Degrowth/Postwachstum zur Einführung - Matthias Schmelzer - E-Book

Degrowth/Postwachstum zur Einführung E-Book

Matthias Schmelzer

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Beschreibung

Degrowth oder Postwachstum ist ein dynamisches Forschungsfeld und Bezugspunkt vielfältiger sozial-ökologischer Bewegungen. Postwachstum ist nicht nur eine grundlegende Kritik an der Hegemonie des Wirtschaftswachstums. Es ist auch eine Vision für eine andere Gesellschaft, die angesichts von Klimawandel und globaler Ungleichheit Pfade für grundlegende Gesellschaftsveränderung skizziert. Dieser Band macht erstmals den Versuch einer systematischen Einführung. Er diskutiert die Geschichte von Wachstum und Wirtschaftsstatistiken und rekonstruiert die zentralen Formen der Wachstumskritik: ökologische, soziale, kulturelle, Kapitalismus-, feministische, Industrialismus- sowie Süd-Nord-Kritik.

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Matthias Schmelzer/Andrea Vetter

Degrowth/Postwachstum zur Einführung

Wissenschaftlicher BeiratMichael Hagner, ZürichIna Kerner, KoblenzDieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2019 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: picture alliance/Everett Collection/Derek Storm

E-Book-Ausgabe Dezember 2023

ISBN 978-3-96060-131-9

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-96060-307-8

3., unveränderte Auflage 2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael HagnerIna KernerDieter Thomä

Inhalt

Vorwort

1.Einleitung

2.Wachstum

3.Wachstumskritik

3.1 Ökologische Kritik

3.2 Sozial-ökonomische Kritik

3.3 Kulturelle Kritik

3.4 Kapitalismuskritik

3.5 Feministische Kritik

3.6 Industrialismuskritik

3.7 Süd-Nord-Kritik

3.8 Wachstumskritik außerhalb der Postwachstumsdiskussion

4.Postwachstum

4.1 Definitionen und Strömungen

4.2 Zieldimensionen

4.3 Vorschläge

4.4 Transformationsstrategien

5.Postwachstum kritisch betrachtet

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über die Autoren

Vorwort

Die Entstehung dieses Buches wurde ermöglicht durch zwei Institutionen, die jeweils – wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise – prägend sind für die Diskussion um Postwachstum und Degrowth. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig – ein selbstorganisiertes Kollektiv an der Schnittstelle von NGOs und sozialen Bewegungen – hat nicht nur die Bildungsarbeit zum Thema Wachstumskritik maßgeblich mitgeprägt und bezieht immer wieder öffentlich Position zu Wachstum und Kapitalismus. Mit der internationalen Degrowth-Konferenz 2014 sowie den Degrowth-Sommerschulen in den folgenden Jahren hat es auch die größten Veranstaltungen zu Degrowth organisiert, die es bisher gab. Das DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena wiederum hat in den Jahren 2013 bis 2019 die wissenschaftliche Diskussion um Postwachstum maßgeblich geprägt und vorangebracht. Auch wenn der Fokus auf dynamische Stabilisierung und Demokratie teilweise quer zur besonders von Strömungen aus den romanischen Ländern geprägten internationalen Degrowth-Diskussion lag, sind die analytische Schärfe und vor allem die sozialwissenschaftliche Vernetzung, die dieser Forschungszusammenhang ermöglicht hat, besonders. Für ihre großzügige ideelle und finanzielle Unterstützung danken wir den Menschen in beiden Zusammenhängen. Wir arbeiten beide beim Konzeptwerk Neue Ökonomie und haben vom Kolleg Postwachstumsgesellschaften die Möglichkeit erhalten, in der ersten Jahreshälfte 2018 in Jena an diesem Buch zu arbeiten. Ohne diese doppelte Unterstützung würde es dieses Buch nicht geben. Postwachstumsdenker weisen im Anschluss an feministische Wissenschaftstheorie darauf hin, dass es keine »neutrale« Wissenschaft geben kann, sondern dass Erkenntnisproduktion immer standortgebunden erfolgt. In diesem Sinne ist diese Einführung von zwei politisch aktiven Wissenschaftlerinnen verfasst, die die Diskussion seit 2010 selbst aktiv mitbegleiten. Trotzdem haben wir uns um eine kritische, aber eben auch engagierte Einordnung und Diskussion bemüht – und hoffen, das ist uns gelungen.

Viele Menschen haben die Entstehung dieses Buches möglich gemacht und durch intensive und oft kritische Diskussionen begleitet. Besonders herzlich danken möchten wir Dennis Eversberg und Eva Mahnke, die jeweils das vollständige Manuskript gelesen und kommentiert haben und deren wertvolle Anregungen an vielen Stellen Spuren hinterlassen haben. Des Weiteren danken wir für die kritische Kommentierung von einzelnen Kapiteln, den ersten Konzeptentwürfen oder Vorträgen unter anderen Frank Adler, Ulrich Brand, Hubertus Buchstein, Michaela Christ, Silke van Dyk, Christoph Gran, Friederike Habermann, Lina Hansen, Martin Krobath, Nina Khan, Cornelia Kühn, Steffen Lange, Steffen Liebig, Christoph Sanders, Tilman Santarius, Ulrich Schachtschneider, Fabian Scheidler, Bernd Sommer und Nina Treu. Nicht zuletzt danken wir auch dem Junius Verlag und seinem wissenschaftlichen Beirat: Steffen Herrmann für die gute Betreuung und Ina Kerner für den Impuls, dieses Buch überhaupt zu schreiben. Alle Fehler und Ungenauigkeiten, die im Buch noch zu finden sind, haben selbstverständlich wir Autorinnen alleine zu verantworten.

Wir hoffen, dass diese Einführung eine Inspiration sein kann, über unser Heute und Morgen anders nachzudenken und weiter nach Wegen jenseits des Wachstums zu forschen.

Berlin, im November 2018

Matthias Schmelzer und Andrea Vetter

Vorwort zu zweiten Auflage

Dass schon nach wenigen Montaen die erste Auflage vergriffen ist, freut uns und bestätigt unsere Einschätzung, dass es in Zeiten wie diesen einen neuen Kompass braucht, der die Richtung gesellschaftlicher Entwicklungen anzeigen kann. Klimagerechtigkeit ist im Laufe des Jahres 2019 dank der streikenden Schülerinnen medial sehr viel präsenter geworden – nun gilt es, auch »nicht-reformistische Reformen« einzuleiten, die eine tatsächliche Wende in einigen Politikfeldern bedeuten könnten. Und, auch darauf macht diese Einführung aufmerksam, der Klimanotstand ist nur ein Teil der viel breiteren ökologischen Krise, wie auch die Beschreibung dieser Krise nur eine von sieben Kritikformen ist, die das Postwachstumsdenken speisen. Die Verwobenheit der Problemlagen im Blick zu behalten und soziale, ökologische, inter- und intragenerationale Gerechtigkeitsfragen zusamenzudenken, statt sie gegeneinander auszuspielen – auch das ist ein Anliegen dieses Buchs.

Berlin, im August 2019

Matthias Schmelzer und Andrea Vetter

1. Einleitung

Warum ist Wirtschaftswachstum, selbst »grünes Wachstum«, ökologisch nicht nachhaltig? Wie können Gesellschaften gedacht werden, in denen mit weniger Rohstoffverbrauch ein gutes Leben für alle Menschen erreicht wird? Sind die Volkswirtschaften in Ländern des globalen Nordens zu groß? Wie können die Grundstrukturen moderner Gesellschaften so verändert werden, dass sie ohne Wirtschaftswachstum stabil sind? Ist weiteres Wirtschaftswachstum in reichen Ländern überhaupt wünschenswert? Und was bedeuten diese Fragen für unsere Vorstellungen eines guten Lebens?

Unter dem Stichwort »Degrowth« oder »Postwachstum« hat sich seit 2008 ein neues internationales Feld der Debatte und Forschung etabliert, das sich mit diesen Fragen beschäftigt. Seither sind hunderte Artikel und eine Vielzahl an Themenheften und Sammelbänden publiziert worden. Als wissenschaftliches Feld weist Postwachstum einige Besonderheiten auf. Wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatten sind in diesem Feld eng verzahnt, wissenschaftliche Beiträge beziehen sich direkt auf gesellschaftspolitische Kontroversen. Daher zeichnen sich auch die großen internationalen Degrowth-Konferenzen, bei denen seit 2008 alle zwei Jahre der Stand der Debatte sichtbar wird, durch starke aktivistische Elemente und eine enge Verbindung zu sozialen Bewegungen und konkreten Projekten aus. Die wissenschaftliche Diskussion selbst ist darüber hinaus sehr interdisziplinär ausgerichtet – wichtige Argumente und Debatten kommen neben vielen anderen Disziplinen aus der Ökonomik, den Umwelt-, aber auch den Sozial- und Geisteswissenschaften.

Das französische »Décroissance«, mit dem die Debatte eröffnet wurde, ist wie die Übersetzungsversuche »Degrowth« oder »Postwachstum« aber auch ein provokanter politischer Slogan. Er stellt die Selbstverständlichkeit von Wachstum als politischem Ziel infrage und macht Vorschläge für theoretische und praktische Alternativen. Postwachstum führt dabei vielfältige und teils widersprüchliche Strömungen und Positionen zusammen. Es ist ein begrifflicher Rahmen, der in den letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen hat, Nachhaltigkeits- und Entwicklungsdiskussionen zu politisieren sowie wachstums- und technikfokussierte Zukunftsnarrative zu hinterfragen, die Suche nach grundlegenden und systemischen Alternativen zu stärken und vielfältige Akteure aus sozialen Bewegungen und alternativ-ökonomischen Strömungen zusammenzuführen.

In diesem Band wagen wir erstmals den Versuch einer systematischen Einführung in dieses dynamische Feld. Es ist eine Einführung in die inter- und transdisziplinäre wissenschaftliche Debatte um Wachstumskritik, Postwachstum und Degrowth, die aufgrund der Besonderheit des Feldes jedoch nicht von der damit zusammenhängenden politischen Debatte zu trennen ist. Das bekannteste internationale Einführungswerk zu Degrowth, das 2016 erschienene Degrowth-Handbuch, ist durch seinen Charakter einer Sammlung unverbundener Einzeleinträge keine systematische Einführung, sondern ein vielschichtiger und lexikonartiger Einblick in laufende Kontroversen (D’Alisa et al. 2016). Daneben gibt es kurze Einführungen aus länderspezifischen Blickwinkeln (Bayon et al. 2010; Flipo 2017; Latouche 2015; Pallante 2011). In Deutschland erschienene einführende Werke beschäftigen sich entweder vor allem mit der Wachstumskritik (Ax/Hinterberger 2013; Lorenz 2014; Nicoll 2016), mit spezifischen Debatten wie dem guten Leben, der imperialen Lebensweise oder mit bestimmten Aspekten von Degrowth oder Postwachstumspolitiken (z.B. Acosta/Brand 2018; Adler/Schachtschneider 2017; AK Postwachstum 2016; Brand/Wissen 2017; Diefenbacher et al. 2016; Muraca 2014; Paech 2012; Schmelzer/Passadakis 2011; Schneidewind/Zahrnt 2013; Seidl/Zahrnt 2010). Allerdings weisen diese deutschen Veröffentlichungen meist nur wenige Bezüge zur internationalen, vor allem englischsprachigen Degrowth-Debatte auf. Ein etwas umfassenderes Einführungswerk in die internationale Diskussion hat erst Giorgos Kallis 2018 vorgelegt. Er bezieht sich darin aber wiederum nicht auf deutschsprachige Veröffentlichungen und bietet keine Systematisierung der verschiedenen Strömungen und Positionen der gesamten Postwachstumsdiskussion. In diesem Buch haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, diese Diskussionsstränge für die Leserin1 zu verweben, um so einen umfassenden Debatteneinblick zu erhalten.

Postwachstum bzw. Degrowth – so unsere Argumentation – ist zum einen eine grundlegende Kritik an der Hegemonie des Wirtschaftswachstums, in der sich auf produktive Art und Weise unterschiedliche Stränge der Wachstums- und Gesellschaftskritik verbinden. Andererseits ist Postwachstum ein Vorschlag – eine Vision oder Utopie – für eine andere Gesellschaft und die systemische Transformation, die diese voraussetzt. Dabei machen wir insbesondere die historische Einbettung von Wirtschaftswachstum als auch Wachstumskritik deutlich. Explizit betonen wir auch die enge Verbindung zwischen Postwachstumsdiskussionen und marxistischen und ökofeministischen Debatten, die in anderen Überblicken verschwiegen oder unzureichend beleuchtet werden. Und wir verzahnen die wissenschaftliche mit der bewegungspolitischen Diskussion. Durch verschiedene Systematisierungen – mit Blick auf Stränge und Traditionen der Wachstumskritik, politisch-strategische Strömungen des Postwachstumsspektrums, Zieldimensionen von Postwachstum, Vorschläge für eine Postwachstumsgesellschaft und in Bezug auf Ansätze für die Transformation – hoffen wir, dazu beitragen zu können, die Diskussion als ganze besser miteinander zu verschränken und so voranzubringen.

Wir denken, dass es für ein gründliches Verständnis von Degrowth oder Postwachstum unabdingbar ist, diese verschiedenen Traditionsstränge und Strömungen im Blick zu behalten, um einerseits zu einer eigenen Position im Diskurs zu finden und andererseits der Gefahr verkürzter Wachstumskritik zu entgehen. Die Besonderheit der Postwachstumsdiskussion ist es, soziale, kulturelle und ökologische Fragen zusammenzudenken und auf diese Weise zu neuen Gesellschaftsvorstellungen zu kommen, die Antworten auf die drängenden Fragen des 21. Jahrhunderts geben könnten.

Im Folgenden werden wir in dieser Einleitung nach einer kurzen Begriffsklärung zunächst ausführen, was Postwachstum einerseits als Kritik und andererseits als Vision und Transformation bedeutet. Dabei umreißen wir einige der zentralen Argumente dieses Buches. Danach geben wir einen kurzen Überblick über die aktuellen Forschungen zu Postwachstum und Degrowth und skizzieren abschließend die Entwicklung der Postwachstumsdebatte und -bewegung.

Begriffliche Eingrenzungen

In dieser Einführung benutzen wir den deutschen Begriff »Postwachstum« so, dass er die internationale Diskussion um »Degrowth« mit einschließt. Daher verwenden wir beide Begriffe weitgehend synonym. Wir tun dies einerseits, weil es keine deutsche Übersetzung für »Degrowth« gibt – Begriffe wie »Wachstumsrücknahme« oder »Entwachstum« sind sperrig und haben sich nicht durchgesetzt. Und wir denken, dass es wenig Sinn ergibt, dauerhaft mit einem englischen Begriff zu arbeiten. In einigen deutschsprachigen Buchveröffentlichungen der letzten Jahre wurde mit »Degrowth« statt »Postwachstum« gearbeitet, um sich von bestimmten Konzepten der »Postwachstumsgesellschaft« (Zahrnt/Seidl 2010) oder »Postwachstumsökonomie« (Paech 2012) abzusetzen und die Verankerung in internationalen und kapitalismuskritischen Debatten zu betonen (Acosta/Brand 2018; Eversberg/Schmelzer 2018; Kallis et al. 2016; Konzeptwerk et al. 2017). Da es in diesem Buch aber um eine Einführung in den breiteren Diskurs geht, nutzen wir beide Begrifflichkeiten. Außerdem bietet der Begriff »Postwachstum« auch inhaltlich gewisse Vorteile. Er ist etwas offener als Degrowth, weil er keine Dichotomie zu »Wachstum« aufmacht, sondern auf eine Zukunft jenseits von Wirtschaftswachstum und Steigerung fokussiert.

Postwachstum und Degrowth sind keine deskriptiven Konzepte, die einfach nur Gesellschaften beschreiben, die nicht (mehr) wachsen. Sie sind nicht dazu da, die Stagnationstendenzen in spätkapitalistischen Industrieländern zu beschreiben – das, was in der Ökonomie als »säkulare Stagnation« oder in der Soziologie als »regressive Moderne«, »Abstiegsgesellschaften« oder eben als real existierende, krisengeschüttelte und zu neofeudaler Ausbeutung tendierende »Postwachstumsgesellschaften« charakterisiert wurde (Dörre et al. 2009; Gordon 2016; Nachtwey 2016; Zinn 2015). Postwachstum, wie es in der internationalen und deutschsprachigen Degrowth- bzw. Postwachstumsdiskussion eingeführt wurde, ist ein explizit normatives Konzept – es geht um die Konturen eines wünschenswerten, demokratischen Transformationsprozesses. Zur spezifischen Form der anzustrebenden Gesellschaftstransformation gibt es sehr unterschiedliche Vorschläge und Debatten, aber auch zentrale Gemeinsamkeiten, die wir in diesem Buch herauszuarbeiten versuchen.

In dieser Einführung konzentrieren wir uns auf die Kerndebatte zu Postwachstum, wie sie sich im Wesentlichen auf den internationalen Degrowth-Konferenzen zeigt. Um den Gegenstand dieser Einführung deutlicher zu umreißen, weisen wir an dieser Stelle auf die Ränder der hier behandelten Postwachstumsdiskussion hin. Besonders in der englischsprachigen Debatte wird »post-growth« teilweise als Gegenkonzept zu »degrowth« diskutiert: »Postgrowth« nehme demnach eine agnostische Haltung gegenüber dem Bruttoinlandsprodukt ein (teilweise wird auch in Anlehnung an A-theismus von »a-growth« gesprochen), während »degrowth« die Notwendigkeit der Reduktion der Wirtschaftsgröße in den Vordergrund stelle. Diese Debatte ist ausführlich geführt worden (van den Bergh/Kallis 2012; siehe auch Kap. 4). Die dem zugrunde liegende begriffliche Unterscheidung macht im deutschsprachigen Kontext jedoch wenig Sinn, wo von Anfang an sowohl a-growth-nahe (Seidl/Zahrnt 2010) als auch stark suffizienzorientierte (Paech 2012) sowie Degrowth-nahe Positionen (Schmelzer/Passadakis 2011) sämtlich mit dem Begriff »Postwachstum« gearbeitet haben. Wir verstehen Postwachstum hier nicht als Gegensatz zu Degrowth, sondern Postwachstum schließt die Forderung nach einer Reduktion der materiellen Größe der Wirtschaft mit ein.

Postwachstum ist nicht gleich Wachstumskritik, die sehr viele verschiedene Formen annehmen kann. Wachstumskritische Positionen tauchen nicht nur in den Postwachstumsdiskussionen auf, die wir in diesem Buch vorstellen, sondern reichen von eher regierungsnaher und reformorientierter Wachstumsskepsis über konservative Wachstumskritik bis hin zu ökofaschistischen Positionen, wie wir im dritten Kapitel darstellen (für Überblicke siehe Muraca 2014; Muraca/Schmelzer 2017). Das liegt nicht zuletzt daran, dass »Wachstum« inhaltlich und politisch unterbestimmt ist und das diffuse Unbehagen an gefühlt zunehmenden Steigerungszwängen mit fast allen politischen Grundhaltungen verknüpft werden kann. So erklärt sich auch, warum laut einer repräsentativen Umfrage 78 Prozent der Bevölkerung in Deutschland davon ausgehen, dass es natürliche Grenzen des Wachstums gibt, die die industrialisierte Welt längst erreicht oder schon überschritten hat. 91 Prozent stimmen gar der Aussage zu: »Wir müssen Wege finden, wie wir unabhängig vom Wirtschaftswachstum gut leben können.« (Eversberg 2018) Die politischen Haltungen und Motive hinter diesen Aussagen sind aber sehr unterschiedlich – und können fundamental von den Grundgedanken der Postwachstumsdebatte abweichen.

Postwachstum als Fluchtpunkt verschiedener Wachstumskritiken

Postwachstum lässt sich verstehen als der Versuch, unterschiedliche Stränge der Wachstums- und Gesellschaftskritik zusammenzudenken und nach Alternativen zu suchen, die sich hieraus ergeben. Die vielfältigen wachstumskritischen Argumente, die in der Postwachstumsdiskussion eine Rolle spielen, lassen sich analytisch in sieben Stränge der Gesellschafts- und Wachstumskritik unterscheiden: 1. ökologische, 2. sozial-ökonomische, 3. kulturelle, 4. Kapitalismus-, 5. feministische, 6. Industrialismus- sowie 7. Süd-Nord-Kritik. Sie tauchen in der Literatur und in Diskussionen nicht immer alle zusammen auf. Sich auf jeweils spezifische Stränge und Traditionen der Wachstumskritik zu berufen ermöglicht es, unterschiedliche Strömungen von Postwachstum voneinander zu unterscheiden. Das dritte Kapitel dieses Buches ist der ausführlichen Darstellung der Wachstumskritiken gewidmet.

Wirtschaftswachstum zerstört menschliche Lebensgrundlagen und kann nicht ökologisch nachhaltig gestaltet werden, das ist die Kernaussage der ökologischen Wachstumskritik, die in allen Strömungen der Postwachstumsdebatte eine zentrale Rolle spielt. Sie kritisiert einen Technikoptimismus, der mit dem Versprechen, Wachstum und Umweltverbrauch zu entkoppeln, seit den 1990er Jahren den Nachhaltigkeitsdiskurs beherrscht. Die ökologisch notwendige absolute Reduktion des Ressourcen- und Materialverbrauchs, so ein Kernargument dieser grundlegenden Kritik am »grünen Wachstum«, sei nicht möglich, wenn gleichzeitig die Wirtschaft weiter wächst. Deshalb setze Nachhaltigkeit neben technologischem Fortschritt auch eine Verringerung der biophysikalischen »Größe« der Wirtschaft und daher ein Ende weiteren Wirtschaftswachstums in den Industrieländern voraus.

Die sozial-ökonomische Kritik, die zweite der sieben Formen der Gesellschafts- und Wachstumskritik, argumentiert mit einem anderen Fokus: Weiteres Wirtschaftswachstum im globalen Norden steigere die Lebensqualität nicht mehr, sondern stehe sogar dem Wohlergehen und der Gleichheit aller entgegen. Die sozialen und ökologischen Kosten von Wachstum seien ab einem bestimmten individuellen oder gesellschaftlichen Einkommensniveau höher als dessen Vorteile. Diese These wird vor allem durch wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen gestützt und ist damit sehr anschlussfähig an internationale politik- und wirtschaftswissenschaftliche Debatten um Wohlstand und Lebensqualität.

Die dritte Kritikform, die kulturelle Kritik, beschäftigt sich mit Entfremdung und den Steigerungslogiken, die Menschen verinnerlicht haben. Die kulturelle Kritik fragt danach, inwiefern Menschen durch Wachstumsgesellschaften entfremdet arbeiten oder leben müssen und ob es subjektive Wachstumsgrenzen geben kann. Sie vollzieht nach, wie Menschen von Steigerungslogiken geformt werden und wie sie als Subjekte selbst zu Wachstumstreibern werden. Diese Motive sind – mit etwas unterschiedlichem Fokus – vor allem in den romanisch- und deutschsprachigen Diskussionen prominent, sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in den öffentlichen Medien.

Viertens argumentiert die Kapitalismuskritik, dass Wachstum von kapitalistischer Ausbeutung und Akkumulation abhänge und nicht unabhängig von diesen verstanden und verändert werden kann. Deshalb müsse eine emanzipatorische Postwachstumsgesellschaft eine postkapitalistische Gesellschaft sein. Diese Sichtweise gewinnt in den internationalen Degrowth-Diskussionen zunehmend an Prominenz und vereint akademische Strömungen mit aktivistischen linken Bewegungen.

Fünftens hebt die feministische Wachstumskritik hervor, dass das bisherige Wachstumsregime auf einer Abwertung und Ausbeutung von Reproduktionsarbeit wie Pflege, Erziehung, Haus- und Gartenarbeit basiere, die meist »weiblich« konnotiert ist und vor allem von Frauen2 erledigt wird. Wachstum profitiere von ungleichen Geschlechterverhältnissen und bringe diese immer wieder neu hervor. Dabei sind vor allem (öko-)feministische Diskussionen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen der Ausbeutung von »weiblicher« Arbeit und jener von »Natur« beschäftigen, für Postwachstum besonders einschlägig. Diese Kritikform wurde und wird trotz ihrer Bedeutung für die Debatte in vielen Darstellungen bislang nur unzureichend rezipiert.

Die Industrialismuskritik zeigt sechstens, dass Wirtschaftswachstum auf Infrastrukturen und Techniken basiert, die nicht »neutral« für ein anderes Gesellschaftssystem übernommen werden können, sondern selbst bestimmte Formen von Herrschaft bedingen. Sie ist eine für viele Formen der Postwachstumsdiskussion grundlegende Kritik, die Postwachstumsentwürfe häufig von anderen linken und emanzipatorischen Gesellschaftsentwürfen unterscheidet.

Die Süd-Nord-Kritik schließlich verdeutlicht siebtens, dass Wirtschaftswachstum in den Ländern des globalen Nordens notwendig mit einem peripheren Status der Länder des globalen Südens zusammenhängt – als abhängige Rohstofflieferanten und zur Ausbeutung billiger Arbeitskräfte. Daher, so das Argument, könne die imperiale Lebensweise der Wachstumsgesellschaften auch nicht verallgemeinert werden. In ihrer radikalsten Form hinterfragt diese Kritik Begriffe wie »Zivilisation«, »Entwicklung« und »Fortschritt« selbst. Die Süd-Nord-Kritik hat zentral die Anfänge der Décroissance-Bewegung in Frankreich inspiriert und ist in verschiedenen Ausprägungen bestimmend für viele aktivistische Formen von Postwachstum über Ländergrenzen hinweg.

Die Besonderheit und das teilweise noch weiter zu entwickelnde Potenzial der Postwachstumsdiskussion bestehen darin, diese diversen Kritikformen aufzugreifen, anzuerkennen, in gegenseitigen produktiven Austausch zu bringen und als Teile eines gemeinsamen Diskursraums zu begreifen. Dieses Buch ist daher nicht nur eine Einführung in die Vision von Postwachstum und Degrowth, sondern notwendigerweise auch eine Einführung in die Kritiken des Wachstums und der Steigerungsdynamiken moderner Gesellschaften.

Postwachstum als Vision

Auch wenn die verschiedenen Formen der Wachstumskritik eine zentrale Basis der Postwachstumsdiskussion darstellen, geht diese deutlich über sie hinaus. Es geht jenseits der Kritik um den Versuch, »konkrete Utopien« (Muraca 2015) zu entwerfen und diese mit widerständigen Praktiken und alternativen Lebensweisen im Hier und Jetzt zu verbinden. Postwachstum ist dabei ein Dachbegriff, der einen Rahmen bietet für Menschen, die sich mit dem Zusammenspiel der oben vorgestellten sieben Kritikformen und möglichen Antworten darauf auseinandersetzen – sowohl theoretisch als auch praktisch (Demaria et al. 2013). Das vierte Kapitel dieses Buches ist daher einem Überblick zu zentralen Zieldimensionen, politischen Vorschlägen und Transformationsstrategien für eine Postwachstumsgesellschaft gewidmet.

Im Kern geht es bei Postwachstumsvorschlägen darum, die dominante ökonomische Logik und das ökonomische Kalkül – also die Frage, ob es sich in Geld rechnet – als in vielen Kontexten alleinige Entscheidungsgrundlage zurückzudrängen. Ziel ist damit ebenso die Repolitisierung und Demokratisierung von gesellschaftlichen Institutionen wie von Macht- und Eigentumsverhältnissen und die Erkämpfung von selbstbestimmten Freiräumen, um dadurch die gesellschaftliche Dominanz und Logik »der Ökonomie« zu verlassen (Fournier 2008).

Dabei bezieht sich Postwachstum ausdrücklich auf die frühindustrialisierten Länder des globalen Nordens, da dort der Umweltverbrauch – der stark von Vermögen und Einkommen abhängt – mit Abstand am größten ist und weil die frühindustrialisierten Länder auch historisch den größten Teil der ökologischen Zerstörung zu verantworten und gleichzeitig am meisten durch Wirtschaftswachstum profitiert haben. Soziale Bewegungen aus dem globalen Süden sind dabei jedoch wichtige Bündnispartner (siehe auch Kap. 3.7).

In der Postwachstumsdiskussion gibt es unterschiedliche politisch-strategische Strömungen. Während wir bei der Wachstumskritik, der einen Seite der Postwachstumsdiskussion, von unterschiedlichen Strängen sprechen, die in der Postwachstumsdiskussion zusammenfließen, beschreiben wir die Unterschiede im Hinblick auf die Visionen und Transformationsvorstellungen als Strömungen. Wir unterscheiden fünf Strömungen der Postwachstumsdiskussion. Diese basieren jeweils auf bestimmten Kritikformen, haben unterschiedliche praktische und gesellschaftliche Verankerungen und stellen je eine spezifische Schwerpunktsetzung in den Vordergrund. In vielem allerdings überschneiden sie sich auch stark – unsere Einteilung ist also nützlich für eine erste Übersicht, aber nicht als absolute Abgrenzung zu verstehen.

Die erste dieser fünf Strömungen, die institutionenorientierte, zielt vor allem auf die Überwindung der politischen Wachstumsfixierung und die Umgestaltung bisher wachstumsabhängiger und -treibender Institutionen durch politische Reformen und Suffizienzpolitiken, aber auch auf eine grundlegend andere Makroökonomie ab. Zweitens fokussiert die suffizienzorientierten Strömung vor allem auf individuelle Verhaltensänderungen. Ziel ist es, durch das Vorleben von Alternativen wie die Etablierung lokaler Selbstversorgung, durch Reparieren und Selbermachen und »freiwillige Einfachheit« den individuellen Ressourcenverbrauch radikal zu reduzieren. Die commonsorientierte oder alternativökonomische Strömung zielt drittens ebenfalls auf Suffizienz, also Selbstgenügsamkeit. Sie fokussiert dabei jedoch stärker auf kollektive Organisationsformen wie den Aufbau alternativer Infrastrukturen, solidarischer Kooperativen und nicht-kapitalistischer Formen des gemeinschaftlichen Produzierens und Auskommens. Viertens setzt sich die feministische Strömung, vor allem der Ökofeminismus, besonders mit dem Zusammenhang zwischen kapitalistischer Ausbeutung von (»weiblicher«) Reproduktionsarbeit, »Natur« und der (postkolonialen) Ökonomien des globalen Südens auseinander. Sie stellt Sorgearbeit und das Lebensnotwendige ins Zentrum ihrer Kritik. Die kapitalismus- und globalisierungskritische Strömung betont ausgehend von der Notwendigkeit der Überwindung kapitalistischer Wachstumszwänge und der damit zusammenhängenden Machtdynamiken schließlich fünftens, dass eine emanzipatorische Postwachstumsgesellschaft grundlegende strukturelle Veränderungen nach sich zieht – von der Arbeitsgesellschaft bis hin zu den vorherrschenden Eigentumsformen. Diese seien nicht ohne heftige gesellschaftliche Konflikte und Auseinandersetzungen möglich.

Trotz dieser verschiedenen Ausrichtungen der Strömungen gibt es zentrale Gemeinsamkeiten, die so etwas wie den Kern der Postwachstumsperspektive darstellen. Ausgehend von bisherigen Definitionen (siehe Kap. 4.1.) und unserer eigenen systematisierenden Analyse existierender Strömungen schlagen wir vor, diese als drei Zieldimensionen von Postwachstum zu fassen, die es in einem demokratischen Transformationsprozess zu erreichen gilt:

1. Globale ökologische Gerechtigkeit: Eine Postwachstumsgesellschaft sorgt langfristig weltweit für den Erhalt der ökologischen Grundlagen für ein gutes Leben. Sie externalisiert nicht ihre Kosten in Raum und Zeit – sie ist nachhaltig und global verallgemeinerbar. Dabei wird in der Postwachstumsdebatte davon ausgegangen, dass die dafür notwendige radikale Verringerung des Durchsatzes an Materie, Energie und Emissionen in Gesellschaften des globalen Nordens nur durch eine Reduktion der Wirtschaftsleistung und einen tiefgreifenden Umbau von Produktion und Konsum möglich ist. Auch wenn es oft so verstanden wird: Wirtschaftliche Schrumpfung ist nicht das Ziel von Postwachstum, und ebenso wenig ist Postwachstum das Gegenteil von Wachstum. Die Reduktion von Produktion und Konsum ist vielmehr eine notwendige Konsequenz der Tatsache, dass es unmöglich ist, Wirtschaftswachstum von Materialdurchsatz – also dem Verbrauch von Rohstoffen und Energie – ausreichend zu entkoppeln. Die Wachstumsrücknahme muss dabei differenziert geschehen: Es geht um das selektive Wachstum – einige sagen lieber das Prosperieren oder »Blühen« – bestimmter zukunftsfähiger, sozialer und ökologischer Sektoren sowie Aktivitäten und den gleichzeitigen Rückbau jener Bereiche gesellschaftlicher Aktivität, die dies nicht sind (D’Alisa et al. 2016). Insgesamt zielt Postwachstum damit auf eine Deprivilegierung derjenigen ab, seien dies Menschen im globalen Norden oder die zunehmend an solchen Lebensweisen teilnehmenden Eliten des globalen Südens, die aufgrund der imperialen und nicht verallgemeinerbaren Lebensweise aktuell auf Kosten anderer leben.

2. Gutes Leben: Ziel einer Postwachstumsgesellschaft ist es, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Selbstbestimmung zu stärken und unter Bedingungen eines veränderten Stoffwechsels ein gutes Leben für alle Menschen zu ermöglichen. Unter welchen Bedingungen kann Reduktion so gelingen, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die in den letzten Jahrhunderten erkämpft worden sind, erhalten und ausgebaut werden? Dass diese Frage nach den Möglichkeiten einer »reduktiven Moderne« (Sommer/Welzer 2014) ausgesprochen komplex ist und weitreichende Auswirkungen hat, liegt auf der Hand. Dies gilt vor allem, wenn man berücksichtigt, wie umfassend die Produktions- und Lebensweise, die derzeit in den Industrieländern auch den sozialen Errungenschaften von der Demokratie bis hin zum Sozialstaat zugrunde liegt, mit Wirtschaftswachstum, mit gewaltförmiger Expansion, Herrschaft und Naturzerstörung verwoben und daher strukturell nicht-nachhaltig ist (Kap. 2 und 3). Postwachstumsvorschläge beschäftigen sich daher zum einen damit, wie ohne Wachstum soziale Gerechtigkeit gestärkt werden kann – durch Politiken der radikalen Umverteilung von Einkommen, Vermögen und Arbeit sowie durch eine für alle zugängliche umfassende Daseinsvorsorge. Zum anderen wird die Vertiefung demokratischer Prozesse angestrebt und die Ausweitung des Raums demokratischer Mitbestimmung in Richtung einer Vergesellschaftung zentraler Wirtschaftsbereiche und Wirtschaftsdemokratie angesprochen. Und schließlich geht es um die Suche nach einem umfassenden Verständnis eines guten und gelingenden Lebens, von dem das materielle Wohlbefinden nur ein Teil ist. Konzepte aus Postwachstumsdiskussionen dazu sind Zeitwohlstand, Konvivialität als positives Aufeinander-bezogen-Sein und Resonanz als »antwortende« Selbst- und Weltbeziehung.

3. Wachstumsunabhängigkeit: Die Institutionen und Infrastrukturen einer Postwachstumsgesellschaft werden so umgestaltet, dass sie nicht auf Wirtschaftswachstum und Steigerung angewiesen sind und diese auch nicht erzeugen. Denn Wachstumsgesellschaften sind strukturell wachstumsabhängig. Innerhalb von Wachstumsgesellschaften führt die Reduktion der Wirtschaftsaktivität – diskutiert als Rezession, Stagnation oder Depression – zu sozialen Kürzungen, Verarmung und weiteren Begleiterscheinungen kapitalistischer Krisen. Aber Postwachstum heißt gerade nicht – auch wenn dies oft missverständlich so interpretiert wird –, die Wirtschaft innerhalb der bestehenden wachstumsabhängigen Strukturen und Verteilungsverhältnisse zu schrumpfen. Vielmehr geht es um strukturelle gesellschaftliche Veränderungen, um die Überwindung der Wachstumsgesellschaft. Wachstumsabhängigkeiten wurden dabei in der Postwachstumsdiskussion der letzten Jahre vor allem auf vier Ebenen identifiziert und entsprechende Vorschläge zu deren Überwindung diskutiert: materielle Infrastrukturen und technische Systeme; gesellschaftliche Institutionen; mentale Infrastrukturen; und schließlich das Wirtschaftssystem als ganzes. Wachstumsunabhängigkeit heißt, dass die Gesellschaft nicht auf Wachstum und Steigerung angewiesen ist, um ihre zentralen Strukturen und ihre Funktionsweise zu reproduzieren. Wachstumsunabhängigkeit ist damit eine grundlegende Bedingung für gesellschaftliche Autonomie.

Dies, so unser Vorschlag, sind die drei Kernanliegen der Postwachstumsperspektive. Sie ermöglichen es auch, unterschiedliche Postwachstumsströmungen danach zu unterscheiden, wie stark sie einen oder mehrere dieser Punkte betonen oder eher vernachlässigen. Wir halten alle drei für zentral.

Postwachstumspolitiken und Transformationswege

Zahlreiche politische Vorschläge beschäftigen sich mit den vielfältigen Fragen, die sich aus diesen drei Zieldimensionen ergeben. Neben abstrakteren Zielbestimmungen zeichnet sich die Postwachstumsdiskussion durch vielfältige konkrete Vorschläge für »nicht-reformistische Reformen« (André Gorz) oder eine »revolutionäre Realpolitik« (Rosa Luxemburg) aus. Gemeint sind damit Politiken, die zwar an bereits bestehende Strukturen, Instrumente und Regelungen anknüpfen, aber besonders in ihrem Zusammenspiel über die kapitalistische, wachstumsorientierte Produktionsweise hinausweisen und Räume für deren Überwindung verteidigen und erweitern. Wir fokussieren auf politische Vorschläge in fünf Bereichen: Abwicklung, Demokratisierung der Wirtschaft, Technik, Arbeit und soziale Sicherung (Kap. 4.3).

1. Abwicklung: Zum einen geht es um Vorschläge zur gerechten Gestaltung des notwendigen Rück- und Umbaus weiter Bereiche von Produktion und Konsum. Aus Postwachstumsperspektive reicht es nicht aus, gemeinwohlorientierte, grüne und soziale Wirtschaftsakteure, -produkte oder -bereiche zu unterstützen. Es muss zusätzlich darum gehen, sich der Herausforderung zu stellen, jene Wirtschaftsaktivitäten, die nicht sozial und ökologisch verträglich umgebaut werden können, zurückzudrängen und abzuwickeln. Statt es dem Markt zu überlassen, welche Gesellschaftsbereiche expandieren und welche reduziert werden, soll diese Frage repolitisiert und demokratisch entschieden werden. So soll es beispielsweise zwar selektives Wachstum im Bereich der sozialen Infrastrukturen (z.B. öffentlicher Nahverkehr, Pflege oder Bildung) geben, ebenso den Ausbau einer ökologischen Kreislaufwirtschaft, dezentraler und erneuerbarer Energiequellen in Gemeineigentum sowie die Stärkung der Solidarischen Ökonomie. Gleichzeitig wird aber auch vorgeschlagen, jene Teile der globalisierten, profitorientierten, fossilistisch-industriellen Wirtschaft zurückzudrängen, die nicht dem Gemeinwohl dienen und nicht nachhaltig umgebaut werden können, z.B. die fossile Energiewirtschaft, der motorisierte Individualverkehr (vor allem in Städten), Flugverkehr, industrialisierte Landwirtschaft und Tierhaltung, Rüstungsindustrie, Werbung, Gentechnik sowie große Teile des globalisierten Handels und der Finanzindustrie. Als Mittel dafür werden unter anderem globale und nationale Obergrenzen für Ressourcen- und Landverbrauch sowie Emissionen diskutiert; aber auch Moratorien für neu geplante Megaprojekte oder Infrastrukturen; Konversion, gerechte Übergänge sowie Vergesellschaftung in Industriesektoren, die reduziert werden sollen; eine sozial-ökologische Steuerreform, die eher Naturverbrauch statt Arbeit besteuert; eine »offene Relokalisierung« oder Deglobalisierung der Wirtschaft.

2. Demokratisierung der Wirtschaft, Commoning und solidarische Ökonomie: Weitere Postwachstumspolitiken zielen darauf ab, die Formen des solidarischen Wirtschaftens, die schon heute als Kooperativen, als Gemeingüter bzw. Commons oder als gemeinwohlorientierte Unternehmen wirtschaften, zu verteidigen, auszubauen und politisch-rechtlich zu stärken. Wirtschaftliche Aktivitäten sollen an konkreten Bedürfnissen und am Gemeinwohl orientiert, wachstumsunabhängig, ohne Ausbeutung von Menschen und auf Basis herrschaftsarmer gesellschaftlicher Naturverhältnisse gestaltet werden. Und dies geht nur, wenn ökonomische Entscheidungen als grundlegend politische Entscheidungen verstanden werden, bei denen alle Betroffenen demokratische Mitspracherechte haben. Ein Weg dorthin ist die Ausweitung der Produktionsweisen, die auf Commons, also Gemeineigentum, beruhen. Um kleine und genossenschaftlich organisierte Betriebe und Kollektive der solidarischen Ökonomie zu stärken, sollen die Konkurrenzverhältnisse am Markt durch geänderte steuerrechtliche oder subventionsrechtliche Rahmenbedingungen verändert werden, wie das beispielsweise die Gemeinwohlökonomie fordert. Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie formuliert den Anspruch auf grundsätzliche Mitbestimmung der Arbeiterinnen über ihre Produkte. Vorschläge sind weiter eine demokratische Investitionslenkung und demokratische und kooperative Banken.

3. Konviviale Technik und demokratische Technikentwicklung: Auch wenn Postwachstum oft als technikfeindlich interpretiert wird (und es tatsächlich eine starke Technikskepsis im Postwachstumsspektrum gibt, siehe Eversberg/Schmelzer 2018), richten sich die konkreten Forderungen doch meist nicht gegen Technik per se. Gefordert werden vielmehr ein differenzierter Blick auf Technik und eine Demokratisierung der Technikentwicklung. Angesprochen ist hier die öffentliche Finanzierung von offenen, sozialen und ökologisch verträglichen Technologien. Dezentrale und verteilte Produktionsweisen können durch digitale Unterstützung lokale Produktion global ermöglichen. Kriterien wie Verbundenheit, Zugänglichkeit, Anpassungsfähigkeit, Bio-Interaktion und Angemessenheit sollen technische Entwicklung lenken, nicht marktorientiertes Gewinnstreben. Dies beinhaltet beispielsweise für Neuentwicklungen eine Open-Source-Lizenzierung als Regelfall sowie politische Moratorien auf Risikotechnologien.

4. Neubewertung und -verteilung von Arbeit: Da alle Stränge der Wachstumskritiken sich ganz essenziell um Arbeit drehen, ist Arbeit ein wichtiger Kristallisationspunkt der Postwachstumsdebatte. Ganz grundlegend geht es um das Zurückdrängen oder die Überwindung von Lohnarbeit. Vorschläge in diesem Bereich reichen von einer radikalen Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, ohne dass die unteren Gehaltsgruppen Einkommen einbüßen, über kollektive Selbstbestimmung am Arbeitsplatz bis hin zur Forderung nach Zugang für alle zu guter, nicht-entfremdeter und sinnvoller kurzer Vollzeit. Darüber hinaus geht es zentral um eine Aufwertung von Sorgetätigkeiten und die geschlechtergerechte Umverteilung dieser Arbeiten auf alle sowie um die Stärkung der Unabhängigkeit von Erwerbsarbeit durch arbeitsunabhängige Grundversorgung.

5. Soziale Sicherung, Umverteilung und Maximaleinkommen: Wenn die gesamtgesellschaftliche Wertproduktion zurückgeht, gewinnen Verteilungsfragen an Brisanz. Daher gehören die gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen – sowohl global als auch national – und die Transformation der sozialen Sicherung zu den Kernforderungen der Postwachstumsdiskussion. Es geht dabei einerseits darum, die Versorgung mit den für ein gutes Leben notwendigen Gütern und Dienstleistungen dem Markt zu entziehen – über ein (ökologisches) Grundeinkommen oder in Form öffentlicher Dienstleistungen, durch kommunale Genossenschaften oder als Commons. Und sowohl aus egalitären und demokratischen Gründen als auch aufgrund der Tatsache, dass der individuelle Naturverbrauch vor allem vom verfügbaren Einkommen abhängt, soll die Anhäufung von Vermögen in den Händen weniger andererseits radikal eingedämmt und begrenzt werden – durch Maximaleinkommen und die Besteuerung von Vermögen, Erbschaften und ökologisch schädlichem Verbrauch.

Diese Vorschläge für nicht-reformistische Reformen füllen die Vision einer Postwachstumsgesellschaft mit Leben. Wie aber könnte die Transformation hin zu einer Postwachstumsgesellschaft in den nächsten Jahrzehnten aussehen? Welche Ansätze für politische Veränderungen, Einstiegsprojekte und die notwendige Verschiebung der Kräfteverhältnisse gibt es? Vor allem angesichts der Dimension der Herausforderung – eines grundlegenden Umbaus der gesamten Produktions- und Lebensweise, vergleichbar der Industrialisierung im 19. Jahrhundert – steht die Diskussion hier erst am Anfang. In Bezug auf die Transformationsansätze zeigt sich in der Postwachstumsdiskussion eine starke – und kaum offen diskutierte – Spannung. Denn neben den soeben diskutierten konkreten Politikvorschlägen für radikale Reformen, die weitgehend »von oben« durch den Staat durchgesetzt werden sollen, zeichnet sich die Postwachstumsdebatte durch einen Fokus auf kleinteilige Alternativen und selbstorganisierte Nischenprojekte »von unten« aus, die durch Gemeinschaften oder Kollektive getragen werden.