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REGEL NUMMER VIER: ICH DARF MICH NICHT IN HENRY TURNER VERLIEBEN
Seit sie denken kann, ist Halle Jacobs für das Glück anderer zuständig. Doch als ihr Freund plötzlich mit ihr Schluss macht, hat sie genug. Sie will endlich ihr eigenes Glück an die erste Stelle setzen und sich ihren Traum erfüllen: einen Liebesroman zu schreiben. Nur fehlen ihr dafür die romantischen Erfahrungen - ein Problem, bei dem ihr ausgerechnet Henry Turner, der neue Captain der UCMH-Eishockeymannschaft, helfen kann. Er bietet Halle einen Deal an: Sie gibt ihm Nachhilfe, damit er den Kurs bei seinem meistgehassten Professor besteht, und dafür hilft er ihr, ihre Schreibblockade aufzulösen. Sie stellen Regeln auf, die garantieren sollen, dass keine echten Gefühle ins Spiel kommen - doch Halle und Henry merken schnell, dass die Liebe keiner Anleitung folgt ...
»Hannah Grace schreibt Bücher, bei denen man sich einfach wohlfühlt. Nach Maple Hills zurückzukehren, ist wie nach Hause zu kommen und all seine Lieblingsmenschen wiederzusehen. Ihre Geschichten sind gefühlvoll, humorvoll und mitten aus dem Leben gegriffen.« READINGWITHSAMY
Band 3 der MAPLE-HILLS-Reihe von Hannah Grace
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Seitenzahl: 670
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Playlist
Ein Brief von Hannah
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Hannah Grace bei LYX
Impressum
Hannah Grace
Daydream
Roman
Ins Deutsche übertragen von Bianca Dyck
Als älteste Tochter und chronische People Pleaserin ist es Halle Jacobs’ Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es allen anderen gut geht. Seit sie denken kann, meistert sie das Chaos ihrer Patchworkfamilie und stellt ihre eigenen Bedürfnisse hintenan, damit ihr Freund Will seinen Traum als Eishockeyspieler weiterverfolgen kann. Doch als dieser plötzlich mit ihr Schluss macht, weil sie mit ihm nicht den nächsten Schritt in ihrer Beziehung gehen will, hat Halle genug. Sie will endlich ihr eigenes Glück priorisieren und sich ihren großen Traum erfüllen: einen Liebesroman schreiben und diesen für einen Wettbewerb einreichen, der das Sprungbrett für ihren Traumjob als Autorin sein könnte. Nur fehlen Halle dafür die romantischen Erfahrungen, denn mit Will hat sie sich nur unglücklich gefühlt. Ausgerechnet Henry Turner, der neue Captain der UCMH-Eishockeymannschaft, bietet ihr seine Hilfe an. Im Gegenzug dafür, dass er sie auf Dates ausführt und ihr Inspiration für ihr Buch liefert, soll Halle ihm Nachhilfe geben, um den Kurs bei seinem meistgehassten Professor zu bestehen – denn als Captain kann sich Henry schlechte Noten nicht leisten. Damit keine echten Gefühle ins Spiel kommen, beschließen sie, Regeln für ihr Arrangement aufzustellen, wobei Nummer vier die wichtigste ist: Verlieben verboten! Doch Henry und Halle merken schnell, dass die Liebe keiner Anleitung folgt …
Liebe Leser:innen,
Daydream enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für die ältesten Töchter in meinem Leben
Ich sehe euch
Ich schätze euch
Und am wichtigsten
Ich liebe euch für das, was ihr seid, und nicht für das, was ihr für alle anderen tut.
»Aber ein Buch ist nur des Herzen Bildnis – jede Seite ein Pulsschlag.«Emily Dickinson
ART | TYLA | 2:29
DAYDREAMIN’ | ARIANA GRANDE | 3:31
HOSTAGE | BILLIE EILISH | 3:49
LET ME GO | GIVEˉON | 2:57
WHAT MAKES YOU BEAUTIFUL | ONE DIRECTION | 3:20
END OF AN ERA | DUA LIPA | 3:16
MARJORIE | TAYLOR SWIFT | 4:18
VALENTINE | LAUFEY | 2:49
NEVER KNOCK | KEVIN GARRETT | 4:36
WE CAN’T BE FRIENDS (WAIT FOR YOUR LOVE) | ARIANA GRANDE | 3:49
GIRL I’VE ALWAYS BEEN | OLIVIA RODRIGO | 2:01
DON’T | BRYSON TILLER | 3:18
WANNABE | SPICE GIRLS | 2:53
KARMA | TAYLOR SWIFT | 3:25
LITTLE THOUGHTS | PRIYANA | 1:12
I MISS YOU | BEYONCÉ | 2:59
HOW DOES IT MAKE YOU FEEL | VICTORIA MONÉT | 3:36
TEENAGE DREAM | KATY PERRY | 3:48
POV | ARIANA GRANDE | 3:22
DANDELIONS | RUTH B. | 3:54
Liebe Leser:innen,
ich weiß, dass ihr es kaum erwarten könnt, loszulegen, doch bevor ihr in die Liebesgeschichte von Henry und Halle eintaucht, möchte ich erst einmal den Rahmen setzen. Ich habe mir gesagt, dass es eine »kurze Anmerkung« werden soll, aber während ich hier sitze und mir überlege, was ich sagen möchte, merke ich, dass es doch länger wird, also schnallt euch an.
Seit der Veröffentlichung von Icebreaker habe ich so viele Nachrichten bekommen, in denen ich gefragt wurde, ob Henry eine Diagnose erhalten wird, die seine Eigenschaften erklärt, welche ich immer als »neurodivergent gecodet« bezeichnet habe. Die kurze Antwort lautet: Nein, das wird er nicht.
Einige von euch denken jetzt vielleicht: Okay? Cool? Das hätte ich auch beim Lesen des Buches herausfinden können … Aber ich weiß, dass sich viele von euch von Henry repräsentiert fühlen oder sich vielleicht auf einer eigenen Reise befinden, und es könnte für euch wichtig sein, das im Voraus zu wissen.
Ich habe immer gesagt, dass ich keine extra Storyline über Diagnosen schreiben würde, also sollte das für diejenigen, die mir schon eine Weile folgen, keine Überraschung sein. Für diese Entscheidung gibt es unterschiedliche Gründe, aber abgesehen von den Hindernissen, denen Henry im Gesundheitswesen begegnen könnte, ist der Hauptgrund, dass Menschen jeden Tag ein erfülltes Leben führen, ohne eine Erklärung dafür zu haben, warum sie sich anders fühlen. Es macht keinen Menschen, seine Wünsche oder seine Bedürfnisse weniger berechtigt, wenn er keine medizinische Diagnose hat.
Henry und seine Handlungen basierten schon immer lose auf meinen eigenen. Es dauerte dreißig Jahre, bis ich meine AuDHS-Diagnose erhalten habe – etwas, das ich noch nicht hatte, als ich begann, Henry zu schreiben. Als ich wie Henry zwanzig Jahre alt war – frustriert und aufgebracht, weil ich das Gefühl hatte, mein Gehirn würde nicht richtig funktionieren und ich würde ersticken –, kam niemand auf die Idee, dass es etwas anderes sein könnte als Angstzustände und Depressionen, die mir diagnostiziert worden waren.
Ich bin sehr ehrlich mit der Tatsache umgegangen, dass es mir schwergefallen ist, dieses Buch zu schreiben. Ich wollte es für euch alle richtig machen, und noch wichtiger: Ich wollte es für Henry richtig machen.
In jeder Figur, die ich erschaffe, steckt ein bisschen von mir selbst: Anastasias Ängste, Nates Selbstaufopferung, Auroras Bedürfnis, gewollt zu werden, Halles Einsamkeit und die inneren Narben, die Russ wegen der Spielsucht seines Vaters hat. Ich habe viel Zeit damit verbracht, mir Sorgen zu machen, ob die Leute verstehen, dass sich Teile von Henry – Teile von mir – abschotten oder allein sein müssen. Der Teil von mir, der sich selbst erschöpft, indem er das Verhalten der Menschen um sich herum spiegelt und ihre Eigenschaften wie ein Schwamm aufsaugt. Der Teil von mir, der sich so sehr anstrengt und trotzdem einige Dinge so, so falsch macht.
Ironischerweise war der Druck, den ich mir selbst gemacht habe, um euch nicht zu enttäuschen, möglicherweise das Beste, was ich für Henry tun konnte.
Ich glaube, Henry ist die Figur, die sich am meisten verändert hat, seit ich sie erschaffen habe, aber das liegt daran, dass ich mich so sehr verändert habe, seit ich euch Nate und Stassie gegeben habe.
Ich hoffe, ihr lest diese Geschichte und seht einen Mann, der die Menschen um sich herum liebt. Und ich hoffe, dass ihr, wenn es zu Konflikten kommt, diese mit dem Wissen betrachtet, dass nicht alle Menschen gleich ticken.
Ich hoffe wirklich, dass sich das Warten auf Daydream gelohnt hat.
Macht es euch bequem, es wird eine lange Reise.
Alles Liebe
XO Hannah
»Ich glaube, wir sollten uns trennen, Halle.«
Wills düstere Miene sieht vor dem Hintergrund meiner Küche lächerlich aus. Die Rüschen und die Blumenmuster, die meine Nana einst aussuchte, hatten immer schon einen zu nostalgischen Wert, als dass ich sie hätte ersetzen können. Zitronengelbe Schränke – ein DIY-Projekt, das sie umgesetzt hat, nachdem sie mit Mrs Astor von nebenan gelernt hatte, Dry Martinis zu mixen. Joy, die Ragdoll-Katze, die Nana mir zur Feier des Einzugs gekauft hat und die nun auf der Frühstückstheke döst, umgeben von gehäkelten Fischen. Der Duft der zweiten Ladung Croissants, weil die erste bei mir nie etwas wird.
Es ist alles zu vertraut. Zu unseriös. Zu normal für seine Steifheit.
Sein Blick folgt jeder meiner Bewegungen, während ich die This-Is-Me-Baking-Schürze ablege, die er mir zum Geburtstag geschenkt hat, als würde er darauf warten, dass ich eine Art dramatischen Ausbruch habe. Die Angespanntheit in seinem Kiefer betont seine kantigen Gesichtszüge, und er sieht überhaupt nicht aus wie der lässige Typ, den ich das letzte Jahr über gedatet habe, und noch weniger wie der Typ, mit dem ich schon zehn Jahre lang befreundet bin. Nein, dieser Will sieht aus wie ein Mann kurz vorm Zusammenbruch.
Nachdem ich meine Schürze auf den Haken neben dem Herd gehängt habe, ziehe ich mir einen Hocker heran, damit wir an der Frühstückstheke gegenübersitzen können. Als ich mein Gesicht auf die Hand stütze, bin ich nicht sicher, ob ich ihn absichtlich spiegle oder ob es das Ergebnis der Tatsache ist, dass wir uns schon so lange kennen.
Er streckt die Hand aus und nimmt meine in seine, drückt sie einmal fest als Ermutigung. »Sag was, Hals. Ich will noch mit dir befreundet bleiben.«
Ich muss etwas sagen. Was mir an Erfahrung fehlt, gleiche ich mit gesundem Menschenverstand aus. Daher bin ich mir ziemlich sicher, dass Trennungen ein beidseitiges Gespräch beinhalten sollten. Ich erwidere den Druck seiner Hand, damit ich wenigstens so wirke, als würde ich ihm entgegenkommen. »Okay.«
So habe ich mir meine erste Trennung nicht vorgestellt. Ich habe nicht erwartet, dass ich … nichts fühle. Ich dachte immer, ich würde körperlich spüren, wie mein Herz bricht. Dass die Vögel aufhörten zu singen und der Himmel grau würde. Und auch wenn da die Leere ist, die ich mir vorgestellt habe, ist es irgendwie nicht dasselbe. So ganz sicher bin ich mir nicht, ob es normal ist, sich seinen ersten Herzschmerz vorzustellen, aber ich dachte, meiner wäre zumindest ein winziges bisschen interessant. Doch traurigerweise, passend zu meinem Liebesleben im Allgemeinen, ist das hier eher fade. Nichts zerbricht, und der Himmel ist so blau, wie er es hier in Los Angeles immer ist.
»Du musst dich nicht zurückhalten, Hals. Du kannst mir deine Gefühle ehrlich mitteilen.«
Seine Ermutigung, dass ich ganz ehrlich sein soll, macht alles fast noch schlimmer. Ich ziehe meine Hand aus seiner und drücke die Handflächen auf meine Oberschenkel, während ich überlege, wie ich es am besten angehe. »Ich halte mich nicht zurück. Du hast recht – ich denke, wir sind nicht dazu bestimmt, mehr als Freunde zu sein.«
Will blinzelt zweimal kräftig. »Du stimmst mir zu? Und bist nicht aufgebracht?«
Ich bekomme das überwältigende Gefühl, dass Will möchte, dass ich aufgebracht bin, und das kann ich ihm nicht verdenken. Ich wäre gern aufgebracht, weil das wenigstens bedeuten würde, dass ich in der Lage bin, mich zu verlieben.
Denn ich wollte mich wirklich, wirklich in ihn verlieben.
Eigentlich habe ich keine Probleme damit, mich auszudrücken, nur würde das momentan niemand erkennen. Ich möchte Will absolut nicht verletzen, weshalb es auch so schwer ist, die richtigen Worte zu finden. Doch langsam bereue ich es, dass ich keinen emotionalen Ausbruch vorgetäuscht habe.
»Es ist nicht so, dass ich nicht aufgebracht bin – ich denke nur, dass wir es nicht in die Länge ziehen sollten, wenn es mit uns nicht funktioniert. Ich liebe dich, Will. Und ich will unsere Freundschaft nicht kaputt machen, indem wir versuchen, eine romantische Beziehung zu führen.« Mehr, als wir es ohnehin schon versucht haben, spreche ich nicht laut aus.
»Aber du bist nicht in mich verliebt«, fügt er hinzu, die Verbitterung in seiner Stimme ist deutlich zu hören. »Richtig?«
Könnte ich mich selbst treten, würde ich es tun. »Ist das wichtig, wenn du gerade dabei bist, mit mir Schluss zu machen?«
Aber jetzt ist es so, als hätte ich ihn getreten. »Mir ist es wichtig. Es ist nämlich nicht dasselbe. Du sagst, dass du mich liebst, aber das tust du nicht auf romantische Weise. Du warst nie in mich verliebt, oder? Deshalb freust du dich.«
Ich kann nicht glauben, dass er denkt, ich würde mich gerade freuen. Kennt er mich denn gar nicht?
Für alle anderen war eine Beziehung zwischen Will Ellington und mir unausweichlich.
Als sich meine Eltern getrennt haben und meine Mom Paul geheiratet hat, sind wir für den Job meines Stiefdads von New York nach Arizona gezogen. Die Ellingtons haben nebenan gewohnt, und unsere Eltern sind schnell beste Freunde geworden. Ich kann gar nicht zählen, wie viele Feiertage und Urlaube wir im letzten Jahrzehnt gemeinsam verbracht haben. Das hat dazu geführt, dass Will und ich kaum eine andere Wahl hatten, als jede Menge Zeit miteinander zu verbringen.
Allerdings gab es nie irgendeine Spannung zwischen uns. Keine Werden-sie-oder-werden-sie-nicht-Gerüchte, keine verweilenden Berührungen oder geheimen Augenblicke. Nur Halle und Will, Nachbarn und gute Freunde.
Wir haben gemeinsam die Highschool überlebt, und ich sah dabei zu, wie er jedes Mädchen in unserer Klasse gedatet hat, ohne einen einzigen Du-gehörst-zu-mir-Moment zu haben. Vor einem Jahr, als wir beide für den Sommer vom College nach Hause zurückgekehrt waren, bat mich Will, sein Date für eine Hochzeit zu sein. Ich bin mir sehr sicher, dass er eine erste Wahl hatte, und die war nicht ich, aber seine Eltern haben ihm so einen Druck gemacht, dass er nicht anders konnte, als mich einzuladen.
Als überzeugte Traditionalisten waren sie der Meinung, dass es für eine Frau ungesund wäre, wenn sie den ganzen Sommer mit Lesen und Schreiben verbringt, da man »nie einen Freund finden wird, wenn man stets über ein Buch gebeugt ist«. Selbst als meine jüngere Schwester Gigi ihnen sagte, das achtzehnte Jahrhundert hätte angerufen und seine Denkweise zurückgefordert, haben sie noch darauf beharrt, dass ich die Einladung annehme.
Es war auf der Hochzeit, nach viel zu vielen Schlucken aus einer Weinflasche, die wir von einem der Tische gemopst hatten, als wir den Kuss hatten, der dieses ganze Chaos hier zu verschulden hat.
Am Anfang war es aufregend, und in den ersten zwei Wochen, bevor wir ans College zurückgegangen sind, habe ich unsere Beziehung in einem neuen Licht gesehen. Will ist immer schon beliebt gewesen, und egal, wie ungern ich es jetzt auch zugeben möchte, ich habe mich besonders gefühlt, weil er mich daten wollte.
Er war Captain unseres Highschool-Eishockeyteams, ein zukünftiger NHL-Star, so sagten es die Leute, die Ahnung hatten. Er war immer schon gutaussehend und charismatisch – mit seinem charmanten Lächeln hat er sich noch aus jeder Situation gerettet. Das College hatte sein Selbstbewusstsein nur noch mehr gestärkt, und während meiner Besuche in unserem ersten Uni-Jahr wurde mir klar, dass er dort genauso beliebt war wie zu Hause.
Wenn man all diese Faktoren bedenkt, ist es doch logisch, dass ich ihn genauso gern daten wollte wie alle anderen, oder? Er war mein einziger Freund. Ergab das jetzt Sinn?
Ich war Captain von gar nichts, ich musste mich nie aus irgendeiner Situation retten, weil ich nie etwas Interessantes getan habe. Es folgt keine lange Liste an lobenden Adjektiven, wenn Menschen über mich sprechen. Also ja, ich habe mich geschmeichelt gefühlt.
Unsere Eltern waren natürlich begeistert. Ihre Träume der Hochzeitsplanung und gemeinsamer Enkelkinder haben sich sofort viel greifbarer angefühlt, und es spielte keine Rolle, dass ich nach Maple Hills und er nach San Diego gehen würde. Sie liegen nur zwei Stunden voneinander entfernt, und unsere Eltern waren sich sicher, dass ich meine Pläne absolut gern um Wills Hockey-Verpflichtungen herum arrangieren würde.
Keine. Große. Sache.
Ihre Zuversicht gab mir Zuversicht, denn nach der habe ich mich verzweifelt gesehnt, als das anfängliche Hochgefühl nachgelassen hat, nachdem Will mich das erste Mal darum gebeten hatte, Sex mit ihm zu haben. Ich habe ihm gesagt, dass ich noch nicht so weit sei, und er war der Meinung, ich sei nur eingeschüchtert wegen der ganzen Mädchen, mit denen er geschlafen habe, doch darüber bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen. Mit einem entsetzten Gesichtsausdruck und dem stärksten Drang, das Gebäude zu verlassen, sagte ich ihm, dass es mir egal wäre, mit wem er zuvor geschlafen hatte, und sein Sexleben keinerlei Bedeutung dafür hätte, ob wir den nächsten Schritt wagen würden oder nicht.
Ich habe mir Schmetterlinge und das unerklärliche Bedürfnis gewünscht, bei einem Kuss zart den Fuß anzuheben, aber ich habe nur Wespen bekommen. Gemeine, unangenehme Dinger, die mich jedes Mal gestochen haben, wenn Will seine Hand unter mein T-Shirt geschoben hat. Mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass etwas los war, aber mein Herz meinte, ich bräuchte nur mehr Zeit. Mein Kopf hat mir mitgeteilt, dass ich die Antwort bereits kannte, aber zu feige war, um sie zu beachten.
»Halle? Kannst du mal lange genug aus deinen Gedanken auftauchen, um ein verdammtes Gespräch mit mir zu führen?«, sagt Will harsch, wobei er seine Stimme so stark erhebt, dass Joy aufwacht. Sie schlendert über den Tisch zu mir und streift mich mit ihrem Schwanz am Kinn, bevor sie sich vor mir wieder hinlegt. Der Timer am Ofen piept, und Will murmelt leise Flüche, während ich den Ofen abstelle und die Croissants heraushole, die ich jetzt nicht länger essen will.
»Nichts an alldem hier freut mich. Ich habe das Gefühl, du bist sauer auf mich, weil ich Okay gesagt habe, anstatt – was? Dich anzuschreien? Laut zu schluchzen?«
Er schnaubt und hebt seine Kaffeetasse an die Lippen, um die Worte zu dämpfen, die er vor sich hin murmelt. Dieses Gemurmel habe ich schon immer gehasst. »Ich bin sauer wegen dem ganzen Mist, den ich mir anhören muss, weil ich mit dir Schluss mache, weil du ein zu großer People Pleaser bist, um es selbst zu tun. Jetzt werde ich das weltgrößte Arschloch sein, weil ich etwas tue, wofür du zu feige bist. Das ist nicht fair. Ich will dich, aber du willst mich nicht, also muss ich den Bösen spielen.«
Ich hatte unrecht. Es folgen Adjektive, wenn jemand über mich spricht. Nur eben keine lobenden.
»Ich bin kein People Pleaser. Ich habe versucht, uns eine Chance zu geben. Es ist ja nicht so, als wollte ich versagen.«
»Ich wünschte, du würdest es mal wollen. Vielleicht würde das unser Problem lösen«, murmelt er gerade laut genug, sodass ich es hören kann.
Es ist, als würde er mir in einen blauen Fleck piksen. Einen metaphorischen Fleck, den er verursacht hat. Am liebsten würde ich die Augen verdrehen und ihm sagen, wie kindisch und erbärmlich er sich verhält, aber in Wahrheit hat er endlich etwas an diesem schrecklichen Gespräch gefunden, was mich verletzt.
Ich weiß nicht, warum mein Wunsch nach Sex verschwindet, sobald er ins Spiel kommt, aber ich wünschte mir wirklich, ich wüsste es. Ich will ihm nicht die Genugtuung geben, zu wissen, dass er mich getroffen hat, also seufze ich und neige den Kopf. »Du benimmst dich wie ein Arschloch.«
Er verschränkt die Arme vor der Brust, während er auf dem Stuhl zusammensackt. Er kneift sich in den Nasenrücken und stößt einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Seufzen und einem Stöhnen liegt. »Sorry, das war mies. Es ist nur …« Er setzt sich wieder aufrecht hin, seine Unruhe stellt einen Widerspruch zu seiner sonst lockeren Natur dar. »Ich komme nicht drum rum, zu glauben, dass es besser wäre, wenn sich unsere Beziehung erwachsener anfühlen würde. Ich weiß nicht, warum du sagst, dass du Sex hasst, wenn du es nicht mal ausprobieren willst. Ich bin so geduldig mit dir, Halle, oder nicht? Geduldiger als jeder andere Typ es wäre.«
Plötzlich ergibt es absolut Sinn, dass er gerade jetzt Schluss machen will, wenn man bedenkt, dass ich ihm gestern Abend gesagt habe, dass ich immer noch nicht bereit bin, Sex mit ihm zu haben. Wenn geduldig sein bedeutet, dass er aufhört, wenn ich Stopp sage, ja, dann ist Will geduldig. Wenn geduldig sein bedeutet, dass er wiederholt das Thema Sex anspricht und mich zu meinen Gedanken und Gefühlen dazu ausfragt und wieder mürrisch wird, wenn ich erneut sage, dass ich noch nicht so weit bin, klar, dann ist er geduldig.
Ich bin allerdings sicher, dass weder das eine noch das andere als geduldig gelten, nur habe ich nicht die Energie, mich beim Frühstück mit meinem größtenteils Solo-Sexleben zu befassen.
»Wir sind zwei Erwachsene in einer Beziehung, das macht sie zu einer erwachsenen Beziehung.« Wie ich es schon eine Million Mal zuvor gesagt habe. »Und, oh mein Gott, das letzte Mal: Ich habe nie gesagt, dass ich Sex hasse. Ich habe nur gesagt, dass ich nicht bereit dazu bin. Außerdem sind wir einen Kompromiss eingegangen, ich habe die anderen Sach…«
»Oh, wenn du es einen Kompromiss nennst, fühle ich mich gleich so viel besser. Danke.«
Am liebsten würde ich meinen Kopf auf den Tisch hauen. »Hör mal, wir kommen vom Thema ab. Wir können unseren Eltern sagen, dass es eine einvernehmliche Entscheidung war. Niemand ist der Böse – einvernehmlich.«
Er wirft mir einen ungläubigen Blick zu. »Als würden sie das glauben. Was ist mit Thanksgiving? Weihnachten? Dem Urlaub in den Frühlingsferien? Du bist naiv, wenn du glaubst, sie lassen es gut sein.«
Ich kann nicht behaupten, es wäre abwegig, dass er sich Sorgen darüber macht, wie unsere Eltern die Neuigkeit aufnehmen könnten. Genau darüber mache ich mir auch Sorgen. Vielleicht hat er recht, vielleicht bin ich ein Feigling und ein zu großer People Pleaser, und ich habe ihn in diese Situation gezwungen, um mich selbst zu retten.
Der Sommer, den wir gerade erst gemeinsam zu Hause verbracht haben, hat deutlich gemacht, dass wir uns ohne unsere Hobbys oder familiären Verpflichtungen auseinandergelebt haben. Will möchte mit seinen Freunden Abenteuer erleben, bevor er seine Profi-Karriere startet, und ich will bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr eine publizierte Autorin sein. Wir sind beide ehrgeizig, nur bewegen wir uns in unterschiedliche Richtungen. Wenn man zusätzlich noch die Spannungen hinzurechnet, die dadurch entstanden sind, dass ich nicht bereit bin, auf seinen Wunsch hin das Höschen fallen zu lassen, war diese Trennung das einzige Unvermeidliche an uns.
Wenn ich irgendwelche Freunde hätte, die ich nicht mit Will teile, würden sie sich sicher fragen, warum wir überhaupt zusammen waren. Das ist etwas, worüber ich im letzten Jahr viel nachgedacht habe, und die Antwort hat mich nicht gerade in ein gutes Licht gerückt.
Entweder bin ich ein People Pleaser, wie ich allgemein genannt werde, oder ich habe eine verspätete rebellische Phase gegen meinen älteren Bruder Grayson. Er hat Will immer gehasst und behauptet, er sei zu arrogant und unsere Freundschaft zu einseitig. Ich war zu brav, um wegen irgendetwas anderem zu rebellieren, also war das Nicht-auf-meinen-Bruder-Hören meine rebellischste Seite. Aber selbst da erschien mir meine Begründung ein wenig weit hergeholt.
Am Ende konnte ich der Wahrheit nicht entkommen: Einsamkeit. Wenn wir uns trennen, wen habe ich dann noch?
Klar, unsere Beziehung war nicht perfekt, aber er hat mich jeden Tag angerufen und wollte mich in seiner Nähe haben.
»Ich sage einfach, dass ich Weihnachten unbedingt bei Dad und Shannon verbringen will. Ich glaube, mein Bruder ist auch da, also kann ich ihn benutzen, um es noch glaubwürdiger klingen zu lassen. Bis wir beide für den Ausflug im März wieder zu Hause sind, sind alle über die Trennung hinweg.«
»Bist du sicher?«, fragt er. Ich habe ihm gerade die beste Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte überhaupt geliefert, und er kann seine Freude kaum verbergen. Gott, mir wird gleich schlecht.
»Absolut sicher.«
Ich sehe, wie er sich entspannt. »Wenn du nicht nach Hause kommst, solltest du besser auch nicht mehr zu meinen Spielen kommen.«
Auch wenn das nicht unerwartet kommt, wünschte ich mir doch, er hätte Schluss gemacht, bevor ich beschlossen habe, meinen Buchclub aufzugeben und meinen Unterricht so zu legen, dass ich Zeit für seine Spiele habe.
Ich sage beschlossen, aber da wir nicht mehr zusammen sind, muss ich wohl nichts mehr so drehen, dass Will besser wegkommt. Ich kann zugeben, dass er mich den ganzen Sommer darum angefleht hat – obwohl ich wiederholt gesagt habe, dass ich nicht will –, bis ich schließlich nachgegeben habe, als er meinte, dass sich alle anderen Freundinnen seiner Mannschaftskollegen die Mühe machen. Sobald das Semester wieder angefangen hat, tat ich, was von mir verlangt wurde. Ich habe den Buchladen nur sehr ungern so kurzfristig im Stich gelassen, aber sie waren sehr verständnisvoll, und eine der Buchverkäuferinnen freut sich sehr, den Club zu übernehmen.
»Ja, ist okay. Ich will unseren Freunden nicht das Gefühl geben, dass sie eine Seite wählen müssen, und wenn ich nicht dabei bin, wird das vermutlich einfacher sein.«
Wenn ich Will nicht so gut kennen würde, wie ich es tue, wäre mir vielleicht entgangen, wie er die Augenbrauen zusammengezogen und angefangen hat zu schmollen, aber er war definitiv da – dieser Ausdruck der Ungläubigkeit. »Ha, ja.« Er kratzt sich am Kinn. »Alle sagen mir schon länger, dass ich Schluss machen soll, also weiß ich nicht, wie sie sich fühlen würden, wenn du da wärst. Unbehaglich vermutlich.«
Das erste Mal, seitdem er »Ich glaube, wir sollten uns trennen« gesagt hat, ist mir nach Weinen zumute. Auch wenn mir bewusst war, dass etwas zwischen uns nicht funktioniert hat, dreht sich mir der Magen um bei dem Gedanken, dass sich seine College-Freunde eingemischt und gemeinsam beschlossen haben, dass er mit mir Schluss machen sollte.
Ich habe mir immer die Mühe gemacht, zu seinen Spielen zu fahren, wenn ich es einrichten konnte, selbst bevor wir ein Paar waren. Ich habe sein Trikot getragen, bei den Freundinnen der anderen Spieler gesessen und ihn angefeuert. Ich habe mich über ihre Interessen informiert und mein Bestes gegeben, um dazuzugehören, während sie über Leute von ihrem College gesprochen haben, die ich nicht kannte, weil meine Freunde immer schon bereits Wills Freunde waren. Selbst als wir Kinder waren, hat er mich ständig neuen Leuten vorgestellt.
Seine Worte schmerzen noch, während ich dabei zusehe, wie er den Rest seines Kaffees austrinkt. Er sieht so ungerührt aus, wohingegen ich gegen den Drang ankämpfen muss, das nächste Feld aufzusuchen und mich darin zu begraben. »Nicht länger meine Freunde, hab’s verstanden.«
»Wenn man es genau nimmt, waren sie nie wirklich deine Freunde.« Er starrt mich an und wartet darauf, dass ich etwas sage, als hätte er mir nicht gerade meine größte Unsicherheit ins Gesicht geworfen, so beiläufig, als hätte er nach dem Wetter gefragt. »Fragst du dich manchmal, ob du eigene Freunde hättest, wenn du nicht in einer Fantasiewelt leben würdest?«
»Gott, du klingst gerade genauso wie deine Eltern. Man kann gerne lesen und trotzdem einen gesunden Bezug zur Realität haben, Will«, sage ich gedehnt. »Ich bin keine Aussätzige, nur weil ich Bücher mag. Niemand hat mich aus dem Gesellschaftskalender von Maple Hills ausgestoßen, weil ich gerne Liebesromane lese. Wenn ich mehr Zeit in Maple Hills verbracht hätte, anstatt dir überallhin zu folgen, hätte ich vielleicht meine eigene Freundesgruppe aufbauen können.«
Er schnaubt, und er ist nur noch eine arrogante Geste davon entfernt, ein Croissant an den Kopf zu bekommen. »Wenn du dich für unsere Beziehung genauso interessiert hättest wie für fiktive, hätte ich nicht gerade ein Jahr meines Lebens verschwendet.«
Es ist unglaublich, wie ein Gespräch die Art und Weise verändern kann, wie man jemanden sieht. »Ich denke, du solltest jetzt gehen.«
»Sei nicht so empfindlich, Hals.« Er steht auf und kommt zu mir. Der Arm, den er auf meine Schulter legt, fühlt sich zehnmal so schwer an, wie er sollte, und der Kuss auf meinen Scheitel brennt wie Säure. »Ich stelle mich nur an die erste Stelle. Tue was für mich, weißt du. Ein neues Jahr fängt an, und ich verdiene einen Neuanfang. Hockey wird …«
Seine Stimme rumort im Hintergrund weiter, doch ich kann nicht länger aufmerksam zuhören, da ich jedes Fünkchen meiner Selbstbeherrschung benötige, um nicht in eine Tirade darüber auszubrechen, dass ich es sehr wohl weiß, da ich ihn an die erste Stelle gesetzt habe, solange ich denken kann. Genau wie alle anderen.
Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mir die Aufgaben und die Verantwortung aufzubürden, die die anderen nicht wollen. Ohne zu murren, bringe ich Opfer, weil es das ist, was ich immer schon gemacht habe. Und mittlerweile ist es schwer zu erkennen, ob es ein aufrichtiger Wunsch ist, anderen zu helfen, oder nur eine Gewohnheit.
Während sich meine Familie durch die Trennung meiner Eltern und ihre neuen Ehen neu vermischt hat und gewachsen ist, ist auch die Liste der Menschen, denen ich helfen musste, gewachsen. Obwohl Grayson der Älteste ist, fiel alles auf mich zurück. Solange ich denken kann, habe ich immer nur gehört: »Oh, Halle hilft gerne.« Und kein einziges Mal: »Halle, macht es dir was aus?« Oder: »Halle, hast du Zeit?«
Ich erinnere mich nicht daran, dabei zugestimmt zu haben, und ich bin müde.
Nur zu gern würde ich behaupten, dass ich es immer nur den Menschen recht machen will, die ich liebe, aber das stimmt nicht. Ob es nun Will ist, seine Freunde, seine Eltern, Nachbarn … Fremde …
Es fühlt sich an, als hätte jeder einzelne Mensch, der mit meinem Leben in Kontakt gekommen ist, sich auf meiner Prioritätenliste irgendwie über mir eingeordnet. Und jetzt seht, wohin mich das geführt hat.
Single, keine Freunde, keine Hobbys und ein Tagesablauf, um die perfekte Hockeyfreundin zu sein – ansonsten gibt es wenig, da ich nun nichts habe, womit ich meine Zeit ausfüllen könnte.
Ich bin es leid, in meinem Leben nur Beifahrerin zu sein. Wenn Will das dritte College-Jahr damit verbringen will, etwas für sich selbst zu tun, werde ich das auch.
Wenn Zeitreisen möglich wären, würde ich zurückgehen und Neil Faulkner dazu überreden, den Job als Collegehockey-Coach abzulehnen.
Trotz bester Absichten und zwanzig langen Jahren an Training habe ich nicht immer den Durchblick, wenn es darum geht, die Motivation anderer Leute zu verstehen. Allerdings weiß ich für gewöhnlich, wie ich mich beim Coach nicht unbeliebt mache. Weshalb sich ein panischer Knoten in meinem Bauch bildet, als ich höre, wie mein Name in Faulkners schroffem Tonfall gerufen wird.
»Uuuuuuuh.« Bobbys bester Versuch, wie ein Trickfilm-Geist zu klingen, schickt eine Welle des Lachens durch den halb vollen Umkleideraum. Ihm entgeht der böse Blick, den ich ihm zuwerfe, während er sich das Titans-T-Shirt über den Kopf zieht. »Jemand kriegt Ärger. Was hast du verbrochen, Cap?«
»Keine Ahnung«, murmle ich und schlüpfe in meine Jogginghose. »Hockey gespielt. Geatmet. Existiert. Die Möglichkeiten sind endlos.«
»War schön, dich gekannt zu haben, Bruder«, sagt Mattie, der mir auf den Rücken klopft, während er in Richtung der Duschen an mir vorbeigeht. »Erzähl’s nicht den anderen, aber du warst immer mein Liebling.«
»War ich nur ein Spiel für dich?«, ruft Kris und wirft etwas, das nach einer schmutzigen Socke aussieht, nach ihm. Sie prallt an Matties Kopf ab, zerzaust sein rabenschwarzes Haar und rollt unter eine Bank.
Und schon hat meine Toleranz für meine Mannschaftskollegen ihr Tageslimit erreicht.
»Wird schon nichts Schlimmes sein.« Russ versucht, mich zu beruhigen, während er mit einem Handtuch über sein nasses Haar reibt. »Wenn du noch nicht zurück bist, wenn ich fertig bin, warte ich bei meinem Truck auf dich.«
Das College-Jahr hat erst vor wenigen Wochen angefangen, und ich fühle mich jetzt schon wie überfahren – jedenfalls stelle ich es mir so vor. Über den Sommer habe ich viel Zeit damit verbracht, zu googeln, was einen guten Captain ausmacht, und auch wenn ich nicht das Gefühl habe, die genaue Antwort zu kennen, versuche ich die wenigen Punkte umzusetzen, die ich gefunden habe. Ich komme als Erster und gehe als Letzter. Ich gebe mir Mühe, die neuen, weniger selbstsicheren Spieler zu ermutigen. Ich versuche, positiv zu bleiben, was bedeutet, dass ich nicht immer sofort ausspreche, was mir in den Sinn kommt. Neuen Dingen gegenüber offen zu sein, obwohl es in meiner Natur liegt, bei dem zu bleiben, was ich kenne. Ich ziehe mein komplettes Workout durch, anstatt mich von der perfekten Playlist ablenken zu lassen. Ich tagträume nicht während des Trainings.
Im Grunde genommen tue ich also vieles, was meinem natürlichen Instinkt widerspricht.
Auf Anastasias und Lolas gemeinsamer Geburtstagsparty habe ich nicht einmal getrunken, weil ich in ein Informationswurmloch über den Zusammenhang zwischen sportlicher Leistung und Alkoholkonsum gefallen bin.
Daher wird mir angesichts der Tatsache, dass Faulkner wegen irgendetwas wütend ist, obwohl ich mich so sehr anstrenge, einen guten Job zu leisten, mehr als nur ein bisschen schlecht. Das Klopfen meiner Faust an der Bürotür des Coachs scheint durch den Gang zu hallen.
»Herein«, ruft er. »Setz dich, Turner.«
Er zeigt auf einen der abgenutzten Stühle mit Stoffüberzug ihm gegenüber, und ich folge seiner Aufforderung. Dadurch, dass ich mein Bestes gebe, diesem Mann die volle Aufmerksamkeit zu schenken, kann ich ganz deutlich seine drei Hauptzustände erkennen:
Irrational wütend und laut.Verärgert vom Leben umgeben von Hockeyspielern.Wie auch immer man die Art und Weise beschreiben würde, wie er mich gerade ansieht.Er tippt wiederholt mit seinem Stift auf den Schreibtisch, und das Plastik erzeugt ein lautes Klicken auf dem Holz. Ich muss mich schwer zusammenreißen, um mich nicht über den Tisch zu beugen und ihm den Stift wegzunehmen, damit das Geräusch aufhört. »Weißt du, warum ich dich hergerufen habe?«
»Nein, Coach.«
Dankenswerterweise legt er den Stift hin und zieht seine Computertastatur zu sich heran. »Ich habe soeben eine E-Mail erhalten, in der ich um ein Telefonat gebeten wurde, um über dich zu sprechen, weil du in Professor Thorntons Kurs durch einen Test gefallen bist. Und anstatt Thornton aufzusuchen, um eine Lösung zu finden, bist du zur Studienberatung gegangen, um seinen Kurs abzuwählen. Hast du etwas dazu zu sagen, bevor ich diese Nummer wähle?«
Jedes einzelne Wort, das ich je gelernt habe, verschwindet aus meinem Kopf, abgesehen von Scheiße.
»Nein, Coach.«
Er fährt sich mit der Hand über den Kopf, als würde er eine Haarmähne zurückstreichen. Ich wollte immer schon fragen, warum er das tut, da er eine Glatze hat, und den Spielaufnahmen zufolge, die wir gesehen haben, war das auch schon die letzten fünfundzwanzig Jahre so. Trotz der Ermutigungen einiger der Jungs hat Nate mir geraten, es nicht zu tun, außer ich wünsche mir eine Welt des Elends, was ich nicht tue. Doch die Frage quält mich jedes Mal, wenn ich sehe, wie er sich das nicht vorhandene Haar wegstreicht.
»Also gut.« Seine dicken Finger stechen regelrecht Löcher in das Telefon, während er die Zahlen eintippt, bevor er den Hörer zwischen Ohr und Schulter klemmt. Mir bleibt keine andere Wahl, als dabei zuzuhören, wie er sich vorstellt und dann das ganze Gespräch über Ähms und Ahs von sich gibt. Nate hat uns immer gesagt, dass Faulkner Angst riechen kann, weshalb man ihm nie seine eigenen Schwächen zeigen sollte. Zuzugeben, dass ich das Semester in den Sand gesetzt habe, noch bevor es richtig angefangen hat, fühlt sich verdammt nach einer Schwäche an.
Faulkner legt den Hörer hin und blickt mich so durchgehend an, dass es sich anfühlt, als würde er in meine Seele starren.
»Ms Guzman sagte, sie hätte dich dreimal daran erinnert, einen Termin zu machen, um deine Kurse zu wählen …«
»Das stimmt.«
»Und als du endlich daran gedacht hast, waren die Kurse schon voll. Also hast du dich für Thorntons Kurs eingeschrieben, weil du dachtest, du könntest dich für einen anderen auf die Warteliste setzen lassen und während der Wechselphase wechseln.«
»Richtig.«
»Aber dann hast du dich nicht in die Warteliste eintragen lassen und auch nicht in der Wechselphase versucht zu tauschen.«
Ich hatte es vor. Ganz ehrlich, aber ich war so damit beschäftigt gewesen, mir Sorgen darüber zu machen, in Nates Fußstapfen zu treten und ein guter Captain zu sein, dass alles andere sich hinten anstellen musste. Jedes Hindernis hat dazu geführt, dass ich es verschob. Und ich habe mir immer wieder gesagt, dass ich es regeln würde, bis es schließlich zu spät war.
»Auch richtig.«
»Also willst du mir mitteilen«, sagt er und unterbricht sich, um einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse zu nehmen, nur damit ich mich extra-mies fühle, »dass du es trotz reichlicher Möglichkeiten, die Situation selbst zu korrigieren, nicht getan hast und jetzt hier sitzt und während der wenigen seligen Stunden am Tag, in denen ich dein Gesicht nicht sehen muss, erwartest, dass ich dir helfe?«
Ich würde ihm ja sagen, dass er mich hierhergerufen hat und dass ich zur Beraterin gegangen bin, die speziell dafür angestellt ist, Uni-Sportlern und -Sportlerinnen zu helfen, doch ich nehme an, das würde er genauso gut aufnehmen wie die Tatsache, dass ich durch einen Test gefallen bin. »Schätze schon.«
»Was ist dein Problem mit Thornton?«
Ich denke an das, was Anastasia und ich vor meinem Termin bei Ms Guzman zusammen erarbeitet haben, und wiederhole ihre Worte wie ein Papagei. »Seine Unterrichtsmethode und meine Lernmethode sind inkompatibel.«
»Du wirst mir schon mehr bieten müssen als das, Turner.« Faulkner seufzt und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Er klickt auf seine Maus und starrt den Bildschirm an. »Überall sonst brillierst du, und ich weiß, dass du hart arbeitest. Also was an diesem Kurs lässt dich glauben, dass du ihn schmeißen musst?«
Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie ich es Anastasia und Aurora erklärt habe, nachdem ich von der ersten Stunde mit Thornton zurückgekommen bin. Ich habe fünf Minuten lang geschimpft, danach musste ich mich auf den Boden legen und habe eine Stunde lang die Decke angestarrt. »Ich muss einen Kurs mit schriftlichem Schwerpunkt wählen, um die Anforderungen für mein Hauptfach zu erfüllen. Professor Thorntons Lehrplan ist dafür bekannt, dass er sehr viel Lesen und Recherchearbeit erfordert – deshalb will niemand in den Kurs. Im Grunde genommen unterrichtet er Weltgeschichte, es geht kaum um Kunst. Es fällt mir schwer, mich auf den Stoff zu konzentrieren, weil so vieles davon irrelevant für das ist, was er möchte … glaube ich.
Und ich lese nicht gerne Dinge, die mich nicht interessieren. Ich habe Probleme, mich darauf zu konzentrieren. Die meiste Zeit weiß ich nicht, was er will. Ich habe mich in schwarzen Löchern von Informationen wiedergefunden, nur um an einer völlig falschen Stelle zu landen und schließlich durchzufallen.«
Wieder seufzt Faulkner. Ich frage mich, ob er das auch zu Hause macht oder ob er sich das für dieses Büro aufhebt. Ich frage mich, ob es seiner Familie dasselbe ungute Gefühl gibt wie mir. »Hier steht, dass du einen ähnlichen Kurs bei Professor Jolly hast, und den willst du nicht schmeißen.«
Jolly ist quasi ein Hippie, und sie glaubt, dass Kunstgeschichte etwas ist, das man mit der Seele lernen und fühlen sollte. Sie hasst es, zu benoten, wie Menschen Kunst interpretieren und etwas über sie lernen, daher gibt es in ihrem Kurs nur eine Abschlussprüfung, und selbst das nur, weil das Institut sie dazu zwingt. Bei ihr kann man nicht durchfallen, solange man zum Unterricht erscheint, und ihr Kurs hat keine begrenzte Teilnehmendenzahl, weshalb ich ihn noch wählen konnte, obwohl ich mich später angemeldet habe als alle anderen.
Ich liebe Professor Jollys Kurs nicht nur, weil er wirklich interessant ist, sondern weil ich verstehe, was sie von mir will. Was ich lerne, hilft mir mit meiner praktischen Arbeit, und ich verlasse ihren Unterricht nicht unvorbereitet und orientierungslos, wie es bei Thornton der Fall ist. Ihr Kurs wäre die perfekte Lösung gewesen, nur erfüllt er nicht die Anforderungen. »Ich arbeite besser unter dem Druck einer Prüfung.«
Faulkner fängt wieder an, mit dem Stift zu tippen. »Hast du mit Professor Thornton gesprochen?«
ProfessorThorntonhatsogarnochwenigerInteressedaranalsSie, würde ich gern sagen. »Er war nicht gewillt, mir zuzuhören.«
»Da kann ich nichts tun«, sagt er und zuckt desinteressiert mit den Schultern. »Hättest früher zu mir kommen sollen, damit ich helfe.«
Organisier dich besser. Komm früher zu mir. Ich weiß nicht, wie ich jemandem, der nicht in meinem Kopf lebt, erklären soll, dass man mich zum Büro hätte tragen oder einen Laptop vor mir hätte festkleben können, und ich hätte trotzdem einen Weg gefunden, der Aufgabe aus dem Weg zu gehen. »Was passiert, wenn ich den Kurs nicht bestehe?«
Über meinen Notendurchschnitt mache ich mir gar keine Sorgen, da ich in den Kursen gut bin, die mir Spaß machen. Und alles andere auf meinem Stundenplan liebe ich – vorausgesetzt, ich melde mich rechtzeitig bei allem an. Es ist nur dieser Kurs und Faulkners Besessenheit mit dem akademischen Perfektionismus eines Mannschaftskapitäns.
Nachdem seine Profikarriere durch einen Unfall frühzeitig beendet wurde, ist er besessen davon, dass wir einen Ausweichplan haben sollen. Ja, als Uni-Sportler müssen wir einen gewissen Notendurchschnitt erreichen, um weiterhin in der Mannschaft zu bleiben, aber was Faulkner verlangt, ist übertrieben. Doch ich weiß, dass es sinnlos ist, dagegen anzukämpfen, da noch keine Person vor mir gewonnen hat.
»Darüber reden wir nicht. Du bist der Captain dieser Mannschaft, Turner. Du kannst nicht durch den Kurs fallen und den Titel behalten. Tu dich mit einem Klassenkameraden zusammen, mach bei einer Lerngruppe mit, nutze deine Studienberaterin für etwas anderes als Aufgeben … Ist mir scheißegal. Du tust, was du tun musst, um es geradezubiegen. Ich erwarte, von keinen weiteren schlechten Noten zu hören.«
Bei Nate sah alles so leicht aus, und ich bin irgendwie sauer auf ihn, dass er heruntergespielt hat, wie hart Faulkner unter vier Augen ist. Mir wurde so oft erzählt, welche Ehre es ist, Mannschaftskapitän zu sein, doch während ich aus Faulkners Büro schlurfe, fühlt es sich mehr wie ein schweres Gewicht auf meinen Schultern an. Ein Team zu führen fällt mir nicht leicht, allein war ich immer zufriedener, aber ich gebe mir alle Mühe. Ich will mein Team nicht im Stich lassen, oder Nate oder Robbie, die den Coach davon überzeugt haben, dass ich es verdient habe.
Ein Anführer zu sein ist ziemlich wie Thorntons Kurs. Es wird erwartet, dass ich etwas weiß, was mir nie erklärt wurde, und dennoch soll ich es einfach lächelnd hinbekommen. Genau deshalb habe ich Nein gesagt, als mir die Position das erste Mal angeboten wurde. Ich habe erwartet, dass sie jemand anderem gegeben würde und ich einfach mit meinem Leben weitermachen könnte. Doch das ist nicht passiert, stattdessen haben Nate und Robbie weiterhin mit mir darüber diskutiert.
Sie haben alles versucht: davon, mich mit allen anderen zu vergleichen, die ich als bessere Wahl angeführt habe, bis hin dazu, darauf hinzuweisen, dass ich der erste schwarze Hockey-Captain in Maple Hills wäre. Letzteres haben sie wieder fallen lassen, als ich sagte, dass es eher ein trauriges Abbild der fehlenden Chancen für People of Color im Hockey ist und nicht der große Erfolg, wie sie es darstellen wollten.
Je mehr meine Teamkameraden mich dazu gedrängt haben, desto mehr haben auch andere damit angefangen. Meine Moms, Anastasia … so viele Leute haben mir mitgeteilt, wie unglaublich das wäre und wie sehr sie sich darüber freuen würden zu sehen, was ich erreichen könnte. Obwohl ich bis zum Schluss meine Zweifel hatte, habe ich angenommen.
Normalerweise gebe ich Gruppenzwang nicht nach, doch dieses eine Mal habe ich es getan, und seht, wohin es mich geführt hat. Jetzt stresse ich mich nicht nur deshalb, weil ich mein Team nicht im Stich lassen will, sondern muss mir auch noch Gedanken darüber machen, dass ich alle anderen enttäusche, die nicht im Team sind, aber – ohne mein eigenes Verschulden – an mich glauben. Es ist so schwer, unterstützende Freunde und Familienmitglieder zu haben, die nicht automatisch das Schlimmste erwarten.
»Und, Erfolg gehabt?«, fragt Russ, als ich auf dem mittlerweile verlassenen Parkplatz in seinen Truck klettere.
»Ich bin am Arsch.«
»So schlimm ist es sicher ni…«
»Er hat mir gesagt, ich darf meinen Kurs weder schmeißen noch durchfallen, sondern soll eine Lösung finden.«
Russ seufzt, während er vom Parkplatz fährt. »Wie hilfreich. Hör mal, vielleicht wird es mit etwas Übung leichter. Ich helfe dir, so gut es geht, genau wie Aurora. Nächstes Mal können wir gemeinsam die Anmeldecodes zum Belegen der Kurse holen.«
Als wir an einer roten Ampel stehen bleiben, lehne ich den Kopf an das Fenster und frage mich, wie ich es in Worte fassen soll, ohne vollkommen seltsam zu erscheinen, denn dadurch dass sich wahrscheinlich nicht eine Reihe von Umständen perfekt aneinanderfügen, die mich dafür begeistern, Stundenpläne zusammenzustellen, werde ich mich im Januar vermutlich wieder im selben Schlamassel befinden. »Danke.«
»Keine Ursache. Rory wartet mit Robbie im Haus, um bei uns abzuhängen, aber wenn du Ruhe brauchst, können wir auch zu ihr«, sagt er leise, als wir auf die Maple Avenue fahren. »Das würde mir nichts ausmachen.«
Ich wohne gern mit Russ zusammen, weil er die Stimmung anderer stets ohne viele Worte zu verstehen scheint. Ich glaube, diese Fähigkeit hat sich daraus ergeben, dass er mit einem Dad aufgewachsen ist, mit dem das Leben nicht angenehm war, und er ständig um sich fürchten musste. Allerdings denke ich nicht, dass es in Ordnung wäre, ihn direkt zu fragen, ob er mir zustimmt. Vor allem da sich sein Dad zu bessern versucht und Russ ihm die Chance gibt, sich zu beweisen.
»Du brauchst nicht woandershin zu fahren. Ich mag Aurora.«
Ich hebe den Kopf gerade rechtzeitig, um das kleine Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen. »Sie mag dich auch.«
Russ hat sich diesen Sommer stark verändert, nachdem er in einem Ferienlager gearbeitet hat. Er hat seine Freundin kennengelernt, seinen Dad wegen dessen Spielsucht konfrontiert und – auch wenn ich denke, dass er nie der Lauteste im Raum sein wird – er ist selbstbewusster als zuvor.
Und was Aurora angeht: Ich glaube, sie war nicht die Person, die ich mir für Russ vorgestellt hatte, aber ich denke, das ist auch gut so. Russ mag sie, weil sie großzügig und freundlich ist, und er hat sich lange Zeit nur als zweite Wahl gefühlt, bevor er sie kennengelernt hat. Er ist ihre Nummer eins, was keine einfache Mutmaßung von mir ist: Sie erzählt jedem, der bereit ist, zuzuhören, dass er ihre Nummer eins ist. Es gibt absolut keinen Platz für Zweifel in seinem Kopf, dass er Aurora wichtig ist, weil sie es ihm sagt – und Mann, ist sie laut.
Ich vergleiche meine Freunde nicht gern, da sie alle unterschiedlich sind, aber sie ist die Einzige, die mit mir nicht über Hockey spricht. Was sie ziemlich weit oben auf meiner Liste stehen lässt, da es sich anfühlt, als wäre Hockey das Einzige, worüber andere mit mir sprechen wollen.
Der Versuch, mich daran zu erinnern, wann mich das letzte Mal jemand auf eins meiner anderen Interessen angesprochen hat, lässt die Heimfahrt schnell vergehen. Und ehe ich michs versehe, parkt Russ seinen Wagen schon auf unserer Einfahrt neben dem seiner Freundin.
Aurora hebt den Blick, als ich die Eingangstür öffne, doch er wandert direkt an mir vorbei, und als sie Russ entdeckt, breitet sich auf ihrem Gesicht das strahlendste Lächeln aus. Ich habe das Gefühl, wir haben gerade einen Haufen Freundinnen hinausbefördert, und sofort kamen neue dazu.
Sie entspricht den gängigen Schönheitsidealen – sie hat eine durchschnittliche Größe und Statur, weiße Haut, die sonnengebräunt ist, grüne Augen und blonde Haare –, aber sie zu zeichnen wäre vermutlich nicht so interessant.
Russ fühlt sich offensichtlich sehr zu ihr hingezogen, doch sie geben sich Mühe, das nicht so laut zur Schau zu stellen, was ich sehr zu schätzen weiß. Ich habe es geliebt, als Anastasia hier gewohnt hat, aber man hätte sie wegen Ruhestörung anzeigen sollen.
»Alles okay, Henry?«, fragt Aurora, als ich mich auf den Sessel ihr gegenüber fallen lasse. »Du siehst heute besonders nachdenklich aus. Grübelnd wie der gequälte Künstler, der du bist.«
»Der Coach hat rausgefunden, dass ich bei dem Essay über die Französische Revolution durchgefallen bin«, sage ich, als sich Russ zu ihr hinunterbeugt, um sie auf die Schläfe zu küssen.
»Das ist ätzend, sorry. Hast du versucht, ihn mit deinem Charme um den Finger zu wickeln?«, fragt sie.
»Ich weißt nicht, wie man Charme benutzt, aber selbst dann wäre er immun dagegen, nur um mich zu bestrafen. Er denkt, ich sollte akademische Superkräfte haben, weil ich vor fünfzehn Jahren nach einem Hockeyschläger gegriffen habe.«
»Ich finde dich unfassbar charmant«, sagt sie.
»Wer hat Superkräfte?«, fragt Robbie, als er aus seinem Schlafzimmer um die Ecke kommt. Er hält seinen Rollstuhl zwischen der Couch und dem Sessel an und schaut zu mir rüber. »Faulkner hat angerufen. Anscheinend ist es meine Schuld, dass du deine Kurse nicht belegt hast. Denn anscheinend habe ich übernatürliche Fähigkeiten und bin dafür verantwortlich, dass du dich den ganzen Sommer durch Kalifornien gevögelt hast, anstatt deine Bildung zu priorisieren. Und das, obwohl ich mit meinem Abschluss beschäftigt war und, du weißt schon, in einem anderen Staat.«
Mit meinen Freunden zusammenzuwohnen ist großartig. Mit einem zusammenzuwohnen, der außerdem Assistenzcoach ist, ist gelegentlich nicht so großartig. Und gelegentlich ist jetzt, wo ich Faulkner nicht einmal in meinem eigenen Heim entkommen kann, weil er einfach nur Robbie anrufen muss.
»Das ist dramatisch«, grummle ich, während Robbie sich in den Sessel neben mir hebt. Während des Sommers bin ich hier in der Gegend geblieben, was ich dem Coach nicht erzählt habe. Das war nicht einmal mit Absicht. Ich glaube, ich habe mich vielleicht einfach etwas einsam gefühlt, als alle anderen zu Hause oder arbeiten waren.
Darüber habe ich mir aber keine Gedanken gemacht, bis mich Anastasia darauf angesprochen hat und mir klar geworden ist, dass ich mir immer eine Beschäftigung gesucht habe, bis meine Freunde zurückgekommen sind. Ich mag es gern, allein zu sein, ich bevorzuge es sogar, aber in diesem Sommer habe ich herausgefunden, dass es Grenzen gibt.
Außerdem mögen mich Frauen sehr, und ich habe gern Spaß ohne Verpflichtungen.
Robbie schüttelt den Kopf und kneift sich in den Nasenrücken. »Tu mir einen Gefallen, Casanova: Konzentrier dich dieses Jahr darauf, dass ich keinen Ärger bekomme, anstatt darauf, flachgelegt zu werden. Immerhin bist du der oberste Anführer und musst den Weg zur Moral und Würde und den ganzen Mist leiten.«
Ich glaube nicht, dass er es ernst meint. Robbie lacht immer, direkt bevor er etwas Sarkastisches oder etwas sagt, das er nicht so meint, doch es verursacht dennoch ein unangenehmes Kribbeln in meinem Nacken. »Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich keine Ahnung habe, wie man irgendetwas führt.«
Russ beugt sich vor und sieht mich direkt an. »Für jemanden, der behauptet, dass er keine Ahnung hat, was er da macht, leistest du einen verdammt guten Job. Du bist in allem gut, Hen.«
»Außer Revolutionen«, unterbricht Aurora.
»Es ist verdammt nervig, wenn du es genau wissen willst. Ich wäre total unausstehlich, wenn ich schon beim ersten Versuch in allem gut wäre«, sagt Robbie. »Konzentrier dich auf deine Sachen, und du rockst es.«
»Wer hat gesagt, dass du nicht unausstehlich bist?«, fragt Russ und hält flink das Kissen ab, das in seine und Auroras Richtung fliegt.
»Warum besorgen wir dir nicht ein paar Bücher darüber, wie man andere anführt?«, fragt Aurora, die genau wie Russ an den Rand der Couch rückt. Das führt dazu, dass ich meinen Sessel nach hinten schieben will, nur um wieder mehr Distanz zwischen uns zu bringen. »Ich lasse den Buchclub diese Woche sausen, weil es nur ein Icebreaker-Treffen ist, und Halle steht total auf Austen, was für mich gar nicht geht, aber ich habe Enchanted noch nicht abgecheckt, und es wäre nett, vorbeizuschauen und Hi zu sagen … Warum siehst du mich so an?«
Russ neben ihr kichert, aber ich starre sie weiterhin ausdruckslos an. »Ich verstehe nichts von dem, was du gerade gesagt hast.«
»Enchanted«, wiederholt sie, als würde das die ganze Sache irgendwie aufklären. »Der Buchladen, der gerade in der Nähe von Kenny’s eröffnet hat? Neben dieser zwielichtigen Bar, in der Russ früher gearbeitet hat und die jetzt eine Weinbar ist.«
Sie könnte genauso gut französisch sprechen. »Keine Ahnung.«
Sofort wird Aurora noch aufgeregter, und ihre Stimme rutscht in die Höhe. »Wir sind wortwörtlich vor zwei Tagen daran vorbeigefahren, und ich habe gesagt: ›Guck mal, wie voll Enchanted ist!‹«
»Du sagst viel, Aurora. Ich höre nicht immer zu«, gebe ich zu. »Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, wenn du fährst. Die Angst um mein Leben nimmt den Großteil meiner mentalen Kapazität ein.«
Sie schnaubt, und die Jungs lachen, aber ich scherze nicht. »Halle. Das Mädchen, das früher den Buchclub in The Next Chapter geleitet hat. Sie fängt einen neuen Romance-only-Buchclub im Enchanted an – dem neuen Buchladen, an dem wir vorbeigefahren sind. Ich gehe nicht hin, weil mir nicht gefällt, was da gelesen wird, und weil es eine Einführungsveranstaltung für Menschen ist, die noch nie in einem Buchclub waren. Aber ich will hingehen, um ihr Hi zu sagen und den Laden abzuchecken.«
»Was hat das alles damit zu tun, dass ich durchgefallen bin und meine Identität ändern muss, um mich vor Neil Faulkner zu verstecken?«
»Diese Unterhaltung verschlechtert meine Lebensqualität massiv«, stöhnt Robbie. »Könnt ihr beiden mal fertig werden, bitte? Es ist, als würde man dabei zusehen, wie Aliens von verschiedenen Planeten versuchen, miteinander zu kommunizieren.«
Aurora hebt den Blick zur Decke und murmelt etwas vor sich hin, bevor sie Robbie ansieht und ihm den Mittelfinger ausstreckt. Dann lenkt sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich und streicht sich die losen Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Henry, willst du mit mir zu einem Buchladen gehen und Bücher kaufen, die dir etwas darüber beibringen, wie man ein Team führt? Um dir zu helfen, ein besserer Captain zu sein?«
»Nein.«
Robbie und Russ brechen in Lachen aus, und ich bin nicht sicher, was daran so lustig war.
»Aber warum? Emilia ist beim Tanzen, Poppy beschäftigt, und ich will nicht allein gehen.«
»Hast du nicht aufgepasst? Ich muss mir überlegen, wie ich ein Wunder geschehen lasse. Nimm Russ mit.«
Sie stupst Russ leicht in die Rippen, und sein Lachen lässt sofort nach. »Russ ist heute Abend bei seinen Eltern zum Essen. Es könnte dir helfen! Wenn du mitkommst und dem Ganzen eine Chance gibst, kaufe ich dir einen Milchshake.«
»Nein danke.«
»Und Chili Fries.«
»Na gut«, sage ich, aber nur, weil ich ihr ein guter Freund sein will, nicht weil ich wirklich gehen möchte. »Aber diesmal nehme ich nicht das Fake-Fleisch. Und ich zähle runter, wie lange du an einem Stoppschild stehen musst. Weißt du, was – streich das. Ich fahre. Komm, bringen wir es hinter uns.«
Es besteht die reelle Möglichkeit, dass ich halluziniere, aber da ist ein alarmierend attraktiver Mann, der meine Willkommens-Cookies isst.
Nachdem ich die Hälfte der Stühle im Kreis aufgestellt habe, bin ich für zirka zehn Sekunden im Lagerraum verschwunden, um mich auszuruhen, und als ich wieder herausgekommen bin, war er da.
Ist. Vielleicht? Möglicherweise. Es hängt davon ab, ob ich halluziniere.
Wegen des neuen Buchclubs bin ich schon den ganzen Tag total nervös, ganz zu schweigen von dem übermäßigen Konsum von Koffein. Ursprünglich habe ich abgelehnt, als die Besitzerin von Enchanted mich letztes Semester gefragt hat, ob ich einen Buchclub für sie leiten würde, weil ich dachte, dass die Leitung von zweien zu viel Arbeit wäre. Allerdings habe ich ihr in einem leicht fieberhaften Ich-zeig’s-dir-Will-Ellington!-Moment gesagt, dass meine Pläne sich geändert haben, als ich sie beim Eröffnungsabend des Ladens gesehen habe. Und das heißt, dass ich die letzten zwei Wochen seit meiner Trennung von Will herumgeflitzt bin, um sicherzustellen, dass diese Sache kein Flop wird.
Das erste »richtige« Treffen findet nächste Woche statt, aber als ich angefangen habe, etwas zu dem Club zu posten, haben viele der potenziellen Mitglieder nach einer Willkommensveranstaltung gefragt, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was sie erwartet. Ich habe ein Buch gewählt, das die meisten schon gelesen haben, damit wir etwas zum Besprechen haben.
Unter den gegebenen Umständen wären Halluzinationen also gar nicht so unmöglich, wie es ursprünglich geklungen hat. Allerdings muss ich zugeben – sollte ich halluzinieren –, dass sich meine Vorstellungskraft definitiv weiterentwickelt hat.
Als er sich hinsetzt und sich ein Buch vom Stapel neben seinem Stuhl nimmt, beschließe ich – wenn auch wenig selbstsicher –, dass er real ist. Was mich zu meinem nächsten Dilemma bringt: Wie stelle ich mich vor?
Vorstellungen sind schon immer das gewesen, was ich am Buchclub am wenigsten mochte. Mein Leben lang habe ich mich darauf verlassen, dass mich Grayson vorstellt. Und später als Teenager habe ich mich auf Will verlassen. Selbst Gigi und Maisie, meine jüngeren Schwestern, können das besser als ich. Dennoch waren Vorstellungen die eine Sache, bei der sie mir mit meinem Mangel an sozialen Fähigkeiten nicht helfen konnten.
Es ist nicht so, als wüsste ich nicht, wie man ein Gespräch mit Menschen führt; ich weiß nur nie, wo ich anfangen soll. Wenn ich einmal angefangen habe, mache ich mir das ganze Gespräch über Sorgen, ob ich einen guten ersten Eindruck mache. Ich würde mich nicht als schüchtern bezeichnen – nur habe ich mein Leben mit lauteren, dominanteren Persönlichkeiten verbracht, wodurch ich mich nie selbst herausfordern und in solchen Situationen selbstbewusster werden konnte.
Bücher eignen sich allerdings wunderbar, um einen Ausgleich zu schaffen, und ich muss nur daran denken, dass alle mit dem gleichen Ziel hierherkommen.
Zum Glück ist er so sehr in den Klappentext seines Buches vertieft, dass er meine kleine Krise in Sachen Selbstsicherheit in der Ecke des Raumes nicht bemerkt. Je mehr ich ihn anstarre – um herauszufinden, was ich sagen soll, nicht, um ein Creep zu sein –, desto mehr habe ich das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen.
Wie aufs Stichwort lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, um sich nach einem weiteren Cookie vom Tisch auszustrecken, und der Saum seines T-Shirts rutscht so weit nach oben, dass ein Streifen hellbraune Haut an seinem festen, definierten Bauch sichtbar wird.
Ich weiß, dass er keiner meiner Nachbarn ist, denn ich bin von älteren Menschen umgeben.
Und er ist nicht in meinem Studiengang, weil ich jemanden wie ihn niemals vergessen würde.
Zu Partys gehe ich nicht, also kann ich die ausschließen.
Er ist mit niemandem hier, also scheint er auch nicht der feste Freund von jemandem zu sein.
Vielleicht ist er ein Model, das ich auf einem Plakat gesehen habe. Die Gesichtszüge dafür hat er, mein Gott. Kantig und doch auch weich, ein Oxymoron, ich weiß, doch bei seinem Gesicht ergibt es Sinn, ich schwör’s. Kurze rotbraune Locken. Dunkle Wimpern umgeben seine braunen Augen und flattern auf seine Wangen, während er mich ansieht. Volle Lippen, die ein entspanntes Lächeln ziert. Moment mal … während er mich ansieht.
Während. Er. Mich. Ansieht.
Wieder könnte es nur meine Vorstellungskraft sein und/oder der Kaffee, aber ich schwöre, er grinst. Noch nie in meinem Leben habe ich so schnell den Blickkontakt abgebrochen.
»Hi!«, stoße ich aus, während ich über den Parkettboden auf ihn zueile. »Willkommen im Buchclub!«
Mein Gott, aus nächster Nähe ist er noch hübscher. Was meine Model-Theorie nur bestärkt. Als ich bei ihm ankomme, beschließe ich in letzter Sekunde, ihm nicht die Hand entgegenzustrecken. Das würde nämlich nicht nur bedeuten, dass ich das auch bei jeder anderen Person hier machen müsste, es wäre außerdem auch einfach seltsam.
Langsam wird mir bewusst, dass mein Verstand aus einem tiefen Schlaf erwacht und sich gerade erst daran erinnert, dass andere Männer existieren, und einige von ihnen sehen eben aus wie Models. Ich schenke ihm mein herzlichstes Lächeln, und Gott, ich habe wirklich das Gefühl, dass ich ihn irgendwoher kenne. »Hi, ich bin Halle.«
»Henry.«
»Hi.« Das hast du schon gesagt. »Kennen wir uns?«
»Nein. Ich würde mich an dich erinnern«, sagt er. Wie ironisch, denn dasselbe habe ich definitiv gerade über ihn gedacht, aber trotzdem kann ich ihn nicht einordnen. »Brauchst du Hilfe bei den Stühlen?«
»Darin bin ich geübt, keine Sorge.«
Henry ignoriert mich und steht auf, um die Stühle trotzdem umzustellen, also tue ich es ihm gleich, auch wenn es eigentlich ohnehin meine Aufgabe war. Hier oben ist es so still, und ich habe das Gefühl, dass ich mich noch nie so schlecht dabei angestellt habe, jemanden in einer Gruppe willkommen zu heißen. Sag was, Halle. »Na? Großer Fan von Liebe?«
»Bittest du mich um ein Date?«, fragt er, und der Stuhl in meiner Hand rutscht weg und knallt auf den Boden.
»Was? Nein!«, sage ich, und meine Stimme hebt sich um einige Oktaven.
»Schade.« Wenn ich nicht schon rot war, bin ich es jetzt definitiv. »Klang irgendwie so, als würdest du mich anbaggern.«
Es gibt Tomaten, die niemals so rot werden, wie ich es gerade bin. »Oh Mist, tut mir leid. Ich habe nur nach deinem bevorzugten Genre gefragt.«
Er geht in den Lagerraum, um mehr Stühle herauszuholen, und sieht über seine Schulter zu mir. »Ich habe keins. Ich bin eher praktisch veranlagt.«
»Oh, also hoffst du, dass du dich mit Liebesromanen anfreundest?«
»Nein«, sagt er und zieht einen Stapel Stühle heraus, als würden sie absolut nichts wiegen.
»Verstehe.« Eigentlich verstehe ich gar nicht. Wahrscheinlich habe ich noch nie so wenig verstanden. Ich setze mich auf den Stuhl, auf dem er gerade saß, und nehme ein Hardcover vom Stapel neben dem Stuhlbein. Es ist ein Buch über Leadership. »Wenn du einem Buchclub beitreten möchtest, in dem Sachbücher besprochen werden, tut es mir sehr leid. In diesem geht es nur um Liebesromane. Du könntest dich für den Club bei The Next Chapter anmelden – den leite ich nicht mehr, aber dort werden Genres und Themen rotiert. Die neue Leiterin ist sehr nett.«