Deichgrab - Sandra Dünschede - E-Book

Deichgrab E-Book

Sandra Dünschede

3,8

Beschreibung

Nach dem Tod seines Onkels kehrt Tom Meissner in das kleine Dorf in Nordfriesland zurück, in dem er selbst einige Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Als er erfährt, dass sein Onkel ein Mörder gewesen sein soll, will er herausfinden, was wirklich geschehen ist. Dabei stößt er nicht nur auf den Widerstand sondern auch auf die dunkle Vergangenheit einiger Dorfbewohner …

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Seitenzahl: 396

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Sandra Dünschede

Deichgrab

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliches Schweigen Tom Meissner kehrt nach dem Tod seines Onkels Hannes Friedrichsen, bei dem er als Kind einige Jahre verbracht hat, in dessen Dorf zurück. Er will den Nachlass regeln und erfährt, dass sein Onkel im Jahr 1962 wegen Mordes an einem Mädchen aus dem Dorf vor Gericht stand. Da es damals jedoch keine hinreichenden Beweise gegeben hat und auch die Leiche des Mädchens nie gefunden wurde, kam es zu einem Freispruch. Die Leute aus dem Dorf sind allerdings bis heute der Meinung, dass Hannes Friedrichsen die kleine Britta Johannsen umgebracht hat. Tom, der sich nicht vorstellen kann, dass er einen Teil seiner Kindheit bei einem Mörder verbracht haben soll, beschließt herauszufinden, was damals wirklich geschah …

Sandra Dünschede, geboren 1972 in Niebüll/Nordfriesland und aufgewachsen in Risum-Lindholm, erlernte zunächst den Beruf der Bankkauffrau und arbeitete etliche Jahre in diesem Bereich. Im Jahr 2000 entschied sie sich zu einem Studium der Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Kurz darauf begann sie mit dem Schreiben, vornehmlich von Kurzgeschichten und Kurzkrimis. 2006 erschien ihr erster Kriminalroman »Deichgrab«, der mit dem Medienpreis des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes als bester Kriminalroman in Schleswig-Holstein ausgezeichnet wurde. Seitdem arbeitet sie als freie Autorin und lebt seit 2011 wieder in Hamburg, wohin es sie als waschechtes Nordlicht zurückzog.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Friesengift (2019)

Friesengroll (2018)

Kilometer 151 (2017)

Friesennebel (2017)

Kofferfund (2016)

Friesenmilch (2016)

Knochentanz (2015)

Friesenschrei (2015)

Friesenlüge (2014)

Friesenkinder (2013)

Nordfeuer (2012)

Todeswatt (2010)

Friesenrache (2009)

Solomord (2008)

Nordmord (2007)

Deichgrab (2006)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

13. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © derManu_ / photocase.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3264-4

Widmung

Für Günter

1

Freitag, 7. April 1995

Mühsam sog er Luft in die brennende Lunge. Mit zitternden Händen suchte er nach einem Halt auf dem Laken, doch seine Nägel kratzten kraftlos über den glatten Stoff.

Mit den Lippen versuchte er, Worte zu formen, aber er brachte keinen Ton heraus. Stattdessen breitete sich dieser säuerliche Geschmack weiter in seiner Mundhöhle aus und je öfter sich sein Magen zusammenkrampfte, umso intensiver wurde dieser abscheuliche Geschmack, der einen pelzigen Belag auf seiner Zunge entstehen ließ.

Etwas war in seinen Körper gedrungen, hatte sich ausgebreitet und die Kontrolle übernommen. Er war zu schwach, sich dagegen zu wehren. Sein Körper gehorchte nun einer anderen Macht. Unkontrolliert und mit schnellem Rhythmus ließ diese seine Glieder zucken, pochte mit voller Wucht an seine Schläfen, sein Herz klopfte und das Blut rauschte in seinen Ohren. ›Dong, Dong, Dong‹. Wie ein Presslufthammer, der eine Betonplatte zerstörte, hallte es in seinem Kopf wider.

Zwanghaft versuchte er die Augen offen zu halten, wollte die Bilder, die wie Blitzlichter vor seinem inneren Auge aufflackerten, sobald seine Lider sich senkten, nicht sehen, konnte sie nicht ertragen.

Ein allerletztes Mal versuchte sein Körper sich aufzubäumen, er rang gierig nach Luft, aber das bleierne Gewicht, welches sich auf seinen Brustkorb legte, war stärker. Er war fest überzeugt, sein Kopf würde in wenigen Sekunden zerspringen, und seine Muskeln würden wie Angelschnüre, an denen ein zu großer Fisch hing, einfach reißen.

Er schloss die Augen und dachte, dass die Wahrheit nun für immer verloren war.

2

Freitag, 26. Mai 1995

Lieber Großvater,

ich bin gut bei Onkel Hannes angekommen. Die Zugfahrt war sehr schön. Ich hatte einen Fensterplatz und habe die ganze Zeit hinausgeschaut. Neben mir saß ein Junge, der aus Norddeutschland kam. Der hieß Sönke und war sehr nett.

Am Bahnhof hat mich die Schwester von Onkel Hannes, Tante Lisbeth, abgeholt. Ich konnte sie gar nicht übersehen, denn sie ist sehr dick und laut. Schon als ich ausstieg, rief sie über den gesamten Bahnsteig hinweg meinen Namen. Ein wenig peinlich war es schon, da plötzlich alle Augen auf mich gerichtet waren, ganz besonders, als sie mich umarmte und mich mehrere Male küsste. Ihr Mund war mit Lippenstift bemalt, den ich nachher im ganzen Gesicht hatte. Aber sie meinte es ja nur gut und irgendwie habe ich sie gleich gemocht.

Über die Bundesstraße sind wir mit ihrem alten VW nach Risum-Lindholm gefahren, ins Dorf von Onkel Hannes. Tante Lisbeth hat die ganze Fahrt geredet und geredet. Ich war allerdings viel zu aufgeregt und habe gar nicht richtig zugehört. Draußen wurde es schon dunkel. Ich habe aber trotzdem gesehen, dass es hier sehr wenige Häuser gibt. Dann habe ich Tante Lisbeth gefragt, warum ich eigentlich nicht bei ihr wohnen könnte, schließlich fand ich sie sehr nett. Sie hat aber nur geantwortet, dass sie viel arbeiten würde und ihre Wohnung sowieso viel zu klein für zwei Personen sei. Bei Onkel Hannes hätte ich ein eigenes Zimmer und es gäbe auch einen Garten zum Spielen. Das würde mir sicher besser gefallen als ihre kleine Wohnung. Ich fand, dass Tante Lisbeth recht hatte. Ich war mächtig gespannt, wie es bei Onkel Hannes sein würde. Ob das Zimmer auch so schön wie bei dir sein würde, habe ich mich gefragt. Du weißt ja, wie gerne ich an meinem Schreibtisch am Fenster sitze und manchmal einfach nur so den Wolken am Himmel zugucke.

Die Fahrt dauerte nicht besonders lang. Schon bald hatten wir das Dorf und wenig später Onkel Hannes’ Haus erreicht. Draußen war es allerdings schon dunkel, sodass ich nicht viel erkennen konnte. Onkel Hannes stand im Schein einer kleinen Lampe, die über der Haustür hing. Er ist sehr groß, nicht so dick wie Tante Lisbeth, aber in dem schummrigen Licht der kleinen Lampe wirkte er irgendwie unheimlich. Tante Lisbeth ist dann plötzlich ganz komisch geworden. Sie hat Onkel Hannes nur kurz begrüßt, meine Koffer ausgeladen, und ehe ich michs versah, saß sie bereits wieder im Auto und winkte mir zum Abschied zu. Onkel Hannes hatte bis dahin noch nicht ein einziges Wort gesagt. Er nahm meine Koffer und sagte: »Komm mit.« Dann ging er ins Haus.

Drinnen gab es kaum Möbel. Vielleicht lag es daran, dass es draußen bereits dunkel war und durch die kleinen Fenster kaum Licht hereinfiel, aber ich fand alles ein wenig unheimlich.

Nun sitze ich hier in einem kleinen Zimmer und schreibe diesen Brief. Onkel Hannes ist, nachdem er mir mein Zimmer gezeigt und zum Abendbrot einen Teller Gemüsesuppe aufgefüllt hatte, ausgegangen. Er hat nicht mit mir geredet, nur ein dunkles Jackett angezogen, eine schwarze Wollmütze aufgesetzt und das Haus verlassen.

Vor mir stehen meine Koffer. Ich habe gar keine Lust, sie auszupacken. Wenn ich doch nur bei dir sein könnte! Du fehlst mir so! Ich versuche jetzt zu schlafen und die Koffer packe ich vielleicht morgen aus.

Ich habe dich ganz schrecklich lieb und schreibe dir so schnell es geht wieder, damit du weißt, wie es mir geht.

Viele liebe Grüße

dein Tom

Tom saß in der kleinen, dunklen Küche von Onkel Hannes.

An den Tag seiner Ankunft, den er in diesem Brief beschrieben hatte, konnte er sich noch sehr genau erinnern. Damals war er zehn Jahre alt gewesen. Sein Großvater, der ihn nach dem tödlichen Autounfall seiner Eltern bei sich aufgenommen hatte, war kurz zuvor gestorben. Außer Onkel Hannes, den Stiefbruder seiner Mutter, hatte man keine anderen Verwandten ausfindig machen können. Nur widerwillig hatte er sich damals bereit erklärt, die Vormundschaft für Tom zu übernehmen, und ihn zu sich geholt. Tom hatte noch gar nicht recht begriffen, dass sein Großvater tot war. Er hatte eher das Gefühl gehabt, eine Art Ferien bei Onkel Hannes zu verbringen, irgendwie vorübergehend, nichts Endgültiges. Deshalb hatte er diese Briefe geschrieben. Für ihn war sein Großvater nicht tot, nicht unerreichbar gewesen. Für ihn war er lebendig geblieben. Tom war mit seinen Gefühlen und Gedanken so fest mit seinem Großvater verbunden gewesen, dass er sich nicht hatte vorstellen können, dass es ihn nicht mehr gab, dass er nicht mehr für ihn da war, ihm nicht mehr zuhörte.

Aber er war tot. Genauso tot wie Onkel Hannes jetzt. Das war der Grund, warum Tom nach all den Jahren hierher zurückgekehrt war.

Einen Teil der Strecke war er mit dem Zug gefahren. Wie damals. Er hatte am Fenster gesessen und hinausgesehen. Aber von der vorüberfliegenden Landschaft hatte er nichts wahrgenommen, sondern versucht, sich an Onkel Hannes zu erinnern. Bilder seiner Kindheit waren vor seinem inneren Auge aufgetaucht und hatten Erinnerungen mit sich gebracht, die Tom längst vergessen geglaubt hatte.

Ab Hamburg war er mit einem Mietwagen weitergefahren, zunächst die A 7 bis Flensburg und dann über die Bundesstraße. In Schafflund hatte er an einem Supermarkt angehalten, Brot, Käse und einen billigen Rotwein gekauft.

Den Haustürschlüssel hatte er dort gefunden, wo er bereits früher für Notfälle versteckt gewesen war: an einem rostigen Nagel hinter dem verwitterten Vogelhäuschen an der alten Birke im Garten.

Mit zitternden Händen hatte er die Haustür aufgeschlossen und war nach einem kurzen Moment des Zögerns eingetreten. Viele Jahre waren vergangen, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Die Dunkelheit und der leicht modrige Geruch hatten ihn wie damals empfangen. Für einen kurzen Augenblick hatte er sich plötzlich klein und hilflos gefühlt. Der Druck aus seiner Magengegend hatte sich ausgebreitet. Eine halbe Ewigkeit war vergangen, bis er in der Lage gewesen war, die Tür hinter sich zu schließen. Durch den dunklen Flur war er in die Küche gegangen.

Und dort saß er nun.

Im Küchenschrank hatte er ein altes Weinglas gefunden. Ein Korkenzieher war nicht erforderlich gewesen. Der billige Rotwein hatte lediglich durch einen Schraubverschluss »entkorkt« werden müssen. Das Brot und den Käse hatte er in kleine Stücke geschnitten und sich dann mit seiner kleinen Mahlzeit am Küchentisch niedergelassen.

Seine Blicke wanderten durch den Raum. Alles sah genauso aus wie damals: die leicht vergilbten Gardinen, der fleckige Linoleumfußboden, die viel zu laut tickende Küchenuhr in Form eines Wandtellers. ›Merkwürdig‹, dachte er. Als er hier gewohnt hatte, war ihm nie aufgefallen, dass die Uhr ein Jubiläumsgeschenk des Deichbauamtes gewesen sein musste. Während er sie betrachtete, sah er zum ersten Mal, dass um das Bild einer blauen Riesenwelle mit kleinen verschnörkelten Buchstaben eine Art Glückwunsch geschrieben stand: »Für jahrelange treue Dienste« und »Wir freuen uns auf viele weitere erfolgreiche Jahre gegen den ›Blanken Hans‹ mit unserem Kollegen Hannes Friedrichsen«.

Tom kratzte sich am Hinterkopf. Er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, dass und vor allem was Onkel Hannes damals gearbeitet hatte.

Er trank einen Schluck vom Rotwein und dachte, dass er eigentlich so gut wie gar nichts von seinem Onkel wusste. Wer war er gewesen? Was hatte er erlebt? Wer waren seine Freunde gewesen? Wie war er gestorben?

Onkel Hannes war tot, ihn konnte er nicht mehr fragen. Alles, was Tom von ihm geblieben war, waren diese Briefe, die er in einem alten Schuhkarton auf dem Küchenschrank gefunden hatte. In ihnen hatte er seine Gefühle und Erlebnisse seinem einzigen Vertrauten mitgeteilt und nicht gewusst, dass Onkel Hannes sie verständlicherweise nie abgeschickt und sie stattdessen in diesem Schuhkarton gesammelt hatte.

Der Rotwein und das monotone Ticken der Küchenuhr machten ihn schläfrig. Er schloss die Augen. ›Nur ganz kurz ausruhen‹, dachte er, doch dann übermannte ihn der Schlaf.

3

»Verdamm mich noch mal!«, fluchte Broder Petersen, während er den Telefonhörer mit Wucht auf die Gabel des grünen Tastentelefons knallte. Klaus Nissen hatte gerade ihre wöchentliche Verabredung abgesagt, und dies schon zum dritten Mal.

Klaus war vor gut einem Jahr zu seiner Tochter nach Husum gezogen. Früher hatte er ebenfalls im Dorf gelebt, war aber, nachdem seine Frau gestorben war, zu seiner Tochter gezogen. Die Entfernung war nicht gerade gering, trotzdem besuchte Klaus Broder in der Regel einmal die Woche. Aber in letzter Zeit hatte der Freund immer häufiger abgesagt. Mal war es die Enkelin, die beaufsichtigt werden musste, ein anderes Mal lag er angeblich krank im Bett.

Broder war wütend. Er griff nach seinem Gehstock und stemmte sich mühsam aus seinem Sessel. Mit langsamen Schritten humpelte er zur Zimmertür.

»Frank! Frank!«

Auf sein Rufen folgte keine Reaktion. Seine Stimme wurde lauter.

»Frank!«

Die Tür am anderen Ende des Flures wurde geöffnet und eine blonde Frau streckte ihren Kopf heraus.

»Was schreist du schon wieder, Papa? Frank ist nicht da.«

»Wo steckt er denn schon wieder?«

»In der Stadt.«

Sie war Mitte dreißig, hochgewachsen und entsetzlich dürr. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Sie sah müde aus.

»In der Stadt, in der Stadt«, äffte Broder die junge Frau nach. »Na gut«, sagte er schließlich, »dann fährst du mich eben zum ›Deichgrafen‹, Meike.«

»Ich denke gar nicht daran, deine Kneipenbesuche zu unterstützen«, versuchte sie, Broder zu widersprechen. »Du weißt, was der Arzt letzten Monat zu dir gesagt hat. Kein Alkohol, und mit dem Rauchen sollst du auch aufhören!«

»Ja, ja, aber wer will schon, dass ich hundert Jahre alt werde? Ihr ja wohl am allerwenigsten. Könnt es ja kaum abwarten, euch den Hof untern Nagel zu reißen!«

Meike holte tief Luft. Sie kannte zwar die gehässigen Unterstellungen ihres Schwiegervaters, dennoch konnte er sie damit immer wieder zur Weißglut treiben. Sie öffnete gerade den Mund, um etwas darauf zu erwidern, als Broder sich umdrehte und in einem Ton, der keine Widerrede zuließ, befahl:

»Zieh dich an und hol die Autoschlüssel. Ich warte vor der Tür.«

Er ging zurück in sein Zimmer, das rechte Bein leicht nachziehend.

Das Trommeln der Regentropfen gegen die kleinen Scheiben des Küchenfensters weckte ihn auf. Es war stockdunkel. Die Leuchtziffern auf seiner Armbanduhr zeigten kurz nach Mitternacht an.

Im Dunkeln tastete er sich vorsichtig in Richtung Küchentür, suchte nach dem Lichtschalter. Seine Erinnerungen und sein ausgeprägter Orientierungssinn ließen ihn nicht im Stich. Unter seinen Fingern fühlte er den Kunststoff des Kippschalters.

Das grelle Licht schmerzte. Tränen schossen ihm in die Augen, er hatte Kopfschmerzen.

Aus dem Schuhkarton nahm er sich einen der Briefe, stieg dann mit seinem Schlafsack, den er vorsichtshalber mitgebracht hatte, die Treppe zu seinem alten Zimmer hi­nauf. Die vierte und die neunte Stufe knarrten lauter, als er es in Erinnerung hatte.

In seinem Zimmer sah alles so aus, als wäre er nie fort gewesen. Achtzehn Jahre waren hier scheinbar spurlos vorübergegangen.

Er ließ sich auf sein altes Bett fallen und betrachtete die Bücher in den Regalen. »Winnetou«, »Sherlock Holmes«, »Der Graf von Monte Christo«, dazwischen einige Bücher von Hesse, Böll und Kafka. Neben dem Bücherregal der Schreibtisch mit der roten Stehlampe, an der Wand ein Poster von den Rolling Stones.

Er rollte den Schlafsack aus, schaltete die kleine Lampe über dem Bett ein und legte sich hin. Im Schein der kleinen Lampe öffnete er den Brief und begann zu lesen:

Lieber Großvater,

nun bin ich schon einige Tage hier bei Onkel Hannes. Ein wenig habe ich mich schon eingelebt, aber Onkel Hannes spricht immer noch nicht sehr viel mit mir.

Am ersten Tag hat er mir nur kurz erklärt, dass er viel Arbeit hätte und ich deshalb mit anpacken müsste. Ich muss also den Tisch auf- und abdecken, spülen und aufräumen, Holz für den Kamin holen und den Garten in Ordnung halten. Du siehst, hier ist es ganz anders als bei dir. Hier habe ich wenig Zeit zum Spielen.

Nach dem Frühstück geht Onkel Hannes immer aus dem Haus und kommt erst am späten Nachmittag wieder. Ich habe ihn gefragt, was er für eine Arbeit hat, aber er hat nur gesagt: »Na, Arbeit eben.«

Bei Tag ist es hier im Haus nicht ganz so finster. Dafür sieht man aber, dass es hier keine Frau Menzel gibt, die zum Saubermachen kommt. Deshalb habe ich gestern die Küche gefegt und aufgewischt, das Geschirr gespült und sogar die Fenster habe ich geputzt. Aber Onkel Hannes ist es nicht einmal aufgefallen. Jedenfalls hat er nichts gesagt. Überhaupt benimmt er sich meistens so, als sei ich gar nicht da. Er spricht sehr wenig. Ich glaube, ich störe ihn. Wenn er doch nur mit mir reden würde. Ich fühle mich so allein.

Abends ist es immer besonders schlimm. Onkel Hannes geht fast jeden Abend aus. Er sagt mir nicht, wohin er geht oder wann er wiederkommt, so wie du. Er liest mir auch keine Geschichte am Bett vor, wie du es immer tust. Er brummt meist nur »Gute Nacht« und verschwindet dann.

Ich war so neugierig, wollte unbedingt wissen, wohin er immer geht. Also bin ich ihm heute Nacht einfach gefolgt. Ich habe meine Stiefel angezogen, mir meine Jacke geschnappt und bin ganz schnell hinter ihm her. Er ging die Dorfstraße entlang bis zu einer Gaststube, die auf einem Hügel lag. Die Fenster waren alle hell erleuchtet. Wie ein Indianer habe ich mich angeschlichen. Durch ein Seitenfenster, das durch einen Busch halb verdeckt war, konnte ich heimlich in die Gaststube blicken. Drinnen saßen mehrere Männer an verschiedenen Tischen. Ich war gespannt, an welchen Tisch, zu welchen Männern sich Onkel Hannes wohl setzen würde. Aber als er die Gaststube betrat, passierte etwas ganz Merkwürdiges. Alle Männer blickten auf Onkel Hannes, der in der Tür stand, und rutschten dann näher zueinander, steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Onkel Hannes hat sich alleine an einen Tisch ganz hinten in der Gaststube gesetzt. Der Wirt brachte ihm ein Bier und er saß dort und starrte in sein Glas.

Da bin ich wieder nach Hause gegangen. Und nun frage ich mich, warum Onkel Hannes jeden Tag in diese Kneipe geht. Scheinbar hat er doch gar keine Freunde. Es war halt nicht so wie bei dir, Großvater, wenn du bei deiner Stammtischrunde warst, deine Freunde dich freudig begrüßten und ihr euch über die Neuigkeiten unterhalten habt. Ich erinnere mich noch ganz genau, als du mich einmal in den Ferien zu deinem Stammtisch mitgenommen hast. Das war ganz anders. Onkel Hannes saß nur allein an seinem Tisch, starrte in sein Glas und niemand sprach mit ihm. Warum nicht?

Oh, ich höre Onkel Hannes nach Hause kommen. Ich muss schnell Schluss machen und das Licht löschen, damit er nicht merkt, dass ich noch wach bin.

Viele liebe Grüße

dein Tom

4

Als er wach wurde, schien die Sonne durch das kleine Dachfenster. Er stand auf, öffnete es ganz weit und atmete tief ein.

›Was für eine tolle Luft‹, dachte er, ›einfach einmalig!‹ In München hatte er oft das Gefühl, gar nicht richtig atmen zu können. Diese stickige, heiße Luft, die abgestanden und verbraucht über der Stadt hing. Überhaupt kein Vergleich zu hier: die Frische und Würze der Seeluft, die den Kopf frei machten. Für einen winzigen Augenblick schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, Onkel Hannes’ Haus zu behalten und hierherzuziehen. Das Dorf schien so friedlich. Er schüttelte seinen Kopf, als könne er damit die für ihn so absurden Gedanken vertreiben.

In der Küche standen noch Brot und Käse. Eine Fliege hatte sich bereits darauf niedergelassen. In aller Ruhe erkundete sie die Essensreste auf dem Teller. Tom verscheuchte das Insekt, als er nach einem Stück Käse griff.

Im kleinen Bad direkt neben der Treppe putzte er sich kurz die Zähne und spritzte etwas kaltes Wasser in sein Gesicht. Er zog sich an, nahm seine Jacke, griff nach den Autoschlüsseln auf dem Regal im Flur und trat hinaus in die angenehm frische Morgenluft. Der Himmel war strahlend blau, nur ein paar winzig kleine Wolken trieben hier und da träge vor sich hin. Er fuhr den kleinen Weg hinter dem Haus entlang, der zum Friedhof führte.

Frank Petersen stieg aus dem Taxi. Es war früh am Morgen, alle Bewohner des Hofes schienen noch zu schlafen.

Im Hausflur kam ihm der Knecht entgegen. Ohne ein Wort gingen sie aneinander vorbei. »Lass ihn doch denken, was er will«, murmelte Frank. Er polterte die Treppe in den ersten Stock hinauf. Oben blieb er kurz stehen, horchte, ob jemand wach geworden war, doch alles blieb ruhig.

»Tja, Alter«, flüsterte Frank schadenfroh vor der Tür zum Zimmer seines Vaters, »deine Ohren sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

Er ging ins Wohnzimmer, schaltete das Radio ein. Herbert Grönemeyer sang gerade »Alkohol«, und Frank grölte laut mit. Aus seiner Manteltasche holte er Zigaretten und Streichhölzer. Erst mit dem dritten Streichholz gelang es ihm, die Zigarette zum Glimmen zu bringen. Er ließ sich auf das Sofa fallen und inhalierte den Rauch. Vom Flur her hörte er schlurfende Schritte, und unweigerlich verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen, noch ehe die Tür geöffnet worden war.

»Wo bist du gewesen?«, wollte Broder von ihm wissen.

»Guten Morgen erst einmal«, entgegnete Frank, »und um auf deine Frage zu antworten: Ich war aus.«

»Aus, aus, die ganzen letzten Wochen warst du aus. Wo du gewesen bist, will ich wissen.«

»Ich glaube nicht, dass dich das was angeht.«

Frank drückte die Zigarette in dem kleinen Metall-aschenbecher vor sich auf dem Couchtisch aus, dann stand er auf und trat Broder gegenüber. Rein körperlich war Frank seinem Vater schon lange überlegen, einen Kopf größer und ein Kreuz, das beinahe doppelt so breit war wie Broders. Überhaupt kam Frank mehr nach seiner Mutter. Für eine Frau war sie sehr groß und stämmig gewesen, eher ein burschikoser Typ. Und das dunkle Haar hatte Frank ebenfalls von ihr geerbt.

»Wenn du mich jetzt wohl entschuldigst? Ich habe noch Schlaf nachzuholen.«

Frank schob sich ohne ein weiteres Wort an seinem Vater vorbei in den Flur und verschwand im Schlafzimmer. Angezogen warf er sich aufs Bett. Durch einen kurzen Seitenblick vergewisserte er sich, dass Meike nicht aufgewacht war. Dann schloss er die Augen und fiel augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als Meike nach nur wenigen Minuten ein leises, regelmäßiges Schnarchen hörte, kroch sie vorsichtig unter ihrer Bettdecke hervor und stand auf.

Frank hatte sich nicht geirrt, sie war tatsächlich nicht aufgewacht, als er sich plump und rücksichtslos einfach aufs Bett hatte fallen lassen. Sie hatte gar nicht geschlafen. Leise griff sie nach Franks Mantel, den er direkt vor seinem Bett ausgezogen und achtlos auf den Boden hatte fallen lassen. Meikes Hand glitt in die Seitentaschen. Nichts. Erleichtert atmete sie auf.

Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln, schlich leise hinaus auf den Flur. Das Wohnzimmer war leer. Broder war zurück in sein Zimmer gegangen. Der Zigarettenrauch hing noch in der Luft.

Meike öffnete das Fenster, atmete tief durch. Ihr Blick fiel auf die Zigaretten, die auf dem Couchtisch lagen, dann auf die Streichhölzer. Ihr Herz krampfte sich plötzlich zusammen. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und weinte.

Der kleine Friedhof lag direkt neben der Dorfkirche. Tom parkte den Wagen auf dem Kiesstreifen vor dem Haupteingang. Die hölzerne Pforte ließ sich leicht öffnen, nur die Scharniere ächzten ein wenig.

Im vorderen Teil des Friedhofes befanden sich alte Familiengräber. Einige der Grabsteine waren so stark verwittert, dass die Namen kaum noch lesbar waren. Weiter hinten, direkt neben der Kirche, sah er die neueren Grabstellen. Frische Blumenkränze deuteten auf eine nicht lang zurückliegende Beerdigung hin.

Da der Friedhof nicht besonders groß war, benötigte er nur kurze Zeit, bis er das Grab von Onkel Hannes gefunden hatte. Hier lagen keine Blumenkränze. Lediglich ein schlichtes Holzkreuz gab Auskunft über seine letzte Ruhestätte:

Hannes Friedrichsen; *15. 08. 1 934; † 07. 04. 1995.

Seltsam, erst beim Lesen der Lebensdaten wurde ihm bewusst, wie alt sein Onkel eigentlich geworden war.

Hinter sich hörte er plötzlich ein leises Knirschen. Er drehte sich um und sah Pastor Jensen auf dem schmalen Kiesweg zwischen den Gräbern näher kommen.

»Moin, Moin.«

»Morgen, Pastor Jensen.«

»Ach, du bist es, Tom!« Pastor Jensen erkannte ihn erst jetzt. Tom war damals sein Religionsschüler gewesen. Obwohl Onkel Hannes selbst nie in die Kirche gegangen war, hatte er doch darauf bestanden, dass Tom den Religionsunterricht besuchte.

»Ich habe dich beinahe nicht erkannt. Schön, dass du da bist.«

»Ich konnte leider nicht früher kommen. Ihr Brief hat mich erst letzte Woche erreicht.«

Der Geistliche hatte ihn vom Tod seines Onkels unterrichtet und ihn gebeten, den Nachlass zu regeln.

»Ich bin umgezogen und mit dem Nachsendeauftrag gibt es einige Probleme«, fügte Tom hinzu. Er hoffte, dass es sich nicht wie eine Ausrede anhörte.

Pastor Jensen nickte und sagte mit einem Blick auf das Grab:

»Nun hat er es endlich geschafft.«

›Was meinte er damit? Was hatte Onkel Hannes geschafft? War er womöglich sehr krank gewesen?‹

Als Tom gerade zur Frage ansetzen wollte, kam Pastor Jensen ihm zuvor: »Darf ich dich auf eine Tasse Kaffee einladen?«

»Gern!«

Während sie gemeinsam den Weg hinüber zum Pastorat gingen, erzählte der Pastor ihm von der Beerdigung.

»Es war schon traurig. Nur Küster Hansen und ich waren da. Wir haben ein Gebet gesprochen und Hansen hat auf seiner Trompete ›Meine Heimat ist dort in der Höh‹ gespielt. Vielleicht hätte es ihm gefallen.«

Tom bezweifelte das.

Im Pastorat hing der Kaffeeduft vom Frühstück noch in der Luft. Pastor Jensen bat Tom Platz zu nehmen und stellte zwei Tassen, ein Milchkännchen und eine Zuckerdose auf den Tisch. Tom blickte sich um. Der Raum war freundlich und gemütlich, vielleicht etwas altmodisch eingerichtet. Auf dem Tisch lag eine hellblaue Plastiktischdecke, an den Wänden hingen bunte Kunstdrucke von einem ihm unbekannten Maler. Nichts deutete darauf hin, dass es sich hier um die Küche eines Pastorats handelte.

Pastor Jensen setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Tja, Tom«, sagte er dann, »das war schon eine merkwürdige Beerdigung. Du weißt ja, Hannes war nie ein Mann der Worte und so konnte ich bei seiner Beisetzung auch nicht viel sagen. Nun bin ich schon so lange hier, aber selten habe ich über einen Menschen so wenig sagen können.«

Tom konnte das sehr gut nachvollziehen.

»Warum ist sonst niemand zur Beerdigung gekommen?«

»Ach, du weißt doch, wie das ist. Hier im Dorf vergessen die Leute sehr langsam. Das hängt immer noch mit der Geschichte von damals zusammen.«

»Welche Geschichte?«

»Ja, sag bloß, du weißt gar nichts von der ganzen Sache? Na ja, kann mir gut vorstellen, dass Hannes dir davon nichts erzählt hat. War ja auch damals bereits lange her. Aber die Auswirkungen hast selbst du noch zu spüren bekommen.«

Tom fragte sich, was der Pastor meinte. Er wartete auf eine Erklärung.

»Ich spreche nicht gerne darüber. War unschön damals. Das ganze Dorf war aufgebracht. Eine Art Hetzjagd haben sie gegen Hannes veranstaltet. Ich habe versucht, ihnen ins Gewissen zu reden. Hat aber alles nichts geholfen. Richtig fünsch sind die geworden.«

Tom hatte keine Ahnung, worüber der Pastor sprach. Er wartete, dass der Geistliche weitersprach.

»Alle im Dorf waren fest davon überzeugt, dass Hannes die kleine Britta Johannsen umgebracht hatte. Bei der Gerichtsverhandlung wurde er jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. War ja auch richtig so. Gab ja noch nicht mal eine Leiche. Britta war einfach verschwunden. Das nun Hannes in die Schuhe zu schieben, war nicht richtig.« Pastor Jensen schüttelte kurz seinen Kopf, ehe er fortfuhr. »Aber die Leute im Dorf behaupteten steif und fest, dass Hannes Britta ermordet hätte.«

In Toms Kopf wirbelten plötzlich die Gedanken durcheinander. ›Onkel Hannes ein Mörder? Britta Johannsen? Es gab keine Leiche? Gerichtsverhandlung?‹ Die eben gehörten Sätze verursachten ihm Kopfschmerzen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Hilflos blickte er den Pastor an. Seine Gefühle fuhren Achterbahn.

»Ich muss dann mal los.« Tom stand ruckartig auf.

Pastor Jensen schaute überrascht auf. Sein Gast hatte den Kaffee nicht einmal angerührt.

»Was hast du denn nun vor mit dem Haus von Hannes?«

»Verkaufen.«

Tom nickte noch einmal kurz zum Abschied und trat schnell hinaus an die frische Luft. Dreimal atmet er tief durch, sog die Luft bis in die Spitze seiner Lungenflügel ein.

Mit dem Wagen fuhr er in Richtung Küste, ließ das Ortsschild Risum-Lindholms hinter sich. Er musste erstmal einen klaren Kopf kriegen. Das gelang ihm am Meer immer am besten. Über den alten Außendeich lenkte er den Wagen durch den Koog. Sein Blick glitt über die scheinbar unbegrenzte Weite, seine Gedanken schweiften zurück in seine Kindheit.

Onkel Hannes saß am Küchentisch und schnitt mit dem großen Brotmesser Scheiben von einem riesigen Brotlaib ab. Niemals hätte Tom sich vorstellen können, dass sein Onkel jemanden ermordet haben könnte, schon gar nicht ein kleines Mädchen. Unheimlich war er ihm manchmal schon vorgekommen, aber Angst hatte Tom nie verspürt.

Er parkte direkt hinter dem Deich, neben dem kleinen Strandkiosk. Der Wind wehte frisch vom Meer, es war Hochwasser. Er zog seinen Fleecepullover über und lief los.

Außer ihm waren noch einige andere Spaziergänger unterwegs. Möwen kreisten über dem Meer, die Sicht war klar, am Horizont konnte er einige Halligen und Föhr erkennen.

Nach einer Weile setzte er sich auf eine Bank. Das gleichmäßige Rauschen der Wellen beruhigte ihn. Er sah wieder seinen Onkel vor sich.

›Onkel Hannes ein Mörder? Das kann gar nicht sein‹, dachte er. ›Wortkarg, brummig, etwas finster wirkend, das ja, aber ein Mörder? Wie waren die Leute nur da­rauf gekommen? Und dann sollte er auch noch ein kleines Mädchen auf dem Gewissen haben?‹ Ihm fiel der Brief ein, den er gestern Abend noch vor dem Einschlafen gelesen hatte. Nun wurde ihm klar, warum niemand mit Onkel Hannes an einem Tisch hatte sitzen wollen. Aber Tom hatte doch schließlich jahrelang mit ihm zusammengewohnt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Onkel zu einem Mord fähig gewesen sein sollte.

Die Wellen rollten gleichmäßig gegen die Befestigungssteine. Sein Handy vibrierte in der Hosentasche. Auf dem Display stand Monikas Name.

»Hallo, Schatz«, nahm er den Anruf entgegen, »so ein Zufall, gerade habe ich an dich gedacht und wollte dich anrufen.«

An ihrer Stimme konnte er erkennen, dass sie ihm die kleine Notlüge nicht abnahm.

»Wo steckst du denn? Ich versuche seit gestern Abend, dich zu erreichen. Hättest dich ja mal melden können. Ich sitze schließlich hier und mache mir Gedanken.«

Die Vorwürfe ließen sofort einen dicken Kloß in seinem Hals wachsen. Knapp berichtete er ihr, was er bisher gemacht hatte. Den Besuch bei Pastor Jensen und die Neuigkeit über Onkel Hannes ließ er aus.

»Es gibt noch jede Menge zu erledigen. Ich weiß noch nicht genau, wann ich wieder nach Hause komme.«

»Das ist aber schade«, bemerkte Monika und ihre Stimme klang beleidigt, »du wolltest doch mit mir zu Ullas Geburtstag gehen.«

»Kann ich dir jetzt noch nicht versprechen. Wie gesagt, es gibt hier noch eine Menge zu tun. Ich melde mich dann wieder.«

Bevor Monika Einwände erheben konnte, sagte er ihr noch schnell, dass er sie vermisste, und legte auf. Es gab wirklich noch eine Menge zu tun. Davon war er plötzlich fest überzeugt.

Frieda Mommsen schloss die Tür zu ihrer kleinen Wohnung auf. Im Flur hängte sie den schilffarbenen Trenchcoat an die Garderobe und ging in die Küche.

Sie schaltete das alte Kofferradio ein, setzte den Wasserkessel auf den Herd und holte die Teedose aus dem Hängeschrank über der Spüle. Dann setzte sie sich mit der Zeitung an den kleinen runden Küchentisch.

Sie hatte gerade den Lokalteil halb durchgeblättert, als es an der Haustür klingelte. Verwundert blickte Frieda auf, warf einen Blick auf die Küchenuhr. ›Wer kann das denn wohl sein?‹, fragte sie sich, während sie zur Haustür ging.

Vor der Tür stand Pastor Jensen.

»Moin, Frieda, na, wie geht es dir? Ich war gerade bei Helene im Laden und dachte mir, ich schau mal vorbei und frag, wie es dir und Lorentz so geht.«

Frieda war sprachlos. Noch nie hatte Pastor Jensen nur so bei ihr vorbeigeschaut. Sie wusste nicht, ob er erwartete, dass sie ihn hereinbat.

»Mögen Sie vielleicht eine Tasse schwarzen Tee?«, fragte sie unsicher.

Pastor Jensen nickte. Frieda ging in die Küche, räumte hastig einige Zeitungsausschnitte vom Tisch. Dann holte sie aus dem Hängeschrank eine zweite Teetasse.

Der Geistliche hatte sich bereits an den Küchentisch gesetzt. Frieda stellte die Tasse vor ihm auf den Tisch.

»Und wie geht es Lorentz?«

»Ach, eigentlich wie immer, nichts Dolles. Ich bin gerade vom Pflegeheim nach Hause gekommen. Heute war er gar nicht gut drauf. Das Herz macht ihm wohl wieder zu schaffen. Und ’ne Menge dummes Zeug redet er. Manchmal verstehe selbst ich nicht, was er meint. Der Arzt sagt, dass es noch schlimmer werden wird. So ist das wohl bei Alzheimer.«

Pastor Jensen nickte verständnisvoll.

»Ich wünsche dir viel Kraft, Frieda. Ich bete viel für Lorentz und dich.«

»Danke, Pastor, das gibt mir Kraft und Hoffnung. Die anderen vom Landfrauenverein sagen mir auch immer, dass Gott es schon richten wird. Ich bin froh, dass mir wenigstens der Kontakt zum Verein noch geblieben ist. Es ist nicht ganz so schwer, wenn man Beistand hat. Die junge Meike …«

»Ach, wo du gerade den Landfrauenverein erwähnst, ihr wisst doch immer ziemlich genau, was so im Dorf los ist.«

Frieda nickte.

»Weißt du, der Tom Meissner war gerade bei mir und wir haben uns unterhalten. Ich möchte ihm gerne ein bisschen unter die Arme greifen. Kennt ihr nicht jemanden, der an dem Haus von Hannes interessiert sein könnte? Der Tom will es wohl verkaufen.«

»Wer will denn schon das Haus von diesem Mörder kaufen?«

Ihre Wangen röteten sich, sie schaute abweisend. »Da wüsst ich keinen, der sich dafür interessiert.«

Er versuchte noch einmal das Thema anzusprechen, aber Frieda ging überhaupt nicht darauf ein. Stattdessen erzählte sie, dass sie neulich von Petra Martens Rhabarber bekommen und für den ganzen Landfrauenverein Kompott gekocht hätte.

Pastor Jensen trank seinen Tee aus und stand auf. An der Haustür drehte er sich noch einmal um.

»Warst du das eigentlich neulich, die ich an dem Grab von Hannes Friedrichsen gesehen habe?«

Frieda wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Mit zitternden Händen hielt sie sich am Türrahmen fest.

»Wie kommst du denn darauf? Wieso sollte ich das Grab dieses Mörders besuchen?« Ihre Stimme klang schrill.

»Nur so, mir war, als hätte ich dich neulich dort auf dem Friedhof gesehen.«

5

Tom wollte auf dem Heimweg noch einkaufen gehen. Da der Sparladen im Dorf am Samstag schon mittags schloss, fuhr er direkt in die Stadt.

Der Weg führte ihn über den alten Außendeich direkt zur Ortseinfahrt Niebülls. Gleich links hinter dem Ortsschild lag die alte Jugendherberge. Mit dem Sohn des Herbergsvaters war er damals zur Schule gegangen.

Über die Hauptstraße fuhr er ins Gewerbegebiet. Er versuchte einen Parkplatz direkt am Eingang des Supermarktes zu ergattern. Es gelang ihm auch, da er einer jungen Frau in einem roten Kombi die Vorfahrt nahm und ihre wütenden Gesten hinter der Windschutzscheibe einfach ignorierte.

Einen Einkaufswagen vor sich herschiebend schlenderte er durch die Gänge, legte Aufschnitt, Brot, Obst, Milch, Joghurt und Wein in den Wagen. Da er nicht besonders gut kochen konnte und keine Zeit haben würde, diese Fähigkeit in den nächsten Tagen zu perfektionieren, beschränkte er sich auf die wenigen Dinge in seinem Einkaufswagen. Zur Not konnte er ja immer noch essen gehen.

An der Kasse stellte er fest, dass er nicht genügend Bargeld hatte, freute sich aber über die hilfsbereite Kassiererin, die ihm lächelnd mitteilte, dass er selbstverständlich auch mit seiner EC-Karte zahlen könnte. Mit zwei vollen Einkaufstüten kehrte er gut gelaunt zu seinem Wagen zurück.

Er verspürte noch keine Lust, zurück ins Dorf zu fahren, steuerte deshalb den alten Marktplatz an und parkte seinen Wagen. Durch den kleinen angrenzenden Park schlenderte er zum Gelände seiner alten Schule. Nachdem er die letzte Klasse der Grundschule im Dorf erfolgreich absolviert hatte, war er hierher auf das Gymnasium versetzt worden. Jeden Tag war er mit dem Bus in die Stadt gefahren. Eigentlich eine schöne Zeit, wenn er so daran zurückdachte. Ob sein alter Klassenlehrer noch lebte? Wie hieß er noch gleich? Herr Fedders? Oder, nein, Herr Sörensen. Großer, stattlicher Mann, helles Haar, kleine Brille.

Ohne es zu merken, war er plötzlich auf dem Rathausplatz angekommen. Er hob etwas Geld am Automaten der Bank rechts neben dem Rathaus ab und setzte sich anschließend in das kleine Café, dessen Tische und Stühle bei dem schönen Wetter auf dem Rathausplatz standen. Ein freundlicher Kellner in schwarzer Hose und weißem Jackett nahm seine Bestellung auf: einen Kaffee und ein großes Bananensplit mit extra Sahne.

Während er wartete, wanderte sein Blick hinüber zum Kunstmuseum. Ein Plakat an der Eingangstür erregte seine Aufmerksamkeit. Tom konnte es wegen der Entfernung zwar nicht genau erkennen, nahm aber an, dass es für eine Wanderausstellung warb. Auf das Museum war man hier sehr stolz. Auch wenn es sich nur um eine Kleinstadt handelte, hatten hier schon namhafte Künstler ihre Werke ausgestellt. Irgendjemand hatte mal gesagt: »Kunst ist da, wo man sie macht!« Und so unbedeutend war diese Gegend, rein künstlerisch gesehen, ja auch gar nicht.

Der Kellner brachte die Bestellung und er löffelte zunächst langsam die Sahne vom Eis. Augenblicklich fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Mit seinem Großvater war er häufig ins Eiscafé gegangen, meistens sonntags. Schon damals hatte er am liebsten Bananensplit gegessen.

Im Dorf von Onkel Hannes hatte es leider kein Eiscafé gegeben. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sich das bis heute geändert hatte. Viele Jahre war ihm deshalb der süße Geschmack dieser leckeren Köstlichkeit verwehrt geblieben. Nur einmal, es war sein 14. Geburtstag gewesen, hatte Onkel Hannes versucht, ihm ein Bananensplit zu machen. Er hatte eine Banane in der Mitte durchgeschnitten und sie anstelle von Eis mit der doppelten Portion Sprühsahne gefüllt. Natürlich war das für ihn kein wirklicher Ersatz gewesen, aber er hatte sich so sehr über diese Aufmerksamkeit von Onkel Hannes gefreut, dass er sogar einen Nachschlag verlangt hatte.

Tom deutete dem Kellner an, dass er zahlen wollte. Aufgrund der süßen Kindheitserinnerungen war er großzügig mit dem Trinkgeld.

Langsam spazierte er im Schein der Nachmittagssonne zu seinem Wagen zurück.

Enttäuscht legte Broder Petersen den Telefonhörer auf. Das war nun schon der zwölfte erfolglose Anruf gewesen. Er blickte auf den Notizblock, der neben dem Telefon lag. Er musste unbedingt den richtigen Namen finden. Sonst käme am Ende die ganze Geschichte doch noch raus. Vielleicht sollte er die Suche bis Flensburg ausdehnen.

Er stopfte seine Pfeife. Der Tabak ließ sich schwer entzünden. Broder musste einige Male kräftig an der Pfeife ziehen, bis endlich der Tabak glimmte und ein feiner, weißer Rauch aus der Öffnung strömte. Er ging zum kleinen Eichensekretär, in dem er in der untersten Schublade eine Flasche Korn vor Meike versteckt hielt. Er nahm einen kräftigen Schluck.

Dann ging er zurück zum Telefon und wählte erneut. Nach scheinbar endlosem Klingeln wurde endlich abgehoben.

»Klaus, ich bin es, Broder. Ich habe nun fast alle Notare und Anwälte angerufen. Jedoch ohne Erfolg. Wie sieht es bei dir aus?«

»Ich habe heute noch gar keine Zeit zum Telefonieren gefunden. Es ist ja Samstag und Marita ist auch zu hause.«

»Soll ich etwa wieder die ganze Suppe alleine auslöffeln? Sieh zu, dass du den Notar findest«, brüllte Broders. »Weißt du, was los ist, wenn jemand die Unterlagen findet?«

»Als wenn das alles nur meine Angelegenheit wäre! Du hängst ja wohl noch tiefer drin als ich!«

»Wir müssen uns sehen! Morgen um sechs Uhr im ›Deichgrafen‹!«

Ehe Klaus etwas erwidern konnte, legte er schnell auf.

Er ging ans Fenster und sah hinunter auf den kleinen Vorplatz. Meikes Golf stand nicht da, sicherlich war sie einkaufen gefahren. Franks Wagen war neben dem Blumenrondell auf der Auffahrt zu sehen. Broder nahm seinen Stock und ging hinüber ins Wohnzimmer der beiden.

»Frank?«, rief er zögerlich, als er den Raum betrat. Auf dem Couchtisch lagen immer noch die Zigaretten und die Streichhölzer. Broder nahm die Streichholzschachtel und betrachtete die Aufschrift: »Sunny Place«. Er legte die Schachtel zurück auf den Tisch, ging in die Küche.

Der Frühstückstisch war noch nicht abgedeckt. Der Wurstaufschnitt hatte an einigen Ecken bereits eine dunkle Färbung bekommen und wellte sich leicht. In einer der Tassen schwamm eine Fliegenleiche in einer Kaffeepfütze.

Broder ließ sich auf die Eckbank fallen. Ein kleiner schwarzer Ordner lag auf der Bank neben ihm. Broder schlug ihn auf. Es waren die Kontoauszüge vom Betriebskonto. Saldo: 43.978,65 D-Mark im Soll. Ihm stockte der Atem. Umständlich nestelte er an seinem Hemdkragen. Er blätterte weiter und spürte Wut in sich aufsteigen.

Lieber Großvater,

heute war mein erster Tag in der neuen Schule. Onkel Hannes hat mich hier im Dorf in der Grundschule angemeldet. Die großen Ferien sind vorbei und deshalb musste ich heute Morgen noch früher aufstehen als sonst. Ich war schrecklich müde, da ich vor Aufregung kaum geschlafen hatte. Aber der »Ernst des Lebens« rief nach mir, wie du immer sagst.

Der Weg zur Schule ist nicht weit. Ich brauche ungefähr 20 Minuten zu Fuß. Mit dem Fahrrad wäre ich natürlich schneller, aber das habe ich ja bei dir gelassen, wie du weißt. Onkel Hannes hat mir gestern eine Abkürzung durch den kleinen Koog gezeigt. Ich glaube aber, dass er mir den Weg nur gezeigt hat, damit ich wieder schnell zu Hause bin, um meine Aufgaben zu erledigen.

Der Weg durch den Koog ist sehr schön. Man kommt an einer Wehle vorbei, und überall wachsen Kuckucksblumen und Löwenzahn. Ich wünschte, du könntest mich mal besuchen, dann würde ich dir alles zeigen.

In der Schule ist es leider nicht so schön. Die Lehrer sind zwar nett, aber als ich der Klasse vorgestellt wurde, haben einige Kinder gleich angefangen zu tuscheln. Das war schrecklich. Der Lehrer hat gefragt, wo noch ein Platz frei sei, aber keiner der Schüler hat sich gemeldet, obwohl noch etliche Plätze leer waren. Der Lehrer hat ziemlich lange darauf gewartet, dass sich jemand meldet. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Da sich keiner gemeldet hat, musste ich mich dann zu Lars Rickmers setzen. Das habe ich auch getan, aber der Lars war richtig komisch zu mir. Ich hatte aber keine Zeit, etwas zu sagen, da der Lehrer sofort mit dem Unterricht angefangen hat.

Den Unterricht finde ich einfach. Einiges hatten wir schon in meiner alten Schule. In der Pause hat auch keines der Kinder mit mir gesprochen. Alle haben in kleinen Gruppen zusammengestanden und getuschelt. In meinem Schulranzen habe ich einen Apfel und sogar ein Käsebrot gefunden. Das musste Onkel Hannes mir hineingelegt haben. Eigentlich ist er ganz nett.

Als die Schule aus war, bin ich schnell nach Hause gelaufen. Keines der Kinder hat etwas gesagt, obwohl einige mit mir bis zur Abzweigung in den kleinen Koog denselben Weg hatten. Hoffentlich wird das mit der Zeit besser. Hoffentlich finde ich bald Freunde.

Ich sitze hier am Küchentisch. Meine Hausaufgaben habe ich schon fertig. Nun muss ich noch schnell die Küche aufräumen und das Abendessen vorbereiten. Ich schreibe dir aber bald wieder.

Viele liebe Grüße

dein Tom

Tom legte den Brief zurück in den Schuhkarton. Ungefähr ein Dutzend Briefe hatte er bereits gelesen und noch immer befanden sich bestimmt doppelt so viele ungeöffnet darin. Mit jedem Brief wurde ihm klarer, welche Auswirkungen die Gerüchte über Onkel Hannes auch auf ihn gehabt hatten. Obwohl die ganze Sache schon etliche Jahre zurückgelegen hatte, als er zu Onkel Hannes gekommen war. Aber wie hatte Pastor Jensen gesagt? »Die Leute im Dorf vergessen nur sehr langsam.« Wie recht er damit hatte, wurde Tom mit jedem Brief bewusster.

Er hatte es sich mit einem alten Gartenstuhl auf der Veranda gemütlich gemacht. Sein Blick schweifte über den Garten. Alles wirkte leicht verwildert, aber ihm gefiel das irgendwie.

Er stand auf und holte sich Notizblock und Kugelschreiber aus der Küche.

Was musste er in den nächsten Tagen alles erledigen? Strom und Telefon abmelden, Nachsendeauftrag für die Post stellen, Makler aufsuchen, Container bestellen, Sachen sortieren. Er schrieb alles auf den Notizblock.

Gedankenverloren knabberte er auf dem Kugelschreiber herum. Dann riss er das Blatt vom Block und schrieb auf eine zweite Seite alles, was ihm zu Onkel Hannes einfiel. Es war nicht viel: dass er beim Deichbauamt gearbeitet haben musste, sein Geburts- und Sterbedatum, Gerichte, von denen Tom wusste, dass sein Onkel sie gerne gegessen hatte, und die Anschuldigungen, von denen er am Morgen erfahren hatte. Es musste doch irgendwie eine Möglichkeit geben, mehr zu erfahren.

Der verbotene Schrank fiel ihm ein. Es war ein klobiger, dunkler Eichenschrank, der neben dem alten Cordsofa im Wohnzimmer stand. Onkel Hannes hatte ihn stets verschlossen gehalten und den Schlüssel immer in seiner Hosentasche getragen.

Tom sparte sich die Suche nach dem Schlüssel und griff gleich zu der Werkzeugkiste, die unter der Eckbank in der Küche stand. Der Dietrich lag unter dem Schraubenzieher.

Im Wohnzimmer war es dunkel. Er schaltete die kleine Stehlampe auf der anderen Seite des Cordsofas an. Ein matter Lichtstrahl erhellte den Raum.

Mit einem leisen Knack öffnete sich bereits beim ersten Versuch die oberste Schublade. Langsam zog er sie heraus. Sie war leer. Tom war enttäuscht. Mit zitternden Händen machte er sich an der nächsten Schublade zu schaffen. Ein Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, überkam ihn. Reflexartig drehte er sich um.

Die zweite Schublade ließ sich nicht so leicht öffnen. Umständlich hantierte Tom mit dem Dietrich an dem Schloss herum, bis sich die Schublade endlich öffnen ließ. Eine Art Triumphgefühl ergriff ihn. Mit einem kräftigen Ruck zog er die Lade auf. Fein säuberlich geordnet lagen hier der Personalausweis von Onkel Hannes, ein blaues Sparbuch und Dokumente des Hauses.

Er nahm den Ausweis heraus, betrachtete das Passbild. Wie jung er darauf aussah. Von wann das Bild wohl war? Dem Gültigkeitsdatum konnte er entnehmen, dass der Pass bereits seit zwei Jahren abgelaufen war. Ob Onkel Hannes das überhaupt aufgefallen war? Ob es ihn inte­ressiert hatte?

Er legte den Ausweis zurück in die Schublade und griff nach dem Sparbuch. Monat für Monat waren dem Konto 1.500 D-Mark gutgeschrieben worden. Immer zum Ersten des Monats. Das Guthaben war jedoch nicht besonders hoch, da das Geld immer sofort wieder abgehoben worden war. Manchmal der gesamte Betrag, manchmal weniger. Die letzte Gutschrift war im Januar dieses Jahres verbucht. Onkel Hannes hatte das Geld in voller Höhe abgehoben. Danach waren keine Umsätze mehr im Buch verzeichnet. Merkwürdig. Warum war wohl kein Geld mehr eingegangen? Oder hatte Onkel Hannes die Beträge nur nicht nachtragen lassen? Eher unwahrscheinlich, denn schließlich hatte er ja Monat für Monat auch über das Geld verfügt. Warum sollte er gerade in den letzten Monaten vor seinem Tod damit aufgehört haben? Er legte das Sparbuch nachdenklich zur Seite und durchsuchte die anderen Unterlagen, fand aber nichts mehr. Keine Kontoauszüge, keine Bankkarte, nichts, was auf weitere Konten hinwies.

Die letzte Schublade erwies sich als noch widerspenstiger als die Lade zuvor. Mehrmals musste er den Dietrich neu ansetzen, seine ganze Kraft aufbringen. Dann endlich gab das Schloss nach. Tom ließ sich rückwärts auf den Fußboden fallen, um sich von dem Kraftakt zu erholen.

Der Inhalt der letzten Schublade bestand aus einem Durcheinander von verschiedenen Briefen und Zeitungsausschnitten. Er nahm alles heraus und breitete es auf dem Teppich aus. Die meisten der Zeitungsausschnitte waren aus der hiesigen Zeitung, vorrangig aus dem Jahre 1962. Einige der Artikel waren so groß, dass sie eine ganze Seite der Zeitung gefüllt haben mussten. Zum Teil waren Fotos in die Texte eingearbeitet. Sie zeigten Onkel Hannes, wie er, begleitet von zwei Polizeibeamten, in den Gerichtssaal geführt wurde. Auf anderen Bildern waren Menschen mit Plakaten zu sehen. »Sperrt den Mörder endlich ein!« und »Keine Gnade für den Kindermörder!« stand da geschrieben. Ein Bild zog Toms Aufmerksamkeit auf sich. Es zeigte ein etwa 13-jähriges blondes Mädchen. Der Bildunterschrift konnte er entnehmen, dass es sich hierbei um die verschwundene Britta Johannsen handelte. Britta wirkte klein und zierlich. Sie lächelte freundlich in die Kamera.