körperliche Qual hatte ich mir immerhin selbst zuzuschreiben, denn dieser Teil meiner morgendlichen Laufstrecke war immer der härteste, aber heute war es ein Jahr her, dass der letzte Brief gekommen war. Zwar hatte ich mir geschworen, nicht vom Schlimmsten auszugehen, solange es dafür keine Beweise gab, aber das postalische Schweigen war zweifelsohne ein böses Zeichen.

Um diese Gedanken zumindest in die tiefsten Tiefen meines Verstands zu verbannen, konzentrierte ich mich darauf, den Rand der Lichtung zu erreichen, ohne mich zu übergeben. Ich stieß mich kräftig mit den Beinen ab, ließ die Ellenbogen weit nach hinten schwingen und spürte, wie mein Zopf so rhythmisch wie ein Trommelschlag zwischen meine Schulterblätter tippte. Nur noch ein kleines Stück …

Dann hatte ich es bis auf die weite, kühle Rasenfläche geschafft und kam stolpernd zum Stehen, stützte die Hände auf die Knie und holte tief Luft. Es roch, wie es in Amber, dem Bernsteinkönigreich, immer roch – nach Morgentau, dem Holzrauch einer Feuerstelle in der Nähe und dem strengen, erdigen Aroma langsam verrottender Blätter.

Aber tiefe Atemzüge reichten nicht, mein Blickfeld verschwamm trotzdem. Also ließ ich mich auf den Rücken fallen und zerdrückte dabei das Laub, das unter meinem Körpergewicht ein befriedigendes Knistern von sich gab. Die ganze Lichtung war mit Blättern übersät, den letzten Zeugnissen des Winters.

Vor eineinhalb Jahren, am letzten Abend bevor alle Männer unserer Stadt zum Kriegsdienst einberufen worden waren, hatte sich meine Familie auf dem grasbewachsenen Hügel hinter unserem Haus versammelt. Ein letztes Mal hatten wir gemeinsam beobachtet, wie die Sonne hinter unserer Heimatstadt Abbington versank und ihr rosa angehauchter Schimmer zu dunklerem Blau verblich. Dann waren Halden und ich heimlich zu dieser Lichtung hier geschlichen und hatten so getan, als sei alles gut und als ob er und mein Bruder Ryder nicht am nächsten Tag in den Krieg ziehen würden.

Oder als ob sie ganz sicher zurückkehren würden.

Die Glocken erklangen auf dem Marktplatz, entfernt zwar, aber doch deutlich genug, um mich aus meinen melancholischen Erinnerungen zu reißen. Mit Blättern und Zweigen im verworrenen Haar setzte ich mich auf. Ich würde zu spät kommen. Schon wieder.

Steinverdammt noch mal.

Oder … Scheiße. Während ich aufstand, verzog ich das Gesicht. Eigentlich versuchte ich mich beim Fluchen nicht immer auf die neun heiligen Edelsteine zu beziehen, die das Herz unseres Kontinents bildeten. Nicht, weil es mich gestört hätte, die gesegnete Schöpfung Evendells zu verfluchen. Ich hasste viel mehr, dass sich an dieser Angewohnheit so deutlich zeigte, wie sehr mich meine Heimat Amber geprägt hatte, denn im Bernstein-Königreich wurden die Steine besonders glühend verehrt.

Dann lief ich zurück, über die Lichtung und den Pfad, der sich hinter unserem kleinen Haus entlangschlängelte, bis zur Stadt, die gerade erst erwachte. Ich eilte durch Gässchen, die kaum breit genug für zwei Leute waren, und ein deprimierender Gedanke drängte sich mir auf: Abbington hatte früher wirklich mehr Charme.

Zumindest in meiner Erinnerung waren die gepflasterten Straßen früher einmal sauber gefegt gewesen, und hier und da hatten Straßenmusiker gespielt oder fliegende Händler ihre Waren feilgeboten. Jetzt lag überall Abfall herum, und es war kein Mensch zu sehen. Die uneinheitlichen Backsteinhäuser, mit Kletterpflanzen überwachsen und vom warmen Licht flackernder Laternen erhellt, waren jetzt dem Verfall preisgegeben – leer, verbrannt, zerstört oder gleich alles zusammen. Es war, als beobachtete man, wie das Kerngehäuse eines Apfels verfaulte, wie die Frucht immer weniger frisch und lebendig erschien, bis sie eines Tages einfach ungenießbar war.

Mich überkam ein kleiner Schauer, was sowohl an meinen Gedanken als auch am Wetter lag. Hoffentlich hatte die kühle Luft die Feuchtigkeit auf meiner Stirn ein wenig getrocknet; Nora mochte es nicht, wenn ihre Auszubildende verschwitzt zur Arbeit erschien. Als ich die knarrende Tür aufstieß, fuhr mir der Geruch von Ethanol und adstringierender Minze in die Nase – mein Lieblingsduft.

»Arwen, bist du das?«, rief Nora schallend über den Flur der Krankenstation. »Du bist spät dran. Der Wundbrand von Mr. Doyle hat sich verschlimmert. Er wird vielleicht den Finger verlieren.«

»Ich werde was?«, drang eine krächzende Männerstimme hinter einem Vorhang hervor.

Ich warf Nora einen vernichtenden Blick zu und trat in den provisorisch mit Leintüchern abgeteilten kleinen Raum.

Steinverdammt noch mal.

Mr. Doyle, ein ältlicher, kahlköpfiger Mann, dessen Kopf nur aus Stirn und Ohrläppchen zu bestehen schien, lag in seinem Bett und umklammerte seine verletzte Hand, als sei sie eine gestohlene Leckerei, die ihm jemand wegnehmen wollte.

»Nora macht nur Spaß«, sagte ich und zog mir einen Stuhl heran. »Das ist ihre Art von Humor, den bringt der Beruf so mit sich. Ich werde schon dafür sorgen, dass alle Finger dranbleiben, versprochen.«

Mr. Doyle stieß ein skeptisches Schnaufen aus, streckte mir aber nun seine Hand hin, sodass ich mich daranmachen konnte, die Schichten verfaulter Haut vorsichtig abzulösen.

Meine Gabe zuckte mir in den Fingerspitzen und drängte ihre Hilfe auf. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt brauchen würde; genauso gern verließ ich mich darauf, einfach sorgfältig zu arbeiten, und Wundbrand war eine ziemliche Routineangelegenheit.

Aber ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich mein Versprechen gegenüber dem griesgrämigen Mr. Doyle gebrochen hätte.

Ich bedeckte eine Hand mit der anderen, als ob ich ihn nicht sehen lassen wollte, wie schlimm es um seine Verletzung stand; inzwischen hatte ich viel Übung darin, meine Gabe auf die Patienten wirken zu lassen, ohne dass sie etwas davon mitbekamen. Mr. Doyle schloss die Augen und ließ den Kopf zurücksinken, und ich ließ ein kurzes Flackern reinen Lichts aus meinen Fingern dringen, so wie Saft aus einer Zitrone quillt.

Das verfaulte Fleisch wurde warm und wieder rosig. Es heilte vor meinen Augen.

Ich war eine gute Heilerin. Ich hatte eine ruhige Hand und blieb unter Druck belastbar, und beim Anblick von bloßliegenden Eingeweiden wurde mir auch nicht schlecht. Aber davon abgesehen, verfügte ich über Heilkräfte, die man nicht erlernen konnte. Meine Gabe war ein pulsierendes, flackerndes Licht, das aus meinen Händen strömte und in andere Menschen eindrang, um sich durch ihre Blutgefäße im Körper zu verteilen. Ich konnte gebrochene Knochen zusammenwachsen lassen, einem von der Grippe gezeichneten Gesicht seine gesunde Farbe zurückgeben und eine Schnittwunde ohne Nadel zusammenfügen.

Dennoch handelte es sich nicht um normale Hexenkunst. In meinem Stammbaum gab es keine Hexen oder Zauberer, und selbst, wenn dem so gewesen wäre – wenn ich meine Gabe einsetzte, dann geschah das ohne einen geraunten Spruch, dem ein Windstoß und statisches Knistern gefolgt wären. Stattdessen rann meine Kraft aus meinem Körper und saugte mir dabei Energie und Geisteskraft aus. Hexen konnten endlos viel Magie wirken, wenn sie über die richtigen Zauberbücher und Lehrwerke verfügten. Meine Kraft verließ mich, wenn ich sie zu sehr beanspruchte, und ließ mich völlig ausgelaugt zurück. Manchmal dauerte es Tage, bis die Gabe vollständig zurückkehrte.

Beim ersten Mal, als ich mich bei der Heilung eines besonders übel zugerichteten Brandopfers völlig verausgabt hatte, glaubte ich zunächst, meine Heilkräfte dauerhaft verloren zu haben, was eine unerklärliche Mischung aus Erleichterung und Entsetzen in mir auslöste. Als sie dann doch zurückkehrten, redete ich mir ein, dafür dankbar zu sein. Dankbar, dass ich als Heranwachsende die Striemen und die in schiefen Winkeln stehenden Gliedmaßen selbst heilen konnte, bevor meine Mutter oder meine Geschwister mitbekamen, was mein Stiefvater mir antat. Dankbar, dass ich helfen konnte, wenn jemand in meiner Nähe litt. Und dankbar, dass ich als Heilerin gerade in diesen harten Zeiten recht gutes Geld verdienen konnte.

»Seht nur, Mr. Doyle, es ist alles schon wieder so gut wie neu.«

Der ältliche Mann bedachte mich mit einem zahnlosen Grinsen. »Danke schön.« Dann beugte er sich verschwörerisch zu mir herüber. »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr ihn retten könntet.«

»So ein Mangel an Vertrauen tut weh«, scherzte ich.

Er verließ das kleine Abteil leichten Schrittes, und ich folgte ihm in den Korridor. Nachdem er gegangen war, sah Nora mich kopfschüttelnd an.

»Was denn?«

»Viel zu gute Laune«, sagte sie, aber auch auf ihren Lippen lag ein Lächeln.

»Es ist doch schön, zur Abwechslung einmal einen Patienten zu versorgen, der nicht an der Schwelle des Todes steht.« Kaum hatte ich das ausgesprochen, war es mir peinlich. Mr. Doyle war tatsächlich schon ziemlich alt.

Nora schnaubte nur und beschäftigte sich dann wieder mit den Mullverbänden, die sie gerade zusammenlegte. Ich ging zu den Krankenbetten hinüber und begann, einige der chirurgischen Instrumente zu sterilisieren. Es hätte mich in gute Laune versetzen sollen, dass wir heute nur so wenige Patienten hatten, aber gerade diese Ruhe sorgte dafür, dass sich mir der Magen umdrehte.

Die Arbeit als Heilerin half mir, nicht dauernd an meinen Bruder und Halden zu denken. Sie half, das beklommene Gefühl zu unterdrücken, das sich in mir ausbreitete, seit sie nicht mehr da waren. Im Heilen lag eine gewisse meditative Kraft, die meine wild kreisenden Gedanken beruhigen konnte, ähnlich wie im Laufen.

Stille hingegen hatte die genau gegenteilige Wirkung.

Zwar hätte ich nie erwartet, dass mich ein Fall von Wundbrand geradezu begeistern würde, aber inzwischen war ich soweit, dass ich alles, was nicht nach sicherem Tod aussah, als kleine Gnade einstufte. Die meisten unserer Patienten waren Soldaten – blutend, zerschlagen und vom Kampf gezeichnet – oder Nachbarn, die ich mein Leben lang gekannt hatte und die nun dahinschwanden, weil die mageren Nahrungsreste, die sie für sich zusammenklauben konnten, voller Parasiten waren. Gegen die Parasiten hatten wir in der Krankenstation Mittel. Gegen den endlosen Hunger nicht.

Und bei all dem Leid und Elend, dem Verlust geliebter Menschen und der Zerstörung unserer Häuser war es noch immer ein Rätsel, wieso das Königreich Onyx überhaupt einen Krieg gegen uns führte. Unser König Gareth war kein Gelehrter, der sich für dicke Geschichtsbücher interessiert hätte, und das Bernsteinreich Amber war lediglich für seine guten Ernten bekannt. Königreiche wie Garnet hingegen besaßen reichlich Geld und Edelsteine. Die Perlenberge verfügten über uralte Schriften und brachten die begehrtesten Gelehrten des Kontinents hervor. Selbst die Opal-Territorien mit ihren Brennereien und unberührten Landstrichen oder die Peridot-Provinzen mit ihren glitzernden Buchten voller verborgener Schätze wären ein besserer Ausgangspunkt für die allmähliche Unterwerfung ganz Evendells gewesen. Aber bisher waren alle anderen Königreiche verschont geblieben, und das einsame Amber versuchte ganz allein dafür zu sorgen, dass es so blieb.

Keines der anderen Reiche stand uns in unserem Kampf zur Seite.

Onyx strotzte vor Reichtum, Juwelen und Gold. Das Reich verfügte über das meiste Land, über die faszinierendsten Städte – jedenfalls nach dem, was ich gehört hatte – und über die größte Armee. Aber all das genügte offenbar nicht. Kane Ravenwood, der König von Onyx, war ebenso machtgierig wie unersättlich. Vor allem aber war er sinnlos grausam. Unsere Generäle wurden oft an einzelnen Gliedern aufgehängt aufgefunden, manchmal mit abgezogener Haut oder gekreuzigt. Ravenwood nahm und nahm und nahm, bis unserem schmalen Königreich kaum noch etwas zum Kämpfen geblieben war, um uns dann aus reinem Spaß an der Freud zu quälen. Uns die Beine an den Knien und die Arme an den Ellenbogen abzuschlagen und uns dann noch die Ohren abzuschneiden.

Es blieb nichts anderes übrig, als sich auf das Gute zu konzentrieren. Selbst wenn es ein eher düsteres, verschwommenes Gutes war, das man sich mit viel Einfallsreichtum vergegenwärtigen musste. Und das war der Grund, wie Nora sagte, weswegen sie mich in der Krankenstation arbeiten ließ. »Dafür hast du ein Talent – du bist bedingungslos optimistisch, und wegen deiner Möpse kommen die Jungs aus der Nachbarschaft immer gern vorbei, um Blut zu spenden.«

Danke schön, Nora. Du bist echt ein Herzchen.

Ich sah zu ihr auf, während sie einen Korb mit Verbänden und Salben beiseitestellte.

Sie war nicht gerade die freundlichste Verbündete, aber Nora zählte zu den engsten Freundinnen meiner Mutter, und trotz ihrer stachligen Schale hatte sie die Weitsicht besessen, mir diesen Posten zu verschaffen, sodass ich für unsere Familie sorgen konnte, seit Ryder nicht mehr da war. Sie half mir sogar dabei, meine Schwester Leigh zum Unterricht zu bringen, wenn Mutter dazu zu krank war.

Mein Lächeln über Noras Freundlichkeit verblasste, als ich an meine Mutter dachte. An diesem Morgen war sie zu schwach gewesen, um auch nur die Augen zu öffnen. Es war reine Ironie, dass ich als Heilerin wirkte, während meine Mutter langsam an einer Krankheit dahinsiechte, von der niemand herausfinden konnte, worum es sich handelte.

Eine noch größere Ironie war es, dass meine Gabe bei ihr niemals funktioniert hatte. Nicht einmal bei kleinen Dingen, wenn sie sich zum Beispiel an Papier geschnitten hatte. Auch das war wiederum ein Zeichen dafür, dass meine Kräfte nicht denen einer normalen Hexe entsprachen, sondern viel seltsamer waren.

Meine Mutter war schon krank gewesen, als ich laufen lernte, aber in den letzten Jahren war es mit ihr weiter bergab gegangen. Linderung brachten ihr allenfalls kleine Tränke, die Nora und ich zusammenbrauten – Mischungen aus weißen Canna-Lilien und Sonnenflügel-Margeriten, den in Amber heimischen Blumen, die wir mit Ravensara-Öl und Sandelholz versetzten. Aber auch sie brachten nur kurzfristige Besserung, und ihre Schmerzen verschlimmerten sich stetig.

Ich schüttelte energisch den Kopf, um die unangenehmen Gedanken zu vertreiben.

Darauf konnte ich mich jetzt nicht konzentrieren. Ich musste mich so gut ich konnte um sie und meine Schwester kümmern, jetzt, da Ryder nicht mehr da war.

Und vielleicht nie wieder zurückkehren würde.

»Nein, du hast mich nicht richtig verstanden! Ich meinte nicht, er sei scharf, ich sagte, er sei scharfsinnig. Also, im Sinne von schlau oder weltgewandt«, sagte Leigh und warf noch ein Scheit auf das herunterbrennende Feuer. Ich verbiss mir das Lachen und nahm drei kleine Schüsseln aus dem Schrank.

»Klar, sicher doch. Ich glaube, du bist ein bisschen verliebt, das ist alles.«

Leigh verdrehte die blassblauen Augen, während sie durch unsere winzige Küche rannte und Besteck und Becher holte. Unser Haus war klein und einfach zusammengezimmert, aber ich liebte es mit jeder Faser meines Herzens. Es roch nach Ryders Tabak, der Vanille, die wir beim Backen verwendeten, und nach duftenden, weißen Lilien. An fast jeder Wand hingen Leighs Zeichnungen. Jedes Mal, wenn ich eintrat, musste ich unwillkürlich lächeln. Das Haus lag auf einem kleinen Hügel, von dem aus man fast ganz Abbington überblicken konnte, und zählte mit seinen drei gut isolierten, gemütlichen Räumen zu den schöneren Häusern in unserem Dorf. Mein Stiefvater Powell hatte es für mich und meine Mutter gebaut, bevor meine Geschwister zur Welt gekommen waren. In der Küche saß ich am liebsten, an dem Holztisch, den Powell und Ryder gemeinsam geschreinert hatten, eines Sommers, als wir alle noch jünger waren und die Krankheit Mutter noch nicht so stark im Griff hatte.

Es war verrückt, welch warme Erinnerungen in den Grundmauern unseres Hauses schlummerten, während in meinem Kopf und in meinem Bauch ganz andere verankert waren, wenn ich an Powells strenges Gesicht und seine verbissene Miene dachte. Und an die Narben, die sein Gürtel auf meinem Rücken hinterlassen hatte.

Unwillkürlich erschauerte ich.

Leigh drängte sich neben mich und befreite mich aus dem Spinnennetz meiner Gedanken, indem sie mir eine Handvoll Wurzeln und Kräuter für Mutters Medizin hinhielt.

»Hier. Wir haben keinen Rosmarin mehr.«

Ich blickte auf ihren Blondschopf hinunter, und Wärme stieg in mir auf – sie strahlte stets, trotz des allgegenwärtigen Elends der Kriegstage. Sie war voller Freude, lustig und kühn.

»Was denn?«, fragte sie und sah mich prüfend an.

»Nichts.« Ich unterdrückte ein Lächeln. Sie begann gerade erst, sich als Erwachsene zu betrachten, und wollte nicht mehr wie ein Kind behandelt werden. Liebevolle Blicke von ihrer großen Schwester waren offensichtlich nicht mehr angesagt. Und noch weniger konnte sie es leiden, wenn ich sie zu beschützen versuchte.

Ich schluckte und warf die Kräuter in den blubbernden Topf über unserer Feuerstelle.

Vor Kurzem hatten in den Tavernen, Schulen und Märkten Gerüchte die Runde gemacht. Die Männer waren jetzt alle in den Krieg gezogen – Ryder und Halden hatten höchstwahrscheinlich ihr Leben eingebüßt –, und trotzdem verloren wir ein ums andere Mal gegen das Schreckensreich im Norden.

Als Nächstes würden die Frauen dran sein.

Es war nicht so, dass wir nicht dasselbe hätten leisten können wie die Männer. Ich hatte gehört, dass es in der Armee des Onyxreiches jede Menge starke, rücksichtslose Frauen gab, die an der Seite der Männer kämpften. Aber ich konnte das einfach nicht. Ich konnte niemanden töten, um mein Königreich zu verteidigen, nicht einmal, wenn es um das eigene Leben ging. Allein schon der Gedanke, Abbington zu verlassen, ließ mir die Haare zu Berge stehen.

Aber die meisten Sorgen machte ich mir um Leigh. Sie war zu furchtlos.

Aufgrund ihrer Jugend hielt sie sich für unbesiegbar, und ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ließ sie so laut und wagemutig werden, dass es an Leichtsinn grenzte. Bei der Vorstellung, wie ihre goldenen Locken bis in die vorderste Front vordrangen, krampfte sich mein Magen zusammen.

Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Wenn wir beide eingezogen würden, um gegen Onyx zu kämpfen, würde Mutter allein zurückbleiben. Sie selbst war zu alt und zu gebrechlich für den Kriegsdienst und würde daher wahrscheinlich verschont, aber sie würde sich nicht allein versorgen können. Wenn all ihre drei Kinder fortzogen, würde sie keine Woche überleben.

Wie sollte ich die beiden nur beschützen?

»Du liegst komplett falsch, was Jace angeht«, verkündete Leigh und fuchtelte energisch mit ihrer Gabel in meine Richtung. »Ich war überhaupt noch nie verliebt. Und in ihn schon mal gar nicht.«

»Na gut«, sagte ich und sah mich in einem der Schränke nach Karotten um. Dabei fragte ich mich, ob Leigh mich bewusst abgelenkt hatte, weil sie womöglich gemerkt hatte, dass ich mich sorgte. Das tat ich meistens, von daher gehörte zu dieser Vermutung nicht viel dazu.

»Ganz ehrlich«, fuhr sie fort, ließ sich am Küchentisch auf einen Stuhl fallen und überkreuzte die Knöchel. »Mir ist egal, was du denkst. Bei deinem Geschmack! Du bist in Halden Brownfield verliebt.« Sie verzog angeekelt das Gesicht.

Mein Puls ging schneller, als sie seinen Namen nannte, und mir fiel das heutige Datum wieder ein; meine Anspannung kehrte zurück. Ich schüttelte den Kopf, was Leighs Bemerkung anging.

»Ich bin nicht in ihn verliebt. Ich mag ihn. Als Mensch. Wir sind nur Freunde.«

»Klar, sicher doch«, sagte sie und ahmte meine Reaktion auf sie und Jace nach.

Ich gab die Karotten für das Abendessen in einen zweiten Topf neben den mit Mutters Medizin. Seit Ryder nicht mehr da war, war ich sehr gut darin geworden, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Dann öffnete ich das Fenster über der Feuerstelle und ließ etwas von der Hitze der beiden Töpfe nach draußen entweichen. Die kühle Abendluft strich über mein verschwitztes Gesicht.

»Was ist überhaupt gegen Halden zu sagen?«, fragte ich nun, da mich nun doch die Neugier packte.

»Nichts eigentlich. Er war nur langweilig. Und pingelig. Und kein bisschen albern und für Spaß zu haben.«

»Hör auf, war zu sagen«, bemerkte ich mit mehr Schärfe, als ich eigentlich beabsichtigt hatte. »Es geht ihm gut. Ihnen beiden.«

Das war keine Lüge. Nur eben ein Glaube an das Gute, der gelegentlich an Selbsttäuschung grenzte. Leigh stand auf, um den Tisch zu decken, und stellte ein paar nicht zueinanderpassende Becher für unseren Apfelwein hin.

»Und Halden ist albern und interessant und … pingelig«, räumte ich ein. »Da muss ich dir recht geben. Er kann ein bisschen kleinlich sein.« Leigh grinste, weil sie wusste, dass sie mich erwischt hatte.

Ich betrachtete meine Schwester. Sie war in so kurzer Zeit so sehr gewachsen, dass ich nicht mehr sicher war, vor welchen Informationen ich sie jetzt noch schützen sollte.

»Na schön«, sagte ich, während ich in beiden Töpfen gleichzeitig rührte. »Wir haben uns öfter getroffen.«

Leigh hob anzüglich die Augenbrauen.

»Aber ganz ehrlich, von Verliebtsein war nie die Rede. Bei den Steinen, wirklich nicht.«

»Warum nicht? Weil ihr wusstet, dass er bald gehen musste?«

Mein Blick blieb am Herdfeuer hängen, und ich sah dem Flackern der schwachen Flämmchen zu, während ich über ihre Frage nachdachte.

So oberflächlich es sein mochte: Das Erste, was mir stets einfiel, wenn Haldens Name genannt wurde, waren seine Haare. Manchmal, vor allem bei Mondlicht, wirkten seine blonden Locken so blass, dass sie fast zu leuchten schienen. Das war es auch, was mich als Erstes an ihm fasziniert hatte: Er war der einzige Junge in unserer Stadt mit so hellem Haar. In Amber hatten die meisten Leute schokoladenbraunes Haar wie ich oder schmutzig blondes wie Leigh und Ryder.

Ich war diesem eisblonden Haar im Alter von sieben Jahren verfallen, zu der Zeit, als er und Ryder unzertrennlich geworden waren. In der festen Überzeugung, dass ich ihn einmal heiraten würde, hatte ich jedes ihrer riskanten Abenteuer verfolgt und war bei allen ihren Spielen, aus denen sie aufgeschlagene Knie davongetragen hatten, dabei gewesen. Halden hatte dieses Lächeln, bei dem ich mich geborgen fühlte. Ihm wäre ich überallhin gefolgt. Sein Lächeln erlosch nie, außer an dem Tag, als man in Abbington von der Einberufung erfuhr.

Und an dem Tag, als er zum ersten Mal meine Narben sah.

Aber wenn ich schon als Kind in Halden verliebt gewesen war, wieso hatte es sich dann nicht wie Liebe angefühlt, als er mir endlich dieselben Gefühle entgegenbrachte, die ich schon seit so langer Zeit für ihn hegte?

Darauf wusste ich keine gute Antwort, und schon gar keine, die man einer Zehnjährigen hätte geben können. Hatte ich ihn deswegen nicht geliebt, weil ich bisher mit der Liebe nur schlechte Erfahrungen verband? Unsere Mutter hatte jedenfalls kein Glück damit gehabt. Oder lag es an unseren Gesprächen, wenn ich ihn nach seiner Meinung darüber fragte, dass Onyx seine ohnehin schon ausgedehnten Ländereien beständig vergrößerte, und mich seine herablassenden Antworten ganz unangenehm berührten, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Vielleicht war die Wahrheit noch viel schlimmer. Zwar hoffte ich, dass es nicht stimmte, aber am meisten fürchtete ich, dass ich gar nicht mehr in der Lage war, Liebe zu empfinden.

Niemand hätte meine Liebe mehr verdient gehabt als Halden. Und mit niemandem sonst hätten mich Mutter, Ryder oder Powell lieber verbunden gesehen.

»Ich weiß nicht, Leigh.«

Nun konzentrierte ich mich wieder auf die Essenszubereitung und schnitt schweigend das Gemüse, und Leigh erkannte, dass für mich das Thema damit abgeschlossen war. Als Mutters Medizin fertig aufgekocht war, nahm ich den Topf vom Feuer, damit der Sud abkühlte. Später würde ich ihn in ein neues Fläschchen füllen, das dann wie immer in einem Beutel neben dem Schrank aufbewahrt wurde.

Vielleicht würde ich es doch schaffen, mich ganz allein um sie zu kümmern.

Das würzige Aroma von gekochtem Gemüse mischte sich mit dem Arzneigeruch von Mutters Medizin und durchzog unser Haus. Es war ein vertrauter Geruch. Ein beruhigender. Amber war von Bergen umgeben, und demzufolge gab es in dem Tal, in das sich unser Dorf schmiegte, kühle Morgen, knackig-klare Tage und kalte Nächte. Jeder Baum zeigte das ganze Jahr über braune Blätter. Jedes Abendessen bestand unvermeidlich aus Mais, Kürbis und Karotten. Selbst die härtesten Winter brachten allenfalls Regen und kahle Äste, und in den heißesten Sommern, an die ich mich erinnern konnte, gab es lediglich zwei grüne Bäume. Die meiste Zeit war es braun und windig hier, an jedem Tag des Jahres.

Und jetzt, mit zwanzig Jahren, hatte ich an manchen Tagen das Gefühl, für die Ewigkeit genug Mais und Kürbis gehabt zu haben. Ich versuchte mir ein Leben vorzustellen, das mit anderen Aromen, Landschaften und Menschen erfüllt war … Aber da ich nur so wenig gesehen hatte, blieben diese Fantasien verschwommen und vage – eine eingedampfte Mischung der Bücher und Geschichten, die ich über die Jahre gelesen und gehört hatte.

»Hier riecht es ja himmlisch.«

Ich wandte mich um und sah meine Mutter in die Küche humpeln. Sie hatte sich das Haar tief im Nacken zu einem feuchten Zopf zusammengebunden, und ihr war anzusehen, dass es ihr heute nicht gut ging. Sie war erst vierzig, wirkte mit ihrem mageren Körper und den fahlen Wangen aber älter.

»Komm, ich helfe dir«, sagte ich.

Leigh, die gerade im Begriff stand, die Kerzen auf dem Tisch anzuzünden, kam schnell herbeigeeilt, um Mutter von der anderen Seite zu stützen.

»Mir geht es gut, wirklich«, versicherte sie uns. Aber wir hörten nicht auf sie. Das war inzwischen ein vertrautes Ritual bei uns.

»Rosen und Dornen?«, fragte sie dann, nachdem wir sie an den Tisch gesetzt hatten.

Unsere liebe Mutter. Trotz ihrer chronischen Erschöpfung, ihrer Schmerzen und Qualen war sie stets aufrichtig an allem interessiert, was in unserem Alltag vor sich ging, und sie hatte mit ihrer Liebe zu allem Blühenden diese Abendroutine bei uns eingeführt.

Als meine Mutter mit mir nach Abbington zog, war ich schon fast ein Jahr alt. Meinen Vater hatte ich nie kennengelernt, aber Powell war bereit gewesen, Mutter zu heiraten und mich als sein Kind anzunehmen. Ein Jahr später bekamen sie Ryder, sieben Jahre darauf dann Leigh. Eine Frau mit drei Kindern, von denen noch dazu eins von einem anderen Mann stammte, war in unserer konservativen Stadt eine Seltenheit. Aber Mutter ließ den Sonnenschein, der jeden Tag von ihr ausging, nie von unfreundlichen Worten trüben. Stattdessen hatte sie ihr Leben lang unermüdlich dafür gearbeitet, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten und genug zu essen auf dem Tisch stand, und uns wurde an einem Tag mehr Lachen und Liebe zuteil, als die meisten Kinder im ganzen Leben erfuhren.

»Meine Rose war heute, Mr. Doyles Finger zu retten, sodass er nicht amputiert werden musste«, sagte ich. Leigh tat so, als müsste sie sich übergeben. Meinen Dorn verschwieg ich. Falls es den beiden selbst noch nicht bewusst geworden war, wollte ich sie nicht darauf hinweisen, dass unser Bruder seit einem Jahr nicht mehr geschrieben hatte.

»Meine war, als Jace mir erzählt hat …«

»Jace ist der Junge, den Leigh scharf findet«, unterbrach ich sie und nickte meiner Mutter verschwörerisch zu. Sie zwinkerte dramatisch zurück, und Leigh funkelte uns mit zusammengekniffenen Augen böse an.

»Sein Cousin ist Bote in der Armee, und er überbringt die Pläne von König Gareth direkt an die Generäle, wenn selbst die Raben nicht zu ihnen vordringen können«, berichtete Leigh. »Und dieser Cousin hat gesagt, dass er in der Hauptstadt von Onyx einen geflügelten Menschen gesehen hat.« Sie machte große Augen, weit und blau wie das Meer.

Angesichts dieser absurden Vorstellung sah ich zu meiner Mutter hinüber, die jedoch nur höflich zu Leighs Worten nickte. Also versuchte ich das auch; es war nicht fair, dass wir uns über sie lustig machten.

»Wie ungewöhnlich. Glaubst du ihm?«, fragte Mutter und stützte scheinbar nachdenklich den Kopf in die Hand.

Leigh überlegte, während ich meine Suppe schlürfte.

»Nein, tu ich nicht«, sagte sie nach kurzer Überlegung. »Wahrscheinlich wäre es möglich, dass doch noch Faen leben, aber höchstwahrscheinlich war es eine Form von Zauberei. Nicht wahr?«

»Genau«, bestätigte ich, obwohl ich es besser wusste. Faen waren seit Jahren ausgestorben – falls es sie überhaupt je gegeben hatte. Aber ich wollte Leighs Träumereien nicht zerstören.

Stattdessen lächelte ich sie an. »Ich verstehe, warum du so in Jace verliebt bist. Er kommt an alle spannenden Nachrichten heran.«

Meine Mutter verbiss sich ein Lächeln. So viel zu dem guten Vorsatz, sich nicht über Leigh lustig zu machen. Alte Gewohnheit.

Leigh runzelte die Stirn und setzte dann zu einer geharnischten Rede an, dass sie natürlich absolut keine romantischen Gefühle für diesen Jungen hege. Beteuerungen dieser Art kannte ich nur zu gut, und ich grinste.

Geschichten wie die von Jace’ Cousin machten in unserer Gemeinde immer wieder die Runde. Vor allem, wenn es um Willowridge, Onyx’ geheimnisvolle Hauptstadt, ging. Am Abend vor seiner Abreise hatte Halden mir gesagt, dass dort gerüchteweise alle möglichen Ungeheuer zu finden seien. Drachen, Kobolde, Oger – wahrscheinlich hatte er mir Angst einjagen wollen, damit ich mich in seine schützenden Arme flüchtete und ihm gestattete, mich vor allem zu bewahren, was jenseits der Grenzen unseres Königreichs lauern mochte.

Aber ich hatte gar keine Angst. Dazu wusste ich zu gut, was hinter all diesen Geschichten stand. Da waren Menschen in einer aufgebauschten Erzählung nach der anderen zu immer scheußlicheren Ungetümen verzerrt worden, bis sie über unbekannte Kräfte verfügten und anderen unerhörte Qualen zufügen konnten. Aber letztlich waren es nur … Menschen. Böse, machtgierige, korrupte und verderbte Menschen. Nicht mehr, nicht weniger, und nicht schlimmer als der Mann, der in meinem eigenen Heim gelebt hatte. Mein Stiefvater war gemeiner und grausamer als jedes Märchenungeheuer gewesen.

Keine Ahnung, ob Halden mir mit dieser Wahrheit an besagtem Abend mehr oder weniger Angst gemacht hätte. Leigh und mir half das jedenfalls nicht, falls wir die Nächsten sein würden, die man zum Kriegsdienst zwangsrekrutierte.

Es war nun einmal so: Unser König Gareth tat zwar alles, was in seiner Macht stand, aber Onyx hatte eine weit überlegene Armee, bessere Waffen, stärkere Verbündete und wahrscheinlich noch einen Haufen anderer Vorteile, von denen ich nichts wusste. Ich war mir sicher, dass Onyx diesen Krieg nicht mit irgendwelchen geheimnisvollen Ungeheuern gewann.

Der Seufzer meiner Mutter ließ mich die bösartigen, geflügelten Wesen vergessen und holte mich zurück in unsere warme, holzvertäfelte Küche. Das letzte Tageslicht sickerte ins Zimmer, und die tanzenden Flammen des Herdfeuers warfen Schatten über ihr fahles Gesicht.

»Meine Rose ist dieser Eintopf, und dass meine beiden hübschen Mädchen vor mir sitzen. Meine liebe, verantwortungsbewusste Arwen.« Sie wandte sich zu meiner Schwester. »Meine mutige, tapfere Leigh.«

Ich schluckte. Eis rann durch meine Adern. Was nun kommen würde, wusste ich.

»Und mein Dorn ist mein Sohn, den ich so, so sehr vermisse. Aber es ist ein Jahr her, dass wir zuletzt von ihm hörten. Ich denke …« Ihre Stimme wurde sehr leise. »Ich denke, es ist an der Zeit, uns der Tatsache zu stellen, dass es …«

»Ihm gut geht«, unterbrach ich sie. »Ryder geht es gut. Es ist bestimmt schrecklich kompliziert, unter den Umständen, in denen er sich befinden könnte, einen Brief abzuschicken.«

»Arwen«, begann meine Mutter in warmem, tröstlichem Ton, so sanft, dass meine Haut zu kribbeln begann.

Ich plapperte weiter und übertönte sie. »Kannst du dir vorstellen, wie schwer es sein muss, aus einem Dschungel einen Brief bis in unsere kleine Stadt zu befördern? Oder, oder … aus einem Wald? Oder wenn man sich mitten auf dem Meer befindet? Wer weiß, wo er steckt?« Jetzt klang ich schon fast hysterisch.

»Ich bin darüber auch so traurig, Arwen.« Leighs mutlose Stimme war noch schwerer zu ertragen. »Aber ich denke, Mutter hat wahrscheinlich recht.«

»Es ist nur gesund, wenn wir darüber reden«, sagte Mutter und nahm meine Hand. »Wie sehr wir ihn vermissen, wie schwer es sein wird, ohne ihn weiterzuleben.«

Ich biss mir auf die Lippe. Ihre ernsten Gesichter rissen mich mitten entzwei. Sie hatten recht. Aber das laut auszusprechen …

So beruhigend ihre Berührung war, ich zog trotzdem meine Hand weg und wandte mich zum Fenster, um den Abendwind über mein Gesicht streichen zu lassen und angesichts der Kühle die Augen zu schließen.

Meine Lungen füllten sich mit Abendluft.

Ich wollte nicht diejenige sein, die es für die beiden noch schwerer machte.

Damit man mein Zittern nicht sah, spannte ich die Hände fest um meine Suppenschüssel und sah meine verbliebene Familie an.

»Ihr habt recht. Es ist nicht zu erwarten, dass er …«

In diesem Augenblick wurde unsere Haustür aufgerissen, und die Schüssel fiel mir aus den Händen und zerschellte auf dem Boden. Der leuchtend orangefarbene Eintopf verteilte sich in Spritzern überall, wie frisches Blut. Ich fuhr herum und sah, dass meine Mutter vor Schreck ganz starr dreinblickte. Vor uns stand – schwer atmend, mit blutverschmiertem Gesicht und an den Türrahmen gelehnt, um den verletzten Arm zu stützen – mein Bruder Ryder.

2

Für einen Augenblick standen wir nur da. Und dann kamen wir alle gleichzeitig in Bewegung.

Ich sprang auf. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und mein Puls pochte hallend in meinen Ohren. Ryder war anzusehen, dass er Schmerzen hatte, und meine Mutter eilte ihm entgegen, während ihr die Tränen in die Augen schossen. Leigh hastete zur Tür, um sie hinter uns zu schließen, während ich den anderen beiden zum Tisch half.

Eine überwältigende, allumfassende Erleichterung breitete sich in mir aus. Ich hielt den Ansturm der Gefühle kaum aus.

Er war am Leben.

Nach einem tiefen Atemzug nahm ich meinen Bruder in Augenschein. Sein kurz geschorenes, sandfarbenes Haar, die leuchtend blauen Augen, die funkelten wie Sterne, seine drahtige, schlaksige Gestalt. Er wirkte so fremd in unserem kleinen Haus – zu schmutzig und zu dünn.

Leigh schob unsere Schüsseln beiseite und setzte sich direkt vor ihn auf den Tisch. Es lag Freude in Ryders Augen, aber sie war mit etwas anderem durchsetzt. Etwas Dunklerem.

Ich wartete, bis der Schreck verging, aber mein Herz schlug weiter so schnell, dass ich beinahe meinte, es gegen meinen Brustkorb hämmern zu hören.

»Nun sieh mal einer an, wie du gewachsen bist!«, sagte Ryder zu Leigh und hielt sich dabei den Arm.

Verband. Er brauchte einen Verband.

Hastig suchte ich in unseren Schubladen nach Mullbinden und holte dann auch eine Decke und Wasser für ihn.

»Hier«, sagte ich dann, während ich die Decke um seine Schultern legte und ihn auf seinen Scheitel küsste, wobei ich darauf achtete, seine Schulter nicht zu berühren.

»Was ist denn los? Wieso bist du so früh zurück?«, fragte Leigh angespannt. »Arwen, was ist los mit ihm? Was geht hier vor sich? Mutter?«

Unsere Mutter sagte nichts, ihr rannen nur still die Tränen über die Wangen. Ryder nahm ihre Hand.

Aber Leigh hatte recht. So wunderbar es war, ihn wiederzuhaben – hier stimmte etwas nicht. Dass er so schnell zurückgekehrt war, dazu noch ohne sein Bataillon, ohne eine Parade …

Von der blutenden Wunde ganz zu schweigen.

Er musste desertiert sein.

»Beruhig dich«, stieß Ryder rau hervor. »Und sprecht leise.«

»Leigh hat aber recht«, kam es mir über die Lippen. »Wie kommt es, dass du zurück bist? Was ist passiert?«

Ich riss ein Stück blutgetränkten Stoff von seiner Uniformjacke und drehte den Fetzen zusammen, um damit seinen Arm oberhalb der Wunde abzubinden. Es war ein tiefer, gezackter Schnitt, aus dem es in kleinen Rinnsalen rot herausrann. Meine Hände hatten seine Haut kaum berührt, als ein vertrautes Kribbeln durch meine Handflächen ging und das zerfetzte Fleisch wieder zusammenzuwachsen begann.

Es half uns beiden, dabei zuzusehen, wie sich die Wunde schloss. Mein Herzschlag verlangsamte sich, und ich wurde ruhiger. Nachdem ich ihm den Arm fest verbunden hatte, machte ich mich daran, seinen Oberarmknochen wieder in das Schultergelenk einzurenken.

Ryder schloss die Augen und verzog sein Gesicht. »Es geht mir gut. Ich bin wieder bei meiner Familie. Das ist alles, was zählt.«

Er beugte sich vor, um Leigh und unsere Mutter auf die Stirn zu küssen. Leigh zumindest hatte die Geistesgegenwart, so zu tun, als ob sie das eklig fände, und sich den Kuss schnell wieder abzuwischen.

Mutter umklammerte seine gesunde Hand so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Ich verlor die Geduld. »Ry«, sagte ich, »das ist nicht alles, was zählt. Wo sind die anderen Soldaten? Und wieso bist du verletzt?«

Ryder schluckte betreten und suchte meinen Blick.

»Vor ein paar Wochen«, begann er dann leise, »stießen wir auf ein Onyx-Bataillon auf Amber-Land. Wir bekamen mit, dass sie große Verluste erlitten hatten und vermuteten daher, sie würden leicht zu besiegen sein. Ganz vorsichtig näherten wir uns ihrem Lager, aber …« Er verstummte, und als er weitersprach, klang seine Stimme rau. »Es war eine Falle. Sie hatten gewusst, dass wir kommen würden. All meine Freunde wurden getötet, und ich kam knapp mit dem Leben davon.«

Ein schrecklicher Gedanke stieg in mir auf, und dann wurde mir schlecht, als ich merkte, wie lange ich gebraucht hatte, um darauf zu kommen.

»Halden?«, fragte ich kaum hörbar. Mir war, als ob ein Bleigewicht in meinem Magen lag.

»Nein! Nein, Arwen.« Er sah mich schmerzerfüllt an. »Er war nicht dabei. Ich … wenn ich ehrlich bin, habe ich seit Monaten nichts mehr von ihm gehört.« Ryder senkte den Blick und legte die Stirn in Falten. »Anfangs glaubte ich gar nicht, dass es mir gelingen würde, dort herauszukommen …« Mit einem abschließenden Knacken renkte ich ihm die Schulter wieder ein.

»Aaah! Verdammte Scheiße!«, schrie er und hielt sich den Arm.

»Keine solchen Ausdrücke!«, schalt Mutter aus Gewohnheit, obwohl sie immer noch viel zu sehr neben sich stand, um sich wirklich zu ärgern.

Ryder ließ den Arm vorsichtig kreisen und probierte, ob er sich bewegen ließ. Nachdem die Schulter nicht mehr schmerzte, stand er auf und tigerte vor uns auf und ab; er wirkte schlaksig und enorm groß in unserem kleinen Haus. Ich ließ mich geschwächt auf einen Stuhl sinken und warf meiner Mutter einen besorgten Blick zu.

»Ich habe mich hinter einer Eiche versteckt. Dabei dachte ich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, und man würde mich jeden Augenblick entdecken und mir die Gliedmaßen ausreißen. Ich hatte meine Leute verloren. Ich war verletzt. Es war alles vorbei … und dann merkte ich, während ich mich schon mit dem Sterben abfinden wollte, dass der ganze Onyx-Trupp abgezogen war. Man hatte mich nicht gesehen.«

Ich beobachte meinen Bruder genau. In seinen Augen lag viel zu viel Freude. Nicht nur darüber, dass er es nach Hause geschafft hatte, da war noch etwas anderes. Mir wurde elend zumute.

»Also schlich ich ganz langsam wieder zurück, und dabei stolperte ich buchstäblich über einen Geldsack, größer als mein Kopf. Voller Onyx-Geld.« Er hielt inne und sah uns an. Ich glaube, keine von uns dreien tat auch nur einen Atemzug. Mein wagemutiger, leichtsinniger Bruder.

Ich betete, dass er nicht getan hatte, was ich befürchtete.

»Die Soldaten mussten es nach dem Kampf verloren haben. Ich nahm den Beutel an mich und rannte los, hierher. Eineinhalb Tage lang bin ich nur gelaufen.«

Steinverflucht noch mal.

»Ryder, nicht doch«, hauchte ich. Das Herdfeuer war zur Glut heruntergebrannt und hüllte die Küche in tanzende Schatten.

»Der König wird dich hinrichten lassen«, flüsterte meine Mutter. »Weil du dein Bataillon verlassen hast.«

»Ach, das spielt keine Rolle mehr.«

»Wieso nicht?« Die Worte wollten mir kaum über die Lippen.

Er seufzte. »Ich war nur noch ein paar Stunden von Abbington entfernt, als eine andere Gruppe von Onyx-Soldaten auf mich aufmerksam wurde. Wahrscheinlich hatten sie die Onyx-Farben gesehen oder waren aus irgendeinem anderen Grund misstrauisch geworden, jedenfalls folgten sie mir. Und …«

»Du hast sie direkt zu uns geführt?« Leighs Stimme schraubte sich um eine Oktave in die Höhe.

»Pssst«, flüsterte er. »Leise, schon vergessen? Sie werden uns nicht finden, wenn ihr tut, was ich euch sage, und zwar schnell.«

Ich fuhr herum und spähte aus dem Fenster, ohne dass ich hätte sagen können, wen – oder was – ich zu sehen fürchtete. »Warum nicht?«, fragte ich. »Wo werden wir denn sein?«

Ryders Miene hellte sich auf. »In Garnet.«

Jetzt sank ich noch mehr auf meinem Stuhl zusammen. Gleich würde mir schlecht werden.

Ryder erkannte wohl das Entsetzen auf unseren Gesichtern, denn er lehnte sich nun zurück und begann, alles noch einmal ernsthafter zu erklären. »Ich habe gesehen, was da draußen los ist. Es ist schlimmer, als wir dachten. Unser Reich wird in diesem Krieg aufgerieben. Wir werden nicht gewinnen.« An seinem Kiefer zuckte ein Muskel, als er tief Luft holte. »Die Gerüchte sind wahr. Wir sind schrecklich in der Unterzahl. Als Nächstes werden die Frauen eingezogen, und zwar schon bald. Arwen … du und Leigh … ihr werdet dem nicht entkommen.« Er wandte sich zu unserer Mutter um und nahm wieder ihre Hand. »Und Mama, du wirst hier zurückbleiben. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es dann um Abbington bestellt sein wird. Und mit all den Plünderern und deiner Gesundheit …« Er verstummte und sah mich an. Mir war klar, was er damit andeuten wollte.

Ich versuchte, die aufsteigende Übelkeit niederzukämpfen.

»Garnet ist weit genug entfernt, damit wir aus der Schusslinie sind, aber es ist doch nahe genug, um es mit einem Boot zu erreichen. Dort können wir ein neues Leben anfangen.« Er sah erst meine Mutter eindringlich an, dann Leigh, dann mich. »Zusammen, und in Sicherheit vor einem Krieg, der jeden Tag schlimmer werden wird.«

»Aber wir haben kein Boot.« Die zögerliche Erwiderung meiner Mutter überraschte mich. Mir lag vielmehr so etwas wie Du bist wohl völlig übergeschnappt auf der Zunge.

»In dem onyxianischen Geldsack ist genug, um noch für heute Abend eine sichere Überfahrt für uns alle zu bezahlen. Aber wir müssen sofort los und zum Hafen laufen. Dann werden wir in nur wenigen Tagen in Garnet sein. Mama, wir müssen uns beeilen.«

»Wieso?«, flüsterte Leigh.

»Weil die Onyx-Soldaten mir schon auf den Fersen sein werden. Wir sind hier nicht mehr sicher.«

Nach diesen Worten breitete sich Stille aus, in der nichts zu hören war außer dem Wind, der vor dem offenen Fenster hinter mir in den Bäumen rauschte. Ich konnte weder meine Mutter noch Leigh ansehen, während meine Gedanken ebensolche Überschläge machten wie mein Magen.

Unsere Möglichkeiten lagen deutlich vor uns: hierzubleiben und mit anzusehen, wie Ryder in unserem eigenen Haus totgeschlagen wurde, bis die erzürnten Soldaten dann vermutlich auch uns töteten. Oder alles einzupacken, was wir besaßen, und übers Meer in ein unbekanntes Land zu reisen, um dort ganz neu anzufangen. Beide Wege boten keine Garantien für eine sichere Zukunft.

Aber Hoffnung ist eine ganz knifflige Sache.

Nur die vage Aussicht darauf, dass es für uns vielleicht ein besseres Leben geben mochte, als wir es hier in Abbington führten, dass Leigh und ich der Einberufung entgehen und uns weiterhin um Mutter würden kümmern können, dass wir vielleicht sogar mehr Unterstützung und bessere Arzneien für sie finden würden – das allein genügte, damit ich aufsprang.

Ich wollte Abbington nicht verlassen. Die Welt außerhalb der Stadt war so unbekannt – und so groß.

Aber ich wollte mir nicht anmerken lassen, wie viel Angst mir all das machte.

Hier bot sich genau die Gelegenheit, von der ich immer geträumt hatte – die beiden gut versorgen zu können. Stark genug zu sein, um sie zu schützen. Das war meine Chance.

»Wir müssen los.«

Leigh, Ryder und Mutter sahen mich alle so gleichermaßen verblüfft an, als hätten sie diesen Blick geprobt.

Ryder reagierte als Erster. »Danke, Arwen.« Dann wandte er sich an Leigh und Mutter. »Sie hat recht, und wir müssen sofort aufbrechen.«

»Bist du sicher?«, fragte Mutter, deren Stimme kaum über ein Flüstern hinausging.

»Ja«, antwortete ich, obwohl sie Ryder angesehen hatte und ich mir auch nicht sicher war. Überhaupt nicht.

Das genügte, damit Mutter und Leigh damit begannen, aufs Geratewohl Kleidung und Bücher in Kisten zu werfen, die dafür viel zu klein waren. Ryder ging ihnen nach, aber sein verletzter Arm hinderte ihn daran, ebenfalls wild alles einzupacken, was sich in seiner Reichweite befand.

Es war eine absolut luxuriöse Lage, sagte ich mir. Ein Segen. Wenn andere Leute aus Abbington sich eine solche Reise hätten leisten können – oder wenn sie gewusst hätten, wo sie hinsollten –, dann wären sie schon vor Jahren auf und davon gegangen.

Ich rannte nach draußen, um ein paar Nahrungsmittel aus unserem kleinen Garten zu holen und mich von unseren Tieren zu verabschieden. Leigh stand schon weinend neben unserer Kuh, Glöckchen, und unserem Pferd, Schönhuf, die ihre Namen beide von ihr bekommen hatten, als sie noch klein war. Leigh war unseren Tieren unglaublich eng verbunden; sie fütterte sie jeden Morgen und jeden Abend. Vor allem Glöckchen hatte eine so enge Bindung zu unserer Schwester, dass wir nie, auch nicht aus verzweifeltem Hunger, in Erwägung gezogen hätten, uns von ihr zu trennen.

Leighs ersticktes Schluchzen drang durch den Pferch, und jetzt wurde mir das Herz wirklich schwer. Tatsächlich wurde auch mir die Brust überraschend eng, als ich zu der gefleckten Kuh und dem karamellfarbenen Pferd trat. Ihre liebevollen Gesichter waren ein fester Bestandteil auch meines Lebens gewesen, ohne den ich mir mein Dasein plötzlich gar nicht vorstellen konnte. Ich streichelte sie beide, legte meine Wange an ihre Köpfe und spürte ihren warmen Atem auf meinem Gesicht.

»Wir müssen los«, sagte ich zu Leigh und hob mein Gesicht wieder von Schönhufs warmem Rücken. »Komm, hol den Beutel mit Mutters Medizin, ich werde die Tiere anbinden. Nora wird sich um sie kümmern, da bin ich sicher.«

Leigh nickte und wischte sich mit ihrem blassen Baumwollärmel die Nase.

Ich musste an Nora denken. Würde sie meine Arbeit in der Krankenstation vermissen? Sie war eine harte Frau, aber sie würde mir fehlen. In gewisser Hinsicht war sie meine einzige Freundin.

Tränen brannten in meinen Augen, wegen der Tiere, meiner Arbeit, dem bescheidenen Leben, das ich hier in Abbington geführt hatte. So oft ich auch von neuen Erlebnissen geträumt haben mochte – nun, da ich die Möglichkeit bekam, wirklich einmal mehr von der Welt zu sehen, hatte ich richtig Angst.

Dann überkam mich neue Traurigkeit, als mir klar wurde, dass ich wahrscheinlich auch Halden niemals wiedersehen würde. Falls er je gesund zurückkehrte, was ich noch immer hoffte, wie sollte er uns in Garnet jemals finden?

Schließlich konnte ich ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen, weil die Gefahr bestand, dass Soldaten aus Onyx dann herausfanden, wohin wir geflohen waren.

Und daher würde ich niemals wissen, was zwischen uns hätte sein können, und ob ich ihn vielleicht nicht doch richtig lieben gelernt hätte. Bei dem Gedanken wurde mir wieder schwer ums Herz. So sehr es mich mit Dank erfüllte, dass Ryder lebend zurückgekehrt war, hatte ich doch nicht damit gerechnet, dass ich mich deswegen heute Abend von meinem ganzen alten Leben würde verabschieden müssen.

Ich wollte nicht gehen. Es waren einfach zu viele Veränderungen.

Als wir uns draußen versammelten, warf ich noch einen letzten Blick auf mein Zuhause. Es sah schrecklich kahl aus. Was für eine unfassbare Vorstellung, dass wir dort nur zwei Stunden zuvor wie an jedem anderen Abend auch unsere Suppe gegessen hatten. Und jetzt flohen wir in ein fremdes Reich.

Ich zog die Tür hinter mir zu, während Leigh Mutter den ungepflasterten Weg hinunterhalf. Der Hafen war ein Dorf weiter, und es würde ein langer Marsch für sie sein. Ich folgte den beiden mit Ryder, der noch immer humpelte und es natürlich nicht zuließ, dass ich ihn stützte.

»Ich kann das alles nicht glauben«, flüsterte ich.

»Ich weiß.« Dann blickte er sich schnell um. Auch ich warf einen Blick hinter uns, und mein Herz raste, aber dort war niemand.

Schweigend gingen wir weiter.

Die Sonne ging herrlich über den Bergen unter, und Wolken betupften den rosa- und lilafarbenen Himmel. Der einsame Ruf einer Eule hallte durch das Rascheln der Baumwipfel.

»Ich meine«, fuhr ich fort, »du bist in den Krieg gezogen und hast uns für ein Jahr verlassen. Ganz ehrlich, ich hielt dich für tot. Dann kommst du nach Hause, so übel zugerichtet wie eine kaputte Puppe, und hast genug gestohlene Reichtümer bei dir, um in einem anderen Reich ein neues Leben anzufangen. Wer bist du? Ein Held aus einem Märchen?«

»Arwen.« Er blieb stehen und wandte sich mir zu. »Ich weiß, dass du Angst hast.« Zwar setzte ich zu einem halbherzigen Widerspruch an, aber er sprach einfach weiter. »Das geht mir genauso. Aber mir bot sich eine Gelegenheit, und ich habe sie beim Schopf gepackt. Ich will nicht den Rest meines Lebens damit zubringen, für das das Reich Amber zu kämpfen, genauso wenig, wie du den Rest deines Lebens hier festsitzen möchtest. Das hier könnte unser ganzes Leben verändern. Für Mama gibt es vielleicht die Chance auf Heilung. Und für Leigh vielleicht eine bessere Zukunft. Wir tun das Richtige.« Er nahm meine Hand und drückte sie. »Ich bin jetzt da und werde mich um die Familie kümmern. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Ich nickte, obwohl mir dabei klar wurde, wie wenig mich mein eigener Bruder kannte. Nur zu gern hätte ich den Rest meines Lebens hier verbracht und wäre glücklich gewesen. Nun gut, glücklich war vielleicht nicht das richtige Wort, aber zumindest am Leben.

Wir gingen weiter, während das Licht des Sonnenuntergangs hinter den Bergen verblich und unsere kleine Gruppe in staubige Blautöne tauchte. Schatten fielen über die ungepflasterte Straße, und ich fuhr bei jedem Geräusch, jedem noch so leisen Kratzen hinter mir zusammen und sah mich immer wieder um, aber da war nie jemand.

Gerade beäugte ich misstrauisch ein Gebüsch und versuchte herauszufinden, woher das leise Tappen kam, das sich für mich unbedingt nach Schritten anhörte, als Leigh ganz starr wurde und sich erschreckt zu uns umsah.

»Was ist denn?«, hauchte ich und gab ihr mit meinem Körper Deckung.

»Nein, die Tasche«, flüsterte sie, während sie entsetzt in dem kleinen Leinenbeutel herumtastete.

»Was?«, fragte ich, und mein Herz stand still.

Sie blickte zu unserer Mutter. »Die Fläschchen darin sind leer.« Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie sich bereits umdrehte, um zurück nach Hause zu laufen. »Ihre Medizin – wir müssen zurück.«

Mir wurde kalt wie Eis.

Ich hatte die Arznei nicht in die Fläschchen in dem Beutel abgefüllt. Nach dem Kochen hatte ich den Trank ziehen lassen und erst einmal das Abendessen gekocht, dann war Ryder aufgetaucht …

In dem ganzen Durcheinander hatte ich Leigh dann aufgetragen, den Beutel mitzunehmen, aber ihn gar nicht mit der Arznei bestückt.

Mein Herz schlug plötzlich so schnell, dass ich es hören konnte. »Das ist meine Schuld«, raunte ich. »Ich muss sie schnell holen. Ich beeile mich.«

»Nein.« Die Stimme meiner Mutter klang härter als je zuvor. »Sei nicht albern. Wir setzen schon jetzt so viel aufs Spiel. Wer weiß, wie dicht diese Leute deinem Bruder auf den Fersen waren? Ich werde schon zurechtkommen.«

»Nein, Mama. Du brauchst die Medizin. Arwen ist schnell.« Ryder wandte sich zu mir um. »Beeil dich, damit du das Schiff nicht verpasst.« Aber ich verstand, was er eigentlich sagen wollte – dass ich den Soldaten in die Arme laufen konnte, die ihn verfolgten. Leigh weinte jetzt richtig, versuchte aber tapfer, ihr Schluchzen zu verbergen.

»Ich komme gleich wieder, und wir treffen uns am Hafen. Versprochen.« Ohne ihren Widerspruch abzuwarten, drehte ich mich um und rannte los.

Ich konnte nicht fassen, wie dumm ich gewesen war.

Nachdem ich mich so unter Druck gesetzt hatte, für meine Familie zu sorgen und in Ryders Fußstapfen zu treten. Nicht so viel Angst zu haben.

Ich rannte über den Weg, vorbei an Häusern, in denen sich die Menschen gerade Gute Nacht sagten und das Herdfeuer löschten. Der Mond ging langsam auf, und das blasse Abendlicht war Mitternachtsblau gewichen.

Der Sprint zu unserem Haus verschaffte mir eine dringend benötigte Denkpause. Meine Anspannung wich einer gewissen Ruhe. Mein Herzschlag fand seinen Rhythmus. Meine Schritte ebenfalls. Wamm wamm wamm. Als ich das Haus erreichte, fühlte ich mich schon besser.

Kurz versteckte ich mich noch hinter einem einzelnen Apfelbaum, aber da waren keine Soldaten, keine Pferde, keine Wagen. Und aus dem Innern des Gebäudes drangen weder Geräusche noch Licht.

Glöckchen und Schönhuf standen ruhig da und fraßen gemächlich ihr Heu.

Ich atmete langsam aus, und der Schweiß auf meinem Gesicht kühlte ab.

Vielleicht hatte Ryder sich geirrt, und ihm war überhaupt niemand gefolgt. Oder, was noch wahrscheinlicher war, die Soldaten hatten beschlossen, dass es sich nicht lohnte, einen einzelnen Dieb zu jagen.

Jetzt bekam ich doch langsam das Gefühl, dass sich alles zum Guten wenden würde.

Solange wir zusammen waren, konnten wir diese Reise meistern und alles überstehen. Ich auch.

Ich zog die Tür mit einem leisen Knarren auf und stand direkt vor elf Onyx-Soldaten, die in Schatten getaucht um unseren Küchentisch saßen.

3

»Da ist wohl jemand in großer Eile aufgebrochen.«

Eine raue Stimme schabte wie ein stumpfes Messer über meinen Rücken.

Sie gehörte zu dem bedrohlich wirkenden Mann, der sich vor mir so ausgestreckt hatte, dass seine schlammigen Stiefel auf dem Tisch ruhten, den Ryder mit viel Arbeit und Mühe vor so vielen Sommern geschreinert hatte.

Mich überkam ein so fürchterliches Entsetzen, dass ich kaum klar denken konnte. Ich konnte nicht einmal schlucken, weil mein Mund so trocken war. Ohne auch nur einen Augenblick darauf zu verschwenden, mir den Rest der Szenerie genauer anzusehen, wirbelte ich auf dem Absatz herum und wollte um mein Leben laufen. Aber ein junger Soldat mit pockennarbigem Gesicht packte mich am Haar und riss mich zurück.

Meine Kopfhaut brannte, und ich stieß einen Schmerzensschrei aus.

Hinter mir schlug die Tür zu, und der Soldat zerrte mich ins Haus. Mir stieg der metallische Geruch von Blut in die Nase. Als ich mich umsah, lag da ein kahler Soldat auf dem Boden, dessen Blut in unsere Holzdielen sickerte. Er war enorm breit gebaut, ein echter Hüne, und trug eine schlecht sitzende Onyx-Uniform, die deutlich zu klein für seinen massigen Körper war. Die klaffende Wunde, die ihm beigebracht worden war, zerteilte seinen gewaltigen Torso beinahe in zwei Hälften. Zwei stoische Soldaten waren damit beschäftigt, sie mit Verbänden zu umwickeln, ohne dass es ihm etwas half. Der Verletzte stöhnte vor Schmerzen, und die Gabe in meinen Fingerspitzen zuckte und wollte helfen, unabhängig davon, zu welcher Nation er gehörte.

Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, was das für Soldaten waren, die zwar einen Mann an der Schwelle des Todes bei sich hatten, aber trotzdem noch in Häuser einbrachen und junge Frauen an den Haaren packten, als sei das alles ganz normal.

Die Soldaten waren in schwarze Rüstungen aus Leder gehüllt, die teilweise Ornamente aus Silbernieten aufwiesen. Einige trugen dazu dunkle Helme, die an ausgehöhlte, bedrohliche Totenschädel erinnerten und im schwachen Kerzenlicht unserer Küche schimmerten. Andere wiederum hatten gar keine Helme, was ich fast noch bedrohlicher fand, als ich in ihre blutverschmierten, kalten Gesichter blickte.

Keinem von ihnen schien die schreckliche Szene, die sich in der Zimmerecke abspielte, besonders viel auszumachen. Diese Leute wirkten völlig anders als unsere Amber-Truppen, die im Vergleich wie kleine Jungs erschienen, was sie ja schließlich auch waren. Diese hier waren gefährliche, brutale Krieger, die man nicht zwangsrekrutiert hatte, sondern die ihr Leben lang einzig und allein zum Töten ausgebildet worden waren. Zum Töten und zu weiter nichts.

Aber was hätte man auch erwarten sollen? Der hinterhältige König von Onyx war für seine Grausamkeit berühmt, und sein Heer spiegelte seine Natur.

»Wie heißt du, Mädchen?«, fragte der Soldat, den ich zuerst hatte sprechen hören. Er zählte zu denen mit den Silbernieten auf der Lederrüstung. Einen Helm trug er nicht, und er hatte kleine Augen und ein eckiges Gesicht, das keinerlei Lachfältchen aufwies.

Diesen Typ Mann erkannte ich sofort.

Nicht an seinem Äußeren, aber an dem gehässig verzogenen Mund und seinem kalten Selbstbewusstsein. An der Wut, die hinter seinen Augen siedete.

Ich war mit ihm aufgewachsen.

Ein zitternder Atemzug kam über meine Lippen. »Arwen Valondale. Und Ihr?«

Die Männer kicherten hämisch und verströmten dabei nichts als Spott und gehässiges Mitleid. Ich machte mich unwillkürlich klein, obwohl ich das gar nicht wollte.

»Du kannst mich Lieutenant Bert nennen«, erklärte der Kerl grinsend. »Wie geht’s denn?«

Jetzt, von ihrem Anführer ermuntert, lachten die anderen noch lauter. Ich biss mir auf die Zunge. Sie hatten etwas an sich, das ich nicht in Worte fassen konnte. Es war, als ob Macht wie in Wellen von ihnen ausging. Ich fing an zu zittern, bis meine Knie unrhythmisch aneinanderstießen. Kein Wunder, dass diese Ungeheuer Ryders Trupp so leichthin abgeschlachtet hatten. Im Stillen dankte ich den Steinen dafür, dass es meinem Bruder gelungen war, mit dem Leben davonzukommen.

»Machen wir es schnell und schmerzlos – und das ist etwas, was dir einige meiner Kameraden nicht anbieten würden. Wir sind einem jungen Mann bis zu diesem Haus gefolgt. Er hat uns eine Menge Geld gestohlen, und das hätten wir gern zurück. Wenn du uns jetzt sagst, wo er ist, töten wir dich gleich und ohne Umschweife. Ist das ein Angebot?«

Ich drückte meine Knie aneinander und zwang mich, den entsetzten Seufzer zu unterdrücken, der in mir aufstieg.

»Ich kenne den Mann nicht, der hier wohnt.« Während ich krampfhaft schluckte, zermarterte ich mir das Hirn, ob es im Haus irgendwelche Beweise dafür geben mochte, dass ich auf irgendeine Weise mit Ryder in Verbindung stand. »Ich bin nur gekommen, weil ich um Milch bitten wollte. Ich hatte gesehen, dass die Leute hier eine Kuh haben.«

Bert presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Die Sekunden verstrichen, während er sich über seinen nächsten Schritt klarzuwerden versuchte. Er wusste natürlich, dass ich log. Ich war eine schrecklich schlechte Lügnerin. Mein Herz machte Überschläge in meiner Brust.

Er lächelte mich mit toten Augen an und nickte dann zu dem vernarbten Kerl, der noch immer meinen Zopf um seine Hand gewunden hatte. »Dann bringt sie um, sie nützt uns nichts.«

Der Soldat hinter mir zögerte zwar kurz, zerrte mich dann aber wieder zur Eingangstür.

»Wartet!«, flehte ich.

Der Mann blieb stehen und sah mich an. In seinen dunkelbraunen Augen war nichts als Grausamkeit zu lesen.

Jetzt musste ich mir sehr, sehr schnell etwas einfallen lassen.

»Euer Mann dort drüben«, sagte ich direkt an Bert gewandt, »wird innerhalb weniger Minuten sterben, wenn er keine Hilfe bekommt.«

Bert stieß ein feuchtes Gackern aus. »Wie kommst du denn darauf? Etwa, weil ihm die Eingeweide raushängen?«

»Ich bin eine Heilerin«, erklärte ich nun und versuchte, allen Mut zusammenzunehmen, obwohl ich eigentlich gar keinen besaß. »Diese Leute verbinden die Wunde völlig falsch. So wird sie sich entzünden.« Das stimmte. Der Verletzte krampfte stark, und aus der Bauchwunde quollen rote Rinnsale, die in unseren Holzboden sickerten.

Bert schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er noch zu retten ist, noch nicht mal von solchen wie dir.«

Aber da irrte er sich. »Lasst es mich versuchen. Wenn ich ihn heile, schenkt ihr mir dafür das Leben.«

Bert kaute an der Innenseite seiner Wange. Ich betete zu allen Steinen, dass dieser breitschultrige, teigige, sterbende Mann irgendeinen Wert für diese Leute hatte.

Minuten verstrichen.

Ganze Lebensspannen.

»Alle Mann raus«, schnauzte Bert schließlich die anderen an.

Ich stieß einen langgezogenen Seufzer aus und merkte, dass man meinen Zopf wieder losließ. Ich rieb mir den Hinterkopf, der sich empfindlich und malträtiert anfühlte. Das war allerdings meine geringste Sorge.